172572.fb2 Der fremde Tibeter - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

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Kapitel 2

Shan saß schweigend in dem kalten, düsteren Raum, den man ihm bei der 404ten im Gebäude der Gefängnisverwaltung zugewiesen hatte, und starrte auf das Telefon. Im ersten Moment hielt er es nicht für echt. Er stieß mit einem Bleistift dagegen und rechnete schon damit, daß es sich als hölzerne Attrappe erweisen würde. Dann schob er es hin und her, aber das Kabel fiel nicht ab. Der Apparat war ein Gegenstand aus der Vergangenheit, aus einer anderen Welt, so wie Radios und Fernsehgeräte, Taxis und Toiletten mit Wasserspülung. Artefakte aus einem Leben, das hinter ihm lag.

Er stand auf und ging um den Tisch herum. Das Zimmer war ein Lagerraum ohne Fenster, in dem sich normalerweise kleine Gruppen zu ihren Agitationsveranstaltungen trafen, den tamzing-Sitzungen, in denen die antisozialistischen Anwandlungen diagnostiziert und behandelt wurden. In einer der Ecken waren Reinigungsmittel gestapelt und verströmten einen durchdringenden Ammoniakgeruch. Neben dem Telefon lagen ein kleiner Notizblock und drei von Bißspuren übersäte Bleistiftstummel. Auf einem Stuhl neben der Tür saß Feng und schälte einen Apfel. Sein blasierter Gesichtsausdruck trug kaum dazu bei, Shans Verdacht zu zerstreuen, daß man ihn in eine kunstvolle Falle gelockt hatte.

Shan kehrte zum Tisch zurück und nahm den Hörer des Telefons ab. Es gab tatsächlich ein Freizeichen. Er legte wieder auf und ließ die Hand auf dem Hörer ruhen, als müßte er ihn festhalten. Für wen war diese Falle errichtet worden? Für Shan? Da weder Peking noch Shan nach so langer Zeit verraten wollten, was genau sein Verbrechen gewesen war, hatte man womöglich beschlossen, einen Fall zu konstruieren, den man besser verstehen konnte. Oder galt die Falle Choje und den Mönchen? Wen sollte er schon anrufen? Minister Qin? Seine Frau, die Parteifunktionärin, die ihre Ehe hatte annullieren lassen? Den Sohn, dessen Gesicht er nicht erkennen würde, selbst wenn er ihm je wieder leibhaftig gegenüberstände?

Er hob erneut ab und wählte fünf zufällige Ziffern.

»Wei«, erklang die teilnahmslose Stimme einer Frau mit der allgegenwärtigen, bedeutungslosen Silbe, mit der jedermann sich am Telefon meldete. Shan legte auf und starrte den Apparat an. Er schraubte die Sprechmuschel ab und fand, wie erwartet, ein Abhörmikrofon, die Standardausführung der Öffentlichen Sicherheit. Auch er hatte in seinem früheren Dasein solche Geräte benutzt. Es konnte speziell zu seiner Überwachung oder generell in alle Gefängnistelefone eingebaut worden sein.

Er schraubte die Sprechmuschel wieder fest und schaute sich noch einmal im Raum um. Jeder Gegenstand schien eine zusätzliche Dimension zu besitzen, eine gesteigerte Wirklichkeit, als würde er durch die Augen eines Sterbenden wahrgenommen. Shan musterte den Schreibblock und wunderte sich über das saubere, helle Papier. Eine solche Helligkeit gehörte sonst nicht zu dem Universum, das er drei Jahre zuvor betreten hatte. Auf dem ersten Blatt standen einige Namen und Nummern, die anderen waren leer. Mit leichtem Zittern schlug er die blanken Seiten um und hielt bei jeder kurz inne, als würde er in einem Buch lesen. Auf dem letzten Blatt fügte er in einer der oberen Ecken, wo es hoffentlich niemand bemerken würde, mit zwei schwungvollen Strichen das Ideogramm seines Namens ein. Dies war das erste Mal, daß er seit seiner Verhaftung etwas geschrieben hatte. Ein ungewohntes Gefühl der Zufriedenheit machte sich in ihm breit. Er war noch am Leben.

Unter den ersten Eintrag schrieb er die Ideogramme des Namens seines Vaters, dann überkam ihn ein plötzliches Schuldgefühl, und er klappte den Block zu. Mißtrauisch warf er einen kurzen Blick auf Feng, um herauszufinden, ob der ihn beobachtet hatte.

Von irgendwoher war ein leises Stöhnen zu vernehmen. Es hätte der Wind sein können. Vielleicht aber auch jemand im Stall. Shan schob den Block beiseite und stellte fest, daß darunter ein gefaltetes Blatt Papier lag. Es war ein Formular, dessen Überschrift UNFALLBERICHT lautete.

Shan nahm den Hörer ab und wählte die Nummer, die hinter dem ersten Namen auf der Liste stand. Es handelte sich um die örtliche Klinik, das Bezirkskrankenhaus.

»Wei.«

»Dr. Sung«, las er ab.

»Hat dienstfrei.« Die Verbindung wurde unterbrochen.

Auf einmal bemerkte Shan, daß jemand vor seinem Schreibtisch stand. Der Mann war ein Tibeter, wenngleich ungewöhnlich groß. Er war jung und trug die grüne Uniform des Lagerpersonals.

»Man hat mich Ihnen zugewiesen, damit ich Ihnen bei der Erstellung Ihres Berichts behilflich bin«, sagte der Mann unbeholfen und schaute sich im Zimmer um. »Wo ist der Computer?«

Shan ließ den Hörer sinken. »Sie sind ein Soldat?« Es gab in der Tat Tibeter in der Volksbefreiungsarmee, aber die wurden nur selten in Tibet stationiert.

»Ich bin kein...«, setzte der Mann aufgebracht an und fing sich sofort wieder. Shan kannte diese Reaktion. Der Mann wußte nicht, wer Shan war, und konnte daher nicht entscheiden, wie dieser Unbekannte in der Hierarchie des Gefängnislebens oder in der sogar noch komplexeren Rangfolge der klassenlosen Gesellschaft Chinas einzuordnen war. »Ich habe soeben eine zwei Jahre währende Umerziehung abgeschlossen«, erwiderte er förmlich. »Direktor Zhong war so freundlich, mir bei meiner Entlassung Kleidung zur Verfügung zu stellen.«

»Weswegen die Umerziehung?« fragte Shan.

»Ich heiße Yeshe.«

»Aber Sie sind noch immer im Lager.«

»Es gibt kaum Arbeit. Man hat mich gebeten, noch zu bleiben Meine Strafe habe ich abgesessen«, versicherte er hartnäckig.

Shan glaubte, einen gewissen Unterton zu erkennen, der auf Ruhe und Selbstdisziplin schließen ließ. »Haben Sie in den Bergen studiert?« fragte er.

Die Verärgerung kehrte sofort wieder zurück. »Das Volk hat mich mit einem Universitätsstudium in Chengdu betraut.«

»Ich habe ein gompa gemeint.«

Yeshe erwiderte nichts darauf. Er ging durch den Raum, blieb vor der hinteren Wand stehen und stellte die Stühle im Halbkreis auf, als sollte ein tamzing abgehalten werden.

»Warum sind Sie geblieben?« fragte Shan.

»Letztes Jahr hat man neue Computer hergeschickt. Niemand vom Personal konnte damit umgehen.«

»Ihre Umerziehung hat darin bestanden, die Gefängniscomputer zu bedienen?«

Der hochgewachsene Tibeter runzelte die Stirn. »Meine Umerziehung hat darin bestanden, den Inhalt der Gefängnislatrinen nach der nächtlichen Leerung auf die Felder zu verteilen«, sagte er und bemühte sich ungeschickt, möglichst stolz auf seine Arbeit zu wirken, ganz wie die Politoffiziere es ihm vermutlich beigebracht hatten. »Aber dann stellte man fest, daß ich ein bißchen über Computer Bescheid weiß. Ich begann damit, als Teil meiner Rehabilitierung im Büro der Verwaltung auszuhelfen, indem ich zum Beispiel die Abrechnungen überprüft oder die Berichte in die von Peking verlangten Dateiformate umgewandelt habe. Am Tag meiner Entlassung hat man mich gebeten, noch ein paar Wochen zu bleiben.«

»Demnach besteht für Sie als früherer Mönch die Rehabilitierung inzwischen darin, bei der Inhaftierung anderer Mönche behilflich zu sein.«

»Wie bitte?«

»Ich bin nur immer wieder aufs neue erstaunt, was man im Namen der Rechtschaffenheit alles erreichen kann.«

Yeshe schreckte verwirrt zurück.

»Vergessen Sie's. Was für Berichte?«

Yeshe begann wieder, im Raum auf und ab zu gehen. Sein ruheloser Blick schweifte von Sergeant Feng an der Tür zurück zu Shan. »Letzte Woche waren es Berichte über die Arzneimittelvorräte. In der Woche davor ging es um den Getreideverbrauch der Häftlinge pro Kilometer ausgebauter Straße. Wetterbedingungen. Überlebensraten. Und wir haben versucht, den Grund für das Verschwinden von Armeevorräten herauszufinden.«

»Man hat Ihnen nicht erzählt, weshalb ich hier bin?«

»Sie schreiben einen Bericht.«

»Auf dem Gelände der Baustelle bei den Drachenklauen wurde die Leiche eines Mannes gefunden. Es muß eine Akte für das Ministerium erstellt werden.«

Yeshe lehnte sich gegen die Wand. »Sie meinen, der Tote war keiner der Häftlinge?«

Die Frage bedurfte keiner Antwort.

Da erkannte Yeshe auf einmal, was für ein Hemd Shan trug. Er bückte sich und schaute unter dem Tisch auf Shans verschlissene Schuhe aus Pappe und Vinyl, dann zurück zu Feng.

»Man hat Ihnen nichts davon erzählt«, sagte Shan. Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Aber Sie sind kein Tibeter.«

»Und Sie sind kein Chinese«, hielt Shan dagegen.

Yeshe wich vor ihm zurück. »Es muß ein Mißverständnis vorliegen«, flüsterte er und ging mit ausgestreckten Händen auf Sergeant Feng zu, als würde er an dessen Barmherzigkeit appellieren wollen.

Feng deutete zur Antwort lediglich in die Richtung, in der das Büro des Direktors lag. Yeshe kehrte mit kleinen, gezierten Schritten um und setzte sich vor Shan hin. Zerstreut musterte er abermals Shans Schuhe, schien dann offenbar seine Gedanken zu ordnen und schaute auf. »Wird man Sie dafür verantwortlich machen?« fragte er und konnte seine Bestürzung kaum verbergen.

»Wofür?« Shan war erstaunt, wie berechtigt diese Frage klang.

Yeshe starrte ihn mit großen Augen an, als sei er zufällig einem bislang unbekannten Dämon über den Weg gelaufen. »Für den Tod des Mannes.«

Shan schaute auf seine Hände. »Ich weiß es nicht. Hat man Ihnen das erzählt?« Vielleicht war das die ganze Zeit der Plan gewesen. Alte Haudegen wie Tan und Minister Qin spielten vor dem Fressen gern mit ihrer Beute.

»Man hat mir gar nichts erzählt«, sagte Yeshe verbittert.

»Der Ankläger ist zur Zeit nicht da«, sagte Shan und bemühte sich, möglichst ruhig zu klingen. »Oberst Tan braucht einen Bericht. Ich kenne mich ein wenig damit aus.«

»Mit Morden?« Yeshes Stimme klang beinahe hoffnungsvoll.

»Nein. Mit Fallakten.« Shan schob Yeshe die Liste herüber. »Ich habe eben unter der ersten Nummer angerufen. Die Ärztin war nicht erreichbar.«

Yeshe wandte sich zu Feng um und seufzte, als der Sergeant sich weigerte, den Blick zu erwidern. »Ich bin nur heute nachmittag hier«, sagte Yeshe zögernd.

»Ich habe nicht um Sie gebeten. Wie Sie selbst sagen, handelt es sich hierbei um Ihre Arbeit. Sie werden dafür bezahlt, Informationen zu sammeln.« Shan wunderte sich über Yeshes Unentschlossenheit. Eigentlich glaubte er, den Grund für die Anwesenheit seines neuen Assistenten erkannt zu haben. Falls das Büro ihn im Auge behalten wollte, würde es sich nicht nur auf die Wanze im Telefon verlassen.

»Man hat uns davor gewarnt, gemeinsame Sache mit den Häftlingen zu machen. Ich bin auf der Suche nach einer besseren Beschäftigung. Die Arbeit mit einem Kriminellen - ich weiß nicht. Man könnte mir das als...« Yeshe verstummte.

»Rückentwicklung vorwerfen?« schlug Shan vor.

»Genau«, sagte Yeshe mit einem Anflug von Dankbarkeit.

Shan musterte ihn einen Moment lang, schlug dann den Block auf und begann zu schreiben. Ich habe Yeshe, den Bürogehilfen der zentralen Gefängnisverwaltung des Bezirks Lhadrung, vor dem heutigen Tag noch nie getroffen. Ich handle auf direkte Anweisung von Oberst Tan, dem Leiter des Bezirks Lhadrung. Er hielt inne und fügte dann hinzu: Ich bin tief beeindruckt, wie sehr Yeshe sich der sozialistischen Reform verpflichtet fühlt. Er versah die Notiz mit Unterschrift und Datum. Dann reichte er das Blatt dem nervösen Tibeter, der die Sätze mit ernster Miene las, das Stück Papier zusammenfaltete und in die Tasche steckte.

»Bloß für heute«, sagte Yeshe, als wolle er sich selbst beruhigen. »Mir werden immer nur Tagesaufträge zugewiesen.«

»Direktor Zhong wird auf eine solch wertvolle Hilfskraft gewiß nicht länger als ein paar Stunden verzichten wollen.«

Yeshe zögerte kurz, als würde Shans Sarkasmus ihn verwirren. Dann zuckte er die Achseln, nahm die Liste und wurde sofort ganz sachlich. »Die Ärztin«, sagte er. »Fragen Sie nicht nach der Ärztin. Rufen Sie das Büro des Krankenhausleiters an. Sagen Sie, Oberst Tan brauche den medizinischen Bericht. Der Leiter hat ein Faxgerät. Weisen Sie ihn an, das Dokument sofort zu faxen, und zwar nicht an Sie, sondern an die Sekretärin des Direktors. Der Direktor ist nicht da. Ich werde mit ihr sprechen.«

»Er ist nicht da?«

»Ein Fahrer vom Ministerium für Geologie hat ihn abgeholt.«

Da erinnerte Shan sich an den fremden Geländewagen, der ihm nach dem Fund der Leiche aufgefallen war. »Warum sollte das Ministerium für Geologie die Baustelle der 404ten aufsuchen?«

»Weil sie sich auf einem Berg befindet«, entgegnete Yeshe lakonisch.

»Bitte?«

»Das Ministerium ist für die Berge zuständig«, merkte Yeshe beiläufig an und musterte die Namenliste. »Leutnant Chang. Sein Tisch steht am anderen Ende des Flurs. Die Sanitäter, die den Leichnam von den Wachen übernommen haben. Ihre Aussagen dürften im Lager Jadefrühling zu bekommen sein«, sagte er.

»Ich brauche einen offiziellen Wetterbericht für vorgestern«, sagte Shan. »Und eine Liste der ausländischen Touristengruppen, die im Lauf des letzten Monats nach Tibet einreisen durften. Der Chinesische Reisedienst in Lhasa müßte über entsprechende Unterlagen verfügen. Und sagen Sie dem Sergeanten, daß wir nachher noch einmal in die Stadt fahren müssen.«

Fünf Minuten später brachte Yeshe ihm die ersten Berichte, die noch warm vom Faxgerät waren. Shan las sie schnell und fing an zu schreiben. Er war beinahe fertig, als draußen plötzlich eine laut heulende Sirene einsetzte. Shan hatte dieses Signal während all seiner Zeit bei der 404ten erst ein einziges Mal gehört. Es bedeutete, daß man Gewehre an die Wachen austeilen würde. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Choje hatte begonnen, Widerstand zu leisten.

Der Oberst musterte Shan argwöhnisch, als er eine Stunde später mit dem Bericht vor Tans Schreibtisch erschien. Dann nahm er die Unterlagen und las sie.

Das Gebäude schien annähernd leer zu sein. Nein, nicht nur leer, stellte Shan fest, sondern entvölkert, verlassen, so wie kleine Säugetiere ihren Schlafplatz aufgeben, sobald das Raubtier auftaucht, das an der Spitze der Nahrungskette steht. Der Wind ließ die Scheiben klirren. Draußen war eine Krähe zu sehen, die von einem Schwarm kleinerer Vögel attackiert wurde.

Oberst Tan blickte auf. »Du hast mir hier die untergeordneten Berichte gebracht. Aber die Form ist unvollständig.«

»Ihnen liegen alle direkten Tatsachen der Ermittlungen vor. Und die daraus zu ziehenden Schlüsse, soweit möglich. Das ist alles, was ich tun kann. Sie werden jetzt einige Entscheidungen treffen müssen.«

Tan verschränkte die Hände über den Blättern. »Es ist schon sehr lange her, daß jemand sich über meine Autorität lustig gemacht hat. Genaugenommen kann ich mich sogar an keinen einzigen Fall erinnern, seit ich den Bezirk übernommen habe. Nicht, seitdem mir das schwarze Siegel verliehen wurde.«

Shan starrte zu Boden. Das schwarze Siegel bedeutete die Vollmacht, Todesurteile zu unterzeichnen.

»Ich hatte auf mehr gehofft, Genosse. Ich bin davon ausgegangen, du würdest gründliche Arbeit leisten und die Gelegenheit nutzen wollen, die ich dir geboten habe.«

»Nach Prüfung der Sachlage schien es keinen Grund für weitere Verzögerungen zu geben«, sagte Shan.

Tan nahm den Bericht und las vor: »Am fünfzehnten des Monats wurde hundertfünfzig Meter oberhalb der Drachenschlundbrücke um 16.00 Uhr eine männliche Leiche gefunden. Das unbekannte Opfer trug einen Kaschmirpullover und teure westliche Bluejeans. Schwarze Körperbehaarung. Zwei Operationsnarben am Unterleib. Darüber hinaus keine weiteren eindeutigen Kennzeichen. Das Opfer ist bei Nacht einen gefährlichen Grat emporgestiegen und hat ein plötzliches Trauma im Nacken erlitten. Keine direkten Hinweise auf die Beteiligung dritter Personen. Da in der Region niemand als vermißt gemeldet wurde, stammte das Opfer wahrscheinlich nicht aus der Umgegend und war eventuell ausländischer Herkunft. Beiliegend der medizinische Bericht und die Aussage des Sicherheitsoffiziers.«

Er blätterte um. »Mögliche Erklärungen für die Ursache der Verletzung. Erstes Szenario. Opfer ist in der Dunkelheit auf den Felsen gestolpert und auf rasiermesserscharfen Quarz gefallen, dessen geologisches Vorkommen in der Region bekannt ist. Zweitens. Ist auf Werkzeug gestürzt, das von der Baubrigade vergessen wurde. Drittens. War nicht an Hochgebirgsluft gewöhnt, hat plötzlichen Anfall von Höhenkrankheit erlitten, ist ohnmächtig geworden und hat sich Verletzungen zugezogen, wie unter Punkt eins oder zwei beschrieben.« Tan hielt inne. »Kein Meteorit? Der Meteorit hat mir gefallen. Der hatte so einen gewissen buddhistischen Beigeschmack von Vorherbestimmung aus einer anderen Welt.«

Er faltete erneut die Hände. »Du hast es versäumt, mir Schlußfolgerungen zu liefern. Du hast es versäumt, das Opfer zu identifizieren. Du hast es versäumt, mir einen Bericht vorzulegen, den ich unterschreiben kann.«

»Das Opfer zu identifizieren?«

»Es ist ein wenig peinlich, Fremde im Leichenschauhaus liegen zu haben. Man könnte das fälschlich für eine Nachlässigkeit halten.«

»Aber genau aus diesem Grund dürfte das Ministerium Ihnen keine Scherereien bereiten. Man kann Ihnen doch nicht vorwerfen, daß seine Familie sich nicht meldet.«

»Eine wie auch immer geartete Identifizierung würde weniger Aufmerksamkeit erregen. Und wenn schon kein Name, dann ein Anlaß.«

»Ein Anlaß?«

»Ein Beruf. Eine Adresse. Zumindest ein Grund für seine Anwesenheit. Madame Ko hat die amerikanische Firma angerufen, von der die Karte stammt. Diese Leute verkaufen Röntgengeräte. Sagen wir also, er hat Röntgenapparate verkauft.«

Shan schaute auf seine Hände. »Das ist alles nur Spekulation.«

»Für manche ist es Spekulation, für andere eine Meinung.«

Shan blickte hinaus auf die Schatten, die sich langsam über die Hänge der Drachenklauen legten. »Falls ich Ihnen ein perfektes Szenario liefern könnte«, sagte er langsam und verachtete sich selbst mit jedem Wort mehr, »das auch dem Ministerium gefallen würde, dürfte ich dann zurück zu meiner Einheit?«

»Das hier ist kein Tauschhandel.« Oberst Tan dachte eine Weile nach und zuckte dann die Achseln. »Ich hatte keine Ahnung, daß Zwangsarbeit süchtig macht. Es wird mir ein Vergnügen sein, dich wieder dem Direktor zu überlassen, Genosse Häftling.«

»Der Mann war ein Kapitalist aus Taiwan.«

»Kein Amerikaner?«

Shan erwiderte Tans Blick. »Wie wird das Büro für Öffentliche Sicherheit Ihrer Meinung nach wohl auf das Wort Amerikaner reagieren?«

Tan hob eine Augenbraue und nickte beipflichtend.

»Also ein Taiwanese«, sagte Shan. »Das wird nicht nur das Geld und die Kleidung erklären, sondern auch, warum er reisen konnte, ohne bemerkt zu werden. Sagen wir mal, es handelt sich um einen früheren Kuomintang-Soldaten, der hier eingesetzt war und aus sentimentalen Gründen zurückgekehrt ist. Er ist mit einer Reisegruppe nach Lhasa gekommen, hat sich auf eigene Faust auf den Weg gemacht und ist unerlaubt nach Lhadrung gereist. Die Regierung kann für die Sicherheit einer solchen Person auf gar keinen Fall verantwortlich gemacht werden.«

Tan dachte über Shans Worte nach. »Jemand könnte diese Angaben nachprüfen wollen.«

Shan schüttelte den Kopf. »In den letzten drei Wochen sind zwei Gruppen aus Taiwan in Lhasa zu Besuch gewesen. Der Bericht des Chinesischen Reisedienstes liegt bei. Falls Sie noch drei Tage mit der Überprüfung warten, werden die Gruppen sämtlich wieder zu Hause sein. Offiziell kann in Taiwan überhaupt nichts nachgeprüft werden. Die Öffentliche Sicherheit weiß sehr gut, daß derartige Gruppen oftmals für illegale Zwecke genutzt werden.«

Auf Tans Gesicht erschien das messerscharfe Lächeln. »Vielleicht habe ich dich zu vorschnell beurteilt.«

»Das wird ausreichen, um eine vollständige Akte anzulegen«, erklärte Shan. »Nachdem die Kontrolleure wieder abgereist sind, wird Ihr Ankläger wissen, was zu tun ist.« Noch während er redete, erinnerte er sich daran, daß Tan noch einen weiteren Grund hatte, den Fall so schnell wie möglich abzuschließen. Bevor der Oberst auf die Kontrollgruppe zu sprechen kam, hatte er Amerikaner erwähnt, die zu einem Besuch hierher unterwegs seien.

»Was wird denn noch zu tun sein?«

»Die ganze Sache muß in eine Morduntersuchung umgewandelt werden.«

Tan verzog das Gesicht, als hätte er etwas Bitteres gegessen. »Es war immerhin nur ein taiwanesischer Tourist. Wir sollten uns vor einer Überreaktion hüten.«

Shan hob den Kopf und sprach zu dem Foto von Mao. »Ich habe gesagt, dies sei ein perfektes Szenario. Verwechseln Sie es nicht mit der Wahrheit.«

»Der Wahrheit, Genosse?« fragte Tan mit einem Anflug von Ungläubigkeit.

»Schließlich müssen Sie sich am Ende immer noch auf die Suche nach einem Mörder machen.«

»Darüber werden der Ankläger und ich zu gegebener Zeit entscheiden.«

»Nicht unbedingt.«

Tan hob fragend eine Augenbraue.

»Sie können eine Akte anlegen, mit der sich die Angelegenheit ein paar Wochen verzögern läßt. Vielleicht können Sie die Berichte sogar ohne die notwendigen Unterschriften abschicken. Die Papiere werden womöglich einige Monate auf irgendeinem Tisch verstauben, bis jemand das Versäumnis bemerkt.«

»Und warum sollte ich so nachlässig sein, die Akte ohne Unterschriften zu verschicken?«

»Weil der Unfallbericht letzten Endes von der Ärztin unterschrieben werden muß, die die Autopsie durchgeführt hat.«

»Dr. Sung«, sagte Tan leise und mürrisch, als würde er ein Selbstgespräch führen.

»Der medizinische Bericht war ziemlich gründlich. Die Ärztin hat bemerkt, daß der Kopf fehlt.«

»Was willst du damit sagen?«

»Auch die Ärztin hat Vorgesetzte, denen sie Bericht erstattet und die wiederum selbst Rechenschaft ablegen. Ohne den Kopf wage ich zu bezweifeln, daß der medizinische Offizier Ihren Unfallbericht abzeichnen wird. Und ohne den Bericht wird das Ministerium die Angelegenheit schließlich untersuchen und als Mordfall einstufen.«

Tan zuckte die Achseln. »Ankläger Jao wird bald zurück sein.«

»Aber unterdessen läuft ein Mörder frei herum. Ihr Ankläger sollte die Zusammenhänge bedenken.«

»Zusammenhänge?«

»Zum Beispiel, daß der Mann von jemandem ermordet wurde, den er kannte.«

Tan zündete sich eine seiner amerikanischen Zigaretten an. »Das kann man gar nicht mit Gewißheit sagen.«

»Die Leiche wies keinerlei Spuren auf. Keine Anzeichen für einen Kampf. Er hat eine Zigarette mit jemandem geraucht. Er ist freiwillig den Abhang hochgeklettert. Seine Schuhe waren sauber.«

»Seine Schuhe?«

»Falls man ihn über den Boden geschleift hätte, wären sie staubig und zerkratzt gewesen. Falls man ihn getragen hätte, würden sich im Profil seiner Sohlen keine Felssplitter finden. Die Splitter sind im Autopsiebericht vermerkt.«

»Also hat ein Dieb sich einen Touristen geschnappt und ihn mit vorgehaltener Waffe den Hang hinaufgezwungen.«

»Nein. Er wurde nicht ausgeraubt - ein Dieb hätte wohl kaum zweihundert amerikanische Dollar übersehen. Und er ist auch nicht aus irgendeiner Laune heraus zur Südklaue gefahren oder weil ihn ein Unbekannter darum gebeten hat.«

»Also war es jemand, den er kannte«, räumte Tan ein. »Aber dann wäre es eine örtliche Angelegenheit. Und es wird niemand vermißt.«

»Vielleicht stammte der Mörder nicht direkt von hier, kannte aber einen der Ortsansässigen. Eine alte Fehde, die durch einen unerwarteten Besucher wieder aufflammt. Eine Verschwörung, die aufgedeckt wird. Plötzlich bietet sich die Gelegenheit, eine alte Rechnung zu begleichen. Haben Sie versucht, ihn zu erreichen?«

»Wen?«

»Den Ankläger. Eine der beunruhigenden Fragen, die ich nicht aufgeschrieben habe, lautet: Warum hat der Mörder gewartet, bis der Ankläger die Stadt verlassen hatte? Wieso ist das alles genau jetzt passiert?«

»Ich habe es dir bereits gesagt. Ich will darüber nicht am Telefon reden.«

»Was ist, falls noch etwas für die Zeit von Jaos Abwesenheit geplant wurde? Vor dem Eintreffen der Kontrollgruppe.«

Tan schenkte ihm inzwischen ungeteilte Aufmerksamkeit. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob er schon in Dalian eingetroffen ist.« Tan musterte die Glut seiner Zigarette. »Was sollte ich ihn deiner Meinung nach fragen?«

»Fragen Sie ihn nach schwebenden Verfahren. Hat er vielleicht Druck auf jemanden ausgeübt?«

»Ich verstehe nicht... «

»Ankläger schauen gern unter große Steine. Manchmal scheuchen sie ein Schlangennest auf.«

Tan blies eine Rauchwolke zur Decke. »Denkst du an eine besondere Schlangenart?«

»Potentielle Informanten werden ermordet. Komplizen verlieren das Vertrauen. Fragen Sie ihn, ob er an einem Bestechungsfall gearbeitet hat.«

Dieser Vorschlag gab Tan zu denken. Er drückte seine Zigarette aus und ging zum Fenster. Nachdem er eine Weile in die Landschaft geblickt hatte, hob er geistesabwesend ein Fernglas vor die Augen und richtete es auf den östlichen Horizont. »Wenn die Sonne an einem klaren Tag richtig steht, kann man die neue Brücke am Fuß des Drachenschlunds sehen. Weißt du, wer die gebaut hat? Wir waren das. Meine Ingenieure, ohne jede Hilfe aus Lhasa.«

Shan erwiderte nichts.

Tan setzte das Fernglas ab und zündete sich eine weitere Zigarette an. »Wieso Korruption?« fragte er und schaute weiterhin aus dem Fenster. Korruption war schon immer ein weitaus bedeutenderes Verbrechen als Mord gewesen. Zur Zeit der Dynastien wurden Morde manchmal lediglich mit Geldstrafen belegt. Wer jedoch den Kaiser bestahl, wurde stets in tausend Stücke gerissen.

»Der Tote war gutgekleidet«, erklärte Shan. »Er trug mehr Geld bei sich, als die meisten Tibeter in einem ganzen Jahr verdienen. Es gibt in Peking entsprechende Statistiken mit Querverweisen zwischen den Fällen. Natürlich alles geheime Verschlußsachen. Morden liegt typischerweise eine von zwei bestimmten Triebkräften zugrunde. Leidenschaft oder Politik.«

»Politik?«

»Pekings Wort für Korruption, denn Korruption hängt immer mit einem gewissen Machtstreben zusammen. Fragen Sie Ihren Ankläger, wenn Sie ihn erreichen können. Er wird es verstehen. Und bitten Sie ihn vorerst um eine Empfehlung.«

»Empfehlung?«

»Zur Auswahl eines echten Ermittlers, der gleich mit der Arbeit anfängt. Ich kann alles in die richtige Form bringen, aber die wahre Untersuchung muß beginnen, solange die Spuren noch frisch sind.«

Tan inhalierte und behielt den Rauch eine Zeitlang in der Lunge, bevor er wieder das Wort ergriff. »Langsam verstehe ich dich«, sagte er und ließ den Rauch hervorströmen. »Du löst Probleme, indem du größere erschaffst. Ich wette, das ist ein wesentlicher Grund dafür, warum du in Tibet bist.«

Shan antwortete nicht.

»Der Kopf ist über die Klippe gerollt. Wir werden ihn finden. Ich schicke morgen Suchtrupps los. Sobald wir ihn gefunden haben, werde ich Sung davon überzeugen, den Bericht zu unterschreiben.«

Shan starrte den Oberst weiterhin schweigend an.

»Du sagst, falls der Kopf nicht gefunden wird, erwartet das Ministerium von mir, daß ich ihnen einen Mörder präsentiere.«

»Natürlich«, stimmte Shan ihm zu. »Aber das wird nicht deren vordringliches Anliegen sein. Zunächst mal müssen Sie den gesellschaftsfeindlichen Akt präsentieren. Es hegt in Ihrer Verantwortung, ausführlich den sozialistischen Kontext zu schildern. Liefern Sie einen Kontext, und der Rest ergibt sich fast von allein.«

»Kontext?«

»Der eigentliche Mörder wird dem Ministerium relativ gleichgültig sein. Bei Bedarf finden sich immer genügend Verdächtige.« Shan wartete auf eine Reaktion. Tan zuckte mit keiner Wimper. »Was aber stets gesucht wird«, fuhr er fort, »ist die politische Erklärung. Eine Morduntersuchung ist eine Kunst für sich. Die wesentliche Ursache für Gewaltverbrechen ist der Klassenkampf.«

»Eben hast du noch gesagt die Leidenschaft. Und Korruption.«

»So lauten die streng geheimen Daten. Zum vertraulichen Gebrauch durch die Ermittler. Jetzt meine ich die sozialistische Dialektik. Die strafrechtliche Verfolgung eines Mords ist meistens ein öffentliches Phänomen. Sie müssen in der Lage sein, die Grundlage der hiesigen Ermittlungen zu erläutern. Und eine solche Erklärung ist stets politischer Natur. Darum geht es in erster Linie. Das sind die Beweise, die Sie brauchen.«

»Was soll das denn bedeuten?« knurrte Tan.

Shan richtete seinen Blick auf das Foto und sprach wieder zu Mao. »Stellen Sie sich ein Haus auf dem Land vor«, sagte er langsam. »Man findet eine Leiche. Der Tote wurde erstochen. In der Küche schläft ein Mann, der ein blutiges Messer in der Hand hält. Er wird verhaftet. Wo beginnen die Ermittlungen?«

»Bei der Waffe. Es muß untersucht werden, ob sie zu der Verletzung paßt.«

»Nein. Beim Schrank. Achten Sie immer auf den Schrank. Früher hätte man nach verbotenen Schriften gesucht. Nach Büchern in englischer Sprache oder westlicher Musik. Heute sucht man nach dem Gegenteil. Nach alten Stiefeln und schäbigen Kleidungsstücken, die im gleichen Versteck wie ein Buch mit den Sprüchen des Großen Vorsitzenden liegen, als Vorsorge für den Fall, daß die Parteibewegung einen neuen Aufschwung erlebt. Wie man es auch deutet, es läßt immerhin auf reaktionäre Zweifel am sozialistischen Fortschritt schließen.

Dann überprüft man das zentrale Parteiregister. Den Klassenhintergrund. Man findet heraus, daß der Verdächtige bereits eine Umerziehung hinter sich hat oder daß sein Großvater zu den ausbeuterischen Kaufleuten gehörte. Sein Onkel war womöglich ein Stinkender Neunter.« Shans Vater war ein Stinkender Neunter gewesen, die niederste Kreatur auf Maos Liste der schädlichen Elemente. Ein Intellektueller. »Vielleicht ist der Verdächtige aber auch ein Held der Arbeit. In dem Fall schaut man sich das Opfer genauer an«, fuhr er fort. Er erkannte schaudernd, daß er beinahe wörtlich einen Vortrag wiederholte, den er einst vor einem Seminar in Peking gehalten hatte. »Der sozialistische Kontext ist das wichtigste. Finde den reaktionären Ansatzpunkt und arbeite dich von da aus weiter vor. Eine Morduntersuchung ist zwecklos, solange sich daraus keine Parabel für das Volk ableiten läßt.«

Tan ging vor dem Fenster auf und ab. »Aber um das hier von uns abzuwenden, brauche ich lediglich einen Kopf.«

Etwas Eiskaltes schien Shans Rückgrat zu berühren. »Nicht bloß irgendeinen Kopf. Den Kopf.«

Tan lachte humorlos auf. »Ein Saboteur. Zhong hat mich gewarnt.« Er setzte sich und musterte Shan schweigend. »Warum willst du unbedingt zur 404ten zurück?«

»Dort gehöre ich hin. Es wird Ärger geben. Wegen der Leiche. Vielleicht kann ich helfen.«

Tans Augen verengten sich. »Was für Ärger?«

»Der jungpo«, sagte Shan sehr leise.

»Jungpo?«

»Übersetzt heißt es hungriger Geist. Eine Seele, die durch eine Gewalttat freigesetzt wird und nicht auf den Tod vorbereitet ist. Falls auf dem Berg keine Todesriten abgehalten werden können, wird der Geist am Ort des Mordes umgehen. Er wird wütend sein. Er wird Unglück bringen. Kein frommer Mann wird sich diesem Ort nähern.«

»Was für Ärger?« wiederholte Tan in schneidendem Tonfall.

»Die Männer der 404ten werden an einem solchen Ort nicht arbeiten. Er ist jetzt entweiht. Sie beten für die Erlösung des Geistes und erflehen eine Reinigung.«

Tans Augen begannen zornig zu funkeln. »Es wurde kein Streik gemeldet.«

»Der Direktor würde Ihnen niemals sofort Bescheid geben. Zunächst mal wird er auf eigene Faust versuchen, der Angelegenheit ein Ende zu bereiten. Die vordersten Gruppen haben vermutlich als erste die Arbeit eingestellt, und es hat bestimmt Unfälle gegeben. An die Wachposten wurden Waffen ausgeteilt.«

Tan eilte hastig zur Tür und rief Madame Ko zu, sie möge eine Verbindung zu Direktor Zhongs Büro herstellen. Er nahm den Anruf im Konferenzraum entgegen und behielt Shan durch die offene Tür im Blick.

Als er zurückkehrte, blitzten seine Augen wutentbrannt. »Ein Mann hat sich ein Bein gebrochen. Ein Wagen mit Vorräten ist über den Rand der Klippe gestürzt. Nach der Mittagspause hat die Brigade die Weiterarbeit verweigert.«

»Man muß den Priestern gestatten, die Zeremonien durchzuführen.«

»Unmöglich«, erwiderte Tan und trat erneut ans Fenster. Er nahm das Fernglas vom Fensterbrett und versuchte vergeblich, in der zunehmenden Dämmerung die Baustelle auf dem entfernten Hang auszumachen. Als er sich umdrehte, lag wieder die übliche Härte in seinem Blick. »Da hast du deinen Kontext. Wie hast du es genannt? Ein reaktionärer Ansatzpunkt.«

»Ich verstehe nicht.«

»Für mich riecht das nach Klassenkampf. Nach kapitalistischem Egoismus. Nach Kultanhängern, die ihren revisionistischen Freunden helfen wollen.«

»Die 404te?« fragte Shan voller Entsetzen. »Die 404te hatte damit nichts zu tun.«

»Aber du hast mich selbst davon überzeugt. Der Klassenkampf hat wieder einmal den sozialistischen Fortschritt behindert. Sie sind in den Streik getreten.«

Bei diesen Worten zog Shans Herz sich zusammen. »Das ist kein Streik, sondern eine rein religiöse Angelegenheit.«

Tan lächelte höhnisch. »Wenn Sträflinge die Arbeit verweigern, ist das ein Streik. Wir werden das Büro für Öffentliche Sicherheit davon in Kenntnis setzen müssen. Die Sache liegt nun nicht mehr in meinen Händen.«

Shan starrte ihn hilflos an. Über einen Toten in den Bergen würde das Ministerium vielleicht hinwegsehen. Über einen Streik in einem Arbeitslager jedoch niemals. Plötzlich stand sehr viel mehr auf dem Spiel.

»Du wirst eine neue Akte anlegen«, erklärte Tan. »Berichte über den Klassenkampf und darüber, wie die 404te diesen Tod herbeigeführt hat, um eine Ausrede für die Arbeitsverweigerung zu schaffen. Deine Ausführungen sollten eines Generalinspekteurs würdig sein, und das Ministerium sollte nicht den geringsten Zweifel an ihrer Wahrheit haben.« Er kritzelte etwas auf ein dickes braunes Blatt. Dann musterte er Shan einen Moment lang. Mit langsamer, förmlicher Geste brachte er sein Siegel auf dem Stück Papier an. »Du bist ab jetzt offiziell meinem Büro unterstellt. Ich gebe dir einen Wagen und den tibetischen Sekretär des Direktors. Feng wird euch im Auge behalten. Du hast die Erlaubnis, das Krankenhaus aufzusuchen, um dort Erkundigungen einzuziehen. Falls man dich fragt, bist du in vertraulicher Angelegenheit unterwegs.«

Shan beugte sich vor und schaute verzweifelt in Richtung der Drachenklauen. »Mein Bericht wäre wertlos«, sagte er leise. Er hatte sich mit der Akte beeilt, um so schnell wie möglich zur 404ten zurückkehren und Choje helfen zu können. Jetzt wollte Tan ihn dazu benutzen, noch größeres Unheil auf die Mönche herabzubeschwören. »Ich habe mich als unzuverlässig erwiesen.«

»Wir werden den Bericht unter meinem Namen einreichen.«

Shan starrte einen undeutlichen, vage vertrauten Geist an sein eigenes Abbild, das sich im Fenster spiegelte. Es geschah tatsächlich. Er wurde als niedere Lebensform wiedergeboren. »Dann wird einer unserer Namen entehrt werden«, flüsterte er krächzend.