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Oberst Tan schien die Nachrichten von Miss Lihua und Madame Ko gleichzeitig zu lesen. Seine Augen sprangen zwischen dem Blatt in seiner Hand und dem Zettel auf seinem Tisch hin und her. In dem Fax aus Hongkong teilte Miss Lihua ihnen mit, daß sie sich dringend um einen Rückflug bemühe, in der Zwischenzeit jedoch schon vorab bestätigen wolle, daß Ankläger Jaos persönliches Siegel in der Tat letztes Jahr verschwunden sei. Man habe niemanden wegen des Diebstahls verhaftet, obwohl genau diese Art von kleinerem Sabotageakt typisch für Mönche und andere kulturelle Unruhestifter gewesen sei. Man habe ein neues Siegel anfertigen lassen und lediglich Jaos Bank verständigt.
Madame Kos Notiz besagte, daß sie Erkundigungen beim Landwirtschaftsministerium in Peking eingezogen habe. Es sei ihr gelungen, einen Mann namens Deng ausfindig zu machen, der für die Verwaltung der Wasserrechte zuständig sei. Deng wußte, wer Ankläger Jao war; sie hätten in der Woche vor Jaos Tod miteinander telefoniert, erklärte Madame Ko. Außerdem sei Deng mit dem Ankläger während Jaos Zwischenstop in Peking verabredet gewesen, und zwar in einem Restaurant namens Bambusbrücke.
»Also hat einer der Mönche Jaos Siegel gestohlen und sich das Kostüm verschafft. Vielleicht Sungpo, vielleicht auch einer der vier anderen«, behauptete Tan.
»Wieso sein persönliches Siegel?« fragte Shan. »Falls ich all diese Mühe auf mich nehmen würde, um Verwirrung in der Regierung zu säen, weshalb sollte ich dann nicht lieber sein offizielles Siegel stehlen?«
»Zufall. Ein Mönch hat eine Gelegenheit gewittert und ist ins Büro eingebrochen. Vielleicht stand eine Tür oder ein Fenster offen, und das erste, was er gefunden hat, war das persönliche Siegel. Er hat Angst bekommen und ist abgehauen. Miss Lihua sagt, es war ein Mönch.«
»Das glaube ich kaum. Aber darum geht es auch gar nicht.« Shan ertappte sich dabei, wie er aus dem Fenster auf die Straße starrte und halb damit rechnete, einen Lastwagen voller Kriecher eintreffen zu sehen, die ihn verhaften wollten. Doch dort stand nur der leere Wagen des Offiziers, mit dem er in die Stadt gefahren war. Die Kriecher in Lhasa hatten gewußt, wer er war. Doch jetzt kamen sie nicht, um ihn zu holen. Wie hatten ihre Befehle gelautet? Sollten sie ihn einfach nur aus Lhasa vertreiben? Oder wollte man ihn eliminieren, falls es nur irgendwie gelang, ihn außerhalb von Tans Reichweite in die Finger zu bekommen?
»Was meinst du damit?«
Shan drehte sich wieder zu Tan um. »Wichtig daran ist, daß der Direktor für Religiöse Angelegenheiten in diesem Punkt gelogen hat. Er hat uns erzählt, die Kostüme befänden sich alle an ihrem Platz. Er hat behauptet, er hätte es überprüft.«
»Vielleicht hat ihn jemand aus dem Museum mit falschen Informationen versorgt«, schlug Tan vor.
»Nein. Madame Ko hat heute morgen nachgefragt. Niemand hat je wegen der Kostüme im Museum angerufen.«
»Aber Jao hätte niemals angeordnet, daß das Kostüm von Lhasa zurück nach Lhadrung geschickt werden soll. Es hätte gar keinen Grund dafür gegeben«, sagte Tan vorsichtig.
»Haben Sie je davon gehört, sein Siegel sei gestohlen worden? Es müßte einen Ankläger doch sehr beunruhigen, wenn er sein Siegel verliert. Und der Militärkommandant sollte eigentlich davon unterrichtet werden.«
»Es war doch nur sein persönliches Siegel.«
»Ich glaube, daß jemand hier in Lhadrung Zugang zu seinem persönlichen Siegel hatte und es dazu benutzt hat, die Karte abzustempeln, die später auf die Museumskiste geklebt wurde.«
»Du willst sagen, daß Miss Lihua lügt?«
»Wir brauchen sie hier vor Ort.«
»Du hast ihre Nachricht gesehen. Sie ist unterwegs.« Als Tan das Fax auf den Tisch legte, bemerkten sie beide, daß Madame Ko aufgeregt an der Tür stand. Sie war zwar nicht hinzugebeten worden, aber offenbar war sie auch nicht gewillt, wieder zu gehen. Sie hob die Faust zu einer kurzen Siegesgeste. Der Oberst seufzte und bedeutete ihr, sie möge eintreten.
»Jao wollte sich also mit diesem Deng in Peking treffen. Weshalb?« fragte Tan.
»Um Erkundigungen über die Wasserrechte in Lhadrung einzuholen«, berichtete Madame Ko. »Jao wollte wissen, wer diese Rechte vor den Amerikanern innehatte.«
»Und was ist nun mit Genosse Deng vom Landwirtschaftsministerium? Hatte er die Antwort?«
»Alle Unterlagen befanden sich noch immer in den Kisten aus Lhasa. Darum war er auch so unglücklich darüber, daß Jao nie eingetroffen ist. Er sagt, er habe Stunden gebraucht, um sich hindurchzuwühlen.«
»Und all das hat er für irgendeinen Fremden aus Tibet gemacht?«
Madame Ko nickte. »Genosse Jao hat gesagt, falls sie das feststellen würden, womit er rechnete, würde er mit Deng sofort in die Zentrale des Justizministeriums gehen wollen. Ein großer Fall, hat er gesagt. Deng würde dem Minister persönlich empfohlen werden.«
Tan rutschte auf seinem Stuhl nach vorn. »Vermutlich hat es sich um eines der Landwirtschaftskollektive gehandelt«, sagte er.
»Genau«, bestätigte Madame Ko.
»Sie haben ihn gefragt?«
»Aber sicher. Das ist doch ein Teil unserer Ermittlungen«, sagte sie und bedachte Shan mit einem kleinen verschwörerischen Nicken.
Der Oberst warf Shan einen ungeduldigen Blick zu. »Und?«
»Das Kollektiv der Langen Mauer.«
Tan bat um Tee. »Sie benimmt sich, als hätte sie soeben unseren Fall gelöst«, seufzte er, nachdem Madame Ko ganz aufgeregt aus dem Raum geeilt war.
»Vielleicht hat sie das auch«, sagte Shan.
»Ist dieses Kollektiv der Langen Mauer irgendwie von Bedeutung?«
»Erinnern Sie sich noch an Jin San, eines der Mordopfer?«
»Jao hat einen der Fünf von Lhadrung wegen dieses Mordes angeklagt.«
»Und im Verlauf der Untersuchung herausgefunden, daß Jin San einen Drogenring geleitet hat.«
»Den wir daraufhin ausgeschaltet haben.«
»Vielleicht ist Ihnen entfallen, daß Jin San der Leiter des Landwirtschaftskollektivs der Langen Mauer gewesen ist.«
Der Oberst zündete sich eine Zigarette an und schaute in die Glut. »Ich will, daß Miss Lihua hier auftaucht«, rief er plötzlich in Richtung der offenen Tür. »Schicken Sie ihr ein Militärflugzeug, falls nötig.«
Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und wandte sich an Shan. »Dieser Opiumbetrieb ist erledigt. Nach Jin Sans Tod ist alles auseinandergebrochen. Der Drogenhandel in Lhadrung hat aufgehört. In der Klinik sind schon lange keine Süchtigen mehr aufgetaucht. Ich wurde in dieser Angelegenheit sogar offiziell belobigt.«
Shan breitete die Fotokarten aus, auf denen das fragliche Lizenzgebiet abgebildet war; die gleichen Karten, die auch Jao gesehen hatte. »Können Sie diese Art von Fotos lesen?«
Tan ging zu seinem Schreibtisch und holte eine große Lupe. »Ich habe eine Raketenbasis befehligt«, brummte er.
»Yeshe hat sich die Karten gestern angesehen. Die neue Straße. Die Mine. Das zusätzliche Lizenzgebiet im Nordwesten. Eines hat er nicht verstanden. So hat dieses Gebiet in vier aufeinanderfolgenden Monaten ausgesehen.« Shan wies auf die erste Karte. »Winter. Schnee. Felsen und Schlamm. Vom Rest des Terrains nicht zu unterscheiden.«
Er zog es vor, nichts von Yeshes anderer Entdeckung zu berichten. Auf den Computerdisketten, die Fowler mitgenommen hatte, waren tatsächlich Bestandslisten gespeichert gewesen. Die Hälfte der Dateien in chinesischer Sprache hatte mit den englischen Datensätzen übereingestimmt. Doch die restlichen Dateien waren Auflistungen von Munitionsdepots, Soldaten und sogar Raketenstützpunkten in Tibet. Yeshes Hände hatten gezittert, als er Shan die Disketten übergab. Gemeinsam hatten sie die Datenträger zum Versorgungsgebäude des Lagers Jadefrühling gebracht und dort im Heizkessel verbrannt. Keine Sekunde lang hatte Shan geglaubt, die Daten auf den Disketten könnten echt sein. Doch Yeshe und er wußten beide, daß dies kaum einen Unterschied bedeutete. Die Öffentliche Sicherheit würde sich nur schwerlich mit solchen Spitzfindigkeiten aufhalten, falls man einen Zivilisten mit den Daten erwischte. Als er in die Flammen des Heizkessels starrte, hatte Yeshe ihn um die Erlaubnis gebeten, zur 404ten gehen zu dürfen. Die Zivilisten versammelten sich, hatte er gesagt.
»Nicht ganz«, stellte Tan fest und nahm die Lupe zu Hilfe. »Da sind Terrassen. Vermutlich sehr alt. Aber man kann noch Spuren davon erkennen. Schwache Schattenlinien.«
»Genau. Jetzt dieselbe Gegend einen Monat später.« Shan wechselte zur nächsten Karte. »Die Hänge sind jetzt grün, wenn auch nur ein wenig. Immerhin deutlich grüner als der Rest der Berge.«
»Wasser. Das bedeutet nur, daß sich auf den Terrassen nach wie vor das Wasser sammelt«, sagte Tan.
»Aber noch einen Monat später. Sehen Sie nur. Die Farbe ist inkonsistent. Ein Hauch von Rosa und Rot.«
Schweigend beugte Tan sich über die Karte und nahm sie mit der Lupe aus mehreren Winkeln in Augenschein. »Bei der Entwicklung der Bilder gibt es manchmal Anomalien. Die Chemikalien erschaffen falsche Farben. Das gilt sogar für die Lupe. Sie reagiert nicht immer ganz exakt auf das Licht.«
»Ich glaube, daß die Farben stimmen.« Shan legte die letzte Karte hin. »Vor sechs Wochen.«
»Und die Farben sind verschwunden«, stellte Tan fest. »Kein Unterschied zu den umliegenden Hängen. Wie ich schon sagte, ein Fehler bei der Entwicklung.«
»Aber die Terrassen sind ebenfalls verschwunden.«
Tan blickte verwirrt auf und beugte sich dann mit der Lupe über die Karte.
»Jemand baut noch immer Jin Sans Mohn an«, lautete Shans Schlußfolgerung.
Shan haßte Helikopter. Flugzeuge waren ihm schon immer wie ein Verstoß gegen die natürliche Ordnung der Dinge vorgekommen; Hubschrauber wirkten schlichtweg unmöglich.
Der junge Armeepilot, der sie aus dem Lager Jadefrühling abholte, tat wenig, um Shans Befürchtungen zu zerstreuen. Er glitt gleichbleibend in sechzig Metern Höhe über dem Boden, was zu einer Art Achterbahn-Effekt führte, als sie über die wogenden Hügel des oberen Tals hinwegschwebten. Auf Tans Befehl hin flog er eine scharfe Kurve und begann einen steilen Aufstieg. Zehn Minuten später hatten sie die Kammlinie überwunden und landeten auf einer kleinen Lichtung.
Die Terrassen waren alt, aber deutlich zu erkennen. Sie wurden durch Felsmauern gestützt, zwischen denen ein ausgefahrener Karrenpfad verlief. Die Frühjahrsernte war bereits eingebracht worden. Das einzige Zeichen für einen Bewuchs waren vereinzelte Unkrautstreifen, die sich durch einen Teppich aus abgestorbenen Mohnblättern aus den Terrassen erhoben.
»Die Steine.« Tan wies auf einen flachen Stein, dann auf noch einen und noch einen, die im regelmäßigen Abstand von drei Metern auf den Feldern lagen. Shan schob den nächstbesten beiseite. Darunter befand sich ein Loch von etwa acht Zentimetern Breite und mehr als einem halben Meter Tiefe. Tan trat gegen zwei weitere Steine. Sie alle bedeckten ähnliche Löcher.
Unter einem weit überhängenden Felsen entdeckte Tan einen Stapel schwerer hölzerner Stangen von knapp zweieinhalb Metern Länge. Er nahm eine davon zum nächsten Loch mit. Sie paßte genau. Im Schatten unter dem Felsen stieß Shan auf ein Seilende. Er zerrte vergeblich daran und rief dann Tan zu Hilfe. Mit vereinten Kräften zogen sie ein riesiges Stoffbündel hervor, das in das Seil gewickelt war. Nein, erkannte Shan sogleich, als Licht auf das Bündel fiel, das war kein Stoff. Es handelte sich um ein riesiges Tarnnetz des Militärs.
Ein Zuruf von oben durchbrach die Stille.
»Oberst!« rief der Pilot, der ihnen auf dem Abhang entgegenrannte. »Da kam gerade eine Meldung über Funk. Bei der 404ten wird mit Maschinengewehren geschossen!«
Tan befahl dem Piloten, über dem Gefängnis zu kreisen. Am Eingangstor standen drei Rettungswagen mit blinkenden Lichtern. Man konnte vier Gruppen von Leuten unterscheiden, die sich jeweils dicht zusammendrängten, wie Puzzleteile, die darauf warteten, aneinandergefügt zu werden. Auf dem Antreteplatz des Lagers saßen in einem engen Viereck die Häftlinge. Shan hielt nach Leichen Ausschau, nach wahllos verstreuten Körpern, die zu den Krankenwagen getragen wurden, doch er fand keine. Außerhalb des Drahtverhaus standen die Gefängniswachen in ihren grünen Uniformen vor dem Speisesaal und bildeten einen Halbkreis in Richtung des Gefangenenlagers.
Eine straffe graue Linie von Kriechern zog sich rund um den Stacheldrahtzaun, nur unterbrochen durch die Unterstände aus Sandsäcken. Die \ierte Gruppe war neu. Shan musterte sie, als der Hubschrauber landete. Es waren Tibeter. Hirten. Leute aus der Stadt. Kinder, alte Männer und Frauen. Manche schauten in Richtung des Lagers und sagten Mantras auf. Andere bereiteten ein torma-Opfer aus Butter vor, das geweiht und verbrannt werden sollte, um den mitfühlenden Buddha anzurufen.
Ein beißender Korditgestank hing in der Luft. Als das Heulen des Helikoptermotors erstarb, hörte Shan Kinder weinen und verzweifelte Rufe aus der Menge laut werden. Die Leute riefen Namen und meinten damit einzelne Häftlinge innerhalb der Umzäunung. In der Nähe des Eingangs saßen mehrere alte Männer und beteten. Shan lauschte ihnen einen Moment lang. Sie baten nicht etwa um das Überleben der Gefangenen. Sie beteten für die Erleuchtung der Soldaten.
Tan stand schweigend da und musterte die Szene. Sein Zorn war kaum zu übersehen. Vor den Zivilisten stand ein Dutzend Kriecher mit durchgeladenen Maschinenpistolen. Zu ihren Füßen lagen Patronenhülsen verstreut.
»Wer hat euch den Befehl gegeben, das Feuer zu eröffnen?« brüllte Tan.
Sie ignorierten ihn.
»Es gab eine Bewegung in Richtung der Todeszone«, sagte eine aalglatte Stimme hinter ihnen. »Man hatte die Leute gewarnt.« Shan erkannte den Mann, noch bevor er sich umdrehte. Der Major. »Wie Sie wissen, Oberst, verfügt das Büro in solchen Fällen über entsprechende Verfahrensweisen.«
Tan starrte den Major mit düsterem Blick an und ging dann wütend auf den Gefängnisdirektor zu, der bei den Wachen stand. Unterdessen trat Shan so nah er es wagte an den Zaun und suchte die Gesichter der Gefangenen ab. Von hinten packte ihn schmerzhaft eine Hand an jedem Arm. Seine Häftlingsinstinkte ließen ihn zusammenzucken, und er duckte sich, um sich auf den Schlag vorzubereiten. Als kein Schlag folgte, ließ er sich von den Soldaten wegführen. Die Kriecher erkannten ihn nicht als Gefangenen, begriff er. Seine Hand glitt an den Ärmel und zog ihn herunter, um die Tätowierung zu bedecken.
Er blieb stehen, wo man ihn hinbrachte, und starrte durch den Zaun. Von Choje war nichts zu sehen.
Die tibetischen Zivilisten wichen vor ihm zurück, als er durch die Menge ging. Sie drehten sich von ihm weg und ließen ihn nicht nahe genug an sich heran, daß er ein Gespräch anfangen konnte. »Die Häftlinge«, rief er den Rücken zu, die sich ihm zuwandten. »Sind die Häftlinge verletzt?«
»Sie haben Zauber«, rief jemand trotzig. »Zauber gegen die Kugeln.«
Plötzlich stand eine vertraute Gestalt vor ihm, die irgendwie fehl am Platz wirkte. Es war Sergeant Feng. Er trug das alte Wollhemd, das Shan ihm in Kham angezogen hatte, und sein schmutziges Gesicht wirkte müde. Als er Shans Blick erwiderte, lag keinerlei Überheblichkeit mehr darin. Einen Moment lang glaubte Shan, eine flehentliche Bitte daraus zu lesen.
»Ich dachte, Sie wären in den Bergen.«
»Da war ich auch«, erwiderte Feng lakonisch.
Als Shan auf ihn zuging, trat Feng vor, als wolle er ihm den Weg versperren. Shan legte Feng eine Hand auf die Schulter und schob ihn beiseite. Hinter ihm saß ein Priester am Boden und betete gemeinsam mit einer alten Frau ein Mantra. Shan blieb stehen und riß die Augen auf. Es war Yeshe, erkannte er auf einmal. Der Tibeter trug ein rotes Hemd, das den Eindruck eines Mönchsgewands erweckte. Sein Kopf war völlig kahlgeschoren.
Yeshe grinste unbeholfen, als er Shan bemerkte. Er tätschelte der Frau die Hand und stand auf.
»Ich habe nach den Häftlingen gefragt«, sagte Shan.
Yeshe schaute in Richtung des Zauns. »Man hat über ihre Köpfe geschossen. Bislang ist niemand verletzt.« In seinem Blick lag eine Selbstsicherheit, die Shan noch nie an ihm gesehen hatte.
»Verdammter Narr!« rief der Sergeant plötzlich hinter ihnen aus und lief dann durch die Menge auf ein Kochfeuer zu, an dem eine Frau sich mit jemandem stritt. Es war Jigme.
»Sie will mir nichts geben«, sagte Jigme, sobald er Shan sah. »Ich habe ihr gesagt, daß es für Je Rinpoche ist.« Er sah erst Shan und dann Yeshe an. »Sagt es ihr«, bat er. »Sagt ihr, daß ich kein Chinese bin.«
»Sie sind in den Bergen gewesen«, sagte Shan. »Was ist geschehen?«
»Ich muß Kräuter finden. Einen Heiler. Ich dachte, vielleicht hier. Jemand hat gesagt, hier wären Priester.«
»Ein Heiler für Je?«
»Er ist sehr krank. Sehr schwach. Wie ein Blatt an einem verfaulenden Baumstamm. Schon bald wird er einfach davonschweben«, sagte Jigme mit verzweifelter Stimme und verschleierten, feuchten Augen, als wäre der Trauerfall bereits eingetreten. »Ich will nicht, daß er geht. Nicht auch noch Rinpoche. Lassen Sie ihn nicht gehen. Ich flehe Sie an.« Er packte Shans Hand und drückte sie so fest, daß es weh tat.
Eine Pfeife ertönte. Die Kriecher nahmen Haltung an, und eine Regierungslimousine kam in Sicht. Li Aidang sprang heraus, bedachte den Major mit einer flotten, abgekürzten Ehrenbezeigung und ging zu Tan herüber. Sie sprachen kurz miteinander, und dann schritt Li mit dem Major die Reihe der Kriecher ab, als würde er eine Truppeninspektion vornehmen.
Shan gab Sergeant Feng einen Stoß. »Fahren Sie in die Stadt«, sagte er drängend. »Holen Sie Dr. Sung, und bringen Sie sie zur Kaserne.«
Oberst Tan stand da, als würde er auf Shan warten, und musterte schweigend die Zivilisten.
»Warum müssen die Lektionen immer so schmerzhaft sein?« fragte der Oberst leise. »Fast fünfzig Jahre, und sie verstehen es noch immer nicht. Die Leute wissen, was wir zu tun haben.«
»Nein«, entgegnete Shan. »Die Leute wissen, was sie zu tun haben.«
Tan ließ nicht erkennen, ob er ihn gehört hatte.
Shan drehte sich zu ihm und kämpfte gegen das Verlangen an, zurück zum Zaun zu rennen. »Ich muß da rein.«
»Um sich vor die Waffen des Kommandos zu stellen? Kommt nicht in Frage.«
»Ich habe keine Wahl. Das sind meine... wir können sie nicht sterben lassen.«
»Glaubst du, ich will ein Blutbad?« Tans Gesicht umwölkte sich. »Vierzig Jahre in der Armee, und dafür wird man mich nun in Erinnerung behalten. Für das Massaker bei der 404ten.«
Die Limousine hupte. Tan seufzte. »Li Aidang will, daß ich mitkomme. Wir müssen aufbrechen. Ich werde dich im Lager Jadefrühling absetzen. Es gibt einen Empfang für die amerikanischen Touristen. Außerdem letzte Vorbereitungen vor dem Eintreffen der Delegation des Ministeriums. Und ein besonderes Bankett. Offenbar rechnet Genosse Li damit, nach dem Prozeß zum Ankläger befördert zu werden.«
Sie hielten oberhalb der Abzweigung zum Lager Jadefrühling.
Man hatte hier quer über die Straße eine neue Sperre errichtet, die von zwei Soldaten bewacht wurde, um die Zufahrt zum Gefängnis und zur Kaserne zu regeln. An der Schranke hing ein Schild, auf dem in englischer Sprache STRASSE WEGEN BAUARBEITEN GESPERRT stand. Im ersten Moment war Shan verwirrt, doch dann fiel es ihm wieder ein. Die amerikanischen Touristen.
Noch bevor Shan aus dem Wagen aussteigen konnte, erschien Li am Fenster und ließ einen Umschlag in Tans Schoß fallen.
»Hier sind mein abgeschlossener Bericht und die Aussage des Mörders«, verkündete er. »Die Verhandlung ist für übermorgen anberaumt, zehn Uhr vormittags. Im Stadion des Volkes.« Er warf Shan einen eisigen Blick zu. »Es sind neunzig Minuten eingeplant. Bis zum Mittagessen müssen wir fertig sein.«
Die oberste Seite der Akte war eine handschriftliche Namenliste. Shan zog sie heraus, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Die Ehrengäste der Veranstaltung im Stadion, die auf der Empore Platz finden sollten. An erster Stelle standen die Angehörigen der Gastdelegation des Justizministeriums, gefolgt von Oberst Tan und einem halben Dutzend ortsansässiger Würdenträger. Shan sah, daß Direktor Hu vom Ministerium für Geologie ebenso aufgeführt war wie Major Yang vom Büro für Öffentliche Sicherheit. Als er ein Ideogramm kurz vor dem Ende der Liste sah, überkam ihn ein Frösteln. Kein Name, kein Titel, lediglich das umgekehrte Y mit den beiden Balken.
Als Shan auf das Symbol wies, bemerkte Tan seinen fragenden Gesichtsausdruck. »Bloß der Spitzname«, sagte er angewidert. »Er mag es, wenn seine Freunde ihn so nennen. Hält es wohl für witzig.«
»Himmel?«
»Allerdings. Du weißt doch, Gott im Himmel. Alle Priester huldigen ihm.«
Shan nahm das Blatt und starrte es mit grimmiger Entschlossenheit an. Dieser Gast auf dem Podium war derselbe Mann, dessen Unterschrift zur Bestätigung auf der Karteikarte mit Jaos Siegel stand, die Shan aus dem Museum mitgenommen hatte. Die gleiche Unterschrift fand sich zudem auf der Nachricht, von der Shan annahm, daß sie Ankläger Jao in die Todesfalle gelockt hatte, wenngleich er letzteres nicht beweisen konnte.
Wen Li, der Direktor für Religiöse Angelegenheiten.