172572.fb2 Der fremde Tibeter - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 21

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Kapitel 20

Sie trafen vor Einbruch der Dämmerung ein, genau wie Choje ihn angewiesen hatte. Sprich nicht mit den purbas, hatte er gesagt. Laß nicht zu, daß die Kriecher dir folgen. Sei einfach nur bei Sonnenaufgang dort, auf der Freifläche vor der neuen Brücke.

»Und man konnte ihn wirklich nicht ausfindig machen?« fragte Shan, als Sergeant Feng den Motor abstellte. »Vielleicht ist er in eine andere Baracke umgezogen. Er hat keinen Ort, an den er gehen könnte.«

»Nein. Er ist verschwunden. Als es dunkel wurde, hat er sich auf den Weg gemacht«, sagte Feng. »Du wirst ihn bestimmt nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

Als Shan in ihre Unterkunft zurückgekehrt war, hatte Yeshes Tasche gefehlt. »Hat er denn gar nichts gesagt oder irgend etwas zurückgelassen?«

Sergeant Feng griff in die Hemdtasche. »Nur das hier«, sagte er und legte den kaputten Rosenkranz auf das Armaturenbrett. Es waren nur noch die Schnur und zwei Anzeigerperlen übrig. Feng gähnte und kurbelte die Lehne seines Sitzes nach hinten. »Ich weiß, wohin er wollte, denn er hat mich nach dem Weg gefragt. Diese chemische Fabrik in Lhasa. Die stellen jede Menge Tibeter ein, ob nun mit oder ohne Papiere.«

Shan schlug die Hände vor das Gesicht.

»Wir könnten die Patrouillen bitten, ihn wieder aufzugreifen, falls du ihn noch brauchst.«

»Nein«, entgegnete Shan wütend und stieg aus dem Wagen.

Da war nichts, nur die schmale Mondsichel über dem schwarzen Umriß der Berge. Shan ertappte sich dabei, wie er dort unter dem funkelnden Sternenzelt stand und nach Jaos Geist Ausschau hielt.

Auf der Straße, die aus der Stadt herführte, näherte sich ein weiteres Fahrzeug und hielt hinter ihnen an. Es war Tan, der am Steuer seines eigenen Wagens saß. Er trug eine Pistole.

»Das gefällt mir nicht«, sagte der Oberst. »Ein Zeuge, der sich versteckt, ist nutzlos. Wie will er denn aussagen? Er wird uns zur Verhandlung begleiten müssen, und dort wird man ihn fragen, warum er sich erst so spät gemeldet hat.« Er musterte die dunkle Landschaft und warf Shan dann einen argwöhnischen Blick zu. »Falls es sich um einen Kultanhänger handelt, wird man sagen, er sei ein Komplize.«

Shan starrte in die Dunkelheit hinaus. »Eine Gruppe von Mönchen hat diese Brücke beobachtet«, erklärte er. »Man hat versucht, sie zum Einsturz zu bringen.«

Tan stieß einen leisen Fluch aus. »Indem man sie beobachtet?« fragte er mit bitterer Ironie. Er drehte sich zu seinem Wagen um, als würde er in Erwägung ziehen, wieder wegzufahren. Dann jedoch folgte er Shan langsam auf die Freifläche.

»Indem man sie anschreit«, sagte Shan. Wie konnte er die zerbrochenen Tongefäße oberhalb der Brücke oder in Yerpa erklären, wo Trinle und die anderen das alte Donnerritual übten? Wie konnte er den uralten Glauben erklären, daß ein perfekter Klang die zerstörerischste aller Naturkräfte war? »Eigentlich ist es auch kein richtiger Schrei. Man erzeugt Schallwellen. Genau davor hat Sergeant Feng sich in jener Nacht auch so sehr erschrocken, daß er seine Pistole benutzt hat. Wie ein Schlag, der...«

Er hielt inne. In der aufsteigenden Morgenröte bemerkte er einen grauen Schatten am anderen Ende der Freifläche, rund zehn Meter von ihnen entfernt, einen großen Felsen, der sich jetzt langsam in die Gestalt eines sitzenden Mannes verwandelte. Es war Gendun.

Sie blieben zwei Meter vor ihm stehen. »Das ist ein Priester aus einem nahen Kloster«, erklärte Shan dem Oberst und wandte sich dann an den alten Mönch. »Würden Sie uns bitte sagen, wo Sie sich in der Nacht der Ermordung von Ankläger Jao befunden haben?«

»Oberhalb der Brücke«, erwiderte Gendun mit gleichmäßiger und ruhiger Stimme, als würde er ein Mantra aufsagen. »Zwischen den Felsen. Ich habe gebetet.«

»Warum?«

»Im sechzehnten Jahrhundert sind Invasoren aus der Mongolei hier eingedrungen. Priester aus meinem Kloster haben dafür gesorgt, daß die Armee unter einer Lawine begraben wurde und so Lhadrung nicht erreichen konnte.«

Tan warf Shan einen wütenden Blick zu, doch bevor er sich abwenden konnte, fuhr Gendun fort. »Diese Brücke gehört nicht hierher. Es ist ihr beschieden, zerstört zu werden.«

Er wurde unterbrochen, weil sich auf der Schotterstraße hinter ihnen mit hoher Geschwindigkeit ein schwerer Lastwagen näherte. Das Fahrzeug bremste scharf, und Li Aidang sprang heraus. Er trug einen Arbeitsanzug des Militärs. Nachdem er sich einige Schritte von dem Laster entfernt hatte, stieß er einen kurzen Befehl aus, woraufhin ein halbes Dutzend uniformierter Kriecher von der Ladefläche kletterte. Im Licht der Scheinwerfer erschien der Major, von dessen Schulter eine kleine Maschinenpistole hing. Die Soldaten stellten sich vor Li in einer Reihe am Straßenrand auf.

Gendun wurde von einer seltsamen Gelassenheit ergriffen, und sein Blick schien sich in die Ferne zu richten. Er achtete nicht auf die Kriecher, sondern konzentrierte sich auf die Berge, als wolle er sich den Anblick für spätere Zwecke einprägen. Immerhin konnte er keinen Einfluß auf seine nächste Inkarnation nehmen. Vielleicht würde er in vielen tausend Kilometern auf dem Boden einer Wüstenbehausung wiedergeboren werden.

»Die Sonne war ungefähr seit einer Stunde untergegangen, als die Scheinwerfer eines Autos aufgetaucht sind«, fuhr er plötzlich fort. »Es hat in der Nähe der Brücke angehalten und das Licht ausgeschaltet. Dann waren zwei Stimmen zu hören. Zwei Männer, glaube ich, und eine Frau, die gelacht hat. Ich glaube, sie war irgendwie berauscht.«

»Eine Frau?« fragte Shan. »Da war eine Frau bei Ankläger Jao?«

»Nein. Das hier war der erste Wagen.«

Die Stille kurz vor Sonnenaufgang war einzigartig. Sie schien die Soldaten völlig in Bann zu schlagen. Genduns Worte waren laut und deutlich zu verstehen. Aus der Schlucht hallte der unheimliche Schrei einer Eule herüber.

»Dann hat sie geschrien. Ein Todesschrei.«

Die Worte rissen Li aus seiner Erstarrung. Er trat auf die Freifläche und ging auf Gendun zu. Shan stellte sich ihm in den Weg.

»Wagen Sie es nicht, das Justizministerium bei der Arbeit zu behindern«, knurrte Li. »Dieser Mann ist ein Verschwörer. Er gibt zu, daß er hier gewesen ist. Er wird Sungpo auf der Anklagebank Gesellschaft leisten.«

»Wir sind nach wie vor mit der Durchführung einer Untersuchung beschäftigt«, protestierte Shan.

»Nein«, hielt Li ihm wütend entgegen. »Das ist vorbei. Das Ministerium wird in drei Stunden die Verhandlung eröffnen. Ich bin derjenige, der den Bericht der Anklage vorlegen wird.«

»Das glaube ich kaum«, sagte Tan, allerdings so leise, daß Shan sich nicht sicher war, ob er richtig gehört hatte.

Li ignorierte ihn und gab den Kriechern einen Wink.

»Ohne Gefangenen wird es wohl schwerlich einen Prozeß geben«, fuhr Tan fort.

»Was soll das denn heißen?« brüllte Li.

»Ich habe ihn aus dem Arrestlokal entfernen lassen, und zwar um Mitternacht.«

»Unmöglich. Er wurde von der Öffentlichen Sicherheit bewacht.«

»Die Wachen wurden abgezogen und durch einige meiner Leute ersetzt. Anscheinend gab es ein wenig Verwirrung hinsichtlich der Befehle.«

»Sie haben dazu keinerlei Befugnis!« herrschte Li ihn an.

»Solange Peking keine gegenteilige Weisung erläßt, bin ich der höchste Beamte in diesem Bezirk.« Tan hielt inne und schaute in Richtung des Abhangs.

Da war ein summendes Geräusch, das ihn ablenkte. Es klang wie ein natürlicher Laut, wie eine Vielzahl von Fröschen und war zuvor nicht zu hören gewesen. Doch jetzt schien es näher zu kommen. Am Rand der Freifläche, keine vier Meter von Gendun entfernt, tauchte im trüben Halbdunkel ein weiterer Priester auf. Es war Trinle. Er saß im Lotussitz und betete mit tiefer nasaler Stimme ein Mantra. Li grinste affektiert und ging auf Trinle zu, das neue Objekt seiner Wut. Dann ertönte auf einmal ein gleichartiges Geräusch von der gegenüberliegenden Seite der Freifläche. Shan ging in diese Richtung und entdeckte ein weiteres rotes Gewand im niedrigen Gestrüpp. Li wollte erneut wütend auf Trinle zustürmen, verharrte jedoch abermals, als eine dritte und vierte Stimme sich nacheinander dazugesellten, alle im gleichen Rhythmus und in identischer Tonlage. Das Geräusch schien von überall und nirgends zugleich zu kommen.

»Packt sie!« rief Li. Doch die Kriecher standen wie versteinert da und starrten auf den Hang.

Es wurde allmählich heller, und Shan konnte die Gewänder am Rand der Freifläche gut genug sehen, um sie zu zählen.

Sechs. Zehn. Nein, noch mehr. Fünfzehn. Er erkannte mehrere der Gesichter. Einige waren purbas. Andere kamen aus den Bergen, Beschützer des gomchen.

Li drehte sich um und zog einem der Soldaten den Schlagstock aus dem Gürtel. Kochend vor Wut schritt er den Rand des Areals ab und schwang den Knüppel. Dann blieb er stehen und hieb auf Trinles Rücken ein. Trinle reagierte nicht. Tobend brüllte Li nach dem Major, der unsicher einige Schritte vortrat und ein paar Meter vor Trinle verharrte. Li eilte zu ihm und schien nach seiner Waffe greifen zu wollen.

Shan zwang sich dazu, zwischen ihnen und Trinle Position zu beziehen. Am Rand des Kreises bewegte sich etwas. Sergeant Feng tauchte auf. In der Hand hielt er einen großen Schraubenschlüssel aus dem Wagen. Es war vorbei, begriff Shan. Daß er verloren hatte, war keine Überraschung. Aber daß die 404te und Yerpa verloren sein würden, war unerträglich. Er hoffte inständig, daß es wenigstens schnell vorbei sein würde. Eigentlich wäre es ganz passend, dachte er flüchtig, wenn die entscheidende Kugel von Sergeant Feng käme.

»Weg da«, hörte er Feng knurren. Doch der Sergeant sprach nicht mit ihm. Feng fuhr herum und stellte sich neben Shan, so daß er Li und dem Major die Stirn bot. Das Mantra dauerte an.

»Du altes Schwein«, beschimpfte Li den Sergeanten höhnisch. »Damit ist deine Soldatenlaufbahn beendet.«

»Mein Auftrag lautet, auf den Genossen Shan aufzupassen«, grunzte Feng und stellte sich breitbeinig hin, als würde er mit einem Angriff rechnen.

Einen Moment lang herrschte Schweigen, und prompt schien das Mantra wieder lauter zu werden. Der Major ging zurück zu seinen Männern und befahl ihnen, die Schlagstöcke zu ziehen.

Tan tauchte auf Shans anderer Seite auf. Sein Gesicht war angespannt. Er warf Shan einen seltsam traurigen Blick zu und wandte sich dann an Li. »Diese Leute«, sagte er mit weit ausholender Geste, »stehen unter meinem Schutz.«

Li starrte ihn an. »Ihr Schutz ist wertlos, Oberst«, stieß er wütend hervor. »Wir führen Ermittlungen gegen Sie durch, und zwar wegen Bestechlichkeit im Amt. Sie haben keine Befehlsgewalt mehr.«

Tans Hand legte sich auf sein Holster. Der Major griff nach seiner Maschinenpistole.

Plötzlich übertönte ein neues Geräusch die Litanei der Mönche: das Zischen von Luftdruckbremsen. Alle Anwesenden drehten sich völlig entgeistert um und sahen einen langen glänzenden Bus anhalten. Die Scheiben wurden heruntergeschoben.

»Martha!« rief jemand auf englisch. »Sieh nur, sie halten eine Morgenandacht ab. Schnell, leg einen neuen Film ein.«

Die Touristen stiegen einer nach dem anderen aus, schossen Fotos und machten Videoaufnahmen von den Mönchen, von Shan, von Li und den Kriechern.

Shan blickte in den Bus. Der Mann am Steuer kam ihm bekannt vor; es war ein Gesicht vom Marktplatz. Neben ihm, in einem eleganten Geschäftskostüm mit Krawatte, stand Miss Taring vom Büro für Religiöse Angelegenheiten. Sie fing an, etwas über buddhistische Riten und die Nähe der Buddhisten zu den Kräften der Natur zu erzählen.

Dann stieg sie aus und bot einem amerikanischen Paar an, die beiden gemeinsam mit den chinesischen Soldaten zu fotografieren.

Der Major musterte sie einen Moment lang und scheuchte dann schnell seine Männer zurück in den Laster. Li schloß sich ihm an. »Es spielt keine Rolle«, flüsterte er. »Wir haben bereits gewonnen.« Er winkte den Amerikanern mit gekünsteltem Grinsen zu, kletterte mit dem Major in das Führerhaus des Lastwagens und fuhr in hohem Tempo davon. Dann stiegen auch die Touristen wieder ein, und der Bus verschwand so abrupt wie er aufgetaucht war.

Tan ließ sich vor Gendun auf dem Boden nieder. Das Mantra hörte schlagartig auf. Trinle kam hinzu und ging neben Gendun in die Hocke.

»Erzähl mir von dieser Frau«, sagte Tan.

»Sie schien sehr glücklich zu sein. Dann... es gibt nichts Schrecklicheres als den Schrei eines Menschen, der unvorbereitet vom Tod ereilt wird. Danach waren nur noch andere Stimmen zu hören, nicht mehr die der Frau. Das ist alles.«

»Sonst nichts?«

»Nicht bis zu dem zweiten Auto. Es kam eine Stunde später. Zwei Türen schlugen zu. Dann waren Rufe zu hören; ein Mann rief nach jemandem.«

»Hat er einen Namen benutzt?«

»Der Mann unten rief, >Sind Sie da?< Er sagte, er wisse, woher die Blume stamme. Er fragte, >Was soll das heißen, ich brauche das Röntgengerät nicht?< Der Mann oben sagte, >Verehrter Genosse, ich weiß, wo Sie nachsehen sollten. < Der Mann unten sagte, er würde sich im Austausch für weitere Beweise auf einen Handel einlassen.«

Shan und der Oberst sahen sich an. Verehrter Genosse.

»Dann ist er den Abhang hinaufgestiegen. Die Stimmen wurden leiser, je weiter die beiden sich entfernten, und verstummten schließlich ganz. Dann gab es ein anderes Geräusch. Keinen Ruf. Ein lautes Stöhnen. Zehn oder fünfzehn Minuten später gingen die Scheinwerfer des Wagens an. Ich habe ihn gesehen. Er war ungefähr dreißig Meter von dem Auto entfernt. Der Mann in dem Wagen stieg aus und rannte die Straße hinunter.«

»Sie sagen, Sie haben ihn im Licht gesehen?«

»Ja.«

»Haben Sie ihn erkannt?« fragte Shan.

»Natürlich. Ich hatte ihn ja schon früher während der Festtage gesehen.«

»Hatten Sie denn keine Angst?«

»Ich habe von einem Schutzdämon nichts zu befürchten.«

Sie hielten den Kern von Genduns Aussage schriftlich fest. Dann setzte Tan zur Beglaubigung sein eigenes Siegel darunter. Er forderte Gendun nicht zum Bleiben auf, als die Mönche sich erhoben und im Heidekraut verschwanden.

»Am nächsten Morgen«, fragte Shan, als Gendun sich anschickte, seinen Kameraden zu folgen. »War da noch etwas Außergewö hnliches?«

»Ich bin gegangen, bevor die Bauarbeiter eintrafen, ganz wie man mir geraten hatte. Nur eines war ungewöhnlich.«

»Was denn?«

»Der Lärm. Ich war überrascht, wie früh sie anfingen. Noch vor Einbruch der Dämmerung. Das Geräusch schwerer Maschinen. Nicht hier. Weiter weg. Ich konnte es bloß hören, als wäre es von oben gekommen.«

Eine Stunde später bog eine kleine Kolonne ernster Männer auf das Gelände der Bor-Mine ein. Tan fuhr in seinem Wagen voraus, gefolgt von einem Laster voller Soldaten, die er über Funk herbeigerufen hatte. Shan und Sergeant Feng bildeten die Nachhut. Sie fuhren geradewegs zum Geräteschuppen, wo sie den schweren Traktor mit der Baggerschaufel und den Bulldozer der Mine besetzten. Die Maschinen bogen bereits auf den Wall ein, als die ersten Gestalten aus den Gebäuden auftauchten.

Rebecca Fowler rannte auf sie zu, blieb dann stehen, sobald sie Tan erkannte, und schickte Kincaid zurück, um die Kamera zu holen. Der Oberst bedeutete ihr, sie möge nicht näher kommen. Dann wies er die Soldaten an, den Zugang zum Damm abzusperren.

»Wie können Sie es wagen!« brüllte Fowler, sobald sie in Hörweite war. »Ich verständige Peking! Ich rufe in den Vereinigten Staaten an!«

»Wenn Sie sich einmischen, schließe ich die Mine«, sagte Tan ungerührt.

»Verfluchte BDKs!« schimpfte Kincaid und begann damit, Fotos von Tan zu schießen, dann von den Nummernschildern der Fahrzeuge, von den Maschinen und den Wachen. Als er Shan erblickte, hielt er inne. Er machte ein weiteres Foto, ließ dann die Kamera sinken und starrte Shan unsicher an.

Der Traktor grub sich an der breitesten Stelle in den Wall, wo der Abfluß zum Drachenschlund versperrt wurde. Shan erinnerte sich daran, genau an dieser Stelle auf den Satellitenfotos eine letzte Lücke und schweres Gerät gesehen zu haben, und das zu einem Zeitpunkt unmittelbar vor dem Mord. Es dauerte zwanzig Minuten, bis die Baggerschaufel auf Metall stieß, und weitere zwanzig Minuten, bis man mit Sicherheit erkennen konnte, daß es sich bei dem Wagen, den sie gefunden hatten, um eine rotbeflaggte Limousine handelte. Sie befestigten die Trosse des Bulldozers daran.

Die Ketten der Maschine drehten durch und rissen den Untergrund auf, bevor sie Halt fanden. Der Motor heulte auf, und einen Moment lang schien alles in der Bewegung zu verharren. Als das Auto sich langsam aus dem Lehm löste, gab es ein seltsames Geräusch, wie Shan es noch nie gehört hatte, ein reißendes, gespenstisches Ächzen, das ihm durch Mark und Bein drang.

Der Bulldozer hielt erst dann an, als er den Wagen fast bis zur Krone des Damms gezogen hatte.

Shan blickte hinein und sah einen Aktenkoffer.

»Aufmachen«, sagte Tan ungeduldig.

Die Tür ließ sich leicht öffnen, und aus dem Wagen schlug ihnen ein beinahe überwältigender Fäulnisgeruch entgegen. In dem Koffer fanden sich Jaos Flugtickets, eine dicke Akte und der Ausschnitt eines Satellitenfotos, der die Mohnfelder zeigte.

Die Kofferraumhaube klemmte. Tan nahm ein Stemmeisen vom Bulldozer und hebelte den Deckel auf. Im Innern lag die zusammengeschrumpfte Leiche einer jungen Frau in einem bunten Blumenkleid. Ihr Mund war zu einem schrecklichen Grinsen verzogen. Der Blick ihrer leblosen Augen schien sich direkt auf Shan zu richten. Auf ihrer Brust lag eine vertrocknete Blume. Eine rote Mohnblume.

Tan stöhnte entsetzt auf, wirbelte herum und schleuderte das Stemmeisen in den Teich. Dann drehte er sich wieder um. Sein Gesicht war aschfahl. »Genosse Shan«, sagte er, »das ist Miss Lihua.«

Rebecca Fowler stand wie gelähmt da und starrte schweigend und von Grauen gepackt in den Kofferraum, während Tan zu dem Funkgerät in seinem Wagen ging. Es kam Shan so vor, als würde sie vor seinen Augen vertrocknen, als könnte sie jeden Augenblick zu Staub zerfallen und vom Wind fortgetragen werden. Einen Moment lang glaubte er, sie würde ohnmächtig zusammenbrechen. Dann sah sie Tans starren Blick auf sich ruhen, und die Wut verlieh ihr neue Kraft. Lautstark erteilte sie eine Reihe von Anweisungen: Der Bulldozer sollte das Auto vom Damm ziehen, die anderen Maschinen mußten das klaffende Loch füllen, und sie benötigten Kipplaster mit Kies. Dann rannte sie auf das Loch zu und rief nach Kincaid.

Als Shan sie erreichte, kniete sie neben der Öffnung und war damit beschäftigt, Lehm in das Loch zu schieben, wobei sie abgehackte, hektische Stöhnlaute ausstieß. Immer mehr Wasser sickerte durch den geschwächten Wall. Der Traktor traf neben ihr ein und fing an, die Öffnung mit seiner Schaufel zu füllen. An der Seite des Loches wurde ein kleines Rinnsal sichtbar. Als der Traktor ein Stück vorfuhr, gab der Untergrund nach. Fowler schrie auf, sprang hoch und zerrte den Fahrer vom Sitz. Im selben Moment brach ein Teil des Damms ein, und die Maschine rutschte in die Öffnung. Die hintere Wand hielt ein paar Sekunden länger, bis das Loch sich mit Wasser gefüllt hatte. Dann brach auch sie. Der Traktor wurde in die Schlucht gespült, und der gesamte Teich strömte hinterher.

Hilflos sahen sie zu, wie das Wasser in den Drachenschlund stürzte, dabei Felsblöcke vom Hang losriß, die Böschungen einstürzen ließ und immer mehr Geschwindigkeit gewann, während es unter der alten Hängebrücke hindurch in einem Mahlstrom aus Felsen, Wasser und Geröll auf die Talebene zurauschte. Shan bemerkte, daß Tan neben ihm stand und mit einem Fernglas seine Brücke beobachtete.

Doch auch ohne Fernglas sahen sie die Wasserwand gegen die Betonpfeiler schlagen. Die Brücke schien einen Moment lang wie ein zerbrechliches Spielzeug zu wanken, wurde dann hochgerissen und verschwand.

Shan erinnerte sich an das Geräusch, mit dem der Wall das Auto freigegeben hatte, das Zittern des Bodens, das reißende, saugende, quietschende Kreischen des Lehms, das ihn hatte erschaudern lassen.

Es bedurfte lediglich eines einzigen makellosen Tons, hatte Je gesagt.

Kincaid, der zunächst an der ausgegrabenen Limousine vorbeigerannt war, um Fowler zu Hilfe zu eilen, stand nun vor dem offenen Kofferraum. »O Gott«, stöhnte er mit heiserer Stimme. »O mein Gott.« Er beugte sich vor, als müsse er sie berühren, hielt dann inne und richtete sich langsam wieder auf. Dann drehte er sich um und schaute zu der Straße, die zu der Mine hinunterführte, als würde er einer plötzlichen Eingebung gehorchen. Shan folgte seinem Blick und sah, daß ein weiteres Fahrzeug sich näherte, ein leuchtendroter Land Rover.

Sogar aus zehn Metern Entfernung konnte Shan spüren, wie Kincaids Körper sich anspannte. »Ihr verfluchten Hunde!« schrie der Mann und lief auf die Straße zu, wobei er immer wieder anhielt, um Steine aufzuheben und in Richtung des noch weit entfernten Fahrzeugs zu schleudern. »Kommt her, und seht sie euch an, ihr Schweine!«

Der rote Wagen bremste ab, fuhr dann rückwärts die Steigung hoch und verschwand.

Auch Tan hatte den Vorfall bemerkt und sprach wieder in sein Funkgerät.

Luntok erschien und trug eine Decke zu der Limousine. Die ragyapas hatten niemals Angst vor den Toten. Ehrfürchtig deckte er die Frau im Kofferraum zu, wandte sich dann um und starrte seinen Freund Kincaid an. Sein Blick wirkte irgendwie verändert.

Rebecca Fowler ging einen Schritt auf den ragyapa- Ingenieur zu. »Welche Arbeitsgruppe war für die Abschlußarbeiten an diesem Damm verantwortlich?« fragte sie ihn mit angespannter Stimme. Luntok erwiderte nichts, sondern starrte unverwandt auf Kincaid.

Kincaids Miene nahm für einen Augenblick einen verhärteten, trotzigen Zug an, als er Luntoks Blick erwiderte. Doch als er danach zu Fowler und Shan schaute, die gemeinsam neben dem Wagen standen, schien seine Bestürzung die Oberhand zu gewinnen. Er rannte auf das Verwaltungsgebäude zu.

Fowlers Seufzen war fast schon ein Schluchzen. »Da in meiner Mine Beweisstücke eines Verbrechens versteckt wurden, könnte man uns ausweisen, nicht wahr?« fragte sie.

Shan entgegnete nichts und blickte ihr hinterher, als sie Kincaid mit schleppendem Schritt folgte. Fünf Minuten später fand Shan sie im Computerraum. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und starrte in eine Teetasse. Kincaid war ebenfalls dort und spielte eine langsame, traurige Melodie auf seiner Mundharmonika, während er mit der anderen Hand einen Text über den Monitor der Satellitenkonsole laufen ließ.

»Es ist vorbei«, sagte Shan und nahm gegenüber von Fowler Platz.

»Verdammt richtig. Ich werde meinen Job verlieren. Ich werde meinen guten Ruf verlieren. Ich werde mich glücklich schätzen können, wenn man mir überhaupt noch den Rückflug bezahlt.« Alles an Rebecca Fowler, ihre Stimme, ihr Gesicht, ihr gesamtes Wesen, schien ausgehöhlt worden zu sein.

»Es war nicht Ihre Schuld. Die Armee wird Ihren Damm wieder aufbauen. Das Ministerium für Geologie wird eine offizielle Erklärung erhalten. Dies ist eine Parteiangelegenheit und wird in aller Stille bereinigt werden.«

»Ich weiß nicht einmal, was ich nach Hause berichten soll.«

»Ein Unfall. Eine natürliche Ursache.«

Fowler blickte auf. »Diese arme Frau. Wir haben sie gekannt. Tyler hat sie manchmal auf Wanderungen mitgenommen.«

»Ich habe ihr Foto an der Wand gesehen.« Shan nickte. »Aber ich glaube, daß sie in Ankläger Jaos Ermittlungen eingeweiht war. Wenn Jao sterben mußte, dann sie auch.«

»Jemand hat gesagt, sie wäre im Urlaub.«

»Jemand hat gelogen.« Er erinnerte sich, wie aufgeregt Tan gewirkt hatte, nachdem es ihm scheinbar gelungen war, Lihua per Fax zu erreichen. Die Faxe waren tatsächlich in Hongkong abgeschickt worden. Shan hatte die Kennung der Sendestelle gesehen. Eine entsprechende Überprüfung hatte ergeben, daß es sich unzweifelhaft um das örtliche Büro des Justizministeriums handelte. Jemand in Hongkong hatte gelogen. In Lhadrung hingegen war es Li, der gelogen hatte, als er behauptete, er hätte die Sekretärin in der Nacht ihres Todes zum Flughafen gefahren.

»Die Satellitenfotos und die Wassergenehmigungen«, sagte Fowler. »Das hatte irgendwie damit zu tun.«

»Ich fürchte, Sie haben recht.«

Fowler barg erneut das Gesicht in den Händen. »Sie meinen, ich habe das alles in Gang gesetzt?«

»Nein. Was Sie in Gang gesetzt haben, war das Ende von all dem.«

»Das Ende von Jao. Das Ende von Lihua.« Ihre Stimme klang leer.

»Nein. Jaos Ermordung war schon längst beschlossene Sache. Und daher mußte man auch Miss Lihua irgendwie verschwinden lassen.«

Fowler blickte mit gehetzter Miene auf.

»Es waren sogar fünf Morde, wenigstens soweit wir wissen. Plus die drei Unschuldigen, die zu Unrecht hingerichtet wurden.« Bevor er fortfuhr, goß Shan sich etwas Tee aus einer Thermosflasche ein, die auf dem Tisch stand. Nachdem er die Leiche in dem Wagen gesehen hatte, kam es ihm so vor, als würde er das flaue Gefühl im Magen vielleicht nie wieder loswerden. »Das alles wirkte völlig konfus. Was ich zunächst nicht erkannt habe, war die Tatsache, daß es hier um zwei Fälle ging, nicht nur um einen. Das erste war der Mord an Ankläger Jao. Das andere war die Untersuchung, an der Jao gearbeitet hatte. Ich konnte den Mord nicht verstehen, solange ich Jaos Ermittlungen nicht begriff. Und die Motive. Nicht eines, nicht zwei, sondern mehrere, die alle in jener Nacht auf der Drachenklaue zusammengelaufen sind.«

»Fünf Morde? Jao, Lihua...«

»Und die Opfer, die Gegenstand der früheren Prozesse waren. Der ehemalige Direktor für Religiöse Angelegenheiten. Der ehemalige Direktor der Minen. Der ehemalige Leiter des Kollektivs der Langen Mauer. Dann die Mönche. Ich habe die Fünf von Lhadrung zu keinem Zeitpunkt für schuldig gehalten. Doch die wahrscheinlichen Verdächtigen paßten nicht zu dem Verbrechen. Es gab kein Muster. Weil es nämlich kein Einzeltäter war. Sie alle sind es gewesen.«

»Alle? Doch nicht alle purbas.«

Shan schüttelte den Kopf und seufzte. »Am schwierigsten war es, eine Verbindung zwischen den Opfern herzustellen. Sie alle hatten in leitender Funktion an einer großen Regierungsoperation mitgewirkt, also standen sie symbolisch für das Leid, das den Tibetern zugefügt wurde. Die Aktivisten kamen natürlich sofort als Verdächtige in Betracht. Aber niemand hat ein weitaus direkteres Motiv in Erwägung gezogen. Die Opfer waren allesamt hohe Beamten, und sie waren alle alt.«

»Alt?«

»Sie waren die Leiter ihrer jeweiligen Dienststellen. Ihrer überaus einflußreichen Dienststellen. Gemeinsam hatten sie die Kontrolle über den Großteil des Bezirks. Und unter ihnen, als nächster in der Reihe, wartete jemand, der sehr viel jünger war. Ein Mitglied des Bei Da-Verbands.« Er stellte sich vor die Konsole. Kincaid überprüfte das Verzeichnis der Kartenanforderungen.

Rebecca Fowlers Mund öffnete sich, aber sie schien zunächst kein Wort herauszubekommen. »Soll das heißen, der Verband war so eine Art Mörderklub?« fragte sie schließlich.

Shan ging entlang des langen Tisches auf und ab. »Li war der Nachfolger von Jao. Wen übernahm nach Lins Tod das Büro für Religiöse Angelegenheiten. Hu übernahm das Ministerium für Geologie. Der Leiter des Kollektivs der Langen Mauer mußte nicht ersetzt werden, weil das Kollektiv aufgrund seiner kriminellen Machenschaften aufgelöst wurde. Vielleicht wußten die anderen sogar gar nichts davon, als sie mit ihren Morden begannen. Aber als sie herausbekamen, daß man als Drogenproduzent ziemlich viel Geld verdient, wie konnten sie da noch widerstehen?« Was hatte Li bei ihrem ersten Zusammentreffen gesagt? Tibet war ein Land voller günstiger Gelegenheiten. Shan nahm einen der amerikanischen Hochglanzkataloge und schob ihn zu Fowler herüber. »Die meisten der Sachen hier drin kosten mehr als eines der monatlichen Beamtengehälter dieser Männer.«

Kincaid saß noch immer da und starrte auf den Computermonitor. Er hatte aufgehört, auf seiner Mundharmonika zu spielen. Seine Hände umklammerten den Tischrand. »Du hast sie ihm gezeigt«, flüsterte er. »Du hast Shan die Karten gezeigt. In unserem Archiv waren keine, also hast du sogar extra welche für ihn angefordert. Du hast noch nie selbst Karten bestellt.«

Fowler drehte sich zu ihm, ohne zu begreifen, was er eigentlich meinte. »Ich mußte, Tyler, es ging doch um den Mord an Jao. Diese Wasserrechte, die wir nie verstanden haben.«

Doch Kincaid blickte zu Shan, der nahe genug hinter ihm stand, um den Text auf dem Bildschirm lesen zu können. Es ging nicht um die Karten von Jaos Mohnfeldern. Kincaid sprach von den Bildern der Südklaue. Den Karten, auf denen der amerikanische Ingenieur Yerpa entdeckt hatte.

»Bei Durchsicht der Fotos, die Sie in der Höhle angefertigt hatten, konnten wir den Schädel ausmachen, der verlegt worden war«, sagte Shan. »Nicht zerstört, sondern respektvoll an eine andere Stelle verlegt. Ich dachte, dieser Umstand würde auf die Anwesenheit eines Mönches schließen lassen. Doch ein Mönch wäre in der Lage gewesen, das tibetische Datum bei jedem der Schädel zu erkennen. Er hätte vermutlich nicht in die Ordnung des Schreins eingegriffen und die korrekte Reihenfolge durcheinandergebracht. Erst sehr viel später ist mir klargeworden, daß auch jemand, der kein Tibetisch zu lesen vermag, durchaus Respekt vor dem Schädel haben konnte.« Kincaid schien ihn nicht gehört zu haben.

»Sie meinen, es war ein Chinese?« warf Fowler bedrückt ein.

Shan ließ sich müde auf einen Stuhl gegenüber von Fowler sinken und beschloß, es mit einem anderen Ansatz zu versuchen.

»Das Lotusbuch kann leicht mißverstanden werden.«

»Das Lotusbuch?« fragte Fowler.

Shan hielt den Blick auf seine verschränkten Hände gerichtet, während er sprach. Eine unermeßliche Traurigkeit, eine fast lähmende Schwermut hatte sich über ihn gelegt. »Es geht nicht um Rache«, fuhr er fort. Kincaid drehte sich langsam zu ihm um. »Es geht nicht um Vergeltung. Die purbas machen sich zwar nichts daraus, beim Sammeln der Einträge strafbare Handlungen zu begehen, aber sie werden nicht töten. Das Buch ist nur... es ist sehr tibetisch. Eine Möglichkeit, die Welt zu beschämen. Ein Mittel, um die Erinnerungen zu bewahren. Aber nicht, um zu töten. Das ist nicht der tibetische Weg.« Shan blickte auf. Weshalb hatte die Gerechtigkeit stets einen so bitteren Geschmack? fragte er sich.

»Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie...« Fowler verstummte mitten im Satz, als sie feststellte, daß Shan nicht sie, sondern über ihre Schulter hinweg Kincaid ansah.

»Ich konnte es nicht verstehen, bis ich Jansen mit den purbas sah. Dann wußte ich es auf einmal. Er war das fehlende Bindeglied. Sie haben Jansen die Informationen gegeben. Jansen hat sie an die purbas übermittelt. Die purbas haben sie in das Lotusbuch geschrieben. Sie haben einfach weitergeleitet, was Ihre neuen Freunde Ihnen erzählten, und dabei geglaubt, daß Li, Hu und Wen versuchen würden, eine neue, freundlichere Verwaltung aufzubauen und die alten Wunden zu heilen, indem sie den Tibetern halfen. Sie, Mr. Kincaid, konnten nicht wissen, daß all diese Informationen erlogen waren, und Sie hätten auch nie damit gerechnet, weil alles so rechtschaffen wirkte. Jedermann wollte nur zu gern glauben, daß Tan und Jao diese Taten begangen hatten. Sie haben Ihre Freunde sogar dazu veranlaßt, als Zeichen ihres Engagements Vorräte und Kleidung des Militärs zu stiften. Ein ganzer Lastwagen voller Bekleidung ging an das ragyapa-Dorf, das Ihnen leid tat und von dem Sie durch Luntok erfahren hatten.«

Rebecca Fowler schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Wovon reden Sie da?« rief sie. »Ein Buch? Sie haben gesagt, die Morde hätten mit diesem Dämon Tamdin zu tun, mit einem Tibeter, der sich verkleidet hat.«

Shan nickte langsam. »Das Büro für Religiöse Angelegenheiten hat die Bestände der Klöster überprüft. Vor anderthalb Jahren ist man auf das Tamdin-Kostüm gestoßen. Es hatte Sungpos Guru gehört und ist von ihm all die Jahre in einem Versteck aufbewahrt worden. Doch er wurde langsam senil und hat sich vermutlich etwas zu leichtsinnig verhalten. Direktor Wen hat den Bericht, in dem die Entdeckung gemeldet wurde, sofort verschwinden lassen, aber da so viele Angestellte von der Bestandsaufnahme wußten, wurde dennoch eine Fracht an das Museum geschickt, um die Spuren zu verbergen. Das Kostüm jedoch ist nie im Museum angekommen, denn der Bei Da-Verband hatte jemanden aufgetan, der es in seinem Sinne benutzen konnte. Jemanden, für den man kein Alibi benötigte, weil er ohnehin niemals in Mordverdacht geraten würde. Jemanden, der die symbolische Bedeutung in vollen Zügen auskosten würde. Jemanden mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Stark. Furchtlos. Jemanden mit absoluten Überzeugungen im Hinblick auf das tibetische Volk. Jemanden, der glaubte, Rache für die Ausplünderung Tibets nehmen zu müssen.« Und dem es vielleicht auch um Rache am gesamten Rest der Welt ging, fügte Shan in Gedanken hinzu.

»Einen Mann mit Kieseln zu ersticken, einen nach dem anderen. Einem Mann mit drei Hieben den Kopf abzutrennen. Nicht jeder bringt es fertig, so etwas zu tun. Und auch der Gebrauch des Kostüms erfordert besondere Eigenschaften. Die Tibeter mußten monatelang dafür trainieren, aber hauptsächlich wegen der Zeremonie. Jemand, der sich nicht für das Ritual interessierte, hätte den Umgang mit der Verkleidung sehr viel schneller erlernen können, vor allem jemand, der als Ingenieur ausgebildet ist.«

Kincaid ging zu der Wand, an der seine Fotos der Tibeter hingen, und starrte die Gesichter der Kinder, Frauen und alten Männer an, als läge darin eine Antwort verborgen. »Falsch«, sagte er mit hohler Stimme. »Sie liegen völlig falsch.«

Shan stand langsam auf. Kincaid wich ein Stück zurück, als befürchte er einen Angriff. Doch Shan trat an die Konsole. »Nein, ich habe völlig falsch gelegen. Ich konnte nicht glauben, daß eine solche Verachtung und zugleich eine solche Ehrfurcht in ein und derselben Person existieren.« Auf dem Computermonitor waren noch immer die Daten der Yerpa- Karten zu sehen. Es war erstaunlich, wie gut der Amerikaner inzwischen die Tibeter verstand. Nachdem er Yerpa auf den Fotokarten entdeckt hatte, war der Mord an Ankläger Jao in gewisser Weise ein Geniestreich gewesen. Kincaid hatte gewußt, daß die 404te die Arbeit an der Straße einstellen würde. Zweifellos war er davon ausgegangen, der Major würde dafür sorgen, daß die Kriecher zwar die üblichen Schritte einleiteten, letzten Endes der 404ten aber keinen wirklichen Schaden zufügten. Shan betätigte die Taste zum Löschen der Datei.

Von draußen drang ein neues Motorengeräusch herein. Rebecca Fowler ging zur Tür des Raums und schaute durch das Fenster in der gegenüberliegenden Wand. »Ein Tieflader«, sagte sie geistesabwesend. »Jaos Limousine wird abgeholt.«

Sie drehte sich um. Ihr Gesichtsausdruck zeugte von völliger Verwirrung. »Tyler, falls du etwas weißt, solltest du Shan davon erzählen. Wir müssen an die Mine denken. An die Firma.«

»Ob ich etwas weiß?« entgegnete Kincaid verächtlich. »Natürlich weiß ich etwas. Die Fünf von Lhadrung wurden gar nicht hingerichtet. Da können Sie mal sehen, wie falsch Sie liegen. Gestorben sind bloß ein paar BDKs, die man für ihre Verbrechen gegen Tibet schon vor vielen Jahren hätte an die Wand stellen sollen.« Er wirkte verärgert. »Außer Lihua«, fügte er zögernd hinzu. »Da hat jemand die Kontrolle verloren.«

Fowler hob den Kopf. »Woher willst du das wissen... was soll das alles bedeuten?« fragte sie.

»Der Bei Da-Verband«, sagte Shan. »Li, Wen, Hu, der Major. Mr. Kincaid war inoffizielles Mitglied.«

»Jemand muß endlich handeln, Rebecca«, schaltete Kincaid sich leidenschaftlich ein. »Du weißt das. Deshalb hilfst du ja auch der UN und Jansen. Tibet kann die Welt so viel lehren. Wir müssen reinen Tisch machen. Und wir haben schon große Fortschritte erzielt.«

»Fortschritte?« fragte Fowler. Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.

»Jemand muß sich erheben«, erwiderte Kincaid. »Es muß geschehen. Niemand ist gegen Hitler aufgestanden. Niemand hat Stalin Widerstand geleistet, bevor es zu spät war. Aber hier ist es noch nicht zu spät. Hier können wir tatsächlich noch etwas bewirken. Der Lauf der Geschichte kann umgekehrt werden. Der Bei Da Verband weiß das. Die Verbrecher müssen ausgeschaltet werden.«

»Können Sie einen Verbrecher erkennen, Mr. Kincaid?« fragte Shan. Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich an Fowler. »Wird bei Ihnen zur Zeit eine Probenlieferung vorbereitet, die nächste Woche verschickt werden soll?«

»Ja«, sagte Fowler langsam. Sie war verwirrter als je zuvor.

»Sie muß aufgehalten werden. Vielleicht könnten Sie einen entsprechenden Anruf vornehmen.«

»Die Lieferung ist bereits versiegelt. Das ist wegen der Zollabfertigung erforderlich.«

»Sie muß aufgehalten werden«, wiederholte Shan.

Fowler ging zum Telefon, und wenige Minuten später hielt ein Wagen vor der Tür des Büros. Shan öffnete die Heckklappe des Transporters, während Kincaid und Fowler ihm von der Tür aus fragend zusahen.

»Die >Ich<-Generation«, sagte Shan beiläufig und nahm die Frachtkisten in Augenschein. »Das habe ich mal in einem amerikanischen Magazin gelesen. Diese Leute können auf gar nichts warten. Sie wollen alles sofort. Nur noch ein weiterer Mord, und sie hätten gewonnen. Nur noch der Oberst war übrig. Vielleicht wollten sie auch die Mine übernehmen. Ich glaube, die Außerkraftsetzung der Betriebserlaubnis war zum Teil eine Antwort auf das, was Kincaid mit Jao gemacht hatte: Man wollte in der Lage sein, Sie beide loswerden zu können, falls die Angelegenheit außer Kontrolle geriet. Wissen Sie noch, an welchem Tag Sie von dieser Maßnahme erfahren haben?« fragte er Fowler.

»Keine Ahnung. Es müßte jetzt zehn Tage oder zwei Wochen her sein.«

»Es war genau an dem Tag, nachdem wir Jaos Kopf gefunden hatten«, sagte Shan. Er sprach sehr langsam, um den Worten mehr Wirkung zu verleihen. »Als man feststellte, daß der Dämon ein wenig zu eigenmächtig handelte. Ich glaube nicht, daß man schon abschließend entschieden hatte, ob man Sie loswerden wollte. Man wollte sich bloß alle Optionen freihalten. Deshalb hat man auch die Computerdisketten als Köder ausgelegt und so getan, als gäbe es Ermittlungen in einem Spionagefall.«

»Tyler«, flehte Fowler. »Rede mit ihm. Sag ihm, daß du nicht weißt... «

»Niemand hat irgend etwas Falsches getan«, beharrte Kincaid. »Wir machen Geschichte. Dann kann ich nach Hause zurückkehren und uns die Aufmerksamkeit verschaffen, die wir benötigen. Ich werde sogar mit noch größeren Investitionen zurückkehren. Hundert Millionen, zweihundert Millionen. Eine Milliarde. Du wirst schon sehen, Rebecca. Du wirst mein Manager sein. Meine Verwaltungsleiterin. Du wirst alles verstehen.«

Fowler starrte ihn nur an.

Shan fing an, eine Kiste mit Proben der Lake auszupacken, die jeweils in zehn Zentimeter durchmessenden Metallzylindern untergebracht waren. »Irgend etwas hiervon wurde außerhalb angefertigt. Womöglich haben Sie es aus Hongkong bestellt. Vielleicht die Kisten.«

»Die Zylinder«, flüsterte Fowler kaum hörbar. »Die wurden vom Ministerium für Geologie hergestellt.«

Shan nickte. »Jao hat versucht, ein transportables Röntgengerät zu besorgen. Ich glaube, er wollte es herbringen, vielleicht auch zum Gelände des Bei Da-Verbands. Meiner Meinung nach hat er erwartet, etwas in den Terrakottastatuen zu finden, die der Verband verkaufen wollte, oder auch in den Holzkisten, die man zum Transport benutzt hat. Aber der Verband ist gerissener. Ich habe mich immer wieder gefragt, wieso man Ihre Transporttermine vorverlegt hat.« Er schraubte den Deckel von einem der Metallbehälter ab und schüttete die Lake aus. »Der Grund dafür konnte nur sein, daß man soviel wie möglich wegschaffen wollte, bevor die zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen wegen der amerikanischen Touristen in Kraft treten würden.«

Er wußte nicht genau, wonach er suchte, aber er maß die Tiefe des Innenbehälters mit Hilfe eines langen Schraubenziehers aus dem Wagen. Das Werkzeug ragte kaum über den Rand hinaus. Er hielt es außen an den Zylinder. Bis zum Boden fehlten fünfzehn Zentimeter. Er nahm das Behältnis genau in Augenschein und entdeckte schließlich eine Naht, eine fast unsichtbare Naht. Vergeblich versuchte er, das untere Teil abzuschrauben. Fowler rief nach zwei großen Rohrzangen. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das untere Fach loszubekommen, indem sie die beiden Teile des Behälters in entgegengesetzte Richtungen drehten. Im Innern befand sich eine dunkelbraune, scharf riechende Paste.

»Das hier«, verkündete Shan mit einem Nicken in Tans Richtung, der dreißig Meter entfernt von ihnen die Arbeiten leitete, »wird aus dem Oberst einen Helden machen. Ein Mord ist bloß ein Mord. Aber Drogenschmuggel ist ein Angriff auf den Staat.«

Fowler war kreidebleich. Kincaid stolperte vor. Er packte einen anderen Zylinder und öffnete ihn genauso wie Shan zuvor, dann einen dritten. Als er beim vierten angekommen war, begann er zu zittern. Er steckte die Hand hinein und zog sie wieder heraus. Sie war von der dickflüssigen Schmiere überzogen. »Diese Schweine«, stöhnte er. »Diese gierigen kleinen Scheißkerle.«

»Wie ich schon sagte, Sie waren der einzige, der sowohl zum Bei Da-Verband als auch zu einem Vertrauten der purbas gute Kontakte unterhielt.« Shans Hand legte sich auf die khata des Amerikaners, die er noch immer um den Hals trug, und zog sie herunter. »Der Verband fütterte Sie mit Informationen über die Opfer, und Sie haben das Material an Jansen weitergereicht. Jansen kannte die purbas, also gab er es ihnen, und es wurde im Lotusbuch festgehalten. Doch es war nicht für das Buch gedacht. Es war an Sie gerichtet, denn man wußte, daß Sie an das glauben mußten, was Sie taten. Sie hätten sich nicht dazu bereit erklärt, wenn es Ihrer Ansicht nach bloß um das berufliche Fortkommen der anderen gegangen wäre. Nein, Sie haben es getan, um zu bestrafen. Sie haben es für Ihre Sache getan. Nur bei Ankläger Jao sind Sie zu weit gegangen. Vermutlich war es einfach, die anderen davon zu überzeugen, ihn zur Südklaue zu locken. Falls der Mord an Jao auf der Straße der 404ten die tibetischen Häftlinge zu einer Reaktion verleitete und daraufhin die Kriecher anrückten, würde ja immer noch Ihr Freund der Major da sein und alles unter Kontrolle haben, so daß er einerseits die Vorschriften befolgen konnte und andererseits den Tibetern keinen wirklichen Nachteil zufügen würde, richtig? Aber der Schädelschrein. Das hat die anderen aufgeregt, denn ein Großteil des Goldes wanderte in ihre eigenen Taschen. Was Sie mit dem Kopf getan haben, drohte sich nachteilig auf die Goldgewinnung auszuwirken. Man mußte Sie maßregeln. Vielleicht kam man auch zu dem Schluß, daß Sie nicht länger benötigt wurden. Also ist jemand zu dem Versteck gegangen und hat das Kostüm beschädigt, und dann wurde die Betriebserlaubnis aufgehoben. Und als Sie versucht haben, zurück zu dem Kostüm zu gelangen, waren da auf einmal Wachhunde. Denen haben Sie auch den Biß in den Arm zu verdanken. Keine Schnittwunde von den Felsen. Ein Hundebiß.« Er ließ die khata neben Kincaid zu Boden fallen und sah Fowler an. Wie hatte sie Kincaid genannt? Die verlorene Seele, die ein Nest gefunden hatte.

In Kincaids Blick lag noch immer ein Rest Trotz. »Tamdin ist der Beschützer der Tibeter«, sagte er langsam. »Das Volk muß wieder an die alten Werte glauben. Ich habe nicht mehr getan, als die Buddhisten zu beschützen. Wir haben sie gerettet. Wir haben die Fünf von Lhadrung gerettet.«

»Was meinen Sie damit?«

»Die anderen sind in Nepal. Das war Teil des Plans. Sobald offiziell verkündet worden war, man hätte sie hingerichtet, würde niemand mehr bemerken, daß sie in Wirklichkeit über die Grenze geschmuggelt wurden. Der Major hat sie rübergebracht. Sie sind alle am Leben.«

Shan seufzte und griff in seine Tasche. Der Irrglaube des Amerikaners hing nur noch an diesem einen dünnen Faden. Shan reichte ihm die Fotos der drei Hinrichtungen. Nachdem Kincaid die Hälfte der Bilder gesehen hatte, fiel er auf die Knie. Als er aufblickte, sah er nicht zu Shan, sondern zu Fowler. Ein trockenes Schluchzen entrang sich seiner Brust.

»Es ging nicht um Drogen«, rief er. »Du mußt mir glauben. Falls ich je geahnt hätte...«

Die Tränen, die über seine Wangen liefen, schienen Fowler aus der Erstarrung zu reißen. Als sie ihm antwortete, klang sie, als wollte sie ein Kind trösten. »Dann hättest du dir für diese Leute kein Kostüm angezogen, nicht wahr, Tyler?«

»Es ging um Hitler. Es ging um Stalin. Du weißt, was man hier angerichtet hat. Wir wollten das ändern. Du verstehst es, Rebecca. Ich habe immer gewußt, daß du es verstehen würdest. Eines Tages würdest du stolz auf mich sein. Man darf ihnen nicht verzeihen. Jemand muß...« Er hielt inne, als er die Abscheu in ihrer Miene bemerkte. »Rebecca! Nein!« schrie er, warf sich zu ihren Füßen hin und hämmerte mit der Faust auf den Boden.