172572.fb2 Der fremde Tibeter - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 16

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Kapitel 15

Während der Fahrt vom Lager zur Drachenklaue hielt Sergeant Feng mit beiden Händen das Lenkrad umklammert und schaute die ganze Zeit mit leerem, bekümmertem Blick nach vorn. Auch als sie in die Abzweigung oberhalb der alten Hängebrücke einbogen, schwieg er. Diesmal gab es keine Auseinandersetzung, und Feng versuchte auch nicht, Shan und Yeshe zu folgen, als die beiden den Abgrund überquerten. Jeder von ihnen trug einen kleinen Beutel, in dem sich Vorräte für einen Tag befanden.

Die Luft war ungewöhnlich ruhig, ohne den Wind, der fast immer bei Sonnenaufgang aufkam. Shan suchte den Hang vor ihnen mit dem Fernglas ab. Er war sich immer noch nicht sicher, wonach er Ausschau halten oder wohin er gehen sollte, nur daß der Berg nach wie vor ein entscheidendes Geheimnis barg. Von den Schafen, die ihn vielleicht zu dem rätselhaften jungen Hirten hätten führen können, war nichts zu sehen. Vielleicht mußte er zu dem Vorsprung mit den Kreidesymbolen zurückkehren. Dann erspähte er am südlichen Ende der Kammlinie einen roten Fleck inmitten der frühmorgendlichen Schatten. Sobald er den Pilger vor der Linse hatte, konnte er erkennen, daß der Mann auf dem Pfad sich mit beachtlicher Geschwindigkeit vorwärts bewegte. Er vollführte das kjangchag, das fortwährende Aufstehen, Stehen, Knien und Niederwerfen, das die demütige Untertänigkeit des Pilgers bezeugen sollte, mit einer Leichtigkeit, als würde er Freiübungen verrichten.

»Ich weiß immer noch nicht, wonach wir eigentlich suchen«, sagte Yeshe neben ihm.

»Ich auch nicht. Nach etwas Außergewöhnlichem. Vielleicht nach dem Pilger.«

Yeshe zuckte die Achseln. »Jedesmal, wenn wir hier sind, sehen wir einen Pilger. In Tibet ist das so normal wie der Regen.«

»Und stellt daher eine perfekte Tarnung dar.« Shan begriff plötzlich, was er übersehen hatte. »Gehen wir«, rief er. Nach wie vor war er zu keiner sicheren Erkenntnis gelangt, aber er wollte wissen, wohin der Pilger unterwegs war.

In schnellem Tempo folgten sie dem Verlauf der Gratlinie und ließen den Pilger nicht aus den Augen. Nach einer Stunde hatten sie ihn beinahe eingeholt und legten eine kurze Rast ein, während sie der Gestalt dabei zusahen, wie sie den Abstieg in das nächste Tal begann.

Das rote Gewand tauchte am Fuß des Kamms auf und verschwand hinter einer langen Felsformation. Shan und Yeshe teilten sich eine Flasche Wasser und warteten darauf, daß der Pilger auf der anderen Seite der Felsen wieder zum Vorschein kommen würde.

»Meine Mutter hat auch eine Pilgerfahrt unternommen«, sagte Yeshe. »Nach dem Tod meiner Schwester. Ich war zu der Zeit bereits im Kloster. Sie ist zum Berg Kailas aufgebrochen. Zum heiligen Berg. Sie hatte keinen guten Zeitpunkt gewählt. In den Bergen gab es späte Schneestürme und außerdem Truppenbewegungen wegen des Aufstands.«

»Solche Widrigkeiten machen die Leistung noch ehrenvoller.«

»Wir haben sie nie wiedergesehen. Jemand sagte, sie wäre eine Nonne geworden, andere behaupteten, sie hätte versucht, die Grenze zu überschreiten. Ich glaube, es war vermutlich sehr viel unkomplizierter. Sie ist einfach gestorben.«

Shan wußte nicht, was er sagen sollte. Er reichte Yeshe die Flasche und nahm das Fernglas. »Der Pilger ist nicht wieder aufgetaucht«, stellte er fest. Feng hatte ihm für diesen Tag seine Armbanduhr geliehen. Shan starrte verwirrt auf das Zifferblatt.

»Wann ist er hinter diesen Felsen verschwunden?«

»Vor zehn, fünfzehn Minuten.«

Shan sprang auf, ließ Yeshe, der noch immer die Flasche in der ausgestreckten Hand hielt, einfach stehen und lief den Abhang hinunter.

Er stieß seitlich auf den im Verlauf vieler Jahrhunderte ausgetretenen Pilgerpfad, der sich zwischen den Felsblöcken hindurchschlängelte und zu den wogenden Heideflächen des Hochtals führte. Als Yeshe ihn einholte, hatte Shan bereits hinter den Felsen nachgesehen und den Weg auf der Suche nach einem zweiten Pfad oder einer Abkürzung zurückverfolgt. Vergebens.

Einige Minuten später rief Yeshe aufgeregt und wies auf ein kleines Loch, einen niedrigen, knapp zwei Meter langen Tunnel, der von einer Platte gebildet wurde, die zerbrochen und zwischen zwei steile Felswände gestürzt war. Die Öffnung war kaum breit genug, um hineinzukriechen. Doch als Shan eintraf und hineinblickte, war Yeshe verschwunden.

Das Loch, so stellte er fest, endete nicht nach zwei Metern, sondern bog im rechten Winkel nach links ab. Shan quetschte sich hinein und folgte Yeshes undeutlicher Gestalt etwa fünfzehn Meter weit, bis die Decke des Tunnels zunächst anstieg und dann ganz verschwand. Sie befanden sich in einem schmalen, gewundenen Durchgang zwischen den Felswänden, dem sie in eine kleine Schlucht folgten.

»Wir sollten nicht hier sein«, flüsterte Yeshe nervös. »Es ist ein heiliger Ort. Er wird beschützt...«

Seine Worte verklangen, und seine Stimme verstummte angesichts des beeindruckenden Anblicks, der sich ihm bot. Vor ihnen, nur einen Steinwurf weit entfernt, erhob sich eine steile, hundertfünfzig Meter hohe Felswand. Diamanthelle Sonnenstrahlen schnitten durch die Schatten der Schlucht und verstärkten das Gefühl der Erhabenheit. In etwa dreißig Metern Höhe waren fünf große rechteckige Öffnungen als Fenster in den Fels gemeißelt. Darüber befanden sich drei kleinere, offenbar ebenfalls künstlich geschaffene Löcher, gefolgt von einer letzten, noch kleineren Öffnung fast neunzig Meter über ihnen. Aus den fünf Fenstern ragten Stangen, an denen leuchtendbunte Pferdefahnen hingen, riesige Banner von neun Metern Länge, die mit heiligen Symbolen geschmückt waren und im Wind flatterten.

Die Drachenklauen waren im Begriff, ihr Geheimnis preiszugeben, erkannte Shan.

»Verstecken Sie sich!« warnte Yeshe und trat hinter einen Felsen. »Da ist jemand am Wasser.«

Shan schaute zum Ende der Schlucht, wo sich in einem schimmernden Wasserbecken die Abbilder der Flaggen spiegelten. Unter einem einzelnen Weidenbaum am hinteren Rand des Teichs saß eine Gestalt und wandte ihnen den Rücken zu.

»Wir sollten diesen Ort nicht finden«, warnte Yeshe erneut. »Wir sollten gehen. Falls wir vorher um Erlaubnis bitten...«

»Wir haben keine Zeit für eine Erlaubnis«, sagte Shan und ging auf den Teich zu. Zwischen den Felsen wuchsen kleine Schwertlilien, und am Rand des Wassers saß ein Schwarm Vögel.

»Nicht alle sind froh, daß du gekommen bist«, sagte die Gestalt, als Shan sich noch drei Meter hinter ihr befand. Sie drehte sich nicht um. Die Stimme, die aufgrund des Wassers und der Felsen merkwürdig widerhallte, war die eines Kindes. »Aber ich habe gehofft, daß wir uns wiedertreffen würden. Man erzählt sich Dinge von dir, die ich nicht verstehe. Jetzt können wir noch einmal miteinander reden.«

»Deine Schafe haben dich schon wieder verlassen, wie ich sehe«, erwiderte Shan.

Der Junge drehte sich langsam um. Er lächelte. »Willkommen in Yerpa.«

Shan deutete auf Yeshe, der hinter ihm stand. »Das ist...«

»Ja. Man hat es mir berichtet. Yeshe Retang. Ihr könnt mich Tsomo nennen.«

Er erhob sich und führte sie schweigend zurück auf den Durchgang zu, den sie eben erst verlassen hatten, und wandte sich dann in Richtung der Felswand, wo er eine schmale Spalte betrat, die im Schatten verborgen lag. Nach zwanzig Schritten in völliger Dunkelheit erreichten sie eine trübe Butterlampe am Fuß einer gewundenen Treppe, die direkt aus dem Fels geschlagen war.

Sie folgten den Stufen, bis Shan die Füße weh taten; nach einer kurzen Rast gingen sie weiter. Auf ihrem Weg kamen sie an mehreren niedrigen Türöffnungen vorbei, die in dunkle Kammern führten. Aus einer drang das Geräusch einer betenden Stimme, aus einer anderen ein übler Gestank und ein tiefes Stöhnen. Schließlich erreichten sie einen großen Raum, der durch ein einzelnes hohes Fenster und ein Dutzend Kerzen erhellt wurde.

Die Wände waren von Gemälden bedeckt, Bildern der Schutzgötter sowie den vergangenen und zukünftigen Buddhas. Shan hatte mit einer Kapelle gerechnet, doch diese Kammer war weitaus kleiner, und er begann zu begreifen, daß er sich nicht in einem Kloster befand, sondern an einer anderen Art von heiligem Ort, die ihm nicht vertraut war. Ein einzelner Mann im Gewand eines Mönches saß am Boden und klopfte gegen eine spitz zulaufende Metallröhre, aus der zinnoberroter Sand rieselte. Er befand sich am Rand eines knapp zwei Meter durchmessenden Kreises, dessen größter Teil mit komplizierten Mustern und geometrischen Figuren gefüllt war, die aus verschiedenfarbigem Sand bestanden. In dem unfertigen Bereich, vor dem er saß, war das anzufertigende Muster bereits mit Kreide vorgezeichnet.

»Dies ist das Kalachakra-Mandala«, erklärte Tsomo. »Ein sehr altes Motiv.«

Das Sandbild bestand aus konzentrischen Ringen, die zu viereckigen Linien führten, welche die Wände von drei ineinander verschachtelten Palästen darstellten. Bewohnt wurden die Paläste von zahllosen Gottheiten, die bis in die kleinsten Einzelheiten abgebildet waren.

»Es handelt von der Entwicklung der Zeit«, fuhr Tsomo fort, »der Entfaltung der Ze it, denn Buddha kann es nicht ertragen, auch nur eine einzige Seele im Stich zu lassen. Daher verläuft die Zeit in einem immerwährenden Kreis, bis alle Geschöpfe erleuchtet sind.«

Shan kniete ehrfürchtig am Rand des Bildes nieder. Der Mönch neigte den Kopf in seine Richtung und fuhr mit der Arbeit fort, indem er das Mandala Stückchen für Stückchen vollendete.

»Siebenhundertzweiundzwanzig Gottheiten«, flüsterte Yeshe hinter ihm. »Früher hat man das in Lhasa jedes Jahr gemacht, für den Dalai Lama.«

»Richtig«, sagte Tsomo begeistert und zog Yeshe näher heran, damit er das Bild genauer betrachten konnte. »Dubhe hat bei einem alten Lama aus dem Potala-Palast gelernt. Wenn das Bild vollendet ist, werden alle traditionellen Gottheiten darauf zu sehen sein, jede anders, jede in der vorgeschriebenen Haltung. Dubhe arbeitet inzwischen seit drei Jahren daran. In vier oder fünf Monaten wird er fertig sein. Wir werden das Bild weihen und seine Schönheit feiern. Dann wird Dubhe es zerstören und mit frischem Sand von vorn beginnen.« Tsomo wies auf die halbhohen Regale aus roh behauenem Holz, die an den Wänden standen. Auf ihnen befanden sich unzählige kleine Tongefäße. »Ein Teil des Sandes von jedem hier jemals angefertigten Mandala wurde aufgehoben. Er ist sehr heilig und mächtig.«

Sie folgten einem Gang in einen größeren Raum mit vier Fenstern, den anderen rechteckigen Öffnungen, die sie von unten gesehen hatten. Am Rand der Kammer standen breite Tische, deren schräge Platten aus grobem Holz gefertigt waren. Die meisten Plätze blieben frei. Lediglich drei Mönche und eine Nonne waren an der Arbeit, ein jeder umgeben von Butterlampen und Behältern mit Pinseln und Tintensteinen.

Shan bemerkte die Hochachtung, mit der Tsomo von den Anwesenden gemustert wurde, aber auch die nervösen Blicke, die man ihm selbst und Yeshe zuwarf. Zwar hatte man den Mönchen gesagt, daß Fremde kommen würden, doch offenbar waren sie unsicher, wie sie sich verhalten sollten. Sie entschieden sich dafür, zu schweigen und es Tsomo zu überlassen, die prächtigen Manuskripte zu erläutern, mit deren Anfertigung sie beschäftigt waren. Ihre Vorlagen waren alte Bambusplatten und abgenutzte Gebetbücher, deren Inhalte sie auf lange schmale Seiten übertrugen, die man später nicht binden, sondern auf traditionelle Weise mit seidenen Umschlägen versehen würde. Über den Tischen lagen auf Regalen zahlreiche von ebendiesen Seidenpaketen. Man nannte siepotis, hatte Trinle ihm einst erklärt, Bücher, die in Gewänder gewickelt waren. Einer der Mönche arbeitete nicht mit Pinseln, sondern mit langen Beiteln und Meißeln. Er verzierte die langen Bretter, zwischen denen die potis verschnürt wurden. Shan blieb an dem Tisch stehen. Er war überrascht. Nicht wegen der komplizierten Details der Vögel und Blumen, die der Mönch schnitzte, sondern weil der Mann eine solche Schönheit erschaffen konnte, obwohl ihm ein Daumen fehlte.

Die Nonne stand auf und kam auf sie zu. »Die Geschichte eines jeden Klosters in Tibet«, sagte sie und deutete auf die hintere Wand. Ihre Stimme war rauh, als habe sie lange nicht gesprochen. »Da liegen Briefe des Großen Fünften an die kenpos, in denen Gelder für neue Kapellen angekündigt werden, und dort sind die originalen Baupläne für die Seilbrücke über den Drachenschlund.«

Tsomo zog Shan am Arm mit sich, während die Nonne den ehrfürchtig ergriffenen Yeshe an den Manuskripten entlang und weg von der Tür führte. Sie stiegen eine weitere Treppe empor und gelangten in eine Kammer, die tief im Innern des Berges lag. Sie wirkte wie ein Klassenzimmer. Im gesamten Raum gib es nur zwei Lampen, und die standen beide auf einem kleinen Altar. Am anderen Ende befanden sich Regale mit Töpferwaren, die zumeist zerbrochen waren; darüber hatte man Symbole an die Wand gemalt. Auf dem Boden lagen ein Teppich und einige Sitzkissen, auf denen zwei Mönche Platz genommen hatten.

Einer der Mönche wandte ihnen den Rücken zu und schaute zum Altar. Der andere, ein älterer, einfach gekleideter Mann mit verschmitzt funkelnden Augen, begrüßte sie mit einer leichten Verneigung. »Du bist überaus hartnäckig, Xiao Shan«, sagte der Mönch auf Mandarin. Hinter ihnen erklangen die hastigen Schritte nackter Füße. Drei Jungen in Schülergewändern kamen herein und setzten sich hinter den Mönch, der gesprochen hatte. Sie musterten Shan mit großen Augen und verblüfften Mienen.

»Weißt du, wir verdanken dir ein ziemliches Dilemma«, fuhr der alte Lama fort.

»Ich untersuche lediglich einen Mordfall.« Shans Blick richtete sich abermals auf die Symbole über den Töpferwaren. Erschrocken wurde ihm klar, wo er sie schon einmal gesehen hatte: als Kreidezeichen auf dem Vorsprung oberhalb der Drachenschlundbrücke.

»Ja, das wissen wir. Der Ankläger wurde nicht weit von hier ermordet. Der Einsiedler Sungpo sitzt in Haft. Die 404te befindet sich im Streik. Siebzehn Priester sind gefoltert worden. Einer der Häftlinge wurde hingerichtet. Das Büro für Öffentliche Sicherheit ist bereit, weitere Greueltaten zu begehen.«

»Sie wissen mehr über die 404te als ich«, sagte Shan verwundert. »Sind Sie der Abt dieser Einrichtung?«

Das Lächeln des Mannes schien sein gesamtes Gesicht einzunehmen. »Es gibt hier keinen Abt. Mein Name ist Gendun. Ich bin bloß ein einfacher Mönch.« Während er sprach, ließ er einen Rosenkranz durch die Finger gleiten, dessen Perlen aus einem dunklen, rötlichen Holz gefertigt waren. »Wird man dich dorthin zurückschicken, wenn du fertig bist?«

Shan schwieg einen Moment und dachte über den Mann nach, nicht über die Frage. »Es sei denn, man entscheidet sich für einen schlimmeren Ort.«

Ein weiterer Junge erschien, brachte eine Kanne Buttertee und füllte schweigend einige Schalen. Von irgendwoher erklangen einige tsingha, die winzigen, glockenähnlichen Zimbeln der buddhistischen Riten.

»Sie haben gesagt, ich stelle für Sie ein Dilemma dar«, sagte Shan und nahm eine der Schalen entgegen.

»Yerpa ist der geheime Raum eines nie gesehenen Hauses, das in einem Land der Schatten errichtet wurde. Das hat einer unserer Gelehrten vor dreihundert Jahren in einem Buch geschrieben.« Gendun hielt inne und lächelte Shan an. »Wir schreiben einander manchmal Bücher, da niemand sonst sie sehen kann. Er hat gesagt, wir würden uns hier zwischen den Welten befinden. Eine Zwischenstation, weder auf der Erde noch im Jenseits gelegen. Er hat es als Berg der Träume bezeichnet.«

»Das Auge des Raben«, sagte der andere Priester, der ihnen nach wie vor den Rücken zuwandte. Seine Stimme klang irgendwie vertraut.

Tsomo lächelte. »In der Bibliothek gibt es ein Gedicht über den tiefsten Winter. Zwischen hundert schneebedeckten Bergen, heißt es dort, bewegt sich nur das Auge des Raben.«

Shan bemerkte, daß Gendun auf Fengs Armbanduhr starrte. Shan streckte den Arm aus.

»Wie nennst du das?« fragte der Mönch.

»Eine Armbanduhr.« Shan nahm sie ab und reichte sie ihm.

Gendun betrachtete sie verwundert und hielt sie sich ans Ohr. Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Ach, ihr Chinesen«, sagte er und gab die Uhr zurück.

Tsomo wich mit einer ehrerbietigen kleinen Verbeugung von seiner Seite und kniete sich neben den zweiten Mönch, der noch immer zu dem Altar blickte.

»Auch bevor die Armeen aus dem Norden kamen, war dieser Ort nur den wenigen bekannt, die davon wissen mußten«, fuhr der alte Mönch fort. »Dem Dalai Lama. Dem Pantschen Lama. Dem Regenten. Man sagt, es sei eine der Höhlen des großen Guru Rinpoche. Es ist eine eigene Welt. Normalerweise geht niemand, der herkommt, je wieder von hier weg. Schon vor fünfhundert Jahren war es hier genauso wie jetzt. Und auch in weiteren fünfhundert Jahren wird es noch immer so sein«, sagte er im Brustton der Überzeugung.

»Es tut mir leid. Aber falls wir nicht zurückkehren, werden Soldaten kommen. Wir haben nichts Böses im Sinn.«

»Der Tunnel kann vor neugierigen Augen verschlossen werden. Das ist früher schon vorgekommen. Für mehrere Jahre, wenn es sein mußte.«

»Er könnte uns das Tao lehren«, warf Tsomo ein. »Wir könnten die Bücher des Laotse besser verstehen.«

»Ja, Rinpoche. Es wäre wunderbar, einen solchen Lehrer zu haben.« Gendun wandte sich wieder an Shan. »Bist du fähig, diese Dinge zu lehren?«

Shan nahm die Frage erst dann wahr, als der Mann sie wiederholte. Der Mönch hatte den Jungen Rinpoche genannt; es war die Anrede für einen ehrwürdigen Lama, einen wiedergeborenen Lehrer. »Ein alter Abt hat einmal zu mir gesagt: >Ich kann die Bücher rezitieren. Ich kann dir die Zeremonien zeigen. Aber ob du sie lernst, liegt allein bei dir.<«

Tsomo lachte leise und triumphierend auf, erhob sich dann und goß Shan Tee nach. »Es heißt, in manchen Teilen Chinas sei es unmöglich, das Tao und Buddhas Weg voneinander zu trennen.«

»Während meiner Ze it in Peking habe ich jeden Tag einen geheimen Tempel besucht. Auf einer Seite des Altars stand eine Statue von Laotse, auf der anderen saß Buddha.«

Tsomo bekam erneut große Augen. »Vom Gipfel eines Berges aus scheint alles stets so weit entfernt zu sein. Wir müssen noch viel lernen.«

Der Moment war magisch. Niemand sprach. Der Klang der tsingha kam näher. Ein Junge erschien, vor sich die baumelnden kleinen Zimbeln. Hinter ihm folgten zwei Frauen, Nonnen, von denen eine ein Tablett mit zwei abgedeckten Schalen und die andere eine große Kanne Tee trug. Sie stellten die Gegenstände vor dem Altar ab, und der Mönch, der dort kniete und Shan noch immer den Rücken zuwandte, begann ein Ritual der Segnung.

Shan wußte, daß er die Stimme zuvor schon gehört hatte, aber er kannte nur sehr wenige Mönche außerhalb der 404ten. Hatte er diesen Mann in Saskya gesehen? Vielleicht in Khartok? Angestrengt musterte er den Fremden im trüben Licht, während die Nonnen und Mönche abwechselnd zeremonielle Worte sprachen, die Shan nicht verstand. Als das Ritual beendet war, stand der Mönch vor dem Altar auf und wandte sich dann zu Shan um.

»Bist du bereit?« fragte er. Es war Trinle.

Schweigend sahen sie sich an. Shan fühlte sich seltsam ergriffen. Aus irgendeinem Grund war es ihm nicht möglich, Trinle danach zu fragen, wie er sich aus dem Lager gezaubert oder warum er sich umständlich als Pilger verkleidet hatte, um nach Yerpa zu gelangen. Statt dessen folgte er ihnen, Trinle, Tsomo und den beiden Nonnen, als diese eine weitere steile Treppe hinaufstiegen, eine schmale, gewundene Passage, die, wie auch die anderen, nach Jahrhunderten der Benutzung tief ausgetreten war. Nach einer Minute anstrengenden Aufstiegs erreichten sie einen Treppenabsatz. Die Stufen führten noch weiter, doch nach links verlief ein schwach erhellter Gang tiefer in den Berg hinein. Zu beiden Seiten konnte man mehrere schwere Holztüren erkennen, bevor eine Biegung des Korridors die weitere Sicht versperrte.

Die Gruppe blieb auf der Treppe und stieg schweigend mindestens fünf weitere Minuten lang nach oben. Zweimal mußte Shan anhalten und sich gegen die Wand lehnen, nicht aus Erschöpfung, sondern wegen des merkwürdigen, überwältigenden Gefühls, etwas zu durchqueren, als würde er sich gegen eine Barriere stemmen. Er schien etwas zu hören, aber da waren keine Geräusche. Er schien huschende Schatten auf der Wand zu sehen, aber es gab nur eine einzige, nicht flackernde Lampe, die ein großes Stück vor ihm getragen wurde. Es war, als würde jeder einzelne Schritt sie nicht etwa in einen anderen Teil des Berges bringen, sondern in eine andere Welt. Immer wenn er anhielt, wartete Trinle mit gelassenem Lächeln auf ihn.

Sie erreichten einen Absatz mit einer dicken hölzernen Tür, deren Oberfläche kunstvoll mit den geschnitzten Gesichtern der Schutzdämonen verziert war und vor der ein schwerer schmiedeeiserner Riegel lag. Tsomo wartete, bis sie alle sich auf dem Absatz eingefunden hatten, um eine geschlossene Prozession zu bilden. Dann öffnete er die Tür und ging leise betend in die Kammer voran.

Es handelte sich um einen kargen, quadratischen Raum von etwa neun Metern Seitenlänge, in dem sich niemand sonst befand. Ein einfacher Tisch, zwei Stühle, eine große eiserne Kohlenpfanne und einige Regale mit Manuskripten stellten die einzigen Einrichtungsgegenstände dar. Ein detailliertes Gemälde auf einer der Wände zeigte das Leben Buddhas. Die gegenüberliegende Wand bestand aus Zedernholz; in ihrer Mitte war eine Tafel von ungefähr der Größe der Tür zu sehen, wenngleich man weder Angeln noch Riegel erkennen konnte. Man hatte die Tafel mit handgefertigten Schrauben befestigt, deren Muttern fast so groß wie Shans Faust waren. Daneben lag eines der verzierten Manuskripte auf dem Boden, direkt unterhalb eines schwarzen rechteckigen Faches von etwa fünfundzwanzig Zentimetern Höhe und einem halben Meter Breite.

Schweigend entzündete Trinle weitere Butterlampen und wandte sich zu Shan um. »Kennst du den Begriff gomchen?« fragte er so beiläufig, als wären sie gemeinsam in ihrer Hütte bei der 404ten. »Er wird heutzutage selten gebraucht.«

Shan schüttelte den Kopf.

»Ein Einsiedler der Einsiedler. Ein lebender Buddha in lebenslanger Klausur«, sagte Trinle.

»Der Zweite war es, der beschloß, man müsse den gomchen schützen«, führte Tsomo die Erklärung fort. »Ein heiliger Vertrauensposten. Ein kleiner, abgelegener heiliger Ort mußte ausgewählt werden, um seine Zuflucht so tief zu verbergen, daß das Geheimnis niemals gelüftet werden würde.«

»Der Zweite?« fragte Shan verwirrt.

»Der Zweite Dalai Lama.«

»Aber das war vor fast fünfhundert Jahren.«

»Ja. Es hat bislang vierzehn Dalai Lamas gegeben, doch nur neun unserer gomchen.« Trinles Stimme, kaum lauter als ein Flüstern, klang ungewöhnlich stolz.

Tsomo ging zu dem Manuskript und schlug eine Seite auf, die mit einem Seidenstreifen markiert war. Als er las, kehrte das heitere Lächeln auf sein Gesicht zurück.

Die Nonnen nahmen die Abdeckung von dem Tablett und stellten Schalen mit tsampa und Tee neben das Manuskript. Das war gar kein schwarzes Fach dort in der Wand, erkannte Shan, sondern ein Loch, das zu einem dahinter befindlichen Raum führte. Er erinnerte sich an das kleine einzelne Fenster ganz oben in der Felswand.

»Ihr sorgt hier für einen Einsiedler«, flüsterte er.

Trinle legte einen Finger an die Lippen. »Keinen Einsiedler. Den gomchen«, sagte er und sah schweigend dabei zu, wie Tsomo und die Nonnen das Essen anrichteten. Als sie damit fertig waren, kniete Trinle sich neben ihnen auf den Boden und warf sich betend vor der Zelle in den Staub.

Niemand sprach, bis sie die lange Treppe wieder hinabgestiegen waren und erneut die kleine Kapelle betraten, in der Shan auf Trinle gestoßen war.

»Es ist schwer zu erklären«, sagte Trinle. »Der Große Fünfte sagte, der gomchen sei wie ein einzelner strahlender Diamant, der in einem riesigen Berg verborgen liegt. Als ich jung war, sagte unser Abt, der gomchen sei all das, was in uns zu sein versuche, aber ohne die Bürde des Wollens.«

»Du hast gesagt, es gebe einen heiligen Vertrauensposten, ein Kloster, das den gomchen beschützt.«

»Es ist uns stets eine große Ehre gewesen.«

Shan blickte verwirrt auf. »Aber dieser Ort hier ist nicht gerade ein gompa.«

»Nein. Nicht Yerpa. Nambe gompa.«

Shan starrte ihn an. »Aber Nambe gompa gibt es nicht mehr.« Choje war der Abt von Nambe gompa gewesen. »Es wurde von den Flugzeugen der Armee vernichtet.«

»Nun«, sagte Trinle mit seinem heiteren Lächeln, »die steinernen Wände wurden tatsächlich zerstört. Aber Nambe ist mehr als diese alten Mauern. Es gibt uns immer noch, und nach wie vor haben wir Yerpa gegenüber unsere heilige Pflicht zu erfüllen.«

Shan war nach dieser Eröffnung Trinles wie betäubt. Er dachte an Choje, der bei der 404ten ebenfalls seine heilige Pflicht tat, um Yerpa zu schützen. Dann bemerkte er, daß Tsomo neben ihm saß. »Er schreibt ganz wunderbar, wenn er nicht meditiert«, sagte Tsomo. »Über die Entwicklung der Seele.«

Shan erinnerte sich an das Manuskript in dem Vorraum. Der gomchen kommunizierte mit ihnen, indem er religiöse Traktate in das Manuskript schrieb. »Wie lange ist es her?« fragte Shan, noch immer von tiefem Respekt erfüllt. »Seit man die Schrauben festgezogen hat.«

Die Antwort schien Trinle schwerzufallen. »Zeit ist kein Maßstab für ihn«, sagte er. »Letztes Jahr hat er ein Gespräch mit dem Zweiten Dalai Lama aufgeschrieben. Als wäre er dabeigewesen, als hätte es sich gerade erst zugetragen.«

»Aber in Jahren gemessen«, ließ Shan nicht locker. »Wann hat er...«

»Vor einundsechzig Jahren«, sagte Tsomo. Seine Augen strahlten vor Freude.

»Die Welt sah damals noch ganz anders aus«, stellte Shan ehrfürchtig fest.

»Sie existiert immer noch. Für ihn. Er weiß nichts davon. Das ist eine der Regeln. Die Außenwelt ist irrelevant. Er denkt allein an die Buddhaschaft.«

»Nachts kann er die Sterne beobachten«, sagte Tsomo in eigenartig sehnsüchtigem Tonfall.

»Du meinst, er weiß nichts von..« Shan rang um die richtigen Worte.

»Den Sorgen der diesseitigen Welt?« bot Trinle an. »Nein. Sie kommen und gehen. Es hat schon immer Leid gegeben. Es hat schon immer Invasoren gegeben. Die Mongolen. Die Chinesen, mehrere Male. Sogar die Briten. Invasionen gehen vorbei. Sie haben keinen Einfluß auf unser Glück.«

»Glück?« fragte Shan mit erstickter Stimme.

Trinle schien über diese Frage aufrichtig überrascht zu sein. »Das Glück, in der Lage gewesen zu sein, die gegenwärtige Inkarnation in diesem heiligen Land zu verbringen.« Er musterte Shan. »Das Leid unseres Volkes ist für die Arbeit des gomchen nicht von Bedeutung«, sagte Trinle und klang dabei auf einmal besorgt. Es war, als sei er zu der Überzeugung gelangt, sein Besucher müsse beruhigt werden. »Man darf ihn nicht mit der Welt belasten. Deshalb hat es auch so viele Bedenken gegeben, nachdem du Tsomo zum erstenmal getroffen hattest.«

»Nachdem ich Tsomo getroffen hatte?«

»Es gab Beratungen. Wir fragten uns, ob er vergiftet worden war.«

»Falls es drinnen unwichtig ist, muß es auch draußen unwichtig bleiben, habe ich gesagt«, warf Tsomo ein.

Plötzlich verstand Shan mit schmerzlicher Klarheit. »Er könnte bald sterben, der gomchen.«

»Nachts können wir ihn husten hören«, sagte Trinle bedrückt. »In seiner Waschschüssel ist manchmal Blut. Wir haben ihm zusätzliche Decken angeboten. Er benutzt sie nicht. Wir müssen bereit sein. Tsomo ist der zehnte.«

Diese Worte ließen Shan erschaudern. Sprachlos starrte er den lebensprühenden, scharfsinnigen Jugendlichen an, den man bald für immer im Fels einschließen würde. Tsomo erwiderte seinen Blick mit einem breiten Lächeln.

Sie brachten Shan zurück in die Bibliothek, wo Yeshe noch immer mit großen Augen über den Manuskripten brütete. Als Trinle und Tsomo sich zu ihm gesellten, erschien Gendun an der Tür.

»Ich glaube, daß Ankläger Jao getötet wurde, um Yerpa zu schützen«, sagte Shan auf einmal, bevor sie den Raum betraten.

»Der Ankläger hatte viele Feinde«, stellte der alte Mönch fest.

»Ich meine, daß der Mord absichtlich auf der Drachenklaue verübt wurde, um den gomchen zu schützen.«

Gendun schüttelte langsam den Kopf. »Bei uns gibt es jeden Morgen ein Gebet. Eine Segnung des Windes, damit er sanft zu den Vögeln ist. Eine Segnung unserer Schuhe, damit sie nicht auf Insekten treten.«

»Was wäre, wenn es andere Tibeter gäbe, die euch beschützen wollen und sich nicht so viele Gedanken um den Tod von Insekten machen.«

Der alte Mann wirkte sehr traurig. »Dann würde das Vertrauen, das der Zweite in uns gesetzt hat, mißbraucht werden. Wir könnten nicht akzeptieren, daß unser Schutz durch die Verletzung eines heiligen Gelübdes herbeigeführt wird.«

Shan ging im Raum umher und blieb vor den Fenstern stehen. Gendun gesellte sich kurz darauf zu ihm. Der kleine Teich wurde von der Sonne beschienen. In der Nähe des Wassers lagen auf Decken vier Gestalten im Licht. Sie meditierten nicht, sondern lagen da, als seien sie völlig erschöpft und hätten nicht einmal genug Kraft, um zu sitzen.

»Gibt es hier Krankheiten?« fragte er den Mönch.

»Das ist der Preis, den wir bezahlen. In den letzten Jahren sind neue Krankheiten aufgetaucht, die unsere Kräuter nicht heilen können. Manchmal bekommen wir pockennarbige Gesichter und Fieber. Und manchmal wechseln wir auch schon in jungen Jahren ins nächste Leben über.«

»Die Blattern«, sagte Shan bestürzt.

»Ich habe diesen Namen aus dem Tal schon gehört.« Gendun nickte. »Wir nennen es Wangenfäule.«

Mit einem Gefühl hilflosen Entsetzens schaute Shan zu den zerbrechlichen Gestalten hinunter. Was hatte Li gesagt, als er Dr. Sung verspottete? In den Bergen gibt es manchmal Krankheiten, die im Rest der Welt schon längst ausgerottet wurden. Shan hatte die plötzliche Schreckensvision, alle Mönche wären an einer Krankheit gestorben und würden den gomchen allein in seiner versiegelten Kammer zurücklassen. Er blinzelte, um die Bilder zu vertreiben, und drehte sich um. Gendun war an den Tisch neben Yeshe getreten. Niemand achtete in diesem Augenblick auf Shan. Die Mönche standen jetzt alle bei Yeshe, der sie mit einer Vielzahl aufgeregter Fragen überschüttete, während er ein weiteres altes Manuskript studierte. Shan stahl sich leise aus dem Raum.

Der Korridor war leer. Shan rannte die Treppe bis zum ersten Absatz hinauf und betrat den schwach erhellten Gang. Er nahm eine der Butterlampen aus ihrer Wandnische und öffnete die erste Tür.

Es war ein kleiner Raum, nicht viel mehr als ein Wandschrank. Die Regale hier waren mit zusammengelegten Wandteppichen gefüllt. Eine große Zederntruhe enthielt nichts außer vier Paar ausgetretener Sandalen.

Der nächste Raum war größer, aber sein einziger Inhalt bestand aus Tongefäßen voller Kräuter und Schachteln mit Schreibpinseln.

Das dritte Zimmer enthielt große Keramiktöpfe mit Gerste. Auf einem Tisch in der Mitte lag ein schmiedeeiserner Schraubenschlüssel von mehr als einem Meter Länge. Enttäuscht blieb Shan stehen. Hier hätten Kostüme sein sollen. Er war sich so sicher gewesen, daß sie hier sein würden. Jemand hatte das Vertrauen mißbraucht und ein Kostüm aus Yerpa benutzt, um Jao zu töten. Shan lief um die Biegung des Gangs und kam an vier weiteren Türen vorbei, bis er das Ende des Korridors erreichte, wo ein großer Wandteppich mit Szenen aus den Leben Buddhas hing. Er schob ihn beiseite. Dahinter war eine Tür verborgen.

Der Raum war größer als die anderen. Es roch modrig, und ein schwerer Weihrauchduft hing in der Luft. Shan hob die Lampe und seufzte zufrieden. Das flackernde Licht fiel auf Goldbrokat. Hier waren die Kostüme, insgesamt acht an der Zahl, und lagen in tiefen Regalen vor den vier Wänden. Seine Hand schloß sich um das gau an seinem Hals, und er trat vor. Die lederumwickelten Skelettarme der Kreaturen hingen aus den Ärmeln. Er ging zu der nächstbesten Figur, hielt ihr die Lampe neben den Kopf und stöhnte entsetzt auf.

Er fiel auf die Knie. Ihm wurde übel.

»Dies ist ein sehr besonderer Ort«, sagte jemand hinter ihm. Es war Tsomo.

Shan blickte langsam auf. Er ekelte sich vor sich selbst. »Ich wollte nicht...«, krächzte er. »Ich mußte es wissen. Ob es Kostüme gibt. Für Dämonentänzer.«

Tsomo nickte. In seinem Blick lag bereits wieder Versöhnung. »Das ist verständlich. Aber dies hier ist eine arme Einsiedelei. Wir feiern nicht viele Feste. Wir haben keine solchen Kostüme.«

Shan stand auf und hob den Blick. »Ich habe befürchtet, ich würde Tamdin hier finden. Ich mußte...« Er beendete den Satz nicht.

»Nicht hier. Hier...« Tsomo wies ehrfürchtig auf die stummen Gestalten in den Regalen. »Hier liegen bloß ein paar schlafende alte Männer in ihrem Berg.«

Shan wich zurück. Der Anblick der mumifizierten Einsiedler von Yerpa hatte sich für immer in sein Hirn gebrannt.

Als er die Tür schloß, lächelte Tsomo gelassen. »Manchmal besuche ich sie, um zu meditieren. Ich verspüre stets großen Frieden, wenn ich bei ihnen bin.«

Als sie an der Tür des Mandala-Raums wieder zu Yeshe stießen, überreichte Gendun den beiden Besuchern jeweils eines der kleinen Tongefäße aus den Regalen.

»Vor hundert Jahren hat es hier ein sehr prachtvolles Mandala gegeben, angefertigt von einem Mönch, der wenig später unser gomchen werden sollte. Das hier sind die letzten Reste des Sandes.«

Yeshe keuchte auf und schob das Gefäß von sich. »Ich kann ein solches Geschenk nicht annehmen.«

Gendun lächelte. »Das ist kein Geschenk. Es ist eine Vollmacht.«

Shan sah, daß Yeshe verstand. Diese Gabe wurde ihnen zur treuen Bewahrung überreicht. Der alte Mönch legte Yeshe die Hand auf den Hinterkopf und murmelte ein kurzes Abschiedsgebet.

Sie sprachen nicht mehr, bis sie das Felsgewirr erreichten, das aus Yerpa herausführte. Yeshe war bereits zwischen den Steinen verschwunden, als Tsomo eine Hand auf Shans Schulter legte.

»Warum tut ihr das?« fragte Shan. »Warum bringt ihr euer Geheimnis durch mich in Gefahr?«

»Es würde mich traurig machen, falls du es als eine Last empfändest.«

»Keine Last. Eine Ehre. Eine Verantwortung.«

»Trinle und Choje haben beschlossen, es sei nicht länger rechtschaffen, dich nicht davon wissen zu lassen.«

»Aber wird es mir dabei helfen, den Mörder zu finden?« fragte Shan beinahe flüsternd und umklammerte das Sandgefäß in seiner Tasche. Sie hatten ihm eine Vollmacht verliehen. Konnten die Geheimnisse von Yerpa ihn dazu befähigen, Sungpo zu retten?

Tsomo zuckte die Achseln. »Vielleicht wird es lediglich alles einfacher machen, falls du ihn nicht findest. Du mußt dich daran erinnern, was du an jenem ersten Tag zu mir gesagt hast. Von Laotse. Wer weiß, daß er nicht weiß, ist weise.« Der Junge deutete ein Lächeln an, das beinahe schadenfroh wirkte.

»Da ist etwas, das mich im Hinblick auf deine Person verwirrt«, sagte Shan. »Der gomchen weiß nichts von der Welt dort draußen. Doch du bist der zukünftige gomchen. Du weißt davon. Von den Invasoren, den Morden, den Blutbädern.«

Tsomo schüttelte den Kopf. »Ich kenne diese Dinge nicht. Man hat mir beigebracht, nicht über die Berge hinauszublicken. Ich habe von solchen Möglichkeiten gehört. So wie unser neunter gomchen von dem Großen Krieg gehört hat, und daß der Kaiser Pu Yi in Peking entthront worden ist. Aber das sind nur Worte. Als würde man die Schilderung eines fernen Planeten hören. Wie Fabeln. Keine meiner Wirklichkeiten. Ich bin ihnen nicht begegnet.« Schweigend sah er Shan einen Moment lang an. »Ich bin dir begegnet. Du bist das größte Stück Außenwelt, das ich je erfahren habe.«

Shan wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Ich bin wohl kaum der Maßstab, nach dem man die Welt beurteilen könnte.«

»Es besteht keine Veranlassung, ein Urteil zu fällen. Ich feiere lediglich, was der große Strom des Lebens in unsere Richtung treibt. Eines Tages hat unser gomchen in sein Buch das Bild eines Buddhas mit langen flachen Flügeln gezeichnet. Das war, was er gesehen hatte, als ein Flugzeug über uns hinwegzog.«

Shan schaute zu dem hohen, winzigen Fenster empor, das im Schatten des Nachmittags kaum mehr zu erkennen war. »Ich beneide ihn«, sagte er.

»Den gomchen

Shan nickte. »Ich glaube, es ist am besten, unwissend zu bleiben«, sagte er bekümmert.