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Die Verhaftungen waren umgehend erfolgt, berichtete Oberst Tan. Li Aidang, Hu und Wen Li hatten sich auf ihrem Privatgelände befunden und kistenweise Unterlagen in ihre Land Rover geladen. Der Major war direkt zu seinem Helikopter geeilt und hatte gewiß darauf vertraut, über die Grenze fliehen zu können, doch Tan hatte die Maschine in der Nacht zuvor fluguntauglich machen und durch eine handverlesene Abteilung seiner Soldaten bewachen lassen. Fünfzig weitere von Tans Männern wurden zur Durchsuchung der Gebäude des Bei Da-Verbands abgestellt. Sie benötigten sechs Stunden, um den Tresor zu entdecken, den man in den unterirdischen Schrein des alten Klosters eingebaut hatte. Darin fanden sich Bankunterlagen über Konten in Hongkong, Namen aus Hongkong sowie eine Aufstellung des bislang verarbeiteten Opiums.
Shan arbeitete die ganze Nacht an seinem Bericht. Am Morgen, kurz nach Anbruch der Dämmerung, wurden Sungpo und Jigme aus dem Depot des Lagers Jadefrühling entlassen, in dem Tan sie versteckt hatte. Shan stand am Tor und schaute ihnen entgegen. Er wollte etwas sagen, doch ihm fehlten die Worte. Die beiden gingen durch das Tor, ohne Shan zu beachten. Sie lehnten es ab, sich fahren zu lassen. Nach sechs oder sieben Metern drehte Jigme sich um und nickte ihm mit siegreichem Lächeln kaum merklich zu.
Zwei Stunden später stand Shan in seiner Häftlingskleidung in Tans Büro. Unaufhörlich klingelte das Telefon. Zwei junge, schneidige Offiziere gingen Madame Ko zur Hand.
»Das Justizministerium hat bereits beschlossen, Ankläger Jao zum Helden des Volkes zu ernennen. Man wird seiner Familie einen Orden schicken«, verkündete Tan teilnahmslos.
»Außerdem rechnet man damit, im Verlauf des heutigen Tages einige Festnahmen in Hongkong vorzunehmen. Li hat die ganze Nacht geredet. Er wollte uns glauben machen, seine Beteiligung sei Teil der eigenen Ermittlungen gewesen. Außerdem hat er uns so viele Beweise geliefert, daß man ein ganzes Buch damit füllen könnte. Aus Lhasa ist ein General der Öffentlichen Sicherheit eingetroffen. Es gibt einen besonderen Ort in den Bergen, den das Büro in solchen Fällen benutzt. In der morgigen Zeitung wird das Volk von einem tragischen Unfall auf einer Hochgebirgsstraße lesen können. Keine Überlebenden.«
Shan sah aus dem Fenster. Die 404te war noch immer nicht an der Arbeit.
Tan folgte seinem Blick. »Ohne die Brücke besteht kein Bedarf für eine Straße«, sagte er. »Das Projekt ist eingestellt worden.«
Shan drehte sich überrascht um.
»Für eine neue Brücke ist kein Geld da«, erklärte Tan achselzuckend. »Die Einheiten der Öffentlichen Sicherheit befinden sich bereits auf dem Rückweg zur Grenze. Die 404te wird nicht bestraft. Ab morgen ist sie einem neuen Projekt zugeteilt. Bewässerungsgräben im Tal.« Tan gesellte sich für einen Moment zu Shan ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter, wo Sergeant Feng an dem Geländewagen lehnte. »Du hast ihn zugrunde gerichtet.«
»Feng?«
»All diese Jahre unter meinem Befehl, und jetzt bittet er um eine Versetzung. So weit wie möglich von einem Gefängnis entfernt. Er sagt, er will in Erfahrung bringen, ob noch jemand aus seiner Familie am Leben ist. Und er möchte zum Grab seines Vaters.« Tan wies ungelenk auf eine Papiertüte, die auf dem Tisch stand. »Hier. Madame Kos Idee«, sagte er. Er klang seltsam angespannt, gar nicht so fröhlich, wie Shan erwartet hatte.
In der Tüte befanden sich ein neues Paar Militärstiefel und Arbeitshandschuhe.
Shan sagte nichts, sondern setzte sich und fing an, seine Schuhe aufzuschnüren. »Was ist mit dem Amerikaner?«
Tan zögerte. »Der Amerikaner stellt kein Problem mehr da. Man hat sich bereits mit der amerikanischen Botschaft in Verbindung gesetzt.«
»Wurde er schon abgeschoben?«
Tan zündete sich eine Zigarette an. »Mr. Kincaid ist letzte Nacht auf die Klippe oberhalb der Schädelhöhle geklettert. Dann hat er sich ein Seil um den Hals gebunden und ist gesprungen. Die Arbeitsmannschaft hat ihn heute früh gefunden, wie er über der Höhle hing.«
Shan biß die Zähne zusammen. So viele Leben waren verschwendet worden. Weil Kincaid zu sehr gesucht hatte. »Und Fowler?«
»Sie kann bleiben, falls sie möchte. Es gibt eine Mine zu leiten.«
»Sie wird bleiben«, sagte Shan, streifte die Schuhe ab und band die Schnürsenkel zusammen, damit er sie besser tragen konnte. Madame Ko zuliebe würde er jetzt die Stiefel anziehen und sie später dann Choje geben.
Tan starrte unschlüssig auf einen gefalteten Zeitungsartikel, der auf seinem Tisch lag. Als Shan sich die Stiefel anzog, schob Tan ihm das Blatt zu.
Der Bericht war zehn Tage alt. Ein ganzseitiger Nachruf. Man trauerte um Minister Qin vom Wirtschaftsministerium, der unter allen aktiven Regierungsmitgliedern als einziger noch zu den Überlebenden der Achten Armee des Langen Marsches gehört hatte.
»Ich habe in Peking angerufen. Er hat dich betreffend keinerlei Anweisungen hinterlassen. In seinem Büro wurde bereits ein großer Hausputz durchgeführt. Anscheinend wollten ziemlich viele Leute, daß seine Unterlagen so schnell wie möglich vernichtet werden. Die Akten sind alle weg. Und von der neuen Belegschaft hat keiner je etwas von Befehlen hinsichtlich deiner Person gehört.«
Shan faltete das Blatt zusammen und steckte es ein. Das waren nicht unbedingt gute Neuigkeiten. Solange Qin am Leben gewesen war, hatte es wenigsten jemanden gegeben, der sich an ihn erinnerte und über seine Tätowierung entscheiden konnte. Er wäre nicht der erste, der in einem chinesischen Gefängnis vergessen wurde.
Tan schlug die schmale braune Mappe auf, die Shan bei seinem ersten Besuch gesehen hatte. »Das hier ist inzwischen der einzige offizielle Beleg für deine Existenz.« Tan klappte die Akte zu.
»Einen Fund hat man in Peking dennoch gemacht.« Tan hob ein Päckchen an, das in ein Wachstuch gewickelt war. »Es gab zwar keine Akte, aber das hier lag auf seinem Schreibtisch, wie eine Art Trophäe. Dein Name stand darauf. Ich dachte, du würdest...« Er verstummte und schlug die Verpackung auf. Auf dem Wachstuch lag ein kleiner, abgenutzter Bambusbehälter.
Shan starrte ihn ungläubig an. Langsam wanderte sein Blick von dem vertrauten Behältnis zu Tan, der ebenfalls den Gegenstand betrachtete. »Ich habe früher oft den taoistischen Priestern zugeschaut«, sagte Tan gedankenverloren. »Sie warfen die Stengel und rezitierten dann Verse vor Gruppen von Kindern.«
Shans Hand zitterte, als er danach griff und den Deckel öffnete. Die lackierten Stengel befanden sich noch immer darin, die alten Schafgarbenstengel, die seit seinem Urgroßvater weitervererbt worden waren und mit denen man das Taoteking befragte. Da dies der einzige materielle Besitz gewesen war, der Shan etwas bedeutete, hatte der Minister sehr viel Wert darauf gelegt, ihm die Stengel persönlich wegzunehmen. Shan mußte erst nachdenken, wie man die Geste vollführte, die einst wie ein Reflex für ihn gewesen war. Dann streute er die Stengel mit einer langsamen, fächerförmigen Bewegung aus. Peinlich berührt schaute er auf.
»Es weckt Erinnerungen«, sagte Tan in einem merkwürdigen, gequälten Tonfall. Er sah Shan an, und sein Gesicht verzog sich fragend. »Es gab einst eine bessere Zeit, nicht wahr?« fragte er mit plötzlicher Ergriffenheit.
Shan lächelte nur traurig. »Das hier ist ein Familienerbstück«, sagte er sehr leise. »Wie freundlich von Ihnen. Ich hatte keine Ahnung, daß es noch existierte.«
Er rollte die Stengel zwischen den Fingern und war überrascht, wie angenehm sie sich anfühlten. Dann packte er sie fest, schloß die Augen, steckte die Stengel zurück in die Dose und wog sie in den Händen. Für den Bruchteil einer Sekunde roch er einen schwachen Hauch Ingwer, und er spürte, daß sein Vater in der Nähe war.
»Vielleicht dürfte ich um einen großen Gefallen bitten«, sagte Shan.
»Ich habe mit dem Direktor gesprochen. Du bekommst ein paar Wochen lang nur leichte Dienste zugewiesen.«
»Nein, ich meine das hier.« Behutsam legte er die Dose wieder auf das Wachstuch. »Man wird es konfiszieren. Einer der Wachposten wird es ins Feuer werfen. Oder verkaufen. Könnten Sie oder Madame Ko es nicht aufbewahren, bis irgendwann später?«
Tan musterte ihn bekümmert. Er schien etwas sagen zu wollen, aber dann nickte er nur unbeholfen und wickelte den Behälter wieder ein. »Natürlich. Deine Sachen sind hier in Sicherheit.«
So ließ Shan ihn dort zurück, wie er auf die Stengel starrte.
Madame Ko wartete. Sie hatte Tränen in den Augen. »Ihr Bruder«, sagte Shan und erinnerte sich an die Hingabe, mit der sie ihrem Verwandten treu blieb, der schon vor so vielen Jahren im Gulag verschwunden war. »Ich bin der festen Überzeugung, Sie haben ihm mit Ihrem Verhalten eine große Ehre erwiesen.«
Sie umarmte ihn, wie eine Mutter einen Sohn umarmen würde. »Nein«, sagte sie. »Sie sind es, der ihm Ehre erwiesen hat.«
Shan war schon halb den Korridor hinuntergegangen, als Tan ihm hinterherrief, er möge warten. Langsam und unsicher kam der Oberst auf ihn zu. In einer Hand hielt er die Bambusdose, in der anderen Shans Akte.
»Offiziell kann ich wegen einer Pekinger Akte nichts unternehmen«, sagte Tan. »Nicht mal, wenn es sich um eine verschwundene Akte handelt.«
»Natürlich«, sagte Shan. »Wir hatten eine Vereinbarung. Beide Seiten haben ihren Teil ehrenwert erfüllt.«
»Du hast also keine Reisepapiere. Nicht einmal Arbeitspapiere. Überall außerhalb dieses Bezirks droht dir eine Verhaftung.«
»Ich verstehe nicht.«
Tans Augen begannen in einem Licht zu erstrahlen, das Shan noch nie bei dem Oberst wahrgenommen hatte. Er reichte Shan die Akte.
»Hier. Du existierst nicht mehr. Ich rufe den Gefängnisdirektor an. Man wird dich von der Häftlingsliste streichen.« Langsam streckte Tan die Dose aus, und ihre Blicke trafen sich, als wäre es das erste Mal.
»Dieses Land«, seufzte Tan. »Es macht das Leben so schwierig.« Er nickte, fast wie zur Antwort auf seine eigene Behauptung, ließ dann die Dose in Shans Hand fallen, drehte sich um und ging in sein Büro zurück.
Dr. Sung stellte keine Fragen. Wortlos gab sie ihm fünfzig Einheiten Pockenimpfstoff, bat ihn, kurz zu warten, und holte ihm eine Broschüre, in der die Verabreichung der Medizin beschrieben wurde. »Ich höre, sie sind verschwunden«, sagte sie ungerührt. »Die Bei Da-Jungs. Als ob sie nie existiert hätten. Es heißt, aus Lhasa sei ein spezieller Säuberungstrupp gekommen.« Sie fand eine kleine Leinentasche für die Medizin und folgte ihm dann auf die Straße, als sei es ihr unmöglich, ihm auf Wiedersehen zu sagen.
Dort stand sie, und der Wind zerrte an ihrem Kittel, während Shan sich mit einem verlegenen Achselzucken verabschiedete. Im letzten Moment holte sie einen Apfel hervor und steckte ihn in Shans Tasche. Er lächelte sie dankbar an.
Es war ein langer Weg nach Yerpa.