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Rebecca Fowler saß an ihrem Schreibtisch, hatte den Kopf auf eine Hand gestützt und wirkte sorgenvoll.
»Sie sehen furchtbar aus«, sagte sie, als Shan hereinkam.
»Ich bin auf der Südklaue gewesen«, erwiderte er und versuchte, gegen die Erschöpfung anzukämpfen. »Eine kleine Erkundung.« Sergeant Feng rauchte mit einigen Arbeitern draußen eine Zigarette. Yeshe lag schlafend im Wagen. »Ich muß Sie etwas fragen.«
»Einfach so«, sagte sie. Die Verbitterung kam zurück. »Während Sie über die Drachenklauen geschlendert sind, ist Ihnen plötzlich etwas eingefallen.« Sie fuhr sich mit den Fingern durch das kastanienbraune Haar und blickte auf, ohne auf eine Antwort zu warten. »Ich habe seine Hand nach dort oben mitgenommen. Die Hand Ihres Dämons. Die Leute wollten, daß ich zusammen mit ihnen Mantras aufsagte. Oben auf dem Berg hat irgend etwas zu heulen angefangen.«
»Irgend etwas?«
Sie schien ihn nicht zu hören. »Die Sonne ist untergegangen«, erzählte sie mit gehetzter Miene. »Man hat Fackeln angezündet und mit dem Mantra weitergemacht. Der Mond ging auf. Das Heulen fing an. Ein Tier. Kein Tier. Ich weiß nicht.« Sie schlug die Hände vor das Gesicht. »Ich habe seitdem nicht viel geschlafen. Es war alles so... ich weiß nicht. So real.« Sie sah ihn entschuldigend an. »Tut mir leid. Ich kann es nicht beschreiben.«
»Letztes Jahr war ein Mann aus Shanghai in meiner Hitte«, erzählte Shan ruhig. »Anfangs hat er über die Mönche gespottet. Aber später sagte er, daß er sich nachts manchmal die Hand vor den Mund hielt, wenn er die Mantras hörte, weil er Angst hatte, seine Seele würde entweichen.«
Die Amerikanerin schenkte ihm ein schwaches, dankbares Lächeln.
»Ich muß mir einige Karten ansehen. Satellitenkarten.«
Sie zuckte zusammen. »Als die Öffentliche Sicherheit mir die Satellitenlizenz erteilt hat, mußten wir schriftlich niederlegen, wer Zugang zu den Unterlagen erhält. Es gibt nur acht befugte Personen. Die Software führt Buch über jeden Ausdruck. Der Major war ziemlich hartnäckig. Auf diese Weise kann man sichergehen, daß wir uns nichts anschauen, was nicht für unsere Augen bestimmt ist.« Sie gab sich zurückhaltend und wirkte plötzlich argwöhnisch. Shans Bitte schien sie erschreckt zu haben.
»Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.«
Sie seufzte, sagte jedoch nichts.
»Ich brauche die Abschnitte, auf denen die Südklaue zu sehen ist. Zu verschiedenen Zeitpunkten, auf jeden Fall aber einschließlich des Tags von Jaos Ermordung sowie einen Monat davor.«
»Ich hätte schon vor einer Stunde bei den hinteren Teichen sein sollen.«
»Ich brauche Ihre Hilfe.«
»In drei Tagen treffen die Touristen in Lhadrung ein. Mein monatlicher Bericht ist bereits seit einer Woche überfällig. Aus Kalifornien sind Faxe gekommen; man will wissen, ob wir das Problem mit der Betriebserlaubnis gelöst haben. Ich habe einen Job zu erledigen. Meine Aktionäre vertrauen darauf. Das Ministerium für Geologie vertraut darauf. Peking vertraut darauf. Die neunzig Familien, deren Existenz von dieser Mine abhängt, vertrauen darauf.« Sie stand auf und nahm den Schutzhelm, der auf ihrem Tisch lag. »Sie, Mr. Shan, sind der einzige, der keinen gesteigerten Wert darauf legt.«
»Ich dachte, das wäre eine ganz einfache Bitte.«
»Nun, das ist es nicht. Ich habe es Ihnen erklärt. Irgendwie glaube ich, daß Ihre Bitten nie >ganz einfach< sind.«
»Ich glaube, daß Jao zur Südklaue gelockt und ermordet wurde, weil jemand auf einer Ihrer Karten etwas entdeckt hat.«
»Wer hat etwas entdeckt? Jao?«
»Vielleicht. Oder der Mörder. Oder beide.«
»Lächerlich. Wir sind die einzigen, die diese Karten zu sehen bekommen.«
»Sie haben von acht Leuten gesprochen. Bei einer solch großen Anzahl lassen Geheimnisse sich womöglich nur schwer bewahren.«
»Falls Sie glauben, ich würde die halbe Öffentliche Sicherheit dazu einladen, unseren Laden hier wegen einer Verletzung der Sicherheitsauflagen auseinanderzunehmen, sind Sie verrückt.« Sie machte einen Schritt auf die Tür zu. »Ich dachte, Sie und ich, wir wären..« Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Als wir die Satellitenlizenz bekommen haben, sagte Kincaid, Oberst Tan würde vielleicht versuchen, uns zu einer Preisgabe der Karten zu bewegen.«
»Weshalb sollte Oberst Tan so etwas tun?«
»Um uns bei einer Sicherheitsverletzung zu erwischen und diese dann gegen uns zu verwenden.«
»Glauben Sie, daß ich versuche, Sie zu hintergehen?«
Fowler seufzte. »Nein, Sie nicht. Aber was ist, falls auch Sie nur benutzt werden?« Sie machte einen weiteren Schritt auf die Tür zu. »Besorgen Sie sich eine schriftliche Genehmigung.«
»Nein.«
Sie blickte über ihre Schulter zurück.
»Ansonsten würden Sie sich eines Sicherheitsvergehens schuldig machen«, stellte sie fest.
Langsam schüttelte sie den Kopf und ging noch ein Stück auf die Tür zu.
»Ich habe früher einen Priester gekannt. Als ich noch in Peking gelebt habe. Er hat mir oft geholfen.« Shan sprach zu ihrem Rücken. »Einmal habe ich in einem ähnlichen Dilemma gesteckt. Ich wußte nicht, ob ich nach Gerechtigkeit streben oder einfach nur das tun sollte, was die Bürokraten verlangt haben. Wissen Sie, was er gesagt hat? Er sagte, unser Leben sei das Instrument, das wir benutzen, um mit der Wahrheit zu experimentieren.«
Fowler blieb stehen und drehte sich langsam zu ihm um.
Schweigend sah sie ihn an und riß sich dann los, um sich aus einer Thermoskanne eine Tasse lauwarmen Tee einzugießen. Sie setzte sich hin und starrte die Tasse an. »Verdammt sollen Sie sein«, sagte sie. »Wer, zum Teufel, sind Sie? Jedesmal, sobald sich alles wieder ein wenig beruhigt hat, kommen Sie und...« Sie beendete den Satz nicht.
»Wir wollen beide dasselbe. Eine Antwort.«
Sie stand auf, schüttete den Tee in die Spüle und ging in den Computerraum, wo sie einen großen Schrank aifschloß, der lange schmale Schubladen enthielt. Sie suchte kurz im obersten Schubfach und legte dann ein Blatt auf den Tisch. »Wir drucken die Karten nur einmal pro Woche aus, manchmal auch nur zweimal im Monat. Diese hier ist zwei Wochen alt. Rastergröße zwanzig Meilen. Die ist für unsere Zwecke am besten geeignet. Wir haben außerdem noch hundert Meilen und fünf Meilen.«
»Ich benötige mehr Einzelheiten. Also das Fünf-Meilen- Raster, wenn es geht.«
Sie durchsuchte das Schubfach und blickte verwirrt auf. Dann zog sie eine andere Lade heraus. »Sie ist nicht da. Keine der Karten für die Südklaue.« Sie starrte in die leere Schublade.
»Aber Sie können weitere Ausdrucke anfertigen«, schlug Shan vor.
»Kincaid wäre fuchsteufelswild. Die Ausdrucke werden aus seinem Budget bezahlt, denn er ist für das Kartensystem verantwortlich.«
»Sie haben gesagt, Sie wollen, daß diese Sache endlich vorbei ist.«
»Momentan wäre ich schon ganz zufrieden damit, einfach nur zu erfahren, was vorbei eigentlich bedeutet«, sagte Fowler, trat dann an das Terminal und tippte einige Befehle ein. Fünf Minuten später erwachte der Drucker zum Leben.
Als sie das Foto auf den Tisch legte, reichte sie Shan eine Lupe dazu. Er folgte der Kammlinie bis zum unteren Ende der Karte. An dieser Stelle, an der das kleine südlich gelegene Tal begann, befand sich ein V-förmiger schwarzer Fleck. »Werden die Bilder alle zur gleichen Tageszeit aufgenommen?« fragte er. Am Rand stand eine Zeitangabe. 16.30 Uhr. »Könnten wir ein Bild vom selben Tag bekommen, nur früher? Mittags zum Beispiel.«
Sie druckte ein Foto aus, das zwei Monate zuvor um halb zwölf vormittags gemacht worden war. Der Schatten am südlichen Ende des Kamms war verschwunden. Er konnte in der abgelegenen Schlucht einen leuchtenden Farbklecks sehen, wo vorher keiner gewesen war. Yerpas große Pferdefahnen waren vom Satelliten aus zu sehen.
»An jenem Abend mit Jao«, sagte Rebecca Fowler auf einmal. Sie hatte ihn von der anderen Seite des Tisches aus beobachtet. »Da war noch etwas. Ich habe Ihnen nichts davon erzählt. Das Treffen hat nicht nur wegen der Wette stattgefunden, sonst hätten wir es auch auf später verschieben können. Ich glaube, er wollte sich mit mir treffen, um mir einige Fragen zu stellen. Und er hat an jenem Abend nachdrücklich auf Antworten gedrungen.«
»Er hat Ihnen Fragen gestellt?«
»Wir haben darüber gesprochen. Kincaid und ich. Wir hatten nicht vor, etwas zu verheimlichen. Aber angesichts all unserer Probleme mit der Produktion wollten wir nicht auch noch Teil irgendwelcher Ermittlungen werden.«
»Aber später haben Sie Ihre Meinung geändert.«
»Als die Anordnung der Teiche geplant wurde, vor meiner Ankunft, hat die Mine ihre Wassergenehmigung erhalten, das heißt das Recht, soviel Wasser wie nötig für die Teiche und die Veredelungsanlage zu entnehmen. Man muß sich registrieren lassen, damit die Bewässerung des Tals geplant werden kann. Als ich hier eintraf, habe ich einen Fehler bemerkt. Die Erlaubnis beinhaltete auch einen Fluß, der gar nicht hier entlangfließt. Er liegt auf der anderen Seite des Berges, am hinteren Ende der Nordklaue und noch weiter darüber hinaus, in einem ganz anderen Einzugsgebiet. Ich habe Direktor Hu Bescheid gegeben. Er hat gesagt, er würde sich darum kümmern, und wir müßten für dieses Wasser nichts bezahlen. Bezahlt haben wir auch nichts. Aber die Genehmigung wurde nie geändert.«
»Was bedeutet es, eine Erlaubnis für diesen anderen Fluß zu haben?«
»Nicht viel. Ich schätze, es verhindert lediglich, daß jemand anders das Wasser benutzt.«
»Demnach hat es sich bloß um einen verwaltungstechnischen Irrtum gehandelt.«
»Davon bin ich ausgegangen. Aber Jao wollte alles darüber wissen, kaum daß er sich an den Tisch gesetzt hatte. Er hatte irgendwie davon erfahren und war ganz aufgeregt. Er hat gefragt, wer die Erlaubnis ausgestellt habe und wieviel Wasser in jener Gegend zur Verfügung stünde. Ich konnte es ihm nicht sagen. Er hat gefragt, ob ich irgendwo eine Kopie der Genehmigung samt offizieller Unterschrift hätte. Als ich das bejahte, war er sehr zufrieden. Er sah so aus, als hätte er am liebsten laut gelacht. Dann hat er gesagt, er würde mich aus Peking anrufen und mir eine Faxnummer mitteilen, an die ich ihm das Dokument schicken sollte. Danach war das Thema beendet. Er hat Wein bestellt.«
Draußen wurden Stimmen laut. Einige Arbeiter näherten sich dem Gebäude. Fowler sprang auf und schloß die rote Tür. Sie lehnte sich dagegen, als würde sie sich auf Eindringlinge gefaßt machen. »Ich habe gar nicht mehr daran gedacht. Und dann kam Li in mein Büro und fischte nach Informationen über die Genehmigung.«
»Er fischte?«
»Eine ungefähre Ahnung hatte er bereits. Er hat Fragen gestellt, schien sich aber nicht sicher zu sein, was er eigentlich wissen wollte. Ich sollte ihm erklären, wonach Jao gefragt hatte.«
»Er ist der stellvertretende Ankläger«, sagte Shan. »Vermutlich Jaos Nachfolger. Vielleicht ist er auf eine Akte gestoßen, die er weiterverfolgen wollte.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Fowler. »Was ist, wenn diese Wasserrechte etwas mit Jaos Tod zu tun gehabt haben? Ein Tibeter würde wegen so einer Sache doch keinen Mord begehen. Warum sollte dieser Mönch sich deswegen Gedanken machen?«
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß Sungpo diesen Mord nicht begangen hat.«
Sie sah ihn unglücklich an. »Manchmal komme ich ins Grübeln. Wenn Jao deswegen ermordet wurde, was ist dann mit mir? Wir haben bei diesem Abendessen lange miteinander geredet. Vielleicht glaubt der Mörder, daß ich ebenfalls weiß, was Jao gewußt hat. Womöglich will mich jemand umbringen, und ich kenne nicht mal den Grund dafür. Nichts ergibt einen Sinn. Falls es nicht dieser Mönch Sungpo gewesen ist, wer versucht dann, ihm die Tat in die Schuhe zu schieben? Oberst Tan? Der stellvertretende Ankläger Li? Der Major? All diese Leute scheinen es so verdammt eilig zu haben, Sungpo vor Gericht zu stellen.«
»Der offizielle Grund dafür lautet, man wolle den Fall wegen der zahlreichen anstehenden Besucher so schnell wie möglich abschließen.«
»Vielleicht lügt jemand aus persönlichen und nicht aus politischen Gründen.«
Shan nickte anerkennend. »Sie lernen schnell, Miss Fowler.«
»Es macht mir angst.«
»Dann helfen Sie mir. Ich benötige weitere Karten. Von der Schädelhöhle zum Beispiel.«
»Wir haben hier bloß Bilder vom Einzugsgebiet unserer Wasserquellen.«
»Aber Sie können per Computer entsprechende Bilder anfordern.«
»Unser Vertrag erstreckt sich lediglich auf diese Region. Alles andere wird teuer. Fünfzig US-Dollar pro Anforderung. Wir geben die Rasterkoordinaten ein. Ein Computer bei uns zu Hause verarbeitet den Auftrag, überprüft unsere Abrechnungsnummer, stellt den Datensatz zum Download bereit und setzt die Kosten auf unsere Rechnung.«
»Was für Rasterkoordinaten?«
»Es gibt einen Katalog mit Gitternetzen, die jeweils mit Zahlencodes versehen sind.«
Shan griff in die Tasche und zog das Blatt mit den Ziffern hervor, die er aus Jaos geheimen Unterlagen abgeschrieben hatte. »Der Katalog«, sagte Shan. Er war plötzlich sehr aufgeregt. »Ist er hier?«
Das Format der Zahlen paßte genau. Er benötigte weniger als fünf Minuten, um den entsprechenden Abschnitt zu finden. Die Ziffern bezeichneten die Nordklaue und das sich dahinter erstreckende Farmland. Jao hatte Fotos von genau dem Gebiet gesehen, für das Fowler irrtümlich die Wasserrechte erteilt worden waren.
»Aber von uns hat er diese Bilder nicht bekommen«, protestierte Fowler. »Die haben nichts mit unseren Arbeiten zu tun. Wir würden niemals Karten anfordern, die eine andere Region als unser Einzugsgebiet zeigen.«
»Sind Sie sicher? Gibt es Aufzeichnungen darüber?«
»Auf den Rechnungen sind alle Anforderungen aufgeführt. Ich hänge mit der Kontrolle der Einzelheiten ungefähr drei Monate zurück.« Sie gingen in Fowlers Büro. Fünf Minuten später hatte sie die Einträge ausfindig gemacht. Zwei Wochen bevor der Ankläger ermordet worden war, hatte jemand eine dreimonatige Folge von Fotos des nördlichen Areals bestellt.
Shan legte die Rechnung in seinen Notizblock. »Können Sie diese Bilder ausdrucken, die Jao gesehen hat?«
Fowler nickte kaum merklich.
Shan ging zur Tür, um sich zu vergewissern, daß niemand lauschte. »Bringen Sie mir die Fotos morgen ins Lager Jadefrühling. Und ich brauche die Disketten, die Sie aus der Höhle mitgenommen haben.«
Fowler zögerte. »Die brauche ich ebenfalls.«
»Haben Sie schon einen genaueren Blick auf den Inhalt geworfen?«
»Natürlich. Es sind überwiegend Dateien in chinesischer Sprache, die Kincaid und ich nicht lesen können. Ein paar sind auf englisch und listen den Inhalt des Schreins auf. Man hat den Altar nach Lhasa gebracht und dort in einem neuen Restaurant aufgestellt. Das dürfte Jansen interessieren.«
»Weshalb sollte man Aufzeichnungen in englischer Sprache vornehmen?«
Fowler neigte den Kopf und sah Shan nachdenklich an. »Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht.«
»Weil es eine Falle ist«, schlug Shan vor.
Sie ließ sich auf ihren Stuhl am Schreibtisch sacken. »Für uns?«
»Für Sie. Für mich. Für Kincaid. Wer auch immer die Disketten mitnehmen würde. Ich glaube, daß der Major sie dort plaziert hat.«
»Ich möchte sie dem Büro der Vereinten Nationen übergeben.«
»Nein.«
»Wieso der Major?«
Shan nahm auf einem Stuhl an der Wand Platz. »Als eine Art Rückversicherung.« Er beugte sich vor und barg das Gesicht für einen Moment in den Händen. Ihn überkam das unwiderstehliche Verlangen, sich einfach auf dem Boden zusammenzurollen und zu schlafen. Er blickte auf. »Falls Sie Ihren Posten aufgeben müßten, wer würde an Ihre Stelle treten?«
Fowler verzog das Gesicht. »Sie meinen die Außerkraftsetzung der Betriebserlaubnis«, sagte sie seufzend. »Es gibt eine entsprechende Vertragsklausel. Die Firma bestimmt den ersten Manager. Danach läge die Entscheidung bei der Kommission.«
»Muß es ein Amerikaner sein?«
»Nicht unbedingt. Kincaid käme in Frage. Aber es könnte genausogut Hu werden.«
»Falls Sie Ihren Job behalten möchten, Miss Fowler, dann brauche ich diese Disketten.«
Sie musterte Shan eine Weile und nahm dann mit einer schnellen, entschlossenen Bewegung einige Bücher vom obersten Regalbrett. Sie griff hinter die anderen Bände, zog einen dicken Umschlag hervor und ließ ihn in Shans Hände fallen.
»Ich muß Sie um noch etwas bitten«, sagte Shan entschuldigend. »Sie müssen mich nach Lhasa bringen.«
Als sie in ihre Baracke im Lager Jadefrühling zurückkehrten, saß dort im Dunkeln Oberst Tan, rauchte und wartete auf sie. Feng und Yeshe zögerten, als sie Tans Miene sahen, und gingen dann wieder nach draußen, während Shan das Licht einschaltete und gegenüber von Tan Platz nahm. Auf dem Tisch lag eine Mappe. Daneben standen fünf Zigarettenstummel in einer Reihe.
Tans Gesicht wirkte verhärmt und angespannt. Er sah völlig erschöpft aus, als wäre er eben erst von einem langen Manöver zurückgekehrt. »Du hast es geglaubt, nicht wahr?« Er sprach zu seiner Zigarette. »Daß ich diese Dinge in dem Lotusbuch getan habe.«
»Ich habe lediglich wiederholt, was dort zu lesen steht«, sagte Shan. Die Stimmung war derart gereizt, daß die Luft zu knistern schien. »Ist es denn so wichtig, was ich glaube?«
»Zur Hölle, nein«, brüllte Tan.
»Warum fühlen Sie sich dann durch den Eintrag im Lotusbuch so beleidigt?«
»Weil es eine Lüge ist.«
»Sie meinen, weil es eine Lüge im Hinblick auf Ihre Person ist.«
»Sergeant Feng!« brüllte Tan.
Fengs Kopf erschien in der Türöffnung.
»Wo war ich 1963?«
»Wir waren im Grenzkontrollager 208. Innere Mongolei. Sir.«
Tan schob Shan die Mappe über den Tisch. »Meine Dienstakte. Alles. Versetzungen. Belobigungen. Tadel. Aufträge. Ich bin erst 1985 nach Tibet gekommen. Wenn du willst, sprich mit Madame Ko. Ich will, daß die Lügen aufhören.«
»Wollen Sie, daß Sungpo hingerichtet wird, oder wollen Sie, daß die Lügen aufhören?«
Tan funkelte ihn wütend an. Als er den Rauch durch die Nasenlöcher ausstieß, schien sein hageres Gesicht im trüben Licht körperlos über dem Tisch zu schweben. »Ich will, daß die Lügen aufhören«, wiederholte Tan.
»Das wird dem Mönch, der bei der 404ten erschossen wurde, auch nicht mehr helfen.«
»Das waren die Kriecher. Man hat mich vorher nicht um Rat gefragt.«
»Irgendwie fällt es mir schwer zu glauben, Oberst, daß Sie die Kriecher nicht aufhalten könnten, falls Sie das wollten«, sagte Shan leise.
An der Tür stieß jemand einen leisen, überraschten Fluch aus, und Shan sah gerade noch, wie Sergeant Feng sich auf den Exerzierplatz zurückzog.
Tan schwieg. Sein wütender Blick veränderte sich nicht.
»Der stellvertretende Ankläger Li hat mir ein Angebot gemacht«, eröffnete Shan ihm. »Er hat mir eine Gelegenheit aufgezeigt, alles zu seiner Zufriedenheit zu lösen.«
»Ein Angebot?« wiederholte Tan unheilvoll.
»Die Möglichkeit, alles zu einem hübschen kleinen Paket zu verschnüren. Er hat gesagt, Ankläger Jao habe in einem Korruptionsfall gegen Sie ermittelt. Deshalb hätten Sie Jao umbringen lassen. Er hat gesagt, falls ich gegen Sie aussagte, könnte er mich zu einem Helden machen.«
Tans Augen verengten sich zu zwei bedrohlichen Schlitzen. Seine Hand schloß sich um die Zigarettenschachtel, die auf dem Tisch lag, und fing an, den Inhalt langsam zu zerquetschen. »Und wie lautet deine Absicht, Genosse?« Aus dem Päckchen rieselten Tabakkrümel.
Shans Blick blieb völlig ungerührt. »Oberst, ich würde sagen, Sie sind gefühllos, eigensinnig, aufbrausend, manipulativ und ziemlich gefährlich.«
Tan beugte sich vor. Er sah so aus, als würde er Shan jeden Moment an die Kehle springen.
»Aber Sie sind nicht korrupt.«
Tan blickte auf sein zerstörtes Päckchen Zigaretten. »Demnach hast du ihm nicht geglaubt.«
Shan schüttelte langsam den Kopf. »Sie haben Li nie vertraut. Das ist der Grund, aus dem Sie mich mit diesem Fall beauftragt haben. Sie haben damit gerechnet, er könnte etwas Derartiges versuchen. Wieso?«
»Weil er ein erbärmlicher Speichellecker der Partei ist.«
Shan dachte eine Weile nach und seufzte. »Kein Lügen mehr, haben Sie gesagt.«
Mit einer zornigen Geste wischte Tan die Schweinerei beiseite, die er auf dem Tisch angerichtet hatte. »Miss Lihua hat ihn vor ein paar Monaten dabei erwischt, wie er einen geheimen Bericht an das Parteibüro in Lhasa schicken wollte. Darin hat er sich darüber beklagt, daß Jao und ich inkompetent wären und keine Ahnung von modernen Verwaltungsmethoden hätten. Ferner wollte er darum ersuchen, uns zwangsweise in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen.«
»Das hätten Sie mir auch schon früher erzählen können.«
»Es handelt sich dabei doch wohl kaum um Beweismaterial in einem Mordfall.«
Shan faltete die Hände und musterte sie. »Li ist darin verwickelt, ich weiß es. Es gibt keinen direkten Beweis. Aber bei allem, was er sagt und tut, hängt dieser Geruch an ihm.«
»Geruch?«
»Zum Beispiel der Grund für seine Reise nach Kham.«
»Er ist nach Kham gereist, weil du dorthin wolltest.«
»Nein, er ist mir nicht gefolgt. Er hat bereits vorher gespürt, daß ich der Wahrheit zu nahe kam. Li hat folgendes erkannt: Falls ich zu der Überzeugung gelangte, es könnte einen Zeugen geben, würde ich mich auf die Suche nach dieser Person machen. In Baltis Wohnung wollte Li uns einreden, Balti hätte das Auto gestohlen und wäre in irgendeine Stadt geflohen, um es dort zu verkaufen. Aber Li wußte es besser. Da er nicht sicher war, ob ich den Köder geschluckt hatte, mußte Li dringend nach Kham reisen, denn er wußte mit Sicherheit, daß Balti noch am Leben war. Was bedeutet, daß er ihn in jener Nacht hat weglaufen sehen. Oder daß der Mörder es ihm erzählt hat.«
Der Oberst atmete tief durch. »Du sagst, es geht nicht nur um Li allein.« Er suchte in der zerdrückten Packung nach einer unbeschädigten Zigarette und warf die Schachtel dann angewidert zu Boden.
»Da war noch etwas. Etwas, das er gesagt hat, als er mir das Angebot unterbreiten wollte. Falls ich mich kooperativ zeigte, würde er dafür sorgen, daß die Kriecher von der 404ten abgezogen werden.«
»Unmöglich. Li hat keine Amtsgewalt über das Büro für Öffentliche Sicherheit.«
»Ganz genau.« Shan ließ die Worte wirken. »Aber es würde reichen, wenn er die Unterstützung eines leitenden Offiziers des hiesigen Kommandos hätte. Vielleicht desselben Offiziers, der Leutnant Chang von der Grenze hergeholt hat.«
In Tans Augen loderte plötzlich eine ganz andere Art von Feuer. »Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Lassen Sie Miss Lihua herkommen. Wir brauchen sie hier, um Auge in Auge mit ihr zu sprechen.«
»Erledigt. Was noch?«
»Die goldenen Schädel aus der Höhle. Ich möchte einen davon als Beweisstück haben.«
Tan nickte. »Direktor Hu hat mir einen ins Büro geschickt. Mein Fahrer wird den Schädel noch heute abend vorbeibringen.«
»Und der Ankläger hatte ein wichtiges Treffen in Peking. Irgendwas im Zusammenhang mit Wasserrechten. Etwas über eine Bambusbrücke. Wir müssen alles darüber in Erfahrung bringen. Weder Sie noch ich können das erledigen, aber Sie kennen jemanden, der das vermag.«
An der Tür bewegte sich jemand. Feng hatte sich wieder herangetraut, und Yeshe stand direkt vor der Tür im Schatten.
»Noch eines, Oberst. Ich muß es wissen. Damals, bei dem Aufstand in Lhadrung, haben Sie da befohlen, den Mönchen die Daumen abzuschneiden?«
»Nein!« fauchte Tan. Er stand so hastig auf, daß die Bank umkippte, auf der er gesessen hatte. Er schaute zu Feng und dann wieder zurück zu Shan. Die Wut auf seinem Gesicht konnte Shans unerschütterlichem Blick nichts anhaben. Langsam wich das kämpferische Funkeln aus Tans Augen. »Diese verdammten Buddhisten«, sagte er in flehentlichem Tonfall. »Warum können sie nicht aufgeben?«
Tan schaute zu Boden. »Ja«, sagte er sehr viel leiser. »Ich habe gewußt, daß die Öffentliche Sicherheit den Menschen die Daumen abgeschnitten hat, und ich hätte die Kriecher aufhalten können.« Er zog seinen Waffenrock gerade und marschierte erhobenen Hauptes aus der Baracke.
Als Sergeant Feng und Yeshe eintraten, herrschte zunächst drückendes Schweigen. Feng stellte die Bank wieder auf und begann damit, den Tabak zusammenzufegen.
»Wie steht's mit Ihnen, Sergeant?« fragte Shan. »Wollen Sie diesmal, daß es aufhört?«
Fengs bekümmerter Gesichtsausdruck war während des gesamten Tages nicht wieder verschwunden. »Ich verstehe gar nichts mehr.« Er rang die Hände. »Die können doch nicht einfach meine Strafgefangenen umbringen.«
»Dann helfen Sie mir.«
»Das tue ich doch schon. Es ist meine Aufgabe.«
»Nein. Helfen Sie mir.« Shan schaute kurz zu Yeshe, der zu seinem Bett gegangen war. »Sungpo wird in drei Tagen hingerichtet. Falls das geschieht, werden wir niemals erfahren, wer der Mörder ist. Und die 404te wird geopfert.«
»Du bist ja völlig verrückt, wenn du glaubst, du könntest sie aufhalten«, murmelte Feng.
»Nicht nur ich allein. Wir alle.« Er musterte seine beiden erschöpften Gefährten. »Morgen früh werden die Amerikaner Karten herbringen. Fotokarten. Es ist erforderlich, daß Yeshe das Material genau unter die Lupe nimmt. Außerdem müssen diese Disketten untersucht werden.« Shan zog den Umschlag aus der Tasche und reichte ihn Yeshe. »Das wird mehrere Stunden dauern.«
Er wandte sich an Feng. »Ich möchte, daß Sie sich zu Jigme in die Berge gesellen. Vier Augen sehen mehr als zwei. Bitte bleiben Sie so lange dort, bis Sie herausgefunden haben, wo der Dämon lebt.«
Der Sergeant schien in sich zusammenzusacken. Dann hob er den Blick, traurig, aber entschlossen. »Wie?«
»Gehen Sie zu dem Schrein bei den Amerikanern. Schauen Sie nach, ob Tamdins Hand noch da ist. Falls ja, folgen Sie ihr, sobald sie verschwindet. Falls nein, finden Sie heraus, wer Gebete zum Schutz vor Hundebissen hinterläßt, und verfolgen Sie diese Gebete zurück.«
Feng ließ sich auf die Bank sacken. »Das heißt, ich soll dich allein lassen. Das ist gegen meine Befehle.« Es war nicht als Protest gemeint, sondern eher als gekränkter Einwurf. »Ich weiß gar nicht, wie man Gebete liest«, murmelte er. »Dieser Jigme vermutlich auch nicht.«
»Nein. Sie werden jemanden mitnehmen, der sich damit auskennt. Einen alten Mann. Ich werde veranlassen, daß Sie ihn am Marktplatz abholen können.«
»Wie werde ich ihn erkennen?«
»Sie kennen ihn bereits. Sein Name ist Lokesh.«
Tyler Kincaid schien sich bestens zu amüsieren. Nachdem sie den Sicherheitskontrollpunkt an der Bezirksgrenze hinter sich gelassen hatten, beschleunigte er den Wagen und stieß ein jauchzendes Geräusch aus, wie Shan es zuvor nur bei Cowboys in amerikanischen Filmen gehört hatte. Rebecca Fowler drehte sich um und zog die Decke weg, unter der Shan sich versteckt hatte. Er rappelte sich vom Wagenboden auf und setzte sich auf die Rückbank.
»Die schauen nie genau nach«, sagte sie mit angespannter Stimme. »Winken bloß durch.«
»Wie so ein großkotziger BDK«, rief Kincaid. Er versuchte, einen Blick auf Shan zu erhaschen, der sich inzwischen die Beine rieb, um den Blutkreislauf anzuregen. Shan hatte fast zwei Stunden auf dem Boden gelegen, seit sie Yeshe mit einem Stoß Fotokarten im Lager Jadefrühling zurückgelassen hatten. »Es heißt, Sie seien früher eine große Nummer in der Partei gewesen. Angeblich haben Sie sich mit dem Vorsitzenden angelegt und dabei verloren.«
»Es war nicht ganz so dramatisch.«
»Aber deswegen sind Sie doch hier, nicht wahr? Sie haben es mit den BDKs aufgenommen. Ihnen verdanken Sie den Knastaufenthalt, richtig?« fragte Kincaid im gleichen unbeschwerten Tonfall.
»Da muß jemand aber ein ziemlich unerfülltes Leben führen, daß er seine Zeit damit verschwendet, über mich zu reden.«
Fowler grinste und warf ihm einen Blick zu.
»Und Sie, Mr. Kincaid? Heilt Ihre Verletzung?«
Der Amerikaner hob den Arm, der immer noch mit einem großen Verband umwickelt war. »Ist bald wieder so gut wie neu. Höhenheilung ist eine prima Vorbereitung für die Klettertour auf den Chomolungma.«
»Wir sollten zuerst nach Gonggar fahren«, schlug Fowler vor. Sie wollten einige Proben der Lake zum Flughafen bringen, die man von dort aus weiter nach Hongkong transportieren würde.
Hinter Shan standen zwei große würfelförmige Holzkisten, in denen sich jeweils zwölf Zylinder aus rostfreiem Stahl befanden. Die Kisten dienten ihnen als Vorwand für die Fahrt.
»Da ist eine Jacke«, erklärte sie. »Mit dem Logo der Mine. Ziehen Sie sie an. Und am Flughafen helfen Sie uns einfach mit den Kisten, als würden Sie für uns arbeiten.«
»Aber sind Sie denn bevollmächtigt, danach weiter nach Lhasa zu fahren?« fragte Shan. »Vielleicht nimmt mich einer der Lastwagen als Anhalter mit.«
»Und wie kommen Sie zurück? Wie viele Lastwagenfahrer werden es wohl riskieren, einen Fremden ohne Papiere am Kontrollpunkt zu verstecken? Wir statten einfach Jansen einen Besuch im UN-Büro ab. Ich möchte mit ihm über den Schädelschrein sprechen.«
»Ich wollte Sie bloß nicht darin verwickeln und dadurch weiteren Risiken aussetzen«, sagte Shan. »Sie riskieren ohnehin schon zuviel.«
»Ich will, daß diese Angelegenheit ein Ende findet«, sagte Fowler beinahe beschwörend. »Falls man Sie erwischt, ist es vielleicht nie vorbei.« Sie wandte sich nach hinten um. Da war wieder dieser gehetzte Gesichtsausdruck, der Shan an ihr aufgefallen war, nachdem sie die Hand des Dämons zurückgebracht hatte. »Gestern abend sind sie gekommen. Ich schätze, das war es, wovor Sie mich warnen wollten.«
»Wer ist gekommen?«
»Die Öffentliche Sicherheit. Nicht der Major. Tyler hat den Major angerufen, um sich zu beschweren. Es war eine Gruppe Techniker; zumindest sah es danach aus. Sie haben sich lediglich für die Computer interessiert und jede einzelne Festplatte und Diskette kontrolliert.«
»Eine große BDK-Show«, stellte Kincaid mit säuerlichem Grinsen fest. »Bloß um uns einzuschüchtern. Man weiß, daß wir Jansen helfen. Wir wissen, daß man es weiß. Wir wissen auch, daß man es unterbinden will. Man ist sich der Tatsache bewußt, daß man nicht zu nachdrücklich werden darf, denn ansonsten könnte die UN wirklich hellhörig werden und die Wachhunde auf den Plan rufen.«
»Die UN hat Wachhunde?«
»Menschenrechtsermittler.«
Shan dachte über das Wort nach. Menschenrechtsermittler, wiederholte er im stillen. Die Amerikaner benutzten dieses Wort so beiläufig. Sie kamen nicht aus einem anderen Teil der Welt. Sie mußten von einem ganz anderen Planeten stammen. Er sah aus dem Fenster und seufzte. »Was hat der Major gesagt, als Sie ihn angerufen haben?« fragte er.
»Ich konnte ihn nicht erreichen«, erwiderte Kincaid. »Er war angeblich mit Vorbereitungen für den Besuch der amerikanischen Touristen beschäftigt.«
»Einer von denen hat ziemlich viel geredet«, fuhr Fowler nervös fort. »Er hat mich immer wieder herausgefordert und mir ins Gesicht gesagt, wie sehr er die Amerikaner hassen würde. Er hat mich gefragt, ob ich wüßte, welche Strafe auf Spionage stünde. Die Todesstrafe, hat er behauptet, und zwar ohne jegliches Ansehen der Person.« Sie blickte zu Kincaid. »Niemand würde uns in so einem Fall beistehen. Nicht die UN. Niemand.«
Kincaid spürte ihren Blick und wandte sich ihr zu. Der Klang ihrer Stimme schien ihn irgendwie zu beunruhigen. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er unsicher. »Uns wird nichts geschehen. Du weißt, daß es keine verdammten Spione gibt. Das sind bloß ihre verfluchten Spielchen.« Seine Hand glitt zu ihr herüber und legte sich auf ihr Bein.
»Ich weiß nicht«, sagte sie und sah dabei nach draußen. »Ich bin in letzter Zeit so nervös. Aus völlig unerfindlichen Gründen bekomme ich Angst oder schlimme Vorahnungen.«
»In welcher Hinsicht?« fragte Kincaid.
»Es ist nichts Konkretes. Als würde dir nur für eine Sekunde ein fauler Gestank in die Nase steigen und gleich wieder verschwinden. Als würde etwas in der Luft liegen.« Sie schob seine Hand weg.
»Alle sind nervös, seit die Kriecher angekommen sind«, sagte Kincaid. »Einen der Gefangenen haben sie schon getötet.« Shan bemerkte, daß der Amerikaner ein Stück Heidekraut in der Tasche trug.
»Das können sie doch nicht tun, oder?« fragte Fowler. Ihre Stimme zitterte leicht. »Im Gefängnis. Luntok sagt, die Leute streiken, und die Kriecher hätten Maschinengewehre. Er sagt, es sei genauso wie früher. Er hat Angst. Sind Sie normalerweise auch dort...?«
Warum fiel es ihm so schwer, mit Fowler über die 404te zu sprechen? Er riß sich von ihren grünen Augen los und schaute aus dem Fenster. Sie fuhren parallel zu einem breiten Flußlauf, der von Weiden gesäumt wurde. »Ich habe auch Angst«, sagte er. Kincaid hatte recht. Alle waren nervös.
Sie fuhren an üppigen Gerstenfeldern vorbei. In der Nähe des Flusses war die Bewässerung kein Problem. »Wieso tun Sie das?« fragte Shan. »Wieso haben Sie angefangen, der UN zu helfen, indem Sie nach Artefakten suchen? Ist der Betrieb der Mine nicht schon schwierig genug?«
»Weil es getan werden muß«, erwiderte Fowler ohne zu zögern.
»Jemand anders könnte sich darum kümmern.«
»Aber wir sind nun mal hier vor Ort.«
»Das ist eines der Dinge, die mir Angst einjagen«, sagte Shan leise. »Ich fürchte, Sie sind sich der Gefahr nicht bewußt.«
Fowler war beleidigt. »Glauben Sie, wir machen das aus Spaß?« Ihre Stimme wurde lauter, als Shan sie je zuvor erlebt hatte. »Damit wir damit angeben können, wenn wir nach Hause kommen?« Sie senkte den Blick, als habe sie dieser Ausbruch selbst überrascht. »Tut mir leid«, sagte sie leise. »Es ist nur so, daß Tibet einen irgendwie durchdringt. Alles ist so real hier. Viel realer als irgend etwas bei uns zu Hause.«
Sie hatte das Wort zuvor schon benutzt, erinnerte Shan sich, und zwar als sie den Moment beschrieb, in dem sie Tamdins Hand zurückbrachte und das unheimliche Heulen einsetzte. Real.
»Es ist wichtig hier«, schloß Fowler.
»Wichtig?« fragte Shan.
Sie drehte sich um und sah ihn an. Ihr Blick huschte unstet hin und her, als würde sie nach geeigneten Worten suchen, aber sie sagte nichts.
»Wir leben hier sehr viel bewußter«, fuhr Kincaid fort, als ob er und Fowler schon oft über dieses Thema gesprochen hätten. »Bei uns zu Hause sitzt jeder nur auf dem Sofa und glotzt MTV Kauft Autos. Kauft Häuser. Hat eins Komma acht Kinder.«
»MTV?« fragte Shan.
»Ist egal. Drüben bei uns ist das Leben verschwendet. Man lebt dort lediglich von der Welt. Hier jedoch kann man in der Welt leben. Die Buddhisten haben acht heiße und acht kalte Höllen. Doch in Amerika hat man ein ganz neues Stadium erreicht. Das schlimmste. Ein Stadium, in dem jeder dazu verleitet wird, die eigene Seele zu ignorieren, indem man ihm einredet, er befände sich bereits im Himmel.«
»Aber Sie haben doch bestimmt wichtige Bande nach Hause. Eine Familie.«
»Kaum der Rede wert«, meinte Kincaid grinsend, als wäre er stolz darauf.
Kaum der Rede wert, dachte Shan. Was hatte Fowler ihm doch gleich erzählt? Daß Kincaid die Firma leiten und einer der reichsten Männer Amerikas werden würde.
»Meine Eltern und ich reden nicht viel miteinander.«
»Keine Brüder oder Schwestern?«
»Ich hatte einen Hund«, sagte Kincaid launig. Shan beneidete den Amerikaner um die Fähigkeit, so sorgenfrei zu sein. »Der Hund ist gestorben«, fügte Kincaid mit breitem Grinsen hinzu.
»Aber zu Hause sind Sie reich«, merkte Shan unbeholfen an.
Stirnrunzelnd warf Kincaid seiner Kollegin einen kurzen Blick zu, als wolle er sie dafür tadeln, daß sie zuviel geredet hatte. »Nicht mehr. Hab alles aufgegeben. Mein Vater ist reich. Ich schätze, irgendwann werde auch ich wieder reich sein. Ich versuche, mich möglichst nicht davon beeinflussen zu lassen. Reichtum verschafft einem kein Zuhause. Reichtum verhilft einem auch nicht zu Seelenfrieden.« Ein weiterer Seitenblick zu Fowler, diesmal eher hoffnungsvoll. »Verdammt, ich fühle mich in Lhadrung weitaus mehr zu Hause als jemals zuvor in den Vereinigten Staaten.«
Fowler deutete ein Lächeln an. »Die arme verlorene Seele findet schließlich ein Nest.«
»Tu nicht so, als wäre ich der einzige, dem es so geht«, schimpfte Kincaid, der aber nach wie vor grinste.
Shan sah, wie Fowler zunächst erstarrte und sich dann zögernd zu ihm umwandte, als würde sie ihm eine Erklärung schulden. »Meine Eltern sind seit fünfzehn Jahren geschieden. Ich habe bei meiner Mutter gelebt, die inzwischen an der Alzheimerschen Krankheit leidet. Sie verliert ihre Erinnerungen. Schon seit mehr als vier Jahren erkennt sie mich nicht mehr. Und von meinem Vater habe ich seit acht Jahren nichts mehr gesehen oder gehört.« Sie sah aus dem Fenster. »Ich schätze, ich habe auch eine neue Welt gebraucht.«
Das erklärte Shan gar nichts, sondern machte ihn nur traurig. Vielleicht war Lhadrung auf der geistigen Ebene ein weiterer dieser Sammelpunkte, an dem die verlorenen Seelen sich einfanden und kräftig in die Mangel genommen wurden, bis sie so abgeschliffen und hart wie alte Steine waren und wieder in der Welt bestehen konnten.
Shan schloß die Augen und konzentrierte sich auf die Einzelheiten, die er Oberst Tans Dienstakte entnommen hatte. Stationierungen in der Mandschurei, der inneren Mongolei und der Provinz Fujian, aber vor 1985 kein Aufenthalt in Tibet. Er starrte aus dem Fenster auf die einsame Landschaft. Alles war falsch. Alle seine Annahmen hatten sich als Irrtümer erwiesen. Er hatte gedacht, die Schlüsselperson wäre Direktor Hu, aber er hatte sich geirrt. Er hatte gedacht, es ginge um die Schädelhöhle, doch dann hatte er Yerpa gefunden. Er hatte gehofft, es würde sich lediglich um Streitigkeiten unter Plünderern handeln, aber ein Plünderer tötete nicht wegen eines Schreins, um dadurch einen anderen Schrein zu beschützen. Er hatte gedacht, vielleicht wäre nur Li darin verwickelt, dann Li und der Major, doch keiner der beiden hatte irgendeine Verbindung zu Tamdin. Er hatte geglaubt, Sungpo könnte niemals der Täter gewesen sein, aber wer außer einem Mönch hätte den Schädel in der Höhle so ehrfurchtsvoll umgebettet? Er hatte gedacht, das Lotusbuch würde die Antworten und die Motive liefern, aber das Lotusbuch erwies sich als unzuverlässig. Das alles waren Teile des Puzzles, doch die Größe und Form des Bildes entzogen sich bislang seinem Verständnis, und er hatte keine Ahnung, wie viele Teile er noch benötigte, bis die verschiedenen Informationen endlich einen Sinn ergeben würden.
Wer weiß, daß er nicht weiß, ist weise, hatte Tsomo ihn erinnert. Er mußte ganz von vorn beginnen, den Kopf freibekommen und so tun, als wüßte er nur, daß er nichts wußte. Und da war ziemlich viel, das er nicht wußte. Er wußte nicht, wer das Tamdin-Kostüm hatte. Er wußte nicht, wer den ragyapas die gestohlenen Armeevorräte gegeben hatte. Er wußte nicht, weshalb die purbas falsche Einträge im Lotusbuch festhalten sollten. Er wußte nicht, warum Jao sich für die Wasserrechte einer entlegenen Bergregion interessiert hatte. Er hatte den Eindruck, er wäre der Antwort seit dem Tag, an dem man Jaos Kopf gefunden hatte, kein Stück nähergekommen. Falls er jetzt in Lhasa zu keinen neuen Erkenntnissen gelangte, hätte er keine Hoffnung mehr, den wahren Mörder zu finden und Sungpo zu retten. Und wenn er sich dann weigerte, einen Bericht zu verfassen, in dem ein unschuldiger Mönch verurteilt wurde, bestand auch keine Hoffnung mehr, daß er sich selbst oder die 404te retten könnte.
Sie fuhren zu einem Lagerhaus am hinteren Ende des Flughafens, wo ein verschlafener Zollbeamter sie durchwinkte und zwei Frachtarbeiter darauf warteten, daß Fowler jedem von ihnen einen 10-Renminbi-Schein in die Hand drücken würde. Erst dann luden sie die Kisten aus und rollten einen Karren zum Wagen, auf dem sich ein Gestell mit leeren Kanistern befand. Keine fünfzehn Minuten später befanden Shan und die Amerikaner sich auf der Straße nach Lhasa.
Nach einer Stunde bot sich ihnen der vertraute Anblick der niedrigen schieferfarbenen Häuserblöcke, die Peking überall in China für die Stadtarbeiter errichten ließ. Die Wege neben der Straße füllten sich langsam mit Gestalten in graubrauner Kleidung. Hagere Ponys zogen Karren hinter sich her, auf denen in Plastikfässern die Fäkalien der Nacht aus der Stadt geschafft wurden. Bauern trugen große Netztaschen voller Kohlköpfe und Zwiebeln. Hühner und kleine Schweine hingen mit verschnürten Beinen kopfüber von Stangen herunter, die wiederum auf Fahrrädern balanciert wurden. Großeltern gingen mit ihren Enkeln zum Markt. Die Straßen wirkten eher chinesisch als tibetisch, und mit plötzlichem Kummer erinnerte Shan sich an den Grund dafür. Die Stadt war von Peking »naturalisiert« worden, indem man zusätzlich zu den fünfzigtausend Tibetern, die hier lebten, hunderttausend Chinesen angesiedelt hatte. Soweit er sehen konnte, hatte man Lhasa, was auf tibetisch »der Wohnsitz Gottes« bedeutete, in ein weiteres dieser grauen, verräucherten Stadtgebiete verwandelt, die sich überall im modernen China fanden.
»Vielleicht können wir noch etwas mehr tun«, sagte Fowler, als Kincaid den Wagen vor dem gelbgrauen zweigeschossigen Gebäude anhielt, in dem Jansens Büro untergebracht war. »Sie wollen die Unterlagen über die Wassergenehmigungen. Aber man wird sie Ihnen nicht zeigen. Nicht ohne Legitimation.«
»Vielleicht fällt mir eine Möglichkeit ein. Ich kenne die Sprache der Bürokraten.« Shan stieg aus und wandte sich vom Wagen ab. Zum erstenmal sah er die Altstadt vor sich.
»Nein, Tyler wird gehen. Man wird es ihm nicht verweigern, wenn er darum bittet, seine eigenen Genehmigungen einsehen zu dürfen.«
Aber Shan konnte nicht antworten, denn da vor ihm war er, auf dem Gipfel des kleinen Berges, der sich über der Stadt erhob. Genaugenommen war es der gesamte Berg, der das Stadtbild beherrschte. Seine mächtigen unteren Mauern, strahlend weiß und steil aufragend, verliehen dem Hauptgebäude den Anschein eines riesigen goldbedachten Tempels, der über dem Schnee des Himalaja schwebte. Die Klippe des Daseins, hatte Trinle diese Mauern einst in einer Wintergeschichte genannt, so hoch, so unerschütterlich, so verlockend, daß sie ihn an den Weg zur Buddhaschaft denken ließen.
Noch nie im Leben hatte Shan Angst gehabt, etwas anzusehen. Er fühlte sich unwürdig, dieses Gebäude anzustarren. Er hatte sich geirrt. Ein Teil von Gottes Wohnsitz hatte überdauert. Er schaute kurz hinab auf seine Füße und wunderte sich, wie plötzlich ihn diese Gefühle übermannten Dann richtete sein Blick sich wieder auf den Potala-Palast, ohne daß er etwas dagegen tun konnte.
»Was machen Sie da?« fragte Kincaid auf einmal und streckte die Hand aus, als wolle er Shan auffangen.
Shan bemerkte, daß er unbewußt auf die Knie gefallen war. »Ich schätze«, sagte er, immer noch völlig verwundert, »ich tue dies hier.« Und dann verneigte er sich und berührte mit der Stirn den Boden, wie es sonst nur die Pilger taten, wenn sie das heilige Bauwerk zum erstenmal erblickten.
Die meisten der alten Yaks hatten eigene Namen dafür oder liebten es, die vielen Bezeichnungen aufzuzählen, die dem Gebäude in der tibetischen Literatur verliehen worden waren. Der Sitz des Allerhöchsten. Das Juwel in der Krone. Die Erhabene Festung. Buddhas Tor. Einer der jüngeren Mönche hatte stolz berichtet, er habe den Potala in einer westlichen Zeitschrift auf einer Liste der Weltwunder gesehen. Die alten Yaks hatten bei dieser Neuigkeit höflich gelächelt. Jetzt wußte Shan, was sie in diesem Moment alle gedacht hatten: Der Potala war nicht von dieser Welt.
Noch vor fünf Jahren hätte er Lhasa besuchen können und das Gebäude so gesehen wie vermutlich die meisten Touristen: als ein steinernes Schloß, dessen beeindruckende Wirkung nicht nur auf Größe und Alter beruhte, sondern vornehmlich auf der historischen Bedeutung als buddhistischer Vatikan. Doch Shan hatte den Potala nicht vor fünf Jahren gesehen, und inzwischen konnte er ihn nur noch mit den Augen derjenigen betrachten, welche die Wintergeschichten erzählten.
Ein alter Priester - derselbe, der im Vorjahr zum Sterben hinaus in den Schnee gegangen war - hatte den Potala zum erstenmal im Jahr 1931 besucht, noch während der Amtszeit des Dreizehnten Dalai Lama, und dann noch einmal zwei Jahre später, als der salzgetrocknete Körper des alten Herrschers in einem Chorten aus massivem Silber im Roten Palast des Potala beerdigt wurde. Es war dieser Dreizehnte gewesen, der auf seinem Totenbett davor gewarnt hatte, daß allen Tibeter eine baldige Versklavung und eine endlos lange Zeit des Leidens bevorstünde. Später war dem Priester das große Glück widerfahren, zum Dienst in der Bibliothek des Potala eingeteilt zu werden. Dort befanden sich auch die originalen Konstruktionspläne des Großen Fünften Dalai Lama, der 1645 mit dem Bau des Potala begonnen hatte und später darum bat, man möge seinen Tod geheimhalten, damit die Arbeiten dadurch nicht unterbrochen würden. Der alte Yak hatte seinem ehrfürchtigen, zitternden Publikum bei der 404ten diese Pläne in allen Einzelheiten beschrieben. Reichverzierte Wände aus Stein, Zedern- und Teakholz, die ohne einen einzigen Nagel von Hand aneinandergefügt wurden, unterteilten dreizehn Etagen in mehr als tausend Räume, die einst die hundertfachen Schreine beherbergt hatten. Erst bei der dritten Wiederholung der Geschichte hatte Shan begriffen, daß diese Angabe nicht rein symbolisch gemeint war. Der Palast des Großen Fünften für Buddha enthielt hundert mal hundert Schreine, insgesamt also zehntausend Altäre, auf denen wiederum zweihunderttausend Statuen von Gottheiten standen. Als Shan zu den riesigen Mauern emporblickte, fiel ihm wieder ein, daß der Mönch ihnen erzählt hatte, sie seien für die Ewigkeit errichtet worden. Vielleicht hatte er recht - Shan hatte später erfahren, daß man die Außenmauern, die an einigen Stellen bis zu neun Meter dick waren, mit geschmolzenem Kupfer ausgegossen hatte, damit sie die Zeitalter überdauern würden.
Sehr viel später, im tibetischen Jahr der Erdmaus, 1949, hatte Choje dieselbe Bibliothek besucht. Er hatte dort siebentausend Bände mit Schriften gesehen, die meisten davon unikale Manuskripte, die viele Jahrhunderte zurückreichten. Einige, so erklärte er mit fast kindlicher Ehrfurcht, waren auf Palmblätter geschrieben, die man tausend Jahre zuvor aus Indien mitgebracht hatte. Eine besondere Sammlung illustrierter Manuskripte, die Choje zehn Monate lang studieren durfte, umfaßte zweitausend Bände, deren Texte in verschiedenfarbigen Tinten niedergeschrieben waren, die man aus pulverisiertem Gold, Silber, Kupfer, Türkis, Korallen und Muschelschalen hergestellt hatte. Als die Roten Garden den Potala während der Kulturrevolution stürmten, hätte nichts die Vier Alten besser symbolisieren können als diese Manuskripte. Im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung auf dem Tempelgelände hatte man die Bände zerstört. Viele wurden in kleine Stücke gerissen und zur weiteren Verwendung in die Latrinen der Roten Garden transportiert.
Rebecca Fowlers Hand auf seinem Arm holte Shan in die Gegenwart zurück. »Tyler sollte gehen«, wiederholte sie.
»Ist ein Kinderspiel«, pflichtete Kincaid ihr bei. Seine Augen funkelten übermütig. »Ich bin schon öfter im Landwirtschaftsministerium gewesen. Vermutlich werden die Leute dort mich wiedererkennen. Kotau vor dem großen amerikanischen Investor.«
Shan nickte zögernd, stand dann auf und reichte Fowler die Leinentasche, die er mitgebracht hatte. »Geben Sie das Ihrem Freund Jansen.«
»Was ist das?«
»Aus der Höhle. Einer der goldenen Schädel. Ich habe darum gebeten, mir einen als Beweisstück zu überlassen.«
Kincaid sah ihn unsicher an.
»Ich habe nicht gesagt, wofür er als Beweis dienen soll«, fuhr Shan fort.
Kincaid riß die Augen auf. »Was für ein Schlitzohr«, sagte er lachend. Er nahm die Tasche entgegen und schaute hinein.
Shan zog einen Umschlag hervor. »Das sind die Lebensläufe von Direktor Hus geologischer Erkundungstruppe. Ich dachte, die könnten vielleicht von Interesse sein.«
»Lebensläufe?« fragte Kincaid.
»Hu hat acht Leute, deren Aufgabe dann besteht, neue Mineralvorkommen aufzuspüren. Sechs der Männer wurden auf Bitte Hus letztes Jahr von Wen Li an ihn überstellt.«
»Aber Wen gehört zum Büro für Religiöse Angelegenheiten.«
Shan nickte. »Die sechs haben keinerlei geologische Ausbildung. Es sind Archäologen und Anthropologen.«
Kincaid starrte verwirrt den Umschlag an. Dann schien er zu verstehen. »Seine angeblichen Mineralvorkommen - es dreht sich alles nur um Plünderungen. Er ist gar nicht auf der Suche nach Minen«, rief er Fowler zu, »er sucht nach Höhlen! Schädelhöhlen. Warte nur ab, bis Jansen das zu sehen bekommt!« Mit breitem Grinsen packte er Shans Hand und schüttelte sie heftig. »Passen Sie auf sich auf, Mann«, sagte er unbeholfen. Er warf einen kurzen Blick auf Fowlers amüsiertes Gesicht und wandte sich dann wieder an Shan. »Wirklich. Ich meine es ernst.«
Der Amerikaner hielt inne, griff mit feierlicher Geste in sein Hemd und zog ein weißes Stück Stoff hervor, das darunter verborgen gewesen war. Es war eine seidene khata, ein Gebetsschal. Der Amerikaner hatte sie um den Hals getragen. »Hier«, sagte Kincaid. »Das ist mein Glücksbringer. Er soll dafür sorgen, daß ich lebend von meinen Klettertouren zurückkomme.«
»Ich kann nicht«, erwiderte Shan unangenehm berührt. »Das ist kein...«
»Bitte«, erwiderte Kincaid hartnäckig. »Ich möchte, daß Sie ihn nehmen. Als Schutz. Ich will nicht, daß Sie erwischt werden.
Sie sind einer von uns.«
Shan errötete verlegen und nahm die khata. Dann reihte er sich in den Strom der Passanten ein und hoffte inständig, der abgetragene Armeemantel, den er aus Lhadrung mitgebracht hatte, würde jeden zufälligen Betrachter davon überzeugen, daß es sich bei ihm lediglich um einen versprengten Soldaten handelte, der per Anhalter hergekommen war.
Doch als er in Richtung Stadtzentrum um die Ecke bog, lag wieder die Erhabene Festung vor ihm. Lokesh war früher auch dort gewesen, erinnerte Shan sich, zunächst als junger Student, dem wegen seiner hervorragenden Noten die Ehre zuteil wurde, das getrocknete Kerzenwachs von den Altären des Potala abkratzen zu dürfen. Die Erinnerungen an jenen ersten Besuch, der vollständig in der Dunkelheit der unteren Etagen stattfand, waren fast allesamt akustischer Natur. Lokesh erzählte, daß er zwar ständig den Klang der tsingha-Zimbeln gehört habe, doch während seines einmonatigen Aufenthalts kein einziges Mal in der Lage gewesen sei, im Labyrinth der Räume den Ursprung des Geräusches ausfindig zu machen. Zu Beginn besonderer Rituale wurden die hohen jaling-Hörner geblasen, und die melodiösen vajre-Glocken riefen die Mönche zu den verschiedenen Gottesdiensten, von denen in dem riesigen Gebäudekomplex alle paar Minuten ein neuer anzufangen schien. Schließlich hatte es noch die dreieinhalb Meter langen dungchen-Hörner gegeben, deren Klang so tief war, daß er wie ein Stöhnen der Erde wirkte, und derart widerhallend, daß Lokesh nachdrücklich versicherte, das Echo sei noch Stunden später durch die unteren Etagen gewandert.
Als Shan sich dem Museum näherte, verspürte er ein Kribbeln auf der Haut. Langsam umrundete er das Gebäude zweimal. Beim ersten Mal verharrte er in einer Menschenmenge, die bei einem Schachspiel zuschaute, nach dem zweiten Durchgang reihte er sich in die Warteschlange an einer Bushaltestelle ein. Der Mann, der ihm folgte, war ein sehr kleiner Tibeter in einer blauen Arbeiterjacke und mit einem Kohlkopf in der Hand. Seine langen, gelenkigen Arme und der scharfe, ruhelose Blick straften seinen langsamen, gebeugten Gang Lügen. Shan testete den Beschatter, indem er schnellen Schritts drei Blocks weit die Straße entlangeilte und sich dann auf eine Bank setzte. Der Mann folgte ihm auf der anderen Straßenseite und blieb an einem Gemüsestand stehen, als Shan vorgab, in einer Zeitung zu lesen, die er aus einem Abfalleimer gezogen hatte. Shan wartete so lange, bis er sich davon überzeugt hatte, daß der Mann allein war. Die Beschattungsteams der Öffentlichen Sicherheit bestanden zumeist aus mindestens drei Personen.
Shan machte sich Vorwürfe, weil er nicht auf den Gedanken gekommen war, Jansens Büro könnte überwacht werden. Er fand einen öffentlichen Waschraum und ließ den Mantel dort zurück. Draußen stieg er in einen Bus, den er bei der nächsten Station wieder verließ. Er wechselte in einen anderen Bus und behielt sein Umfeld mit den Ohren im Blick, wie einer seiner Ausbilder in Peking es einst formuliert hatte. Es bedeutete, daß er mit allen Sinnen lauschte, um den Rhythmus der Menge in sich aufzunehmen und sofort erkennen zu können, wann und wo sich eine Änderung einstellte. Zugleich achtete er darauf, wie die Leute einander ansahen. Er mußte sich vor denen in acht nehmen, welche die anderen ignorierten.
Nach sechs Blocks trat er wieder ins Sonnenlicht hinaus und machte sich zu Fuß auf den Rückweg zum Museum, allerdings nicht auf direktem Weg, sondern auf einer Parallelstraße und nach wie vor überaus vorsichtig.
Plötzlich gab es hinter ihm einen lauten Knall wie von einer Pistole. Shan fuhr herum und erstarrte. Dort, keine drei Meter von ihm entfernt und mitten zwischen all den chinesischen Passanten und den zahllosen Fahrrädern, stand ein zerlumpter, ungepflegter Tibeter, der über einem Filzmantel eine dreckige Lederschürze trug. Seine Hände steckten in den Riemen zweier Holzklötze, die er nun über dem Kopf zusammenschlug. Jemand neben Shan, eine dicke Chinesin, die einen Topf Joghurt trug, bedachte den Mann mit einem Schimpfwort. »Latseng!« sagte sie. Abschaum.
Doch der Tibeter schien niemanden auf der belebten Straße wahrzunehmen und verließ den Bürgersteig. Mit einer flüssigen Bewegung brachte er die Holzklötze nach unten und streckte sich mit vorgereckten Armen in voller Länge auf der Fahrbahn aus. Er murmelte ein Mantra, zog sich voran, kam wieder auf die Knie, stand auf, schlug die Klötze zunächst zweimal vor sich und dann einmal über dem Kopf zusammen und fing wieder von vorn an. Shan erinnerte sich daran, daß Pilger den Potala traditionell auf einer acht Kilometer langen Route dreimal umrundeten. Aber er wußte auch, daß die Regierung den größten Teil der Pilgerstrecke, die als Lingkhor bekannt war, zerstört hatte, indem sie quer dazu Wohnhäuser und Geschäfte errichten ließ, um den Weg zu blockieren, nachdem einige Mönche die Tibeter aufgefordert hatten, ihrem Protest gegen die chinesische Regierung dadurch Ausdruck zu verleihen, daß sie rund um den Potala eine endlose Kette von Pilgern bildeten.
Shan wurde abermals von seinen Gefühlen übermannt und starrte den Tibeter hilflos an, der unbeirrt nach vorn blickte. Trinle hatte herzlich darüber gelacht, daß die Route blockiert worden war. »Die Regierung wird nie in der Lage sein, das zu sehen, was der Pilger sieht«, hatte er im Brustton der Überzeugung gesagt. Er hatte den Satz für Shan wie ein Mantra immerzu wiederholt und dabei breit gegrinst, bis auch Shan in Gelächter ausgebrochen war, ohne zu wissen warum.
Auf der Straße schrie jemand wütend auf. Ein Jugendlicher auf einem Motorrad brüllte den Pilger an, er solle den Weg freimachen. Hinter dem Mann hielt ein Wagen und begann zu hupen. Der Pilger gelangte unterdessen an eine Kreuzung, ohne der roten Ampel auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Auf der Querstraße näherte sich ein Lastwagen und fügte den Lärm seines Signalhorns dem allgemeinen Aufruhr hinzu.
Manchmal wurden Pilger überfahren. Shan hatte gehört, wie die Wachen bei der 404ten über solche Todesfälle gespottet hatten. Der Pilger blieb in Bewegung, doch im Blick des Mannes lag eine neue Empfindung. Er hatte die Fahrzeuge inzwischen bemerkt. Er hatte Angst, aber er würde nicht innehalten.
Shan drehte sich zu der Menge um. War da jemand? Nein. Aber nahm er den Rhythmus der Menge überhaupt noch wahr? Nein. Er warf einen langen Blick auf die Erhabene Festung und trat auf die Straße.
Er ging vorbei an den wütenden Fahrern, die nach wie vor ein Hupkonzert aufführten, bis er neben dem einsamen Pilger stand. Mit winzigen Schritten blieb er neben dem Tibeter, während der Mann sich über die Kreuzung mühte. Auf die Knie. Auf die Füße. Arme vorstrecken. Klötze zusammenschlagen. Arme über den Kopf. Klötze zusammenschlagen. Arme nach unten. Innehalten. Knien. Bäuchlings niederwerfen. Arme ausstrecken. Das Mantra zur Anrufung des mitfühlenden Buddhas aufsagen. Sich an den Armen vorziehen. Auf die Knie.
Die Leute riefen immer lauter. Inzwischen waren sie auch auf Shan wütend. Aber er hörte die Worte nicht. Er musterte den Pilger mit großer Zufriedenheit und sah in dem Mann Choje und Trinle und all die alten Yaks vor sich. Ein seltsamer Gedanke durchfuhr ihn. Dies war vielleicht das Wichtigste, was er in den letzten drei Jahren getan hatte. Choje hätte jetzt womöglich darauf hingewiesen, daß alles, was vorher geschehen war, sich nur deshalb ereignet hatte, damit Shan in jenem Moment dort sein und den Pilger beschützen konnte.
Sie erreichten den Randstein und die Sicherheit des Bürgersteigs. Ohne aus dem Takt zu kommen oder auch nur den Blick abzuwenden, flüsterte der Pilger mit ergriffener, verunsicherter Stimme Shan ein einziges Wort zu: »Tujaychay.« Danke.
Shan sah dem Mann dabei zu, wie er die nächsten zehn Meter zurücklegte, bevor ihm klar wurde, was er ursprünglich vorgehabt hatte. Er blickte auf und bemerkte, daß es ihm keinesfalls mehr gelingen würde, wieder in den Rhythmus der Menge einzutauchen. Mittlerweile starrten ihn zwanzig Gesichter an, die meisten davon voller Wut. Es blieb keine Zeit mehr, um vorsichtig zu sein und eventuelle Verfolger abzuhängen. Er ging direkt zum Museum.
Zusammen mit einer Reisegruppe trat er ein und bewegte sich dann im Schutz der Menge zwischen den Exponaten hindurch. Er mußte sich regelrecht dazu zwingen, nicht bei den prächtigen Vitrinen zu verweilen, den Schädeltrommeln, rituellen Jadeschwertern, Altarstatuen, kostbaren thangka-Gemälden, Kammhauben und Gebetsmühlen. Nur einmal blieb er stehen, und zwar vor einem Schaukasten mit seltenen Rosenkränzen. Dort in der Mitte lag einer, dessen Perlen aus rosafarbener Koralle bestanden und wie winzige Kiefernzapfen geschnitzt waren, mit Anzeigerperlen aus Lapislazuli. Traurig starrte Shan ihn an, schrieb sich dann die Inventarnummer auf und ging weiter.
Plötzlich erreichte er die Ausstellung mit Kostümen der Schutzdämonen. Da war Yama, der Herr der Toten, Yamantaka, der Bezwinger des Todes, Mahakala, der Oberste Beschützer des Glaubens, Lhamo, die Schutzgöttin von Lhasa. Und im letzten Schaukasten Tamdin der Pferdeköpfige.
Das herrliche Kostüm war da, sein Gesicht eine grausame gewölbte Maske aus rotlackiertem Holz mit vier Fangzähnen im Maul. Um den Hals hing eine Kette aus Schädeln, über dem goldenen Haar erhob sich ein kleiner, wilder grüner Pferdekopf. Shan erschauderte bei dem Anblick, und seine Hand schloß sich um das gau, das um seinen Hals hing und in dem sich jetzt der Zauberspruch zur Beschwörung Tamdins befand. Die Arme des Dämons lagen neben der Maske und endeten in zwei grotesk proportionierten Klauen, die mit der zerschmetterten Hand übereinstimmten, welche man bei der amerikanischen Mine gefunden hatte.
Die Bestätigung, daß es sich tatsächlich um die Hand Tamdins handelte, war nur ein schwacher Trost, denn das Kostüm im Museum war vollständig und zudem in Lhasa, nicht in Lhadrung. Es gab demnach ein zweites Kostüm, aber falls es nicht zum Museum gehörte, verfügte Shan über keine Möglichkeit, es zurückzuverfolgen und mit Jaos Mördern in Verbindung zu bringen.
Nachdenklich musterte er die Ausstellungsstücke und wartete, bis der Raum sich geleert hatte. Dann öffnete er eine Tür. Ein Schrank mit Putzmitteln. Er wollte die Tür schon wieder schließen, besann sich dann aber eines anderen und nahm den Besen und einen Eimer heraus. Langsam bewegte er sich durch das Gebäude, fegte den Boden und achtete dabei auf die Innentüren. Plötzlich sah er eine neue Gestalt, und sein Magen zog sich zusammen; es war ein Chinese mit stechendem Blick, der sich ziemlich vergeblich darum bemühte, den Eindruck zu erwecken, er würde sich für die Exponate interessieren. Der Mann sah sich im Raum um, ohne von Shan Notiz zu nehmen. Dann schnaubte er ungeduldig und ging mit militärisch gerader Haltung in den angrenzenden Flur. Shan blieb im Schatten und beobachtete zu seinem Entsetzen, daß der Mann sich mit zwei anderen beriet, einer jungen Frau und einem Mann, die wie Touristen gekleidet waren. Die drei machten sich hastig auf den Weg, und Shan verschwand hinter der ersten Tür, die nicht abgeschlossen war.
Er befand sich in einem kurzen Korridor, der zu einem Großraumbüro führte, das in zahlreiche Arbeitskabinen unterteilt war. Die meisten der Tische waren nicht besetzt, und auf einer Bank im Gang lag ein weißer Technikerkittel. Shan ließ Besen und Eimer zurück und zog den Kittel an. Vom ersten der Tische nahm er ein Klemmbrett und einen Bleistift mit.
»Ich habe mich ein wenig verlaufen«, sagte er zu der Frau am ersten besetzten Tisch. »Das Inventar.«
»Inventar?«
»Exponate. Eingelagerte Artefakte.«
»Die sind normalerweise identisch«, erwiderte sie in überheblichem Tonfall.
»Identisch?«
»Sie wissen schon. Zwei Exemplare von jedem Stück, eins davon in der Ausstellung, das andere im Lager. Im Keller. Der Direktor nennt es Parallelsammlung. Dadurch wird es einfacher, die Stücke zu reinigen und zu untersuchen. Eins oben, eins unten, einsortiert nach ihren Inventarnummern.«
»Natürlich«, entgegnete Shan mit neuerlicher Hoffnung. »Ich habe die Bestandskartei gemeint, die über den Standort der Artefakte Aufschluß gibt.«
»In den großen Ordnern, auf dem Tisch in der Bibliothek.«
In der kleinen Bibliothek am Ende des Korridors fand er eine dicke schwarze Akte, deren Kunststoffbeschichtung an den Kanten bereits bis auf die Pappe abgenutzt war. Er hatte den Abschnitt Kostüme schon gefunden, als eine ältere Frau an der Tür auftauchte.
»Was haben Sie denn hier verloren?« rief sie.
Shan zuckte zusammen und lehnte sich dann auf dem Stuhl zurück, bevor er sie ansah. »Ich komme aus Peking.«
Diese Behauptung verschaffte ihm weitere dreißig Sekunden. Er suchte weiter, während die Frau in der Türöffnung verharrte. Zeremonieller Kopfschmuck. Kostüme der Dämonentänzer.
»Wieso hat mich niemand davon unterrichtet?« fragte die Frau mißtrauisch.
»Genossin, Sie werden doch sicher verstehen, daß Buchprüfungen nicht annähernd effektiv verlaufen, wenn man sie vorher ankündigt«, sagte Shan schroff.
Als sie Shans Kleidung bemerkte, stieß sie deutlich hörbar die Luft aus. »Wir benötigen Ihre Legitimation, Genosse.«
Shan blickte weiterhin in die Bücher. »Die sollten wir am Eingang zurücklassen. Wir haben ziemlich viel zu tun.« Er wies auf einen Stuhl. »Vielleicht möchten Sie uns ja behilflich sein.«
Die Frau fuhr herum und verschwand den Flur hinunter.
Tamdin, stand in dem Buch, Code 4989. Exemplar Eins aus dem Kloster Shigatse, 1959. Exemplar Zwei aus Saskya gompa, vor gerade mal vierzehn Monaten. Shan eilte auf den Gang hinaus und überprüfte abermals die Türen. Beim dritten Versuch stieß er auf eine Treppe, die nach unten führte.
Die Regale im Keller reichten vom Boden bis zur Decke und waren mit Holzkisten, Weidenkörben und Pappkartons vollgestopft. Die Exponate waren nach den Inventarnummern sortiert, ganz wie das Mädchen gesagt hatte. Shan lief die Reihen entlang und überflog die Ziffern am Ende eines jeden Regals. Plötzlich hörte er ein neues Geräusch, den unverkennbaren Klang von mehreren rennenden Personen in der Etage über ihm.
Er fand die 3000er Nummern und lief weiter. Dann die 4000er. Shan zog eine Kiste aus dem Regal. Sie enthielt ein Räucherfaß. Er begann zu rennen und fiel auf die Knie. Von oben ertönten aufgeregte Rufe. Er fand ein Regal, auf dem die Zahl 4900 vermerkt war. Aus einer Kiste ragten zwei goldene Hörner. Die Maske von Yama. Hektisch überprüfte er die anderen Kisten. Inzwischen hatten die Leute die Treppe erreicht und kamen laut rufend nach unten. Eine weitere Reihe Lampen wurde eingeschaltet. Es wurde deutlich heller. Dann hatte er es gefunden. Tamdin, stand auf der Kiste. Tamdin, Dämonenkostüm, Kloster Saskya. Sie war leer.
Ganz in der Nähe schrie jemand. Auf dem Deckel der Kiste klebte eine weiße Karteikarte. Shan riß sie ab und lief weiter. Vor sich entdeckte er eine kurze Treppe, die an einer Tür endete, unter der Tageslicht hereinschien.
Die Tür war abgeschlossen. Er warf sich mit der Schulter dagegen, und das alte Holz splitterte. Er stürzte hinaus und fiel zu Boden. Während er noch dalag und ins gleißende Sonnenlicht blinzelte, rammte jemand ihm einen Stiefel ins Genick, beugte sich dann herunter und legte ihm Handschellen an.
Shan wollte gerade lautstark protestieren, als ihn ein Schlagstock an der Stirn traf. »Halt's Maul«, herrschte der Fremde ihn an und sprach dann in ein Handfunkgerät.
Da ihm Blut in die Augen lief, konnte er nicht erkennen, wie viele es waren. Sie gehörten zweifellos zur Öffentlichen Sicherheit, aber sie schienen verwirrt zu sein. Als man ihn in einen grauen Häftlingstransporter stieß, konnte er hören, wie hinter ihm Streit darüber aufkam, wessen Gefangener er war und wohin er gebracht werden sollte. Die ersten beiden Männer benutzten keine Ortsnamen. »Das lange Bett«, sagte einer. »Drähte«, behauptete ein anderer. Doch ein dritter Mann gesellte sich zu ihnen. »Drabchi«, sagte er im Befehlston. Damit war das berüchtigte politische Gefängnis nordöstlich von Lhasa gemeint, das offiziell Gefängnis Nummer Eins hieß. Früher hatte man dort die hochrangigen Beamten der tibetischen Regierung untergebracht.
Es war vorbei. Sungpo würde sterben. Shan würde neue Wärter bekommen. Falls Tan ihn nicht im Stich ließ, würde er irgendwann vielleicht zur 404ten zurückkehren, nachdem man seine Strafe um fünf oder zehn Jahre verlängert hatte, aber zunächst würde die Öffentliche Sicherheit ihn verhören, was einen nachfolgenden Krankenhausaufenthalt bedeutete. Wer würde wohl damit beauftragt werden, die Enttäuschung des Volkes über seine sozialistische Entwicklung zum Ausdruck zu bringen? fragte er sich in einem entlegenen Winkel seines Verstandes. Ich bin ein Held, würde Shan zu seinen Häschern sagen. Ich habe zwölf Tage draußen ausgehalten.
Das Blut floß ihm in den Mund, und der Schmerz der Verletzung wurde langsam stärker als der Schock. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Eine quälend laute Sirene wurde eingeschaltet. Sie waren auf einer Schnellstraße und beschleunigten. Er verlor das Bewußtsein. Plötzlich schrie jemand auf, und er hörte das Geräusch von splitterndem Holz und verschreckt kreischenden Hühnern. Der Transporter kam mit einer Vollbremsung zum Stehen. Shan hörte, wie die Männer aus dem Führerhaus stiegen.
Von vorn erklangen wütende Schreie. Dann stieg jemand auf den Fahrersitz, und der Transporter drehte um hundertachtzig Grad. Die Sirene wurde abrupt ausgeschaltet, und das Fahrzeug vollführte eine Reihe schneller Kurven. Dann hielt der Wagen plötzlich an. Die hinteren Türen wurden aufgerissen, und vier Hände griffen nach ihm. Halb trugen, halb zerrten sie ihn auf die Rückbank eines anderen Wagens, der sofort losfuhr.
Langsam, fast wie im Traum, wischte Shan sich das Blut aus den Augen und zog sich hoch. Es war ein großer Wagen, eine ältere amerikanische Limousine. Der Fahrer trug eine Wollmütze. Als sie auf die breite Durchgangsstraße einbogen, die aus der Stadt führte, streckte der Mann ihm einen kleinen Schlüssel über die Schulter nach hinten. Während Shan die Handschellen aufschloß, nahm der Mann die Mütze ab, so daß sein dichter blonder Schopf sichtbar wurde.
»Ich wußte gar nicht...«, setzte Shan an, der vor Verwirrung wie gelähmt war. Er zog die Hemdschöße heraus, um sich damit das Gesicht abzuwischen. »Danke«, sagte er auf englisch. »Sind Sie Jansen?«
Der Mann schüttelte den Kopf und murmelte etwas in einer skandinavischen Sprache vor sich hin, während er langsam dem Verkehrsstrom folgte und sorgfältig darauf achtete, kein Aufsehen zu erregen. »Keine Namen«, erwiderte er, ebenfalls auf englisch. »Bitte. Keine Namen.« Shan bemerkte, daß neben ihm auf dem Boden die Tasche lag, die Shan nach Lhasa mitgebracht hatte. Der Schädel aus dem Höhlenschrein.
»Wie konnten Sie Bescheid wissen?« fragte Shan fünf Minuten später.
Jansen hatte bedrückt geschwiegen. »Ich bringe Sie bloß irgendwo zur Bundesstraße. Ihre Freunde werden dort warten, haben sie gesagt.«
»Warum?«
»Warum?« Jansen hieb wütend auf das Lenkrad. »Glauben Sie, ich wäre dieses Risiko eingegangen, wenn ich vorher Bescheid gewußt hätte? Mit mehr Kriechern in der Gegend als Fliegen auf einem Haufen Scheiße? Niemand hat etwas von den Kriechern gesagt. Man hat mich bloß gebeten, dort zu sein, das ist alles. Um dem Gentleman zu helfen, der all die Informationen aus Lhadrung gebracht hat.« Er schüttelte den Kopf. »So etwas ist noch nie passiert. Hilf uns bei den Unterlagen, kein Problem. Nimm einen alten Mann aus Shigatse im Wagen mit, kein Problem. Aber das hier...« Er riß eine Hand hoch.
»Die purbas«, erkannte Shan. Irgendwie hatten die purbas all dies bewirkt. Der kleine Mann, den er auf der Straße bemerkt hatte, war nicht allein gewesen. Es hatte sich um einen purba gehandelt, begriff Shan jetzt. »Aber wie konnten die davon Wind bekommen?«
»So wie sonst auch. Vermutlich durch Telepathie.«
Die Kriecher hatten irgendwie davon gewußt. Die purbas hatten irgendwie davon gewußt. Jeder schien hier über alles mögliche Bescheid zu wissen. Außer ihm selbst.
»Durch Telepathie«, wiederholte Shan mit hohler Stimme. Er schaute aus dem Fenster, um noch einen flüchtigen Blick auf den Potala zu erhaschen, der in der Ferne hinter ihnen verschwand. Die Klippe des Daseins.
»Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist die Ausweisung«, murmelte Jansen vor sich hin.
Shan streckte sich auf der Rückbank aus. Er fand ein Papiertuch und hielt es sich an die Stirn. »Jemand hat ein Hindernis auf die Fahrbahn geschoben«, sagte Shan, als würde er laut nachdenken. Er schaute Jansen plötzlich an. »Ein Bauernkarren, glaube ich. Die Kriecher sind ausgestiegen, um den Weg freizuräumen.«
»Man hat mir gesagt, Sie würden eine Mitfahrgelegenheit benötigen. Ich sollte in meinem Wagen warten. Okay, habe ich gedacht. Eine Mitfahrgelegenheit. Ich könnte Sie nach dem Schädelschrein fragen. Plötzlich rennt einer von denen an mir vorbei und wirft mir einen Schlüssel zu. Für Sie, sagt er. Dann kommt dieser Transporter der Öffentlichen Sicherheit angerast, und man wirft Sie in mein Auto. Wer sind Sie? Warum sind alle hinter Ihnen her?«
»Für mich, hat er gesagt. Hat er meinen Namen benutzt?«
»Nein. Nicht direkt. Er hat gesagt, für den Pilger.«
»Den Pilger?«
»Das ist der Name, den die purbas Ihnen gegeben haben. Tans Pilger.«
Nein, war Shan versucht zu erwidern. Ein Pilger bewegt sich auf die Erleuchtung zu. Vor mir liegen nur Dunkelheit und Verwirrung. Doch plötzlich flackerte ein winziges Licht vor ihm auf. »Haben Sie nicht eben gesagt, Sie hätten einen alten Mann aus Shigatse mitgenommen? Nach Lhadrung?«
Jansen nickte zerstreut. Er schaute nervös in den Rückspiegel. »Seine Frau war kurz zuvor gestorben. Er hat mir einige der alten Klagelieder vorgesungen.«
Rebecca Fowler und Tyler Kincaid warteten knapp fünfundzwanzig Kilometer außerhalb der Stadt. Sie parkten am Rand eines flachen Straßenstücks entlang des Lhasa-Flusses, wo normalerweise die Lastwagenfahrer ihre nächtlichen Schlafpausen einlegten. Jansen hielt hinter einem klapprigen Jiefang-Laster, aus dem sogleich vier junge Männer ausstiegen und Shan zu den Amerikanern brachten. Shan drehte sich um, weil er Jansen danken wollte, doch der Finne nickte nur flüchtig und machte sich eilig auf den Rückweg.
Der Jiefang setzte sich vor die Amerikaner, und der Fahrer bedeutete Kincaid, er möge ihm folgen.
Fowler saß vorn und schwieg. Zuerst dachte Shan, sie würde schlafen, aber dann sah er ihre Hände. Sie hielt die Straßenkarte so fest umklammert, daß die Knöchel weiß hervortraten.
»Das ist wie freier Fall«, sagte Kincaid. Er klang unerwartet beschwingt. »Dreißig Meter pro Sekunde. Das Herz schlägt dir bis zum Hals. Die Welt fliegt an dir vorbei.« Er drehte sich kurz zu Shan um. »Das sind sie, nicht wahr?« fragte er mit breitem Grinsen.
»Wer?«
»Da in dem Lastwagen. Das sind sie doch, oder? Es müssen echte purbas sein.«
»Es tut mir leid.« Shan betastete seine Stirn. Das Blut war inzwischen geronnen.
»Was tut Ihnen leid? Dieser Tag? Mann, dieser ganze Tag war wie eine einzige Schußfahrt den Berg hinunter. Man springt einfach über die Kante und läßt es geschehen.«
»Ich habe nie beabsichtigt, daß Sie in Gefahr geraten«, sagte Shan. »Sie hätten einfach zurückfahren sollen.«
»Ach, Unsinn. Schließlich sind wir alle lebend da rausgekommen, oder nicht? Kein Problem. Ich hätte nicht um alles in der Welt darauf verzichten wollen. Wir haben sie ganz schön an der Nase herumgeführt, die BDKs. Und Sie haben mich auf die Suche nach etwas geschickt, das gar nicht da ist. Perfekt. Eine gute Ablenkung.« Er ließ wieder sein donnerndes Cowboygeheul erschallen.
»Verdammt, Tyler«, sagte Fowler. »Bring uns hier weg. Es ist noch nicht vorbei, solange wir unterwegs sind.«
»Was meinen Sie mit >etwas, das gar nicht da ist<?« fragte Shan.
»Im Landwirtschaftsministerium. Das Büro für Bewässerungsfragen ist im Zuge einer Neuordnung verlegt worden. Vor fünf Monaten hat man alle Akten nach Peking geschafft.«
Die Suche nach etwas, das gar nicht da war. Shan hatte die Karte aus dem Lager vergessen. Er zog sie langsam aus der Tasche, als würde sie zerbrechen, wenn er sich zu schnell bewegte.
Tamdin, stand dort geschrieben. Saskya gompa. Doch da stand noch etwas. Leihgabe, mit einem Datum, das vierzehn Monate zurücklag und dem Datum der Entdeckung entsprach. Leihgabe an die Stadt Lhadrung. Da war ein hastig hingekritzelter und verschmierter Name. Aber der Stempel daneben war klar und deutlich. Das persönliche Siegel von Jao Xengding. Darunter stand »Bestätigt«, gefolgt von einem letzten Ideogramm, dem umgekehrten, doppelt durchkreuzten Y, das er auch auf einem der Zettel aus Jaos Jackett gesehen hatte. Es bedeutete Himmel.
Fünfunddreißig Kilometer hinter dem Flughafen blieb der Jiefang-Laster in einer scharfen Kurve stehen. Kincaid hielt ebenfalls an. Ein Mann stieg aus dem Laster, lief zum Fahrzeug der Amerikaner, flüsterte aufgeregt mit Kincaid und wies dabei auf eine Abzweigung, die ein Stück vor dem Lastwagen lag. Der Jiefang wendete, und als er an ihnen vorbeikam, sprang der purba auf.
Kincaid schaltete den Allradantrieb zu und bog auf die Seitenstraße ein. »Die Kriecher haben auf allen Straßen, die aus Lhasa herausführen, in gleichmäßigen Abständen Straßensperren errichtet. Sie kochen vor Wut. Am Kontrollpunkt zum Bezirk Lhadrung wartet vermutlich ein spezielles Empfangskomitee. Also müssen wir einen Umweg machen.«
Verwegen brauste er über die holprige Strecke auf die untergehende Sonne zu und bremste dann scharf, als in der Ferne die flackernden Lichter des Tals von Lhadrung in Sicht kamen. »Wissen Sie, wir könnten umkehren«, sagte er zu Shan und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Wohin?«
»Nach Lhasa. An den Straßensperren werden nur die Fahrzeuge kontrolliert, die die Region verlassen wollen, nicht die in umgekehrter Richtung. Wir könnten es schaffen. Sie sind zu wertvoll, um wieder ins Gefängnis zu gehen, wenn all das vorbei ist. Sie wissen so viel. Ich kann Ihnen helfen.«
»Wie denn?« Shan merkte, daß die khata des Amerikaners noch immer um seinen Hals hing.
»Ich spreche mit Jansen. Wir werden ihn schon beruhigen. Verdammt, er wird selbst ganz scharf darauf sein, Ihnen wochenlang Löcher in den Bauch zu fragen. Er kennt Leute, die Sie außer Landes schaffen können.«
»Aber Oberst Tan. Und falls Direktor Hu...«, protestierte Fowler.
»Verflucht, Rebecca, die wissen doch gar nicht, daß Shan bei uns ist. Er verschwindet einfach. Ich könnte diese Tätowierung beseitigen. Ich habe schon mal gesehen, wie so etwas gemacht wird. Sie könnten ein freier Mann sein, Shan.«
Ein freier Mann. Die Worte kamen Shan blaß und leer vor. Die Amerikaner schienen stets ganz vernarrt in dieses Konzept zu sein, aber Shan hatte es noch nie begreifen können. Vielleicht lag das daran, überlegte er, daß er noch nie einen freien Mann kennengelernt hatte. Seine Hand legte sich auf die khata und zog sie vom Hals. »Das ist sehr nett von Ihnen. Aber ich werde in Lhadrung gebraucht. Könnten Sie mich bitte einfach zum Lager Jadefrühling zurückbringen?«
Kincaid sah den Schal in Shans Hand und schüttelte enttäuscht den Kopf. »Behalten Sie ihn«, sagte er bewundernd und schob die khata zurück. »Wenn Sie nach Lhadrung zurückkehren, werden Sie ihn brauchen.«