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Draußen stand Sergeant Feng nervös zwischen zwei Kriechern.
»Genosse Shan!« rief Li Aidang aus einer dunkelgrauen Limousine, die gegenüber dem Restaurant geparkt war. Der stellvertretende Ankläger öffnete die Tür und bedeutete Shan, er möge einsteigen. »Ich dachte, wir könnten vielleicht ein wenig plaudern. Sie wissen schon. Kollegen, die an demselben Fall arbeiten.«
»Sie sind also heil wieder zurückgekommen. Kham ist ja eine unberechenbare Gegend«, merkte Shan trocken an. Er zögerte, weil ihm die Unsicherheit in Fengs Blick auffiel. Dann nahm er neben Li auf der Rückbank Platz.
»Wissen Sie, wir haben ihn gefunden«, behauptete Li.
Shan zwang sich, nicht nach dem Köder zu schnappen.
»Genaugenommen haben wir einen Klan im Tal davon überzeugt, uns zu verraten, wo sein Lager sich befindet.«
»Überzeugt?«
»Ging ganz einfach«, sagte der stellvertretende Ankläger selbstgefällig. »Ein Helikopter, eine Uniform. Einige der Alten haben nur gewinselt. Wir fanden heraus, wo wir nachschauen mußten, aber als wir dort ankamen, waren die Leute verschwunden. Die Asche des Feuers war noch warm. Ansonsten war keine Spur von ihnen zu entdecken.« Li musterte Shan. »Als habe man sie gewarnt.«
Shan zuckte die Achseln. »Das ist mir bei Nomaden schon öfter aufgefallen. Diese Leute neigen dazu, ihren Standort zu wechseln.«
Einer der Kriecher schlug die Tür zu, setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an. Als sie wegfuhren, drehte Shan sich um und sah, daß der andere Soldat sich vor die Fahrertür ihres Wagens stellte und Sergeant Feng den Weg versperrte.
Ein dunkle Gestalt auf dem Vordersitz wandte sich um und sah Shan wortlos an.
»Sie erinnern sich bestimmt noch an den Major«, sagte Li.
»Major Yang, wenn ich recht unterrichtet bin«, stellte Shan fest. »Held der Öffentlichen Sicherheit.«
»Genau«, bestätigte Li knapp.
Der Offizier zog einen Mundwinkel hoch, was wohl als Gruß gemeint war, und drehte sich dann wieder nach vorn.
Mit hoher Geschwindigkeit verließen sie die Stadt. Immer wieder ertönte die Hupe, um Fußgänger zu verscheuchen oder andere Fahrzeuge zum Ausweichen zu veranlassen, sobald diese es wagten, der Limousine in die Quere zu kommen.
Zehn Minuten später erreichten sie einen immergrünen Wald in einem kleinen Tal, knapp fünf Kilometer von der Hauptstraße entfernt. Nachdem sie die Ruinen einer alten mani-Mauer passiert hatten, wirkten die Bäume plötzlich sehr viel ordentlicher. Das war das Werk eines Gärtners. Am Straßenrand blühten Frühlingsblumen neben einem geharkten Kiesweg.
Sie kamen an einer weiteren Mauer vorbei, die wesentlich höher als die erste war, und fuhren auf den Hof eines sehr alten gompa. Am anderen Ende des Hfs, den man frisch gepflastert hatte, erhob sich ein Turm aus Steinen und grauen Ziegeln und davor ein kleiner Chorten von etwa doppelter Mannshöhe. Die Mauern waren neu verputzt und zum Teil auch schon neu bemalt worden. Entlang der gegenüberliegenden Wand standen mehrere Statuen, einige davon mit Gold überzogen, die Buddha und andere religiöse Figuren darstellten. Sie bildeten eine unordentliche Reihe; manche schauten zur Wand, andere neigten sich zur Seite und wieder andere hatte man aneinandergelehnt. Shan hatte das Gefühl, er würde eine wohlhabende, etwas verwahrloste Villa besuchen. Als sie aus dem Wagen stiegen, schwebte der schwache Duft von Pfingstrosen über den Hof.
Der Major verschwand hinter einem großen Tor. Li führte Shan in den Vorraum der Versammlungshalle, schaltete eine Glühbirne ein und wies auf einen groben Holztisch, um den herum einige Stühle standen. Shan schaute auf die Verkabelung, die erst kürzlich installiert worden war. Nur wenige der entlegenen Klöster wurden an die Elektrizitätsversorgung angeschlossen.
Li vollführte eine weit ausholende Geste, die den ganzen Raum umfaßte. »Wir haben alles in unserer Macht stehende getan, um es zu erhalten«, sagte er mit gekünstelter Demut. »Wissen Sie, das ist jedesmal wieder viel Arbeit.«
Der Boden bestand noch aus den ursprünglichen Holzbohlen, wie man sie Jahrhunderte zuvor von Hand zurechtgeschnitten hatte. Er war von Brandstellen übersät, die von Zigaretten stammten.
»Hier sind ja gar keine Mönche.«
»Die kommen noch.« Li durchschritt den Raum und wirkte dabei wie ein Eigentümer, der seinen Grundbesitz inspizierte. Entlang der Innenwand waren Haken angebracht, auf die man Priestergewänder gehängt hatte, um den Anschein eines bewohnten gompa zu schaffen. »Direktor Wen kümmert sich um alles. Ein Zwischenstop für die Touristen. Einige Neuinszenierungen. Sollen die Amerikaner ruhig ein paar Butterlampen anzünden und etwas Weihrauch verbrennen.«
»Neuinszenierungen?«
»Zeremonien. Wegen der Atmosphäre.« Li suchte sich eines der Gewänder aus, eine antike Zeremonienrobe mit goldenem Brokat und seidenen Einsatzstreifen, auf denen Wolken und Sterne abgebildet waren. Er legte sein Anzugjackett ab und zog sich die Robe über. Zufrieden strich er mit den Fingern über die Ärmel und fuhr fort. »Wir treffen die letzten Vorkehrungen. Es sind nur noch ein paar Tage, bis die Leute ankommen.« Er stolzierte wie ein eitler Gockel umher und versuchte, in den kleinen Fensterscheiben einen Blick auf sein Spiegelbild zu erhaschen »Für ein paar zusätzliche Dollar erlauben wir den Amerikanern, diese Gewänder anzuziehen und Gebetsmühlen zu drehen. Im Hintergrund gibt's dann Mantras vom Band. Und wer noch etwas mehr Geld ausgeben möchte, kann in einem einstündigen Kurs lernen, wie ein Buddhist zu meditieren.«
»So eine Art buddhistischer Vergnügungspark.«
»Ganz genau! Wir denken so oft das gleiche!« rief Li und wurde sofort wieder ernst. »Aus diesem Grund muß ich auch mit Ihnen sprechen, Genosse. Ich muß Ihnen ein Geständnis machen. Ich bin Ihnen gegenüber nicht völlig aufrichtig gewesen. Aber jetzt möchte ich, daß Sie etwas begreifen. Ich führe gleichzeitig noch eine andere Untersuchung durch, unabhängig von dem Mord an Ankläger Jao. Eine noch wichtigere Untersuchung. Sie haben ja gar keine Ahnung, welchen Schaden Sie anrichten könnten, falls Sie so weitermachen wie bisher. Sie machen es uns sehr schwer, das Richtige zu tun. Sie sind nicht in Ihrem Element. Sie werden benutzt.«
»Ich bin verwirrt«, sagte Shan und musterte ein Regal mit wertlosem Plunder, vor dem ein Tisch stand. »Was genau meinen Sie denn mit >das Richtige<?« Es gab kleine Yaks und Schneeleoparden aus Keramik sowie eine ganze Reihe von muskulösen Buddhas, die chinesische Flaggen trugen.
Li zog sich einen Hocker heran und setzte sich neben Shan. Daß dabei die Nähte des alten Gewands an den Schultern vernehmlich krachten, interessierte ihn nicht. »Tan kann sich alles mögliche erlauben. Das ist ein Privileg seiner Stellung. Aber Sie können das nicht. Sie sind ein Häftling, Sie waren ein Häftling, und Sie werden ein Häftling sein. Weder Sie noch ich können irgend etwas daran ändern.«
»Stellvertretender Ankläger Li. Ich habe schon vor vielen Jahren jegliche Möglichkeit verloren, mir irgend etwas erlauben zu können.«
Li lachte und zündete sich eine Zigarette an. »Kehren Sie zur 404ten zurück«, sagte er plötzlich.
»Das liegt nicht in meiner Macht.«
»Schließen Sie sich dem Streik an. Wir könnten zulassen, daß Sie ihn beenden. Sie wären ein großer Held, es gäbe einen lobenden Vermerk in der Akte, und womöglich hätten Sie zahlreiche Leben gerettet.«
»Was genau bieten Sie mir an?«
»Wir können die Truppen wieder abziehen.«
»Soll das heißen, Sie pfeifen die Kriecher zurück, falls ich meine Ermittlungen einstelle?«
Li ging zu dem Regal mit Keramik-Andenken. Er nahm einen der Buddhas und pustete in den Sockel. Der Figur stieg Rauch aus den Augen. »Es würde zahlreiche Probleme lösen.«
»Sie haben den Grund dafür noch nicht erwähnt.«
»Offenbar gibt es Dinge, die ich Ihnen leider nicht mitteilen darf.«
»Sie haben mich also hergebracht, um mir zu erzählen, daß Sie mir gar nichts erzählen werden.«
Li trat wieder an Shans Seite und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich mag Ihren Sinn für Humor. Man merkt, daß Sie aus Peking stammen. Eines Tages, wer weiß? Sie könnten gut zu uns passen.« Er ging um Shan herum. »Ich habe Sie hergebracht, um Sie zu retten. Der Major und ich suchen nach einer Möglichkeit, großzügig zu sein. Es hat schon zu viele Opfer gegeben, und es besteht wirklich kein Grund dafür, Ihnen weiterhin weh zu tun. Falls Minister Qin aus Peking Sie im lao gai sehen will, ist das allein eine Angelegenheit zwischen Ihnen und ihm. Doch Minister Qin ist sehr alt. Eines Tages bekommen Sie vielleicht eine zweite Chance. Ich kann sehen, daß Sie ein intelligenter Mann sind. Irgendwann werden Sie für das Volk wieder von Nutzen sein. Aber nicht, wenn Sie sich an Oberst Tan halten. Er ist sehr gefährlich.«
»Ich stelle für ihn keine Bedrohung da.«
Li musterte seine Zigarette. »So habe ich das nicht gemeint. Er manipuliert Sie. Er glaubt, er könne sich über den offiziellen Dienstweg hinwegsetzen. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, warum er das Büro des Anklägers meidet?«
Shan antwortete nicht.
»Oder warum er Sie mit unzuverlässigen Personen arbeiten läßt?«
»Unzuverlässigen Personen?«
»Diskreditierten Quellen. Wie Dr. Sung.«
»Ich respektiere Dr. Sungs medizinisches Fachwissen.«
Li zuckte die Achseln. »Aber genau das meine ich ja. Man hat Ihnen nichts von Dr. Sungs Problemen und Vorurteilen erzählt. Die turnusgemäße Zurückversetzung nach Hause wurde ihr wegen schwerer Pflichtversäumnisse verwehrt. Sie hat auf eigenen Entschluß für eine Woche ihren Posten verlassen, um sich um unbefugte Patienten zu kümmern.«
»Unbefugte Patienten?«
»Eine Schule im Hochgebirge. Sehr abgelegen. Niemand in Lhasa hatte je davon gehört. Die Kinder sind an irgendwas gestorben. Da oben gibt es Krankheiten, die im Rest der Welt schon längst ausgerottet wurden.«
»Die Ärztin wurde also dafür bestraft, daß sie sterbenden Kindern geholfen hat?«
»Darum geht es nicht. Für solche Fälle ist vorgeschrieben, daß die Eltern ihre Kinder in das Krankenhaus zu bringen haben. Dr. Sung hat eine Reihe wichtiger Patienten in der Klinik zurückgelassen. Manche davon waren Parteimitglieder. Und jetzt wird sie nicht nach Hause zurückkehren.«
»Damit ist Dr. Sungs Karriere praktisch beendet.« Shan war versucht zu fragen, wann die Ärztin diesen unüberlegten Fehler begangen hatte. Man hatte sie zunächst zum Abendessen eingeladen, ihr aber später die Mitgliedschaft im Bei Da-Verband verweigert. Er erinnerte sich daran, wie nervös sie vor ihm die Parteilehrsätze über die Zurückgebliebenheit der tibetischen Minderheit und die Vorgehensweise bei der Behandlung unproduktiver Patienten in den Bergen heruntergebetet hatte. Diese Worte waren ihr bei einer tamzing- Sitzung eingebleut worden.
»Ich sehe, Sie verstehen«, sagte Li mit gekünstelter Dankbarkeit. »Sie bringen mich in eine peinliche Lage, Genosse Shan. Sie verlangen von mir, daß ich Ihnen vertraue, nicht wahr?«
Shan erwiderte nichts.
»Das hier ist höchst unkonventionell. Das Büro des Anklägers im vertraulichen Gespräch mit einem überführten Kriminellen.«
»Ich hatte nie eine Verhandlung, falls das hilft.«
Li hob die Augenbrauen und nickte langsam. »Ja, Genosse, guter Hinweis. Kein Verurteilter, bloß ein Häftling.« Er zündete sich eine zweite Zigarette am Stummel der ersten an. »Gut. Sie sollten davon erfahren. Wir führen eine Korruptionsuntersuchung durch. Die größte, die es je in Tibet gegeben hat. Wir waren beinahe soweit. Jao wollte seine Erkenntnisse demnächst bekanntgeben. Bald können wir zuschlagen. Aber Sie werden noch dafür sorgen, daß die Schuldigen die Flucht ergreifen.«
»Demnach wurde Jao von einem Verdächtigen in diesem Korruptionsfall ermordet?« fragte Shan. Das wäre eine sehr ausgewogene Lösung. Genau die Art von Erklärung, die dem Justizministerium gefallen würde.
»Nicht genau. Es ist nur so, daß dieser gesellschaftsfeindliche Mönch Sungpo nicht wußte, was für Auswirkungen seine Tat nach sich ziehen würde. Mit Jaos Tod wurden vorerst alle Anstrengungen zunichte gemacht. Wir mußten den Fall ganz neu aufbauen. Immerhin schulden wir es Jao, die Sache zum Abschluß zu bringen. Aber Sie wirbeln zuviel Staub auf. Ihnen ist es zu verdanken, daß unsere Verdächtigen langsam Angst bekommen.«
»Falls Sie damit andeuten wollen, daß Ankläger Jao beabsichtigt hat, Oberst Tan zu verhaften, dann hatte Tan ein sehr viel stärkeres Motiv für den Mord als jeder andere. Klagen Sie ihn wegen der Tat an, und schon kann Sungpo freigelassen werden. Daraufhin können die Kriecher sich wieder von der 404ten zurückziehen. Das ist eine Lösung.«
»Liefern Sie mir einige Beweise.«
»Gegen Oberst Tan?« fragte Shan. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, Ihnen lägen bereits entsprechende Beweise vor.«
»Der Abgang der alten Garde dürfte Ihnen doch wohl mehr als gelegen kommen.«
»Ich bevorzuge in dieser Hinsicht den natürlichen Lauf der Dinge«, sagte Shan nachdenklich.
»Sie können doch unmöglich glauben, er würde sie beschützen.«
»Ich muß mir zum Glück schon lange keine Gedanken mehr um den Schutz meiner Person machen. Der Staat hat jetzt gewissermaßen das Sorgerecht für mich.«
Ein höhnisches Lächeln machte sich auf Lis Gesicht breit. »Sie sind seine Rückversicherung. Sein Sicherheitsnetz. Falls es Ihnen nicht gelingt, einen Fall aufzubauen, wird er eben selbst einen erschaffen. Er wird eine eigene Fallakte haben, auch wenn Sie letztendlich keine zustande bekommen. All Ihre Handlungen können als der Versuch ausgelegt werden, die Radikalen zu schützen. Allem die Behinderung der Justiz ist bereits eine lao gai-Anklage für sich. Ich habe es Ihnen gesagt. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Tan hat sich nicht allein deswegen für Sie entschieden, weil Sie früher als Ermittler gearbeitet haben. Sie wurden ausgewählt, weil Sie erklärtermaßen schuldig sind. Und entbehrlich.«
Dies war die einzige von Lis Behauptungen, die Shan dem stellvertretenden Ankläger glaubte. Shan sah, wie seine Finger sich anscheinend aus eigenem Antrieb bewegten. Sie formten ein mudra. Der Diamant des Verstands.
»Niemand wird sich für Sie einsetzen. Niemand wird sagen, Shan ist ein Modellhäftling, ein Held der Arbeit. Tan kann nicht einmal Ihren Namen auf den Bericht setzen, denn Sie existieren gar nicht. Andererseits besteht auch keine Veranlassung dafür, daß Sie ein Opfer abgeben müssen.«
So deutlich hatte Li seine Drohung noch nie in Worte gefaßt.
Shan musterte das mudra. »Dieser Ort hier«, sagte er in plötzlicher Erkenntnis, als er den Blick ein weiteres Mal durch den Raum schweifen ließ. »Das hier ist der Sitz des Bei Da-Verbands.«
Shan spürte, daß Li hinter ihm sich abrupt bewegte. »Es ist ein altes gompa. Es dient vielerlei Zwecken.«
»Ich habe eine Liste der gompas gesehen, denen die Genehmigung zum Wiederaufbau erteilt wurde. Dieses war nicht darunter.«
»Genosse, ich mache mir Sorgen um Sie. Sie wollen einfach nicht zuhören, wenn jemand versucht, Ihnen zu helfen.«
»Hat dieses gompa eine Lizenz?«
Li seufzte, zog die Zeremonienrobe aus und warf sie auf einen Hocker. »Es wurde vom Büro für Religiöse Angelegenheiten als Mustereinrichtung eingestuft. Es benötigt keine Lizenz.«
Shan hob die Hände. »Ich bewundere Ihre Fähigkeit, das alles unter einen Hut zu bekommen. Für mich wirkt es überaus verwirrend. Falls eine Gruppe, die von Peking bezahlt wird, sich zusammenfindet, um über die Erziehung des Volkes zu diskutieren, dann ist das lebendiger Sozialismus. Aber falls Leute in roten Gewändern dies tun, handelt es sich um eine unerlaubte kulturelle Aktivität.«
Li ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Sie waren sich beide darüber bewußt, wie gefährlich dieses Spiel wurde. »Sie sind nicht mehr auf dem neuesten Stand, Genosse. Hinsichtlich der Definition sozialistischer Vorgehensweisen zur Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den Volksgruppen hat es sehr viele Fortschritte gegeben.«
»Meine Kenntnisse können sich selbstverständlich nicht mit Ihrer Ausbildung messen«, räumte Shan ein. Er stand auf und ging zur Tür.
»Wohin wollen Sie?« fragte Li verärgert.
»Die Sonne kommt durch die Wolken.« Bevor Li weitere Einwände erheben konnte, trat Shan bereits hinaus auf den Hof.
Ein Lieferwagen mit dem Abzeichen des Büros für Religiöse Angelegenheiten war eingetroffen. Arbeiter stellten auf einer Seite des Hofs Bänke auf, als solle hier ein Vortrag gehalten werden. Angeleitet wurden sie von der jungen Frau, die Shan in Direktor Wens Büro gesehen hatte - Miss Taring, die Archivarin.
Sobald Shan sie sah, begriff er die Zusammenhänge. Die purbas hatten ihm in ihrem unterirdischen Zufluchtsort erzählt, sie wüßten von Shans Gespräch mit Direktor Wen wegen des Kostüms. Es gab nur eine einzige Person, die ihnen davon berichtet haben könnte. Miss Taring hatte die purbas mit den entsprechenden Informationen versorgt, oder vielleicht war sie auch selbst eine purba. Er starrte sie an, als sähe er sie zum erstenmal. Ihr Haar war am Hinterkopf zu einem festen Knoten zusammengefaßt, und sie trug eine weiße Bluse und einen langen dunklen Rock, wodurch sie überaus professionell wirkte, eine Vorzeigearbeiterin. Sie hielt inne, nickte beiläufig und wollte sich gerade umdrehen, als ihr sein Blick auffiel. Langsam wandte sie sich ab, um den Arbeitern einige Anweisungen zu erteilen. Ihre Hände hatte sie auf dem Rücken verschränkt. Shan wollte ebenfalls kehrtmachen, als ihm auffiel, daß ihre Finger sich bewegten. Sie ballte die Fäuste, so daß die Daumen sich in einem Winkel von fünfundvierzig Grad gegenüberstanden und die Hände sich beinahe berührten. Shan hatte es zuvor schon gesehen; dieses mudra gehörte zu den Opferzeichen. Aloke, die Lampen, deren Licht die Welt erhellen sollte.
Miss Taring zeigte das mudra nur ganz kurz und schaute vorsichtig zum hinteren Bereich des Hofs. Dann ging sie zur gegenüberliegenden Mauer, blieb neben einem der großen Buddhaköpfe stehen und blickte zur Seite auf etwas, das Shan nicht sehen konnte.
Shan beobachtete sie verblüfft und ging dann auf die Frau zu. Noch bevor er die Wand erreichte, bewegte Miss Taring sich wieder von dort weg und beachtete ihn nicht weiter. Er stellte sich an dieselbe Stelle, an der zuvor sie gestanden hatte, und versuchte, sich über ihre Absicht klarzuwerden. Zwischen den Gebäuden gab es eine Lücke, die zugemauert werden sollte, allerdings war die Arbeit daran noch nicht abgeschlossen. Shan konnte über die unfertige Mauer hinweg auf einen eleganten Innenhof blicken. Ein Mann, der wie ein Kellner gekleidet war, trug ein Tablett mit hohen Gläsern. Eine große hölzerne Wanne mit brodelndem Wasser war teilweise in den Boden eingelassen. Zwei schlanke junge Frauen in Bikinis stiegen soeben hinein.
Verwirrt schaute Shan langsam in die andere Richtung und erstarrte vor Schreck. Dort befand sich ein niedriges Gebäude, ein ehemaliger Stall, der als Garage genutzt wurde. Darin standen zwei rote Land Rover.
Aus dem Augenwinkel sah Shan, daß Li sich näherte. Er drehte sich um und schlenderte gemächlich an den Statuenköpfen vorbei, so daß Li ihn einholen konnte.
»Ist Leutnant Chang von der 404ten ein Angehöriger Ihres Bei Da-Verbands?« fragte er.
Li runzelte die Stirn. »Ich glaube, er hat sich für die Mitgliedschaft qualifiziert«, lautete die rätselhafte Antwort.
»Und was ist mit einem Soldaten namens Meng Lau?«
Li ignorierte die Frage und trat näher an ihn heran. »Sie sollten Zeuge werden«, bot Li an. »Für jemanden in Ihrer Position muß es doch ungeheuer schwierig sein, derartige Ermittlungen zu leiten. Werden Sie statt dessen doch ein kooperativer Zeuge.«
»Ein Zeuge aus der 404ten?«
»Sagen wir, ein Zeuge, dem bei der 404ten kürzlich eine vertrauensvolle Aufgabe zugewiesen wurde. Ich werde mich für Sie verbürgen. Sie sind stets gewissenhaft, man hat Ihnen noch nie eine Lüge vorgeworfen, so was in der Art. Ihre Probleme in Peking haben ganz andere Ursachen gehabt. Das Tribunal müßte gar nichts davon erfahren.«
»Aber ich habe nichts zu sagen.« Shan ging weiter. In einer Ecke des Hofs war ein Wasserbecken. Es bestand aus jahrhundertealten Steinblöcken, in die man anmutige Muster gemeißelt hatte, und wurde von kleinen silbernen Fischen bevölkert. Einige Lotusblüten trieben dann und auch eine leere Bierflasche.
»Es wird Sie vielleicht überraschen, wie viel Sie erzählen könnten«, sagte Li hinter ihm.
Shan trat an den Rand des Beckens und drehte sich um. »Sie haben mir noch nicht die genaue Art Ihrer Korruptionsuntersuchung erläutert.« Von hier aus konnte er eine kleine Hügelkuppe direkt hinter dem Areal sehen. Darauf befand sich ein prächtiger sitzender Buddha von mindestens sechs Metern Höhe. Er trug einen ungewohnten Kopfschmuck. Jäh erkannte Shan, worum es sich handelte. Jemand hatte eine Satellitenschüssel am Kopf des Buddhas festgeschraubt.
Li stellte sich neben ihn und flüsterte es ihm ins Ohr. »Unregelmäßigkeiten in den Gefängnisbüchern, ungeklärte Abhebungen von staatlichen Konten, verschwundene Aktiva des Militärs.«
»Soll das heißen, Tan und Direktor Zhong seien Verschwörer? Zhong hat auch damit zu tun?«
»Würden Sie ihn denn gern darin verwickelt sehen?«
Shan starrte ihn an und fragte sich, ob er richtig gehört hatte. »Ich müßte Einblick in Ihre Unterlagen nehmen.«
»Unmöglich.«
»Lassen Sie mich mit Miss Lihua sprechen.«
»Jaos Sekretärin? Wieso?«
»Sie soll bestätigen, daß Jao in einem Korruptionsfall ermittelt hat. Sie hätte auf jeden Fall davon gewußt.«
»Sie wissen, daß sie im Urlaub ist.« Li zuckte die Achseln, als er Shans unzufriedenen Gesichtsausdruck bemerkte. »Was soll's. Sie können ihr ein Fax schicken.«
»Ich traue Fax-Mitteilungen nicht.«
»Na gut, sobald sie wieder hier ist.« Er schaute auf die Uhr. »Der Wagen wird Sie zurück in die Stadt bringen.«
Shan stieg ein, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er wußte, daß Li log, wenn dieser behauptete, er wolle Shan nicht als Opfer sehen. Aber log er, weil er wegen der Ermittlungen beunruhigt war oder einfach nur aus all den üblichen Gründen?
Li beugte sich zum Fenster hinein. Das höhnische Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden. »Verdammt, Shan. Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das jetzt erzähle. Die Sache ist schlimmer, als Sie es sich jemals vorstellen könnten. Es werden Köpfe rollen, und niemand wird da sein, um auf Ihren Kopf aufzupassen. Sie müssen zur 404ten zurückkehren, und ich muß meinen Fall abschließen, bevor der Wahnsinn seinen Lauf nimmt.«
»Der Wahnsinn?«
»Man wird ein Spionageverfahren eröffnen. Jemand in Lhadrung hat Computerdisketten gestohlen, auf denen sich geheime Informationen über die Grenzverteidigungsanlagen der Öffentlichen Sicherheit befinden.«
Shan sah, wie Dr. Sung an Yeshe vorbeiging, der auf der Bank im Gang saß, und ihr dunkles Büro betrat. Sie warf ihr Klemmbrett auf einen Stuhl, schaltete eine kleine Schreibtischleuchte ein und schob einen Teller mit halbverzehrtem Gemüse beiseite. Dann drückte sie einen Knopf an einem kleinen Kassettenrekorder und wandte sich einem Schachbrett zu. Die Partie hatte bereits begonnen. Opernmusik erklang. Sie zog einen Bauern und drehte das Brett um. Sie spielte gegen sich selbst.
Nach zwei Zügen hielt sie inne und schaute nach draußen zu der Bank. Mit einem Fluch auf den Lippen drehte sie den Kopf der Lampe nach oben, so daß Shans Stuhl in der Ecke des Zimmers erhellt wurde.
»Das faszinierendste an einer Untersuchung ist die Erkenntnis, wie subjektiv die Wahrheit eigentlich ist«, stellte Shan fest. Er klang sehr müde. »Sie hat so viele Dimensionen. Politische. Berufliche. Doch die sind noch leicht zu erkennen. Am schwierigsten ist es, die persönliche Dimension zu begreifen. Wir finden so viele Möglichkeiten, die Lügen zu glauben und die Wahrheit zu ignorieren.«
Die Ärztin schaltete die Musik ab und starrte zerstreut auf das Schachbrett. »Die Buddhisten würden sagen, daß jeder von uns seine eigene Methode hat, den inneren Gott zu ehren«, sagte sie mit erstickter Stimme.
Die Worte erschütterten Shan. Plötzlich wußte er nicht mehr, was er sagen sollte. Am liebsten hätte er die Frau in Ruhe gelassen und nicht an ihr Elend gerührt, aber das konnte er nicht.
»Wann haben Sie damit aufgehört, Ihren zu ehren?«
Er sehnte sich nach einer ihrer scharfen, wütenden und schlagfertigen Antworten, doch er erntete lediglich Schweigen.
Er entfaltete Sungs Brief an die amerikanische Firma und ließ ihn vor ihr auf den Tisch fallen. »Hatten Sie das Gefühl, Sie würden mich anlügen, als Sie vorgaben, nichts von Jaos Interesse an einem Röntgengerät zu wissen? Oder haben Sie tatsächlich selbst daran geglaubt, weil offiziell nur Ihr eigener Name erwähnt wurde?«
»Ich habe nur gesagt, solche Apparate seien zu teuer.«
»Gut. Demnach wollten Sie also nicht lügen.«
Sung zog geistesabwesend einen Turm. »Jao hat mich gebeten, einen Brief zu schreiben. Es würde keinen Verdacht erregen, wenn ein Krankenhaus eine solche Bitte äußerte.«
»Weshalb mußte er so heimlich tun? Warum hat er nicht einfach selbst bei der Firma nachgefragt?«
Sie nahm einen Springer und musterte die Figur eindringlich. »Eine Untersuchung.«
»Er hat Sie bei der Durchführung um Hilfe gebeten. Und er hat nicht erzählt, worum es im einzelnen ging?«
Sie starrte noch immer die Schachfigur an. »Er ist manchmal vorbeigekommen, nicht allzu oft, und dann haben wir hier gesessen und Schach gespielt. Haben uns über zu Hause unterhalten. Tee getrunken. Es hat sich so... ich weiß nicht... zivilisiert angefühlt.« Sie legte beide Hände um den Springer und drehte sie, als wolle sie ihn zerbrechen.
»Also haben Sie diesen Brief geschrieben, um bei seinen Ermittlungen behilflich zu sein. Weil er etwas Verborgenes finden wollte.«
»Es wäre ganz einfach, so wie Sie zu sein, Genosse Shan, und bloß Fragen zu stellen. Aber ich habe Ihnen bereits gesagt, daß es Fragen gibt, die man nicht stellen darf. Ihre Aufgabe besteht allein darin, sich nach der Wahrheit anderer Leute zu erkundigen. Manche von uns müssen diese Wahrheit leben.«
»Eine Morduntersuchung?« fragte Shan. »Korruption? Spionage?«
Sung lachte leise auf. »Spionage in Lhadrung? Das glaube ich kaum.«
»Wofür hat er dieses Gerät benötigt?«
Sung schüttelte langsam den Kopf. »Er wollte wissen, ob es in einen seiner Geländewagen mit Allradantrieb passen würde. Er hat sich erkundigt, was für eine Energiequelle dafür nötig wäre. Mehr weiß ich nicht.«
»Warum haben Sie ihn nicht gefragt? Er war immerhin Ihr Schachpartner.«
»Genau deswegen.« Sung öffnete die Hand und schaute unglücklich auf cfen Springer. »Ich habe angenommen, daß er eines der Gräber öffnen wollte. Und falls dieser Verdacht sich bestätigt hätte, wäre es mir unmöglich gewesen, ihn je wieder hier Platz nehmen zu lassen.«
Die 404te war wie ein Friedhof. Aus den Baracken schauten die hohlwangigen und ausdruckslosen Gesichter der Gefangenen. Die Patrouillen, die dafür sorgten, daß die Männer in den Quartieren blieben, marschierten steifbeinig über das Gelände. Dabei warfen die Soldaten immerfort mißtrauische Blicke über die Schultern.
Der Stall war in Benutzung. Shan war sich dessen sicher - nicht weil es Schreie gegeben hätte. Die Tibeter schrien nie. Auch das Krankenrevier war nicht stärker als üblich belegt. Er war sich deswegen sicher, weil ein Offizier an ihm vorbeiging, der Gummihandschuhe trug.
Über Sergeant Feng schien eine dunkle Wolke zu schweben, als er zusammen mit Shan durch das Tor ging. Er sprach kein Wort mit den Kriechern, die die Todeszone bewachten, sondern schaute stur geradeaus, bis sie die Hütte erreichten. Dann öffnete er Shan die Tür, trat beiseite und forderte ihn mit einer unbeholfenen Geste auf, den Raum zu betreten.
Der Anblick, der sich Shan bot, war praktisch der gleiche wie vor sechs Tagen, als er die Hütte verlassen hatte. Trinle lag völlig erschöpft im Bett und hatte eine Decke über sein Gesicht und den größten Teil des Körpers gebreitet. Die anderen saßen in einem Kreis am Boden und wurden von einem der älteren Mönche unterwiesen.
Choje Rinpoche hatte aus einem Streifen seiner Decke ein gomthag-Band angefertigt und es sich um Knie und Rücken geknotet, damit er beim Meditieren nicht umkippen würde. Einer der Novizen hielt Choje einen Stoffetzen an den Hinterkopf. Als er ihn wegnahm, war der Stoff von Blut gerötet.
Choje benötigte mehrere Minuten, bis er in der Lage war, auf Shans Fragen einzugehen. Seine Lider zitterten; dann öffnete er die Augen, und sein Blick belebte sich. Durchdringend und neugierig sah er sich in der Hütte um, als wolle er sich vergewissern, in welcher Welt er sich befand. »Du bist noch bei uns«, sagte er, nicht als Frage, sondern als Gruß.
»Ich muß etwas über Tamdin wissen«, sagte Shan. Es schien ihm, als würde er das Leid des Lama weitaus stärker verspüren als Rinpoche selbst. »Rinpoche«, fragte er, »was wäre, falls Tamdin sich entscheiden müßte, ob er die Wahrheit oder die alten Bräuche beschützen soll?«
Von allen ungeklärten Rätseln, die diesen Fall umgaben, beschäftigte ihn am meisten die Frage nach dem Motiv des Mörders. Tamdin war ein Beschützer des Glaubens, und seine Opfer hatten den Glauben entweiht. Aber wie konnte es dann sein, daß ein solcher Mörder unschuldige Mönche für seine Verbrechen sterben ließ? Auch das war eine Entweihung des Glaubens.
»Ich glaube nicht, daß Tamdin eine Wahl trifft. Tamdin handelt. Er ist ein Gewissen mit Beinen.«
Und einem Schlachtermesser, dachte Shan.
»Wie ein Gewissen mit Beinen«, wiederholte der Lama.
Shan dachte schweigend über diese Worte nach.
»Als ich noch jung war«, hob Choje an, »da erzählte man sich, in einem nahen Dorf gäbe es einen Mann, der um Tamdins Hilfe betete, ohne sie je zu erhalten. Also schwor er Tamdin ab. Er sagte, Tamdin wäre eine Sagengestalt, die man für die Tänzer bei den Festen erfunden hätte.«
»Ich habe in letzter Zeit kaum jemanden getroffen, der Tamdin als eine Erfindung bezeichnen würde.«
»Nein. Erfindung ist nicht das richtige Wort, um ihn zu beschreiben.« Choje hielt Shan eine Faust vor das Gesicht. »Das ist meine Faust«, sagte er und streckte dann die Finger aus. »Jetzt existiert meine Faust nicht. Wird sie deshalb zu einer Erfindung?«
»Willst du damit sagen, daß unter bestimmten Umständen jeder zu Tamdin werden kann?«
»Nicht jeder. Ich sage, daß Tamdins Essenz in etwas existieren kann, das nicht ständig Tamdin ist.«
Shan erinnerte sich an das letzte Mal, als sie über den Schutzdämon gesprochen hatten. Wenn es manche gibt, die Buddhaschaft erlangen, hatte Choje gesagt, so gibt es vielleicht andere, denen die Tamdinschaft vorherbestimmt ist.
»Wie der Berg«, sagte Shan leise.
»Der Berg?«
»Die Südklaue. Es ist ein Berg, aber er birgt noch etwas anderes in sich. Einen heiligen Ort.«
»Es ist so ein kleines Stück Welt, das wir hier haben«, sagte Choje, allerdings so leise, daß Shan gezwungen war, sich ihm entgegenzuneigen.
»Es gibt noch andere Berge, Rinpoche.«
»Nein. Das meine ich nicht. Diese...«, sagte er und beschrieb eine ausholende Geste. »Diese Welt nimmt keine Notiz von uns. Vor uns und nach uns liegt eine unermeßliche Zeitspanne. So viele Orte. Wir sind Staubkörnchen. Niemand dort draußen sollte sich Gedanken um uns machen. Nur wir selbst. Unsere gegenwärtige Daseinsform beansprucht in diesem Augenblick diesen Ort. Das ist alles. Und es ist wirklich nicht viel.«
Die Worte ließen Shan erschaudern. Etwas Furchtbares würde geschehen. »Du wirst nie wieder zu dem Berg zurückkehren, nicht wahr?« Entsetzt blickte er auf. »Ganz egal, was passiert. Du willst nicht, daß die Straße gebaut wird. Darum geht es die ganze Zeit.« Warum war das so wichtig? Hatte er sich in diesem Punkt geirrt und dem Geheimnis des Bergs zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt?
»Fünfzig oder auch hundert Jahre lang jeden Tag aufzuwachen, ist im Grunde keine große Leistung«, sagte Choje mit heiterem Lächeln. »Das ist, als würden wir darum streiten, ob dein oder mein Staubkörnchen größer ist. Es sind die Einwände einer unvollkommenen Seele.«
Man würde andere herbringen, um die Straße zu bauen, wollte Shan sagen. Aber er hatte nicht genug Mut.
»Wir haben es besprochen. Alle waren einverstanden. Abgesehen von einigen wenigen. Manche mit Familien. Manche, die einem anderen Pfad folgen müssen.«
Shan sah sich um. Der khampa war verschwunden.
»Wir haben ihnen unseren Segen erteilt. Heute morgen hat man sie durch die Absperrung gelassen. Diejenigen von uns, die hiergeblieben sind...«, sagte Choje mit seinem friedlichen Lächeln. Er zuckte die Achseln. »Tja, wir sind diejenigen, die hiergeblieben sind. Einhunderteinundachtzig. Einhunderteinundachtzig«, wiederholte er, noch immer lächelnd.
Die Pfeife blies zum Hofgang, dann noch eine und noch eine, jeweils mit leichter Verzögerung überall im Lager. Die Männer standen auf und gingen schweigend zur Tür.
»Es ist soweit, Trinle«, rief Choje mit neuer Stärke, und die Gestalt unter der Decke bewegte sich. Shan ließ Choje nicht aus den Augen und spürte, wie Trinle sich mühsam erhob. Schaudernd begriff er, daß Trinle im Stall gewesen sein mußte. Aus dem Augenwinkel sah er, daß die gebeugte Gestalt sich die Decke um das provisorische Gewand und wie eine Kapuze um den Kopf schlang und zur Tür schlurfte.
Nur Shan und Choje blieben in der Hütte zurück. Schweigend saßen sie inmitten der gleißenden Lichtstrahlen, die zwischen den losen Brettern der Wände und des Daches hindurchfielen.
»Was ist mit jenem Mann geschehen, der nicht mehr an Tamdin glauben wollte?«
»Eines Tages ist ein Teil des Berges über ihm zusammengestürzt. Alle wurden getötet. Der Mann, seine Kinder, seine Frau, seine Schafe. Und schlimmer noch.«
»Schlimmer?«
»Es war merkwürdig. Danach konnte sich niemand mehr an den Namen des Mannes erinnern.«
Plötzlich erklang von draußen ein sonderbar anschwellender Laut - kein Ruf, sondern ein schnell anwachsendes Gemurmel, das sich durch das ganze Lager zog. Shan half Choje auf die Beine.
Sie fanden die Häftlinge auf der kleinen Freifläche hinter der Hütte, genaugenommen eher am Rand derselben, wie sie in Zweier- und Dreierreihen um einen sechs Meter durchmessenden Fleck standen.
»Er ist verschwunden!« rief einer der Mönche, als sie näher kamen. »Der Zauber...«, fing er an, schien dann aber nicht in der Lage zu sein, den Satz zu vollenden.
»Wie ein Pfeil! Ich habe es gesehen. Wie ein huschender Schatten!« rief jemand.
Die Reihen teilten sich, um Choje und Shan durchzulassen.
»Trinle!« keuchte einer der jungen Mönche. »Er hat es getan!«
Auf dem freien Fleck befand sich nichts außer Trinles Schuhen, die direkt nebeneinanderstanden, als habe er sie gerade erst abgestreift.
Keiner wagte zu atmen. Shan starrte verblüfft auf die Schuhe. Im ersten Moment wirkte das alles wie ein seltsamer, schlechter Witz. Als ihm klar wurde, was geschehen war, schaute er sich erschrocken um. Trinle war weg. Trinle war entkommen. Nach all den Jahren der Übung hatte er sich schließlich fortgezaubert.
Die Mönche musterten die Schuhe voller Ehrfurcht. Einige fielen auf die Knie und sprachen Dankgebete.
Doch ihnen blieb kaum noch Zeit dafür. Von irgendwoher ertönte wieder eine Pfeife und signalisierte das Ende des Hofgangs. In einer der hinteren Reihen stimmte ein Mann mit tiefer Baritonstimme ein Mantra an. Om mani padme hum. Er fuhr etwa eine halbe Minute lang allein damit fort, dann schloß sich ihm ein zweiter Mönch an, gefolgt von noch einem und noch einem, bis kurz darauf die gesamte Gruppe einfiel und die wütenden Pfeifen übertönte.
Die Häftlinge bewegten sich langsam auf den zentralen Antreteplatz zu und feierten mit ihrem Mantra das Wunder. Shan schloß sich ihnen an und stimmte in die Litanei ein. Plötzlich packte eine Hand ihn am Ellbogen und zog ihn zur Seite. Sergeant Feng.
Sie sahen dabei zu, wie die Gefangenen sich in einem großen Viereck auf dem Boden niederließen und weiterhin laut Buddha priesen.
Die Kriecher waren sofort zur Stelle. Shan konnte sehen, daß die Soldaten etwas riefen, doch ihre Stimmen gingen in dem widerhallenden Mantra unter. Shan wollte sich losreißen, Feng aber hielt ihn mit eisernem Griff zurück. Die Schlagstöcke wurden gezückt, und dann fingen die Kriecher an, langsam und methodisch auf die Schultern und Rücken der Sträflinge einzuprügeln. Immer wieder hoben und senkten die Knüppel sich, als wären es Sicheln, die Weizen schnitten.
Die Schläge zeigten keinerlei Auswirkungen.
Ein Offizier der Öffentlichen Sicherheit erschien. Sein Gesicht war eine wutverzerrte Fratze. Er brüllte in ein Megaphon, wurde jedoch ignoriert. Dann riß er einem seiner Männer den Schlagstock aus der Hand und hieb dem nächstbesten Mönch damit so hart auf den Kopf, daß der Knüppel zerbrach. Der Mann sackte bewußtlos zusammen, doch die Litanei dauerte an.
Der Offizier ließ den geborstenen Schlagstock fallen und schritt die Reihen ab. Die ganze Szene entwickelte sich wie in Zeitlupe.
»Nein!« rief Shan und wand sich vergeblich in Fengs Umklammerung. »Rinpoche!«
Der Offizier umrundete das gesamte Viereck und befahl dann zwei Kriechern, einen der Mönche in die Mitte zu zerren. Es war einer der jüngeren Männer aus einer anderen Hütte. Der Mönch hatte sich den Kopf kahlgeschoren und trug ein rotes Band um den Arm. Er betete weiter, blieb auf den Knien und schien die Kriecher gar nicht zu bemerken. Der Offizier stellte sich hinter ihn, zog die Pistole und schoß ihm eine Kugel durch den Kopf.