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Sungpo bewegte sich zum erstenmal. Er barg den Kopf des alten Mannes im Schoß, wischte ihm mit einem feuchten Tuch das Gesicht ab und hielt manchmal inne, um ihn mit Reis zu füttern, ein Korn nach dem anderen.
»Wir haben versucht, einen Doktor zu bekommen«, sagte Shan. Er fühlte sich hilflos. »Eine Ärztin aus der Stadt.« Doch Dr. Sung hatte sich geweigert. Als er anrief, um sie dazu zu bewegen, ihre Meinung zu ändern, hatte sie sogleich eine ganze Reihe von Ausreden vorgebracht. Sie hätte jetzt Sprechstunde in der Klinik, sagte sie. Sie müßte gleich operieren, sagte sie. Ein Militärlager läge außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs, sagte sie.
»Man hat es Ihnen mitgeteilt, nicht wahr?« hatte er sie gefragt. »Daß es sich um einen alten Lama handelt.«
»Weshalb sollte das einen Unterschied bedeuten?«
»Wegen der Vorfälle in der buddhistischen Schule.«
Während der Stille, die darauf folgte, war Shan sich nicht sicher gewesen, ob sie ihm überhaupt noch zuhörte. »Ein alter Mann ist todkrank«, hatte er sie beschworen. »Falls er stirbt, bleibt uns keine Möglichkeit mehr, mit Sungpo zu sprechen. Falls er stirbt, kann das dazu führen, daß ein anderer zu Unrecht hingerichtet wird. Und ein Mörder wird ungestraft davonkommen.«
»Ich habe eine Operation«, hatte Dr. Sung fast schon im Flüsterton gesagt.
»Kommen Sie mir nicht mit Ausflüchten«, hatte Shan erwidert. »Sagen Sie doch einfach, daß Sie nicht wollen.« Sie blieb stumm. »Neulich in Ihrem Büro ist mir etwas klargeworden«, setzte er nach. »Sie sind nicht verbittert über den Rest der Welt, wie Sie jedermann glauben machen wollen. Sie sind nur verbittert über sich selbst.«
Daraufhin hatte sie aufgelegt.
»Rinpoche«, sagte Shan sanft. »Ich könnte tsampa besorgen. Sagen Sie mir, was Sie essen möchten.« Er fühlte nach dem Puls des alten Mannes. Das Herz schlug langsam und schwach, wie das gelegentliche Kräuseln einer Feder im Lufthauch.
Je öffnete die Augen. »Mir fehlt es an nichts«, sagte er mit einer Stärke, die seine Erscheinung Lügen strafte. »Ich suche nach einem Tor. Einige Türen habe ich schon gefunden, aber sie sind verschlossen. Jetzt suche ich nach meinem Durchgang.«
»Nur noch ein Tag, dann bringen wir Sie nach Hause.«
Je sagte etwas, aber so leise, daß Shan ihn nicht hören konnte. Es war an Sungpo gerichtet, der Je verstand und die Hand des Alten zu dem Rosenkranz an seinem Gürtel führte. Je begann ein Mantra.
Nachdem Shan hartnäckig darauf bestanden hatte, war Jigme der Zugang zum Arrestlokal gestattet worden. Er hatte sich sofort mit einer Schale Reis in die dunkelste Ecke der Zelle zurückgezogen. Als er sich umdrehte, war die Schale leer. Shan ging auf die Ecke zu. Einen Moment lang stellte Jigme sich ihm in den Weg, schaute von Sungpo zu Je und wieder zurück und gab schließlich nach.
Er hatte zwei der Steine, die als Kopfstützen dienten, vor die Wand geschoben, einen dritten Stein quer darüber gelegt und so einen winzigen Geisterschrein errichtet. Zwischen den unteren Steinen lagen ein halbes Dutzend Reisbällchen, die Spitzzange aus dem Schubfach und ein Stück Draht. Als Unterlage dienten einige kleine leuchtendweiße Stücke Papier.
Shan streckte die Hand nach dem Papier aus, doch Jigme schlug sie beiseite.
»Der Wachposten hatte sie, als ich vorhin gekommen bin. Er hat gelacht und sie Sungpo gezeigt, aber Sungpo hat meditiert. Da hat der Wachposten sie in die Zelle geworfen. Ich habe sie schnell aufgesammelt, bevor jemand mehr davon sehen konnte. Ich muß sie verbrennen. Sie sind respektlos.«
Das waren keine Blätter, begriff Shan, als er sie umdrehte. Es waren Fotos, insgesamt ein Dutzend Aufnahmen von drei verschiedenen Mönchen mit Beamten der Öffentlichen Sicherheit. Schaudernd erkannte Shan, daß er die Mönche bereits auf den Bildern in Jaos Akten gesehen hatte. Jedem dieser ersten drei Angehörigen der Fünf von Lhadrung waren vier der Fotos gewidmet. Das erste zeigte den jeweiligen Mann zwischen zwei Soldaten bei seiner Verhandlung. Auf dem nächsten kniete er. Auf dem dritten konnte man knapp einen halben Meter hinter seinem Kopf eine Pistole sehen. Die letzte Aufnahme zeigte ihn ausgestreckt und tot auf dem Boden, den Kopf inmitten einer großen Blutlache.
Mit zitternden Händen schob Shan die Fotos zusammen und steckte sie ein.
Sungpo sprach abermals mit Je. Der alte Mann stieß ein heiseres, pfeifendes Lachen aus. »Er sagt, ich soll Bescheid geben, daß wir bald anfangen müssen«, erklärte Je. Womit anfangen? Dann verstand Shan. Mit den Riten zum Übergang seiner Seele. Der Blick des Alten richtete sich auf die Zellentür, verweilte unsicher auf Yeshes Gestalt und wanderte dann träge weiter. »Wenn man sich treiben läßt, findet man manchmal von selbst den Weg«, murmelte er, als sei ihm versehentlich ein Gedanke entschlüpft.
Jigme stand am Gitter und klammerte sich daran fest, als würde er andernfalls fortgetragen werden. »Wir könnten ihn bitten, vom Berg herunterzukommen«, flüsterte er Shan zu. »Er ist solch ein heiliger Mann; vielleicht würde er helfen.«
»Ein Heiler?« fragte Yeshe. »Habt ihr einen Heiler gefunden?«
»Er ist hungrig, der Pferdeköpfige«, sagte Jigme mit hohler Stimme. »Gut, soll er mich verschlingen. Das ist mir egal. Vielleicht könnt ihr dann mit ihm reden, vielleicht wird er euch dann dabei helfen, Sungpo zu retten.«
Shan eilte sofort zu ihm und zog ihn von den Gitterstäben weg. »Ihr habt ihn gefunden? Ihr habt Tamdin gefunden?«
Da war eine Höhle, räumte Jigme schließlich ein, in welcher der Dämon schlief. »Die Hand des Dämons war verschwunden, aber der alte Mann, den wir vom Markt mitgenommen hatten, kannte sich gut mit Gebeten aus. Zuerst kamen nur Leute aus den Dörfern und Hirten. Doch dann kam einer von oben, stieg den Berg herunter wie eine Ziege, auf einem Pfad, der nicht breiter war als die Hand eines Mannes. Er hat das Gebet gegen Hundebisse zurückgelassen, einige Mantras aufgesagt und ist wieder den Hang hinaufgeklettert. Auch ohne den alten Mann hätte ich gewußt, daß es sich um Tamdins Diener handelt, denn sie waren auch da.«
»Sie?«
»Die Geier. Sie folgten ihm, als wären sie zahm, als wüßten sie, daß er ihnen frisches Fleisch bringen würde.«
Jigme und Sergeant Feng waren Tamdins Diener auf dem tückischen Pfad fast zwei Kilometer weit den Hang hinauf bis zu einer versteckten Höhle dicht unterhalb der Kammlinie gefolgt. »Nachdem er mit einem leeren Wasserkrug weggegangen war, habe ich mich hineingeschlichen. Aber Tamdin hatte die Form eines Wolfsdämons angenommen.« Jigme zog sein Hosenbein hoch und zeigte ihnen eine gezackte, nässende Wunde in seiner Wade, deren Rand deutliche Bißspuren trug. »Verflucht noch mal, ich bin gerannt, so schnell ich konnte.«
»Könnten Sie uns die Stelle zeigen?« fragte Yeshe aufgeregt.
Jigme nickte langsam und schaute zu Je. »Soll er mich verschlingen, als ein Opfer. Das ist mir egal. Sungpo wird mich im nächsten Leben wiederfinden. Wenn er sich den Bauch vollgeschlagen hat, wird Tamdin vielleicht mit euch sprechen. Bittet ihn, wegen Rinpoche ins Tal zu kommen. Aber vielleicht ist nicht genug Zeit. Wir müssen den Berg hoch; die Höhle liegt weit oberhalb des Schreins der Amerikaner. Es ist ein schwieriger Aufstieg.«
»Nein«, warf Shan ein. »Es gibt einen leichteren Weg.«
»Woher wissen Sie das?« fragte Yeshe.
»Weil ich weiß, von wo Tamdins Diener gekommen ist.«
Die vier Männer stiegen schweigend und nachdenklich zwischen den Felsen empor. Ihnen war unwohl zumute, der Wind peitschte sie, und die dünne Höhenluft raubte ihnen die Kräfte. Sie hatten den Pfad genau da gefunden, wo Shan ihn erwartet hatte, parallel zum Drachenschlund. Er kreuzte den Weg hinter den Felsformationen in der Nähe der alten Hängebrücke. Auf einer Strecke von etwa anderthalb Kilometern stieg er zunächst steil die Nordklaue empor und folgte dann dem Verlauf der langgezogenen Kammlinie.
Jigme, der darauf bestanden hatte voranzugehen, fiel plötzlich auf die Knie und wies nach vorn. »Da!« keuchte er. »Der Diener!«
Fengs Hand legte sich auf die Pistole. »Nein«, sagte Shan. »Er wird uns nichts tun. Lassen Sie mich allein mit ihm sprechen.«
Als der Mann näher kam, saß Shan allein vor einigen großen Felsen. Die anderen hatten sich dahinter versteckt. Der Neuankömmling trug einen Leinensack über der Schulter und zwei gaus um den Hals. Er blieb schlagartig stehen und musterte Shan argwöhnisch.
»Hallo, Chinese.«
»Ich bin froh, daß Sie es sind, Merak.«
Der Dorfvorsteher der ragyapas nickte, als würde er begreifen. »Es hat niemals jemand anders um die Zaubersprüche gebeten, nicht wahr?« fragte Shan.
Merak legte den Sack ab und lehnte sich neben Shan an den Felsen. Eine Hand lag auf seinen gaus. Er schien erleichtert zu sein, daß man ihn entdeckt hatte. »Aber wer hätte das schon geglaubt? Es kommt nicht oft vor, daß ein ragyapa zu großen Taten berufen wird.«
»Was tun Sie für ihn?«
»Ein Dämon braucht viel Ruhe. Er muß beschützt werden, während er schläft. Wenn ich in der Lage war, ihn zu finden, dann könnte das auch anderen gelingen, habe ich befürchtet.«
»Wie lange geht das schon so?«
»Dieser Bastard Xong De. Der Direktor der Minen. Er hat sich geweigert, meinen Neffen in der amerikanischen Mine arbeiten zu lassen.«
»Luntok«, sagte Shan, der auf einmal den Zusammenhang begriff. »Luntok ist Ihr Neffe? Derjenige, der auf die Berge klettert?«
»Ja«, erwiderte Merak mit sichtlichem Stolz. »Wissen Sie, er wird den Chomolungma besteigen.«
»Aber wie hat er dann seine Stelle bekommen, nachdem man ihn abgelehnt hatte?«
»Xong ist gestorben. Es heißt, Tamdin habe es getan. Ich habe das auch geglaubt, denn danach wurden plötzlich Tibeter bei der Mine angestellt. Luntok hat auch schon bald die entsprechende Erlaubnis erhalten. Ich wollte Tamdin ein Dankopfer bringen, und ich wußte, daß er im Hochgebirge lebt. Also habe ich angefangen, nach ihm Ausschau zu halten. Dann, nachdem Luntok seine Hand gefunden hatte, wußte ich, wo ich suchen mußte. Ich kenne unsere Geier. Sie suchen sich ihre Beute ganz oben auf den Kämmen. Dieser Vogel hatte die Hand bei den Amerikanern fallen gelassen. Er hat bestimmt nicht lange gebraucht, um zu merken, daß dies keine gewöhnliche Nahrung für ihn war.«
»Was bedeutet, daß Tamdin sich in einer hochgelegenen Höhle in der Nähe der Amerikaner befinden mußte.«
Merak nickte energisch. »Zuerst hatte ich Angst, ich hätte ihn erzürnt. Ich habe seine goldene Haut berührt. Doch als ich seine Macht spürte und mir klar wurde, was ich getan hatte, bin ich weggelaufen.«
»Doch dann sind Sie mit beschwichtigenden Zaubersprüchen zurückgekehrt, und seitdem haben Sie ihm geholfen.«
»Er war schwer verletzt, das konnte ich sehen. Beim Kampf gegen den letzten Teufel hatte er seine Hand verloren. Er hat doch schon so viele Kämpfe durchgestanden. Ich habe die Hand zurückgebracht und auch die Zaubersprüche, aber ich wußte, daß er Ruhe braucht. Also habe ich Beschützer dort postiert, damit er ungefährdet von seinen Wunden genesen kann. Und seitdem habe ich stets Nahrung und Wasser gebracht.«
»Nahrung und Wasser?«
»Ich weiß um den Unterschied zwischen Dämonen und Kreaturen aus Fleisch und Blut.«
»Weshalb benötigen Sie Gebete, um sich vor ihnen zu schützen, wenn sie doch Ihr Eigentum sind.«
»Es sind nicht meine. Ich habe sie einem Hirten abgekauft, und jetzt gehören sie Tamdin.«
Shan sah ihn an und verspürte eine unbestimmte, aber immer stärker werdende Angst. »Wollen Sie mit mir kommen?«
Merak nahm den Leinensack und schüttelte heftig den Kopf. »Ich weiß, daß Sie dies tun müssen, Chinese. Die Leute sprechen oft darüber, daß Sie die Beschwörung durchgeführt haben. Es gibt für Sie kein Zurück.«
Merak deutete den Pfad hinunter und beschrieb Shan den versteckten Höhleneingang, der einen knappen Kilometer entfernt in einer kleinen Schlucht lag. Bevor er aufbrach, schüttelte er erneut den Kopf. »Ich möchte nicht dort sein, wenn ein Chinese versucht, die Höhle zu betreten. Sie sollten sich lieber wünschen, Sie könnten mit mir kommen. th habe Sie ganz gern gemocht.«
Als sie die Schlucht erreichten, wandte Shan sich zu seinen Gefährten um. »Sergeant«, sagte er und wies auf Jigme. »Sein Bein blutet wieder. Sie müssen es verbinden.« Shan riß sich die Hemdschöße ab und gab sie Feng.
Sergeant Feng starrte nervös in die Schlucht und schien ihn anfangs gar nicht zu hören. Dann drehte er sich zu ihm um und runzelte die Stirn. »Glaubst du etwa, ich hätte Angst vor dem Dämon?«
»Nein. Ich glaube, daß sein Bein blutet.«
Feng stieß ein Grunzen aus und führte Jigme zu einem flachen Felsen am Eingang zur Schlucht. Shan und Yeshe folgten dem Verlauf der Klamm, die sich zunächst zu einem schmalen Durchgang verengte und dann plötzlich auf eine Lichtung führte.
Im selben Moment, in dem Shan einen Fuß auf die Freifläche setzte, griffen die Tiere ihn an.
Sie waren gerade damit beschäftigt, das Fleisch zu verschlingen, das Merak ihnen gebracht hatte, doch sobald sie Shan sahen, sprangen sie auf, fletschten die Zähne und knurrten bösartig. Es handelte sich um die größten Hunde, die er je zu Gesicht bekommen hatte, schwarze tibetische Mastiffs, die gezüchtet worden waren, um die Herden gegen Wölfe und Leoparden zu verteidigen. Allerdings waren die Exemplare hier vor ihm weitaus größer als ihre Artgenossen, die Shan in Kham gesehen hatte. Wären die Hunde nicht angeleint gewesen, hätten sie ihn in Stücke gerissen. Als Rebecca Fowler die Zeremonie am Fuß des Berges durchgeführt hatte, war ein Heulen durch die Nacht gehallt.
Hinter den Hunden befand sich die Höhle.
Als würde ihm ein kalter Hauch ins Ohr flüstern, erinnerte er sich plötzlich an die Worte von Khordas Wahrsagerin. Du mußt dich vor schwarzen Hunden verneigen, hatte sie ihn gewarnt. Er fiel auf die Knie und warf sich dann in den Staub. Die Hunde beruhigten sich und wurden neugierig. Neben ihm bewegte sich etwas. Yeshe war dort, sprach mit tiefer, besänftigender Stimme und hielt den Tieren seinen Rosenkranz entgegen. Es war unvorstellbar, aber die Hunde neigten tatsächlich die Köpfe und kamen langsam näher. Yeshe fing an, sie zu streicheln, und sagte ein Gebet auf. Shan mußte erneut an Khartok gompa denken. Die Hunde waren Reinkarnationen gescheiterter Priester.
Am Höhleneingang lehnten Fackeln am Fels. Shan entzündete eine und folgte dem Gang, der eine Biegung nach rechts vollführte und dann in einer großen Kammer endete. Er erstarrte und wurde von Panik ergriffen. Sein Herzschlag setzte aus. Es sah ihn an. Es kam auf ihn zu und bleckte die roten Fangzähne. Er hatte den heiligen Boden entweiht, und jetzt würde es sich auch seinen Kopf holen.
»Nein!« rief er und schüttelte heftig den Kopf, um sich aus dem Bann zu befreien. Er sagte sich, daß es sich um eine optische Täuschung handeln mußte, und ging langsam vorwärts, wenngleich er nach wie vor gegen seine Angst ankämpfen mußte. Man hatte die Maske und das Kostüm sorgfältig auf ein hölzernes Gestänge gehängt, um Eindringlinge abzuschrecken. Das fein gearbeitete Gold schimmerte, und die Halskette aus Schädeln tanzte im flackernden Licht. Khordas Beschwörungsformel hatte funktioniert, dachte er finster. Aber wer beschwor hier wen? Tamdin schien auf ihn zu warten.
Choje würde wollen, daß er jetzt ganz bestimmte Worte sagte, doch er vermochte sich nicht daran zu erinnern. Es gab mudras, die er als Opfer darbieten konnte, doch seine Finger waren wie gelähmt.
Er wußte nicht, wie lange er dort stand und gebannt auf die Kreatur starrte, die er gejagt hatte. Schließlich rammte er die Fackel zwischen zwei Felsen und umrundete das Kostüm, dessen machtvolle Ausstrahlung und Schönheit ihn mit Ehrfurcht erfüllte. Auf die Vorderseite hatte man einige Reihen runder Embleme aufgenäht. Direkt unterhalb der Taille gab es eine Lücke. Shan griff in die Tasche und holte die Scheibe hervor, die Jilin bei Jaos Leiche gefunden hatte. Sie paßte genau.
Hinter ihm erschauderte jemand. Yeshe war ihm gefolgt und spürte nun die Macht des Dämons. Er fiel auf die Knie und sprach ein Gebet.
Neben dem Kostüm befand sich ein flacher, tischgleicher Felsen, auf dem Tamdins Ritualgegenstände lagen. Der erste war eine große, geschwungene Klinge mit langem Griff. Shan berührte sie; sie war rasiermesserscharf, auf jeden Fall scharf genug, um einem Menschen den Kopf abzutrennen. Unter dem Fels standen besondere Stiefel, an denen vergoldete Schienbeinpanzer befestigt waren. Die Arme lagen vor der Wand auf einem anderen Felsen. Einer war beschädigt und ohne Hand. Merak hatte das abgetrennte Körperteil ehrerbietig vor dem Felsen abgelegt.
Shan griff nach seinem gau. Es fühlte sich seltsam heiß an. Dann steckte er eine zitternde Hand in das abgewetzte Leder des intakten Arms. Es war mit kunstvoll gearbeiteten Hebeln und Seilzügen ausgestattet. Shan betätigte einen der Hebel in der Nähe des Handgelenks, woraufhin sich entlang des Oberarms eine Reihe winziger Schädel drehte. Der nächste Hebel ließ Krallen aus den Fingern gleiten. Mittels einiger Ringe, die über die Finger des Tänzers gestreift wurden, ließ sich ein Paar zusätzlicher Arme bewegen, kleine, künstliche Gliedmaßen, die in Schulternähe angebracht waren. Es war ein wundersamer Apparat und stellte selbst nach den heutigen modernen Maßstäben eine technische Meisterleistung dar. Mit Sicherheit würde es Stunden dauern, den Gebrauch zu erlernen. Aber nicht Wochen und schon gar nicht Monate. Die lange Ausbildungszeit der Tamdin-Tänzer mußte für die zeremoniellen Bewegungen erforderlich gewesen sein, erkannte Shan, für die Abstimmung des Geräts auf die komplexen Rituale, die damit durchgeführt werden sollten.
Shan zog sich Tamdins Arm bis zur Schulter hinauf. Das Kostümteil fühlte sich überraschend bequem an, beinahe natürlich. Das seidene Futter erlaubte eine nahezu ungehinderte Bewegung. Er streckte die Klauen aus und ertappte sich dabei, wie er sie mit einem Gefühl unermeßlicher Macht anstarrte. Er ließ die Krallen mehrfach aus- und einfahren. Dies war Tamdin. Dies war die Art, wie man Tamdin wurde.
Ein Gefühl großer Befriedigung stieg in ihm auf. Mit diesem Arm, mit diesen Klauen, mit dieser Macht ließen sich einige offene Rechnungen begleichen.
Ein erschrockenes Keuc hen hinter ihm durchbrach die Faszination. Yeshe sprang vor und begann damit, das Kostümteil von Shans Arm zu zerren. Dann spürte auch Shan auf einmal die Finsternis und riß sich von dem Apparat los. Die beiden Männer standen über den künstlichen Arm gebeugt und blickten gleichzeitig auf. Am Eingang der Kammer saßen die zwei schwarzen Hunde und starrten Shan mit lautloser, aber eisiger Eindringlichkeit an.
Mit zitternder Hand deutete er auf drei große Rosenholzkisten im Schatten. Sie stellten schnell fest, daß die Behälter für den Transport des Kostüms gebaut worden waren; in einem fand sich ein Ständer für den Kopfschmuck. Im Innern der Kiste war mit vergilbtem Klebeband ein Umschlag befestigt. Yeshe holte einige Stücke Papier daraus hervor, von denen manche vor Alter ganz brüchig waren.
Die ersten Seiten waren die fehlende Bestandsliste aus Saskya gompa, die man vor vierzehn Monaten angefertigt hatte und auf der von der Entdeckung der Kisten in der Unterkunft eines alten Lama berichtet wurde, der früher einmal Tamdin-Tänzer gewesen war.
»Doch wer hat es mitgenommen?« fragte Yeshe. »Wer hat das Kostüm gestohlen und hergebracht? Direktor Wen?«
»Ich glaube, daß Wen davon wußte, aber das ist nur ein Teil des Puzzles. Wen hat das Kostüm nicht benutzt, und Wen hat auch nicht den Kopf des Anklägers zu dem Schrein gebracht.« Er war nicht gläubig genug, wollte Shan damit sagen. Wer auch immer das Kostüm benutzt und Jaos Kopf abgetrennt hatte, war ein religiöser Eiferer.
»Sie meinen, Sie sind inzwischen der Ansicht, ein Mönch habe es gestohlen?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Shan und spürte, wie Enttäuschung sich als schweres Gewicht auf seine Brust legte. Er hatte damit gerechnet, daß das Ende seiner langen Suche nach Tamdin ihn auch mit den nötigen Antworten versorgen würde. »Vielleicht weiß das nur der Lama, dem man das Kostüm abgenommen hat.«
Yeshe richtete seine Aufmerksamkeit auf die älteren Seiten.
»Ein Bericht«, verkündete er, nachdem er die ersten Absätze überflogen hatte. »Ein Anthropologe aus Guangzhou. Geschichte des Kostüms. Einzelheiten der Zeremonie, so wie er sie 1958 mit eigenen Augen gesehen hat.« Er hielt inne und blickte auf. »Im Kloster Saskya. Saskya war das einzige gompa im gesamten Bezirk, das den Tanz aufführen konnte.« Er fing an, laut vorzulesen. »Das Wissen um die Zeremonie war ein heiliges Geheimnis«, las er, »das der einzige eingeweihte Mönch nur an seinen Nachfolger aus der nächsten Generation weitergab. Der Tamdin-Tänzer des Jahres 1958 galt als bester Tänzer in ganz Tibet.«
»Aber wer hat sich letztes Jahr im Besitz des Kostüms befunden?« dachte Shan laut. »Der alte Tänzer, sofern er überhaupt noch am Leben war. Oder sein Schüler. Er weiß, wer das Kostüm genommen hat. Das ist der Beweis, den wir brauchen. Das ist die Verbindung zu dem Mörder.«
Yeshe las schweigend noch ein Stück weiter, ließ dann die Blätter sinken und starrte Shan verblüfft an. Shan nahm ihm den Text aus der Hand und las selbst. Der Tänzer des Jahres 1958 war Je Rinpoche.
Jemand hatte vor der Kaserne ein Zelt errichtet, ein jurtenähnliches Gebilde aus Yakfilz. Vier Mönche warteten schweigend am Tor. Feng hielt den Wagen an, damit sie das Geschehen verfolgen konnten.
Vier Kriecher mit einer Trage tauchten auf. Das Tor öffnete sich, und die Trage wurde von den vier Mönchen übernommen, die ihre gebrechliche Last mit kleinen, vorsichtigen Schritten zum Zelt trugen. Jemand schlug die Zeltklappe auf, und sie verschwanden im Innern. Mit laut stotterndem Motor und quietschenden Bremsen näherte sich ein uralter Lastwagen und parkte neben dem Zelt. Shan erkannte einige der Männer, die aus dem Fahrzeug ausstiegen. Mönche aus dem Kloster Saskya.
Das Zelt war von dichtem Weihrauchdunst erfüllt. Der alte Priester, den Shan im Tempel von Saskya getroffen hatte, stand über Je gebeugt und wusch ihn für die Zeremonie. Ein zweiter älterer Mönch stand am Kopfende der Trage, die man auf einigen Strohballen abgestellt hatte. Die Ärmel seines Gewands waren mit Brokat besetzt. Es mußte sich um den Abt von Saskya handeln, erkannte Shan. Als Shan und Yeshe sich näherten, stellten zwei jüngere Priester sich ihnen in den Weg. Yeshe schob sich vor Shan, als wolle er ihn beschützen.
»Wir müssen mit ihm sprechen«, protestierte Shan.
Wortlos deuteten die Mönche auf einen freien Fleck neben einigen ihrer Glaubensbrüder, die vor der Lagerstelle saßen, Gebetsmühlen drehten und leise Mantras aufsagten.
»Nur eine Frage«, bat Yeshe. »Rinpoche hätte bestimmt nichts gegen eine einzige Frage einzuwenden.«
Der Priester warf ihm einen wütenden Blick zu. »Wo hast du deine Unterweisung erfahren?«
»Im Kloster Khartok. Ich kann alles erklären«, erwiderte Yeshe flehentlich. »Es geht um die Rettung von Sungpo. Vielleicht sogar um die Rettung der 404ten.«
Der Priester musterte Shan. »Die Bardo-Zeremonie hat bereits begonnen. Der Übergang findet bereits statt. Seine Seele hat sich schon gelöst. Es erfordert all seine Konzentration. Er kann jetzt in weiter Ferne ein winziges Licht sehen. Falls er abgelenkt wird und es auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen verliert, könnte er an einen Ort geschickt werden, der gar nicht beabsichtigt war. Womöglich würde er nie an sein Ziel gelangen und endlos durch die Leere treiben. Dieser Mönch aus Khartok weiß das sehr wohl«, sagte er mit einem verächtlichen Blick auf Yeshe.
Sie setzten sich und warteten. Yeshe fing an, seinen Rosenkranz zu beten, aber Shan sah, daß er sich bald schon verzählte und die Fäuste ballte. Man brachte Butterlampen und entzündete sie.
»Ihr versteht nicht!« rief Yeshe auf einmal. »Er könnte Sungpo retten! Wir können die 404te schützen!«
Der kenpo wandte sich in seine Richtung und bedachte ihn mit einem frostigen Blick. Einer der jüngeren Mönche kam wütend auf Yeshe zu, als wolle er ihn packen und festhalten, wurde jedoch von einem plötzlichen Tumult am Zelteingang unterbrochen. Man hörte leise, drängende Proteste. Die Zeltklappe wurde aufgeschlagen, und Dr. Sung trat ein. Ihr wütender Blick richtete sich auf Shan und ignorierte alle anderen. Dann trat sie an die Trage. Als sie ihre Tasche öffnete, stieß der Abt einen aufgeregten Schrei aus und packte ihren Arm.
Sie sagte nichts. Ihre Blicke trafen sich. Mit ihrer freien Hand zog sie ein Stethoskop aus der Tasche, legte es sich um den Hals und löste dann - einen Finger nach dem anderen - die Hand des Abtes von ihrem Arm. Er rührte sich nicht von der Stelle, aber er tat auch nichts, um sie von ihrer Untersuchung abzuhalten.
»Sein Herz schlägt so schwach, daß es nicht einmal ein Kind am Leben erhalten könnte«, sagte sie. »Ich vermute einen Gefäßverschluß.«
»Kann man das behandeln?« fragte Shan.
»Vielleicht. Aber nicht hier. Ich muß Tests im Krankenhaus durchführen.«
»Nur eine Frage«, drängte Yeshe und sah auf die Uhr. »Wir müssen es wissen. Er ist der einzige, der es uns sagen kann.«
Sung zuckte die Achseln und zog mit einer Spritze eine klare Flüssigkeit auf. »Das wird ihn aufwecken«, sagte sie. »Zumindest für kurze Zeit.« Sie desinfizierte eine Stelle an Jes Arm.
Als sie sich mit der Nadel vorbeugte, legte der Abt seine Hand auf die beabsichtigte Einstichstelle. xSie haben ja gar keine Vorstellung von dem, was Sie gerade anrichten«, sagte er.
»Er ist ein alter Mann, der Hilfe braucht«, flehte Yeshe. »Er muß hier nicht sterben. Falls er jetzt stirbt, könnte das auch Sungpos Tod bedeuten.«
»Sein ganzes Leben war diesem Moment des Übergangs gewidmet«, warnte der Abt. »Man darf ihn nicht aufhalten. Er hat die Reise bereits angetreten und befindet sich an einem Ort, an dem keiner von uns ihn stören darf.«
Dr. Sung sah den Priester an, als nähme sie ihn zum erstenmal richtig wahr. Dann ließ sie langsam die Spritze sinken und blickte zu Shan, der an ihre Seite trat. »Sie sind derjenige, der mich hierum gebeten hat«, sagte sie. Doch die Verwirrung, die in ihrer Stimme mitschwang, ließ es eher wie eine Frage als wie eine Anschuldigung klingen.
»Falls er heute stirbt, wird Sungpo morgen sterben«, sagte Yeshe bekümmert über Shans Schulter hinweg. »Alles wird umsonst gewesen sein. Falls wir die Antwort nicht jetzt erhalten, bekommen wir sie nie.«
Shan wies in Richtung des Eingangs. Die Ärztin legte ihre Instrumente am Rand der Trage ab und folgte ihm.
»Falls es eine Krankheit ist, sollten wir ihn in die Klinik bringen«, sagte Shan leise. »Falls es aber nur ein natürliches Hinscheiden... «
»Was meinen Sie mit natürlich?« fragte Dr. Sung.
Shan blickte nach draußen und durch den Stacheldraht auf das langgestreckte Gebäude, in dem Sungpo saß. »Ich schätze, das weiß ich nicht mehr.«
»Falls ich einige Tests durchführen könnte«, schlug Sung vor, »dann wäre es vielleicht... «
Sie wurde durch einen entsetzten Aufschrei unterbrochen. Beide wirbelten herum. Die Priester sprangen auf. Der alte Abt prügelte mit einer Zeremonienglocke auf Yeshes Kopf ein.
Yeshe stand mit tränenüberströmtem Gesicht über die Trage gebeugt. Er hatte Je die Injektion verabreicht.
Alle riefen wild durcheinander. Jemand verlangte, den Namen von Yeshes Abt zu erfahren. Ein anderer packte sein rotes Hemd und riß es ihm herunter. Plötzlich hob sich Jes Arm, und alle verstummten.
Der Arm ragte senkrecht nach oben, und die Hand beschrieb eine langsame, unheimliche Kreisbewegung, als würde sie nach etwas tasten, das knapp außerhalb ihrer Reichweite lag.
Shan eilte an Jes Seite und wischte ihm mit einem feuchten Tuch die Stirn ab. Die Lider des alten Mannes zitterten; dann schlug er die Augen auf. Er starrte zum Zeltdach empor, hielt sich die ausgestreckte Hand vor das Gesicht und musterte sie, während er wie in Zeitlupe die Finger bewegte, als wären es die Flügel eines Schmetterlings in der Kälte. Er wandte den Kopf, tastete nach Shans Gesicht und kniff die Augen zusammen, als könne er ihn nur undeutlich erkennen. »Auf welcher Ebene befinde ich mich?« flüsterte er mit trocken krächzender Stimme.
»Rinpoche«, drängte Yeshe. »Sie waren der Tamdin-Tänzer von Saskya und haben bis vor einem Jahr das Kostüm aufbewahrt. Wer hat es Ihnen weggenommen? Haben Sie jemanden im Gebrauch des Kostüms unterwiesen? Wer war es? Wir müssen wissen, wer das Kostüm genommen hat.«
Je stieß ein heiseres Lachen aus. »Ich habe Leute wie dich an jenem anderen Ort gekannt«, krächzte er.
»Rinpoche. Bitte. Wer war es?«
Seine Lider erzitterten abermals und schlossen sich. Da war ein neues Geräusch, ein Rasseln in seiner Brust. Die Umstehenden verharrten einige Minuten lang in qualvollem Schweigen.
Dann öffneten sich seine Augen wieder, diesmal sehr weit. »Letzten Endes«, sagte er langsam, als würde er gleichzeitig auf etwas lauschen, »bedarf es lediglich eines einzigen makellosen Tons.« Jedes Wort wurde von dem pfeifenden Rasseln begleitet. Dann schloß er die Augen, und das Rasseln hörte auf.
»Er ist tot«, verkündete Dr. Sung.