172572.fb2
Das gelbgraue dreigeschossige Gebäude, in dem das Gesundheitskollektiv des Volkes untergebracht war, wirkte von außen weitaus steriler als von innen. In der Eingangshalle roch es nach Schimmel. Das Gemälde auf einer der Wände, das strahlende Proletarier auf Bulldozern und Traktoren zeigte, war rissig und blätterte ab. Auf dem Mobiliar lag der gleiche trockene Staub, der auch in den Baracken der 404ten vorherrschte. Der verblichene Linoleumboden und eine Wand waren von braunen und grünen Flecken übersät. Das einzige Lebewesen, das sie bei ihrem Eintreten bemerkten, war ein großer Käfer, der hastig in den Schatten huschte.
Madame Ko hatte angerufen. Ein kleiner, nervöser Mann in einem schäbigen Kittel erschien und führte Shan, Yeshe und Feng schweigend über eine schwach beleuchtete Treppe in einen Kellerraum hinunter, in dem sich fünf metallene Obduktionstische befanden. Als er die Schwingtüren aufstieß, brach der Ammoniak- und Formaldehydgestank wie eine Woge über ihren Köpfen zusammen. Der Geruch des Todes.
Yeshe hielt sich blitzartig die Hand vor den Mund. Sergeant Feng fluchte und suchte nach einer Zigarette. Die Wände waren mit den gleichen dunklen Flecken gesprenkelt, die Shan bereits im Erdgeschoß bemerkt hatte. Er folgte einer der Tropfspuren mit den Augen, einer Reihe brauner Spritzer, die vom Boden bis zur Decke verlief. An einer der Wände hing ein Plakat, das vom häufigen Falten ziemlich brüchig geworden war, und warb für eine Aufführung der Pekinger Oper. Das Datum lag bereits mehrere Jahre zurück. Mit einer Mischung aus Ekel und Angst wies ihr Begleiter auf den einzigen belegten Tisch. Dann verließ er den Raum und schloß die Tür hinter sich.
Yeshe drehte sich um und wollte dem Sanitäter folgen.
»Was ist los?« fragte Shan.
»Mir wird schlecht«, verteidigte Yeshe sich.
»Wir haben einen Auftrag. Sie werden ihn kaum erledigen können, falls Sie draußen auf dem Gang warten.«
Yeshe schaute zu Boden.
»Wo möchten Sie hin?« fragte Shan.
»Hin?«
»Im Anschluß. Sie sind jung. Sie sind ehrgeizig. Sie haben ein Ziel. Jeder in Ihrem Alter hat ein Ziel.«
»In die Provinz Sichuan«, sagte Yeshe mit argwöhnischem Blick. »Zurück nach Chengdu. Direktor Zhong hat mir gesagt, meine Papiere seien bereits fertig und er habe mir dort eine Anstellung verschafft. Die Leute können inzwischen eigene Wohnungen mieten. Man kann sogar Fernsehgeräte kaufen.«
Shan dachte kurz nach. »Wann hat der Direktor das gesagt?«
»Erst gestern abend. Ich habe noch immer Freunde in Chengdu. Parteimitglieder.«
»Großartig.« Shan zuckte die Achseln. »Sie haben ein Ziel, und ich habe ein Ziel. Je schneller wir fertig werden, desto eher geht es für uns beide weiter.«
Yeshe war der Unmut trotzdem deutlich anzusehen. Er betätigte einen Schalter an der Wand und erweckte eine Reihe nackter Glühlampen zum Leben, die über den Tischen hingen. Der mittlere Tisch schien regelrecht zu erstrahlen, denn sein weißes Laken war das einzige saubere und helle Objekt an diesem Ort. Sergeant Feng schaute auf das entlegene Ende des Raums und murmelte einen leisen Fluch. Unter einem besudelten Leintuch saß dort in einem rostigen Rollstuhl ein zusammengesackter Körper, dessen Kopf in unnatürlichem Winkel zur Seite hing.
»Die schieben dich einfach so in die Ecke«, brummte er verächtlich. »Da lobe ich mir die Armeehospitäler. Dort wirst du zumindest ordentlich in deiner Uniform aufgebahrt.«
Shan musterte noch einmal die Blutflecke. Das hier sollte doch eigentlich das Leichenschauhaus sein. Leichen hatten keinen Blutdruck mehr und konnten daher auch kein Blut verspritzen.
Der Körper auf dem Stuhl ächzte plötzlich, als hätte das Licht ihn zum Leben erweckt. Mit ungelenker Geste zog er das Leintuch beiseite und setzte sich eine dicke Hornbrille auf.
Feng keuchte erschrocken und wich zur Tür zurück.
Es handelte sich um eine Frau, erkannte Shan, und es war nicht etwa ein Leintuch, das sie bedeckte, sondern ein viel zu großer Kittel, aus dessen Falten sie ein Klemmbrett hervorholte.
»Wir haben doch den Bericht geschickt«, verkündete sie mit schriller, ungehaltener Stimme und stand auf. »Niemand hier begreift, weshalb Sie persönlich vorbeikommen mußten.« Dunkle Ringe um ihre Augen zeugten von tiefer Erschöpfung. Mit der rechten Hand hielt sie einen Bleistift wie einen Speer umklammert. »Manche Leute schauen sich gern Tote an. Ist es das? Mögen Sie es, Leichen anzustarren?«
Das Leben eines Mannes, so lehrte Choje seine Mönche, verlief nicht in linearer Progression, bei der jeder Tag ein gleichwertiges Blatt auf dem Kalender der Existenz bedeutet hätte. Es bewegte sich eher von einem maßgeblichen Moment zum nächsten und wurde durch jene Entscheidungen geprägt, die Auswirkungen auf die Seele hatten. Das hier war ein solcher Moment, dachte Shan. Er konnte entweder ab jetzt sofort für Tan den Schnüffler spielen und irgendwie versuchen, die 404te zu retten, oder er konnte sich um drehen, wie Choje dies befürworten würde, und Tan ignorieren, um allem treu zu bleiben, das auf dieser Welt auch nur entfernt als rechtschaffen galt. Er biß die Zähne zusammen und wandte sich an die kleine Frau.
»Wir müssen mit der Ärztin sprechen, von der die Autopsie vorgenommen wurde«, sagte Shan. »Dr. Sung.«
Die Frau brach in unerklärliches Gelächter aus. Aus einer anderen Falte ihres Kittels zog sie eine koujiao hervor, eine jener Operationsmasken, die ein Großteil der chinesischen Bevölkerung dazu benutzte, um sich während der Wintermonate vor Staub und Viren zu schützen. »Andere Leute. Andere Leute verursachen gern Schwierigkeiten.« Sie band sich die Maske vor den Mund und deutete auf einen Karton voller kiajiou, der auf dem nächstgelegenen Tisch stand. Beim Gehen wurde ein baumelndes Stethoskop zwischen den Falten des Kittels sichtbar.
Noch war es nicht zu spät. Noch gab es eine schmale Öffnung, durch die er sich hinauswinden könnte. Er mußte erreichen, daß die Ärztin den Unfallbericht unterschrieb. Ein durch die 404te verursachter Unfall würde Tans Zwecken genügen, ohne die Höllenqualen einer Morduntersuchung nach sich zu ziehen. Nach dieser Unterschrift mußte er eine Möglichkeit finden, daß die Todesriten für die verlorene Seele abgehalten werden konnten. Als Reaktion auf das politische Dilemma würde man die 404te für fahrlässiges Verhalten maßregeln können. Ein Monat ohne warme Verpflegung und vielleicht eine Herabsetzung aller Gefangenen. Bald würde Sommer sein; sogar die Alten konnten eine Herabsetzung überleben. Das war zwar keine perfekte Lösung, aber sie lag für ihn immerhin in Reichweite.
Während die Männer ihre Masken festbanden, zog die Ärztin das Tuch von der Leiche und nahm ein Klemmbrett vom Tisch.
»Der Tod ist fünfzehn bis zwanzig Stunden vor der Auffindung eingetreten, also am Abend zuvor«, las sie. »Todesursache: die gleichzeitige traumatische Durchtrennung von Halsschlagader, Drosselvene und Rückenmark. Zwischen dem obersten Halswirbel und dem Hinterhauptsbein.« Bei diesen Worten ließ sie ihren Blick über die drei Männer schweifen. Yeshe fiel als erster durch ihr Raster, denn er war unverkennbar tibetischer Abstammung. Dann musterte sie kurz Shans abgetragene Kleidung und entschied sich schließlich, Sergeant Feng anzusprechen.
»Ich dachte, man hätte ihn enthauptet«, wandte Yeshe zögernd ein und schaute kurz zu Shan herüber.
»Das habe ich doch gesagt«, herrschte die Frau ihn an.
»Der Todeszeitpunkt läßt sich nicht genauer feststellen?« fragte Shan.
»Die Leichenstarre war noch nicht abgeklungen«, sagte sie, wieder zu Feng. »Ich kann Ihnen garantieren, daß es der vorige Abend war. Aber darüber hinaus...« Sie zuckte die Achseln. »Die Luft ist so trocken. Und kalt. Der Körper war abgedeckt. Für eine genauere Angabe wäre eine ganze Anzahl von Tests erforderlich.«
Sie bemerkte Shans Gesichtsausdruck und warf ihm einen mürrischen Blick zu. »Das hier ist nicht unbedingt die Universität von Peking, Genosse.«
Shan schaute abermals zu dem Poster. »An der Bei Da hätte Ihnen ein Chromatograph zur Verfügung gestanden«, sagte er und benutzte die umgangssprachliche Bezeichnung der Pekinger Universität, wie sie hauptsächlich in Peking selbst gebräuchlich war.
Sie drehte sich langsam zu ihm. »Sie stammen aus der Hauptstadt?« Ihre Stimme hatte einen neuen Tonfall angenommen, der vorsichtigen Respekt erkennen ließ. In ihrem Land kam die Macht in vielerlei Formen daher. Man konnte gar nicht vorsichtig genug sein. Vielleicht würde das hier einfacher werden, als Shan gedacht hatte. Laß den Ermittler nur ganz kurz auferstehen, gerade lange genug, daß sie die Wichtigkeit des Unfallberichts verstehen wird.
»Mir wurde die Ehre zuteil, gemeinsam mit einem Professor der Gerichtsmedizin an der Bei Da einen Kurs zu geben«, sagte er. »Es war wirklich nur ein zweiwöchiges Seminar.
Ermittlungstechniken in der sozialistischen Gesellschaft.«
»Dann haben Sie es ja inzwischen weit gebracht.« Sie schien nicht in der Lage zu sein, ihren sarkastischen Anwandlungen zu widerstehen.
»Jemand war der Meinung, meine Technik sei zu sehr auf die Ermittlung und zu wenig auf den Sozialismus ausgerichtet.« Er sagte es mit einem Anflug von Reue, ganz wie man es ihm in den tamzing-Sitzungen beigebracht hatte.
»Und jetzt sind Sie hier«, stellte sie fest.
»Genau wie Sie«, erwiderte er.
Sie lächelte, als hätte er soeben eine besonders geistreiche Bemerkung gemacht. Einen kurzen Moment lang verschwanden die dunklen Augenringe. Shan erkannte, daß sich unter dem weiten Gewand ein schlanker Körper verbarg. Ohne die Spuren der Erschöpfung im Gesicht und ohne die streng im Nacken verknotete Frisur hätte man Dr. Sung problemlos für die adrette Ärztin eines Pekinger Krankenhauses halten können.
Schweigend umrundete sie einmal vollständig den Tisch und musterte erst Sergeant Feng und dann wieder Shan. Langsam kam sie auf Shan zu und packte plötzlich seinen Arm, als könnte er eventuell einen Fluchtversuch unternehmen. Er sträubte sich nicht, als sie seinen Ärmel hochschob und die eintätowierte Nummer auf seinem Unterarm betrachtete.
»Ein Kalfaktor?« fragte sie. »Wir haben hier einen Kalfaktor, der die Toiletten reinigt. Und ein anderer wischt das Blut auf. Aber bislang wurde noch keiner hergeschickt, um mich zu vernehmen.« Sie umkreiste ihn mit äußerster Neugier, als würde sie in Betracht ziehen, diesen seltsamen Organismus zu sezieren, der so unvermittelt vor ihr aufgetaucht war.
Sergeant Feng durchbrach die Stille mit einem gellenden heiseren Ausruf. Es war kein Wort, sondern eine Warnung. Yeshe hatte versucht, die Tür einen Spalt zu öffnen. Er hielt verlegen, aber unterwürfig inne, zog sich in eine Ecke des Raums zurück und kauerte sich vor die Wand.
Shan las den Bericht, der am Ende des Tisches hing. »Dr. Sung.« Er sprach ihren Namen ganz langsam aus. »Haben Sie irgendwelche Gewebeanalysen vorgenommen?«
Die Frau schaute zu Feng, als würde sie sich Hilfe von ihm erhoffen, aber der Sergeant zog sich kaum merklich von der Leiche zurück. Sie zuckte die Achseln. »Spätes mittleres Alter. Elf Kilo Übergewicht. Die Lunge im Anfangsstadium mit Teer verklebt. Eine stark angegriffene Leber, aber davon wußte er vermutlich noch nichts. Reste von Alkohol im Blut. Hat weniger als zwei Stunden vor seinem Tod eine Mahlzeit zu sich genommen. Reis. Kohl. Fleisch. Gutes Fleisch, kein Hammel. Vielleicht Lamm. Oder sogar Rind.«
Zigaretten, Alkohol, Rindfleisch. Die Kost der Privilegierten. Die Kost eines Touristen, tröstete er sich.
Feng stellte sich vor eine Anschlagtafel und tat so, als würde er eine Terminliste politischer Zusammenkünfte lesen.
Shan ging langsam um den Tisch herum und zwang sich, die enthauptete Leiche des Mannes zu betrachten, dessen unglückseliger Geist nun bei den Drachenklauen spukte, der die Arbeit der 404ten ins Stocken gebracht und den Oberst dazu verleitet hatte, Shan aus dem Gulag zu exhumieren. Mit seinem Bleistift schob er die leblosen gekrümmten Finger der linken Hand zurück. Sie war leer. Er ging weiter, hielt inne und schaute sich die Hand dann noch einmal an. An der Basis des Zeigefingers war eine dünne Linie zu sehen. Er drückte mit dem kleinen Radiergummi des Stifts dagegen. Es war ein Einschnitt.
Dr. Sung zog Gummihandschuhe an und nahm die Hand mit Hilfe einer kleinen Taschenlampe in Augenschein. Da sei noch ein zweiter Schnitt, verkündete sie, und zwar in der Handfläche direkt unterhalb des Daumens.
»In Ihrem Bericht stand nichts davon, daß Sie einen Gegenstand aus der Hand entfernt hätten.« Es mußte sich um ein kleines Objekt mit scharfen Kanten gehandelt haben, nicht größer als fünf Zentimeter im Durchmesser.
»Haben wir auch nicht.« Sie beugte sich über die Schnittwunde. »Was auch immer es war, man hat es ihm nach dem Tod aus der Hand gerissen. Kein Blut, kein Schorf. Es ist im Anschluß an die Tat passiert.« Sie betastete die Finger einen nach dem anderen und errötete vor Verlegenheit. »Zwei der Finger sind gebrochen. Die Hand ist sehr stark gequetscht worden. Man hat die im Tode verkrampften Finger gewaltsam geöffnet.«
»Um an den Gegenstand zu gelangen, den sie umklammert gehalten haben.«
»Vermutlich.«
Shan dachte über die Frau nach. Zwischen dem humanitären Dienst in den bedauernswerten Kolonien und der offenkundigen Verbannung lag in der chinesischen Bürokratie nur ein schmaler Grat. »Aber können Sie sich hinsichtlich der Todesursache so sicher sein? Vielleicht ist er bei einem Sturz gestorben, und der Kopf wurde erst später und aus einem anderen Grund entfernt.«
»Aus einem anderen Grund? Das Herz schlug noch, als der Mann enthauptet wurde. Andernfalls wäre sehr viel mehr Blut im Körper gewesen.«
Shan seufzte. »Womit denn dann? Einer Axt?«
»Die Tatwaffe war ziemlich schwer. Und rasiermesserscharf.«
»Möglicherweise ein Felsen?«
Dr. Sung reagierte mit einem verdrießlichen Stirnrunzeln und gähnte. »Aber sicher. Ein Felsen mit der Schärfe eines Skalpells. Es war kein einzelner Schlag. Aber auch nicht mehr als drei, würde ich sagen.«
»War er bei Bewußtsein?«
»Zum Zeitpunkt des Todes war er bewußtlos.«
»Ohne den Kopf können Sie das aber nicht mit Sicherheit sagen.«
»Seine Kleidung«, erwiderte Dr. Sung. »Es war fast gar kein Blut auf seiner Kleidung. Keine Haut oder Haare unter den Nägeln. Keine Kratzspuren. Es gab keinen Kampf. Man hat seinen Körper so hingelegt, daß das Blut von ihm wegfließen würde. Mit dem Gesicht nach oben. Wir haben auf dem Rücken seines Pullovers Erd- und Mineralpartikel gefunden. Nur auf dem Rücken.«
»Aber daß er bewußtlos war, ist nur eine Theorie.«
»Und wie lautet Ihre Theorie, Genosse? Daß er durch den Sturz auf einen Felsen gestorben ist und dann zufällig jemand vorbeikam, der Köpfe sammelt?«
»Wir sind hier in Tibet. Es gibt eine ganze Gesellschaftsschicht, deren Aufgabe darin besteht, Leichen zu zerteilen und für die Beseitigung zu sorgen. Vielleicht ist ein ragyapa vorbeigekommen und hat die Zeremonie für ein Himmelsbegräbnis begonnen, wurde dann aber gestört.«
»Wodurch?«
»Keine Ahnung. Durch die Vögel.«
»Die fliegen nachts nicht. Und ich habe noch keinen Geier gesehen, der groß genug gewesen wäre, um einen Schädel wegzuschleppen.« Sie zog ein Stück Papier vom Klemmbrett. »Sie müssen der Narr gewesen sein, der mir das hier geschickt hat«, sagte sie. Es war das Unfallberichtsformular, das auf ihre Unterschrift wartete.
»Der Oberst würde es gern sehen, wenn Sie das einfach nur unterzeichneten.«
»Ich arbeite nicht für den Oberst.«
»Das habe ich auch zu ihm gesagt.«
»Und?«
»Bei einem Mann wie dem Oberst ist das ein eher heikler Punkt.«
Sung warf ihm einen letzten wütenden, beinahe aggressiven Blick zu und riß das Formular dann schweigend in der Mitte durch. »Und wie heikel ist das?« Sie ließ die Stücke auf die nackte Leiche fallen und verließ den Raum.
Jilin der Mörder war offenbar stolz darauf, zum neuen Vorarbeiter der 404ten ernannt worden zu sein. Er ragte wie ein Riese drohend an der Spitze der Kolonne auf und hieb mit seinem Vorschlaghammer auf die Felsen ein. Hin und wieder hielt er kurz inne und wandte sich mit hämischem Gesichtsausdruck zu den kleinen Gruppen tibetischer Häftlinge um, die unterhalb von ihm auf dem Hang saßen. Shan musterte die anderen, ein Dutzend Chinesen und moslemische Uiguren, die normalerweise nicht zu den Bauarbeitern gehörten. Zhong hatte das Küchenpersonal zur Südklaue geschickt.
Shan entdeckte Choje, der kurz vor der Spitze im Lotussitz mit geschlossenen Augen im Zentrum eines Kreises aus Mönchen saß. Beabsichtigt war, Choje vor den drohenden Übergriffen der Wachen zu schützen. Letzten Endes würde es nur dazu führen, daß die Wachen noch viel wütender waren, wenn sie ihn erreichten.
Momentan allerdings saßen die Wachposten um die Lastwagen herum, rauchten und tranken Tee, den sie sich über einem offenen Holzfeuer kochten. Sie behielten nicht etwa die Häftlinge im Blick, sondern richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Straße, die aus dem Tal hinaufführte.
Jilins fröhliche Miene verschwand, als er Shan sah. »Es heißt, du seist jetzt ein Kalfaktor«, sagte er verärgert und verlieh dem Satz mit einem Schlag des Hammers Nachdruck.
»Nur für ein paar Tage. Ich komme zurück.«
»Du verpaßt ja alles. Dreifache Rationen, wenn du arbeitest. Die werden den verdammten Heuschrecken die Flügel stutzen. Der Stall wird aus allen Nähten platzen. Wir werden Helden sein.« Heuschrecken. Eine verächtliche Bezeichnung für die tibetischen Einheimischen. Wegen des eintönig summenden Geräusches ihrer Mantras.
Shan musterte die vier kleinen Steinhaufen, mit denen man den Fundort der Leiche markiert hatte. Langsam umrundete er die Stelle und fertigte auf seinem Block eine Zeichnung davon an.
Sung hatte recht. Genau hier war es passiert. Hier hatte der Mörder sein Opfer abgeschlachtet. Er hatte den Mann getötet und den Inhalt seiner Taschen über den Rand der Klippe geworfen. Aber wieso hatte er die Hemdtasche unter dem Pullover ausgelassen, in der das amerikanische Geld steckte? Weil seine Hände so blutig waren und das weiße Hemd so sauber, beantwortete Shan sich die Frage.
»Warum ist er erst den langen Weg aus der Stadt hergekommen und hat dann die Leiche nicht in den Abgrund geworfen? Man hätte sie nie gefunden.« Die Frage kam von hinten. Yeshe war Shan den Abhang hinaufgefolgt. Das war das erste Mal, daß der Tibeter Interesse an ihrem Auftrag erkennen ließ.
»Die Leiche sollte gefunden werden.« Shan kniete sich hin und schob die restlichen Steine von dem rostfarbenen Fleck.
»Weshalb dann Steine darüber aufschichten?«
Shan drehte sich um und sah erst zu Yeshe und dann zu den Mönchen, die ihn inzwischen nervös beobachteten. Jungpos kamen nur nachts heraus. Am Tag jedoch versteckten die hungrigen Geister sich in kleinen Felsspalten oder unter Steinen.
»Ansonsten hätten die Wachen den Toten vielleicht schon aus einiger Entfernung bemerkt.«
»Aber sie haben ihn doch trotzdem entdeckt«, wandte Yeshe ein.
»Nein. Zuerst haben ihn die Häftlinge gefunden. Die Tibeter.«
Shan ließ den beunruhigten Yeshe neben den Steinhaufen stehen und ging zu Jilin. »Ich brauche deine Hilfe. Du sollst mich über die Kante hinablassen.«
Jilin ließ den Hammer sinken. »Du hast wohl den Verstand verloren.«
Shan wiederholte die Bitte. »Nur für ein paar Sekunden. Da drüben.« Er wies mit ausgestrecktem Finger in die Richtung. »Halt mich an den Knöcheln fest.«
Jilin folgte Shan gemächlich zur Kante und grinste einfältig. »Hundertfünfzig Meter. Jede Menge Zeit zum Nachdenken, bevor du aufschlägst. Und dann ergeht es dir wie einer Melone, die man mit einer Kanone abgeschossen hat.«
»Nur ein paar Sekunden, dann holst du mich wieder hoch.«
»Warum?«
»Wegen des Goldes.«
»Blödsinn«, stieß Jilin hervor. Dann allerdings beugte er sich mit einem mißtrauischen Seitenblick über den Rand. »Verdammt«, sagte er und schaute überrascht auf. »Verdammt«, wiederholte er, kam aber sogleich auf einen anderen Gedanken. »Ich brauche dich nicht.«
»Doch, du brauchst mich. Du kannst es von hier oben nicht erreichen. Wem vertraust du so weit, daß er dich festhalten soll?«
Jilin schien plötzlich zu verstehen. »Und warum vertraust du mir?«
»Weil ich dir das Gold geben werde. Ich schaue es mir genau an, und dann gebe ich es dir.« Das einzig Verläßliche an Jilin war seine Habgier.
Kurz darauf hing Shan kopfüber an seinen Knöcheln über dem Abgrund. Sein Bleistift fiel ihm aus der Tasche und stürzte wirbelnd ins Leere. Er schloß die Augen, als der lachende Jilin ihn wie die Marionette eines Kindes ruckartig auf und ab hüpfen ließ. Aber als er sie wieder öffnete, lag das Feuerzeug direkt vor ihm.
Einen Moment später befand er sich wieder oben. Das Feuerzeug stammte aus westlicher Fertigung, war jedoch mit einem eingravierten chinesischen Ideogramm verziert, das für ein langes Leben stand. Shan hatte solche Feuerzeuge schon zuvor gesehen; sie wurden oft bei Parteitreffen als Andenken verschenkt. Er hauchte es an, so daß die Oberfläche beschlug. Keine Fingerabdrücke.
»Gib es mir«, knurrte Jilin. Er behielt die Wachen im Auge.
Shan schloß die Finger darum. »Sicher. Im Tausch gegen etwas anderes.«
Jilins Blick flammte wütend auf. Er hob die Faust. »Ich reiß dich in Stücke.«
»Du hast dem Toten etwas abgenommen. Er hatte es in der Hand. Das will ich haben.«
Jilin schien darüber nachzudenken, ob ihm genug Zeit bleiben würde, das Feuerzeug zu schnappen, wenn er Shan über die Kante stieß.
Shan trat aus seiner Reichweite. »Ich glaube nicht, daß es wertvoll war«, sagte Shan. »Dies hier hingegen..« Er entzündete die Flamme. »Schau nur!« Er hob das Feuerzeug und erhöhte dadurch das Risiko, daß die Wachen es bemerkten.
Jilin griff unverzüglich in seine Tasche und holte eine kleine Scheibe aus mattiertem Metall hervor. Er ließ sie in Shans Handfläche fallen und griff nach dem Feuerzeug. Shan hielt es fest. »Eine Frage noch.«
Jilin knurrte wütend und schaute den Abhang hinunter. So gern er Shan jetzt auch zerquetschen würde, das leiseste Anzeichen eines Kampfes würde die Wachen auf den Plan rufen.
»Deine professionelle Meinung.«
»Professionell?«
»Als Mörder.«
Jilins Brust schwoll vor Stolz. Auch sein Leben hatte maßgebliche Momente. Sein Griff lockerte sich.
»Warum hier?« fragte Shan. »Warum so weit außerhalb der Stadt, um dann die Leiche so auffällig zurückzulassen?«
Eine beunruhigende Sehnsucht zeichnete sich auf Jilins Gesicht ab. »Das Publikum.«
»Publikum?«
»Jemand hat mir einmal von einem Baum erzählt, der in den Bergen umstürzt. Er verursacht kein Geräusch, wenn niemand da ist, der ihn hört. Ein Mord, den niemand zu würdigen weiß? Was hätte der für einen Sinn? Ein guter Mord braucht ein Publikum.«
»Die meisten Mörder, die ich kenne, bevorzugen die Abgeschiedenheit.«
»Ich meine nicht Zeugen, sondern diejenigen, von denen die Tat entdeckt wird. Ohne Publikum kann es kein Verzeihen geben.« Er sagte die Worte sorgfältig auf, als hätte man sie ihm während der tamzing-Sitzungen eingetrichtert.
Er hatte recht, erkannte Shan. Die Leiche war deswegen von den Häftlingen entdeckt worden, weil der Mörder genau das beabsichtigt hatte. Er hielt inne und sah Jilin in die wild funkelnden Augen. Dann ließ er das Feuerzeug los und musterte die Scheibe. Sie war nach außen gewölbt und maß fünf Zentimeter im Durchmesser. Kleine Schlitze am oberen und unteren Rand deuteten darauf hin, daß hier ein Riemen eingefädelt werden sollte und die Scheibe daher als Verzierung gedacht war. Am Rand verlief eine tibetische Inschrift, deren altertümliche Buchstaben Shan nicht entziffern konnte. In der Mitte befand sich das stilisierte Abbild eines Pferdekopfes. Der Kopf hatte Fangzähne.
Als Shan sich Choje näherte, tat sich in dem schützenden Kreis ein Lücke für ihn auf. Er war sich nicht sicher, ob er warten sollte, bis der Lama seine Meditation beendet hatte. Aber als Shan neben ihm Platz nahm, öffnete Choje die Augen.
»Im Fall eines Streiks gibt es ein ganz bestimmtes Verfahren, Rinpoche«, sagte Shan leise. »Aus Peking. Es ist in einem Buch niedergeschrieben. Streikende erhalten die Gelegenheit, zu bereuen und ihre Bestrafung zu akzeptieren. Andernfalls wird man versuchen, alle auszuhungern. An den Führern werden Exempel statuiert. Nach einer Woche kann der Streik eines lao gai-Gefangenen zum Kapitalverbrechen erklärt werden. Falls man gerade in großzügiger Stimmung ist, wird man jede der Haftstrafen einfach nur um zehn Jahre verlängern.«
»Peking wird tun, was es tun muß«, lautete die erwartete Antwort. »Und wir werden tun, was wir tun müssen.«
Shan musterte die Männer schweigend. Sie wirkten nicht ängstlich, sondern stolz. Er deutete auf die Wachen unterhalb des Hangs. »Ihr wißt, worauf die Wachposten warten.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Vermutlich sind sie bereits unterwegs. So nah an der Grenze wird es nicht lange dauern.«
Choje zuckte die Achseln. »Solche Leute warten immer auf irgend etwas.« Einige der Mönche, die dicht in ihrer Nähe standen, lachten leise.
Shan seufzte. »Der Tote hatte das hier in der Hand.« Er reichte Choje das Medaillon. »Ich glaube, er hat es seinem Mörder abgerissen.«
Als Chojes Augen sich auf die Scheibe richteten, blitzten sie wissend auf. Dann verhärtete sich sein Blick. Er fuhr mit dem Finger über die Inschrift, nickte und gab den Anhänger an die Mönche weiter. Laute des Erstaunens ertönten. Die Männer reichten die Scheibe im Kreis herum und ließen sie nicht mehr aus den Augen.
Shan wußte, daß zwischen Mörder und Opfer kein wirklicher Kampf stattgefunden hatte. In diesem Punkt hatte Dr. Sung recht. Aber es hatte einen Moment gegeben, vielleicht nur einen winzigen Augenblick der Erkenntnis, in dem das Opfer den Täter erst gesehen und dann berührt hatte. Als es bewußtlos geschlagen wurde, streckte es die Hand aus und packte die Scheibe.
»Es hat Gerüchte über ihn gegeben«, sagte Choje. »Oben, im Hochgebirge. Ich war mir nicht sicher. Manche haben behauptet, er hätte uns im Stich gelassen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Früher waren sie oft unter uns.« Die Augen des Lama blieben auf die Scheibe gerichtet. »Als die dunklen Jahre kamen, haben sie sich tief in die Berge zurückgezogen. Aber die Leute sagten, sie würden eines Tages zurückkehren.«
Choje schaute wieder zu Shan. »Tamdin. Das Medaillon stammt von Tamdin. Man nennt ihn den Pferdeköpfigen. Er ist einer der Geisterbeschützer.« Choje hielt inne, rezitierte einige Mantras und ließ dabei die Perlen seiner Gebetskette durch die Finger gleiten. Dann blickte er verwundert auf. »Dieser Mann ohne Kopf. Er wurde von einem unserer Schutzdämonen geholt.«
In diesem Moment tauchte Yeshe am Rand des Kreises auf. Verlegen musterte er die Mönche, als sei er peinlich berührt oder gar verängstigt. Er schien nicht gewillt oder in der Lage zu sein, den Kreis zu betreten. »Man hat etwas gefunden«, rief er, seltsamerweise außer Atem. »Der Oberst wartet an der Kreuzung.«
Eine der ersten Straßen, die von der 404ten gebaut worden waren, zog sich rund um das Tal und verband die alten Pfade miteinander, die zwischen den hohen Kämmen aus dem Gebirge herführten. Die Straße, auf der die beiden Fahrzeuge nun hinauf in die Drachenklauen fuhren, war einst einer dieser Pfade gewesen und noch immer so unwirtlich, daß sie zu einem Flußbett wurde, wenn im Frühling das Tauwetter hereinbrach. Zwanzig Minuten nachdem sie das Tal verlassen hatten, bog Tans Wagen auf einen unbefestigten Weg ein, der unlängst von einem Bulldozer angelegt worden war. Sie erreichten ein kleines einsames Plateau. Shan musterte den hochgelegenen windumtosten Kessel durch die Scheibe. Auf seinem Grund entsprang dicht neben einer einzelnen riesigen Zeder eine kleine Quelle. Nach Norden hin war das Plateau geschlossen. Im Süden öffnete es sich und gab den Blick auf achtzig Kilometer schroffe Berge frei. Für einen Tibeter wäre dies ein Ort der Macht, an dem vielleicht ein Dämon hauste.
Als Feng den Wagen abbremste, kam ein langer Schuppen mit einem übergroßen Schornstein in Sicht. Man hatte ihn erst kürzlich errichtet und dazu Sperrholzplatten aus irgendeinem anderen Gebäude verwendet. Auf den Wänden waren als Überbleibsel der früheren Benutzung die Reste aufgemalter Ideogramme zu sehen, so daß die Hütte wie ein Puzzle aus nicht zusammengehörigen Teilen wirkte. Hinter dem Gebäude standen mehrere vierrädrige Fahrzeuge und ein halbes Dutzend Offiziere. Die Männer nahmen Haltung an, als Tan aus seinem Wagen stieg.
Der Oberst beriet sich kurz mit den Soldaten und winkte Shan zu sich heran, während er hinter dem Schuppen verschwand. Yeshe und Feng stiegen ebenfalls aus und wollten Shan folgen. Einer der Offiziere schaute alarmiert auf und befahl ihnen, zurück in den Wagen zu klettern.
Sechs Meter hinter der Hütte befand sich ein Höhleneingang, an dessen Rändern irische Meißelspuren zu sehen waren. Man hatte ihn vor kurzem erweitert. Einige der Offiziere steuerten in einer Reihe auf die Höhle zu. Tan brüllte einen Befehl, woraufhin sie innehielten, um zwei grimmig blickenden Soldaten Platz zu machen, die auf Anweisung des Obersts mit elektrischen Lampen vorangingen. Shan folgte Tan und den beiden Soldaten in die Höhle, während die anderen Männer zurückblieben und ihnen nervös flüsternd hinterherschauten.
Die ersten dreißig Meter bestanden aus einem engen, gewundenen Tunnel, in dem zahllose Hinterlassenschaften darauf hindeuteten, daß er einigen Raubtieren als Unterschlupf gedient hatte. Man hatte die Abfälle beiseite geschoben, um Platz für die Karren zu schaffen, deren Radspuren in der Mitte des Pfads zu sehen waren. Dann öffnete der Gang sich in eine sehr viel größere Kammer. Tan blieb so abrupt stehen, daß Shan beinahe mit ihm zusammengestoßen wäre.
Jahrhunderte zuvor hatte man die Wände verputzt und mit den Gemälden riesiger Kreaturen versehen. Als Shan die Bilder anstarrte, verspürte er einen Stich im Herzen. Es lag nicht an dem Gefühl der Entweihung, weil Tan und seine Hunde hier waren. Shans gesamtes Leben hatte aus einer Vielzahl solcher Übertretungen bestanden. Es lag auch nicht an den furchterregenden Abbildungen der Dämonen, die in den zitternden Lichtkegeln der von den Soldaten gehaltenen Scheinwerfer vor ihren Augen zu tanzen schienen. Solche Ängste waren gar nichts im Vergleich zu den Schrecken, die Shan in der 404ten kennengelernt hatte.
Nein. Es lag an der Art und Weise, wie diese alten Gemälde Shan Ehrfurcht einflößten, wie sie ihn mit Scham erfüllten und ihn sich danach sehnen ließen, bei Choje zu sein. Sie waren so bedeutend, und er war so klein. Sie waren so schön, und er war so abstoßend. Sie waren so perfekt tibetisch, und er war so perfekt gar nichts.
Die Männer gingen näher heran, bis etwa fünfzehn Meter der Wand in Licht getaucht waren. Als die satten, vollen Farbtöne deutlicher hervortraten, begann Shan, die Bilder wiederzuerkennen. In der Mitte befanden sich vier sitzende Buddhas, nahezu in Lebensgröße. Zunächst der Gelbe Juwelgeborene Buddha, dessen linke Hand in einer gebenden Geste geöffnet war. Dann der Rote Buddha des Grenzenlosen Lichts, der auf einem außerordentlich detailliert gestalteten Pfauenthron saß. Daneben befand sich der Grüne Buddha, der in der Linken ein Schwert hielt und die Rechte mit der Handfläche nach außen erhoben hatte, dem mudra, dem Symbol zur Vertreibung der Angst. Und schließlich gab es noch eine blaue Gestalt, den Unerschütterlichen Buddha, wie Choje ihn nannte, auf dessen Thron Elefanten gemalt waren und dessen rechte Hand nach unten wies und das erdberührende mudra formte. Es war ein mudra, das Choje oftmals den neuen Gefangenen beibrachte und das die Erde zur Bezeugung ihres Glaubens anrief.
Zu den Seiten der Buddhas befanden sich Gestalten, die Shan weniger vertraut waren. Sie hatten die Körper von Kriegern, schwangen Bögen, Äxte und Schwerter und standen über menschlichen Gebeinen. Auf der linken Seite, und damit am dichtesten neben Shan, war eine kobaltblaue Figur mit dem Kopf eines wütenden Stiers abgebildet. Um den Hals trug sie einen Kranz aus Schlangen. Um die Figuren herum war eine Armee von sehr viel kleineren Skeletten gemalt worden.
Plötzlich verstand Shan. Das waren die Beschützer des Glaubens. Als er vortrat, bemerkte er, daß die Füße des Tigerdämons verfärbt waren. Nein, nicht verfärbt. Jemand hatte grob versucht, einen Teil des Wandgemäldes herauszumeißeln. Es war ihm nicht geglückt, und nun lag ein kleiner Haufen bunten Mörtels unterhalb der Gestalt auf dem Boden.
Das Licht an dieser Stelle wurde schwächer. Die Soldaten gingen entlang der Wand ans andere Ende der riesigen Kammer. Zwei weitere Dämonen tauchten auf. Der erste war grünhäutig, mit dickem Bauch und dem Schädel eines Affen. In der einen Hand hielt er einen Bogen, mit der anderen schwang er drohend einen Knochen. Die letzte Gestalt war eine rote Bestie mit vier Fangzähnen, die aus einem wütend aufgerissenen Maul hervorragten. Über ihrem goldenen Haar erhob sich der kleine grüne Kopf eines wilden Pferds, und ein Tigerfell lag über eine der Schultern drapiert. Die Bestie stand inmitten lodernder Flammen, und um sie herum waren Knochen verstreut. Shans Hand krampfte sich um die Scheibe in seiner Tasche, das Schmuckstück, das man dem Mörder abgerissen hatte. Er widerstand der Versuchung, die Scheibe hervorzuholen. Die Bilder des reißzahnbewehrten Pferds stimmten überein, dessen war er gewiß.
Die Lichter schwenkten von der Wand weg und richteten sich auf Oberst Tans Stiefel, so daß er auf einmal genauso unheimlich und überlebensgroß wirkte wie ein weiterer Dämon. »Die Sachlage hat sich verändert«, verkündete er plötzlich.
Shan musterte die entschlossenen Gesichter ihrer Begleiter. Sein Herz zog sich erneut zusammen. Er wußte, was Männer wie Tan an solchen Orten zu tun pflegten. Sie befanden sich hier tief im Berg. Draußen würde nichts zu hören sein. Kein Schrei. Kein Schuß. Man würde nichts hören, und man würde hinterher nichts finden. Jilin irrte sich. Nicht alle Morde wurden verübt, um Vergebung zu erlangen.
Tan reichte Shan ein gefaltetes Stück Papier. Es war seine Kopie von Shans Unfallbericht. »Wir werden das nicht benutzen«, sagte er.
Mit zitternder Hand nahm Shan das Blatt entgegen.
Tan folgte den Soldaten zu einem Seitengang. Bevor er eintrat, drehte er sich um und bedeutete Shan ungeduldig, er möge ihnen folgen. Shan schaute zurück. Es gab keinen Fluchtweg. Draußen warteten weitere zwanzig Soldaten. Voller Verzweiflung blickte er noch einmal zu den Gemälden. Wüßte er doch nur, wie man die Dämonen um Hilfe anflehte! Langsam folgte er den anderen.
In dem Tunnel lag ein schwaches Aroma in der Luft. Es roch nicht nach Weihrauch, sondern nach dem Staub, der übrigbleibt, wenn der Duft des Weihrauchs längst verflogen ist. Zwei kleine Schutzdämonen waren wie Wächter auf beide Wände gemalt.
Nach etwa drei Metern tauchten Regale auf, die man vor Jahrzehnten oder sogar vor Jahrhunderten aus stabilem Holz gefertigt hatte. Sie waren fast einen halben Meter tief und bestanden auf beiden Seiten jeweils aus vier Böden, die mit Pflöcken an senkrechten Streben befestigt waren. Während der ersten zehn Meter befand sich nichts darin. Ab dann jedoch waren sie vom Boden bis zur Decke vollgestopft. Ihr schimmernder Inhalt reichte weiter in den Berg hinein als der Lichtstrahl der Lampen.
Ein furchtbarer Schrecken durchzuckte Shan. »Nein!« rief er schmerzerfüllt aus.
Auch Tan blieb abrupt stehen. »Ich habe vor ein paar Wochen von diesem Fund gelesen«, sagte er beinahe flüsternd. »Aber ich hätte es mir nie so beeindruckend vorgestellt.«
Es waren Schädel. Hunderte von Schädeln. Schädel so weit Shan blicken konnte. Jeder lag in einem kleinen, halbkreisförmigen Altar, der aus religiösen Ornamenten und Butterlampen bestand. Und jeder war mit Gold überzogen.
Tan tippte einen der Schädel vorsichtig mit der Fingerspitze an und nahm ihn dann in die Hand. »Eine Gruppe Geologen hat die Höhle entdeckt. Zuerst dachten sie, es handle sich um Plastiken, bis sie einen davon umgedreht haben.« Er machte es vor und klopfte mit dem Finger gegen das Schädelinnere. »Bloß Knochen.«
»Begreifen Sie denn nicht, was das hier für ein Ort ist?« fragte Shan völlig entsetzt.
»Natürlich. Eine Goldmine.«
»Geweihter Boden«, widersprach Shan. Er legte die Hände um den Schädel, den Tan hielt. »Das heiligste aller Artefakte.« Tan gab nach, und Shan legte den Schädel zurück an seinen Platz im Regal. »Manche Klöster haben die Schädel ihrer am höchsten verehrten Lamas konserviert. Die lebenden Buddhas. Dies ist ihr Schrein. Mehr als ein Schrein. Dieser Ort hat große Macht. Er muß jahrhundertelang benutzt worden sein.«
»Man hat für die Kulturarchive eine Bestandsaufnahme vorgenommen«, sagte Oberst Tan.
Plötzlich erkannte Shan mit furchtbarer Gewißheit, was hier vor sich ging. »Der Schornstein.« Die Worte glichen einem trockenen Krächzen.
»In den fünfziger Jahren wurde in Tientsin ein komplettes Stahlwerk mit dem Erlös des Goldes errichtet, das man aus tibetischen Tempeln gerettet hatte«, behauptete Tan. »Das war ein großer Dienst am Volk. Man hat eine Gedenktafel angebracht, die der tibetischen Minderheit dankt.«
»Das hier ist ein Grab. Sie...«
»Ressourcen sind äußerst knapp«, fiel Tan ihm ins Wort. »Sogar die Knochenfragmente wurden als Nebenprodukt eingestuft. Eine Düngemittelfabrik in Chengdu hat eingewilligt, sie zu kaufen.«
Sie standen schweigend da. Shan kämpfte gegen das Verlangen an, auf die Knie zu sinken und ein Gebet zu sprechen.
»Wir werden sie in die Wege leiten«, sagte Tan. »Ganz offiziell. Die Morduntersuchung.«
Plötzlich fiel Shan alles wieder ein. Er schaute auf den Bericht in seiner Hand. Sein Herz raste. Tan hatte einen anderen Ermittler aufgetrieben. Jetzt wollte er die Spuren seines Fehlstarts beseitigen.
»Die Untersuchung wird in meinem Namen durchgeführt. Du bist jetzt kein Kalfaktor mehr«, sagte Tan langsam. Irgend etwas vor ihnen erregte seine Aufmerksamkeit. »Genaugenommen weiß niemand darüber Bescheid. Du wirst mein...«, er suchte nach einem passenden Begriff, »... mein Sachbearbeiter sein. Mein Rechercheur.«
Shan trat verwirrt einen Schritt zurück. Hatte Tan ihn wirklich nur deshalb in die Höhle gebracht, um ihn zu verspotten?
»Ich kann den Bericht umformulieren. Ich habe mit Dr. Sung gesprochen. Aber die 404te ist das Problem. Ich kann dort von größerem Nutzen sein.«
Tan hob abwehrend die Hand. »Ich habe darüber nachgedacht. Einen Wagen hast du bereits. Ich kann mich darauf verlassen, daß mein alter Kamerad Sergeant Feng ein Auge auf dich hat. Du kannst sogar deinen zahmen Tibeter behalten. Eine leere Baracke im Lager Jadefrühling wird soeben hergerichtet. Dort wirst du schlafen und arbeiten.«
»Sie geben mir Bewegungsfreiheit?«
Tan musterte weiterhin die Schädel. »Du wirst nicht fliehen.« Als er kurz zu Shan blickte, funkelten seine Augen grausam. »Weißt du auch, warum du nicht fliehen wirst? Mir ist das Vergnügen von Direktor Zhongs Ratschlag zuteil geworden.« Er drehte sich mit mürrischer, ungehaltener Miene zu Shan um. »Auf den höchsten Pässen liegt noch immer Schnee. Nasser Schnee, der schnell schmilzt. Es besteht Lawinengefahr. Falls du wegläufst oder meinen Bericht nicht fristgerecht ablieferst, werde ich eine Gruppe der 404ten dort hinschicken. Deine Gruppe. Auf die Klippen oberhalb der Straßen, um zu sehen, ob die Hänge abrutschen. Zur 404ten gehören nach wie vor einige der alten Lamas, die in den sechziger Jahren verhaftet wurden. Ich werde Zhong anweisen, mit ihnen anzufangen.«
Shan starrte ihn entsetzt an. Das einzig Verläßliche an Tan schien der Zwang zu sein, Angst und Schrecken zu verbreiten. »Sie haben sie mißverstanden«, sagte er nahezu flüsternd. »An meinem ersten Tag in der 404ten wurde ein Mönch aus dem Stall gebracht. Er war dort wegen der Anfertigung einer unerlaubten Gebetskette bestraft worden. Zwei seiner Rippen und drei Finger waren gebrochen. Man konnte in dem Fleisch an seinen Knöcheln noch immer die Abdrücke der Zange sehen. Aber er war heiter und gelassen. Er hat sich nie beklagt. Ich habe ihn gefragt, weshalb er keinen Zorn verspürt. Wissen Sie, was er gesagt hat? >Wenn man cfen richtigen Weg beschreitet und durch Hindernisse in die Lage versetzt wird, den Glauben unter Beweis zu stellen, ist dies für den wahren Gläubigen ein höchst erfüllendes Erlebnis. <«
»Du bist derjenige, der hier etwas mißverstanden hat«, erwiderte Tan. »Ich kenne diese Leute genauso gut wie du. Mit physischer Kraft werden wir sie niemals unterwerfen können. Andernfalls wären meine Gefängnisse nicht so voll. Du wirst nicht fliehen, aber nicht, weil sie den Tod fürchten, sondern weil du fürchtest, für ihren Tod verantwortlich zu sein.«
Tan ging noch einmal sechs Meter den Gang entlang, bis zu der Stelle, an der die Männer mit den Scheinwerfern stehengeblieben waren. Die zwei Soldaten wirkten verstört und ängstlich. Einer der beiden zitterte. Als Shan die Gruppe erreichte, nahm Tan eine der Lampen und richtete sie auf das dritte Regalbrett. Dort lag zwischen zwei der goldenen Schädel ein weiterer Kopf, der zweifellos erst kürzlich an diesem Ort plaziert worden war. Das dichte schwarze Haar, das Fleisch und der Unterkiefer waren noch vorhanden. Die braunen Augen standen offen. Er schien die Besucher spöttisch und gelangweilt anzusehen.
»Genosse Shan«, verkündete Tan, »ich darf dich mit Jao Xengding bekannt machen, dem Ankläger des Bezirks Lhadrung.«