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Das Licht der Hochgebirgssonne explodierte förmlich in seinen Augen, als Shan die Höhle verließ. Er taumelte vorwärts und hielt sich schützend die Hand vor das Gesicht, so daß er den Streit eher hörte als sah. Jemand schrie Tan mit unverhohlener Wut an. Während Shan sich den Stimmen näherte, gewann er langsam das Sehvermögen zurück. Er erstarrte.
Man hatte Tan überrumpelt. Er stand mit dem Rücken in eine Ecke gedrängt, die aus dem Schuppen und einem der Lastwagen gebildet wurde. Die Gestalt, die ihn drangsalierte, schien ihn völlig überrascht zu haben. Er selbst und auch alle anderen Anwesenden auf dem Gelände wirkten wie paralysiert.
Sein Gegner war nicht nur eine Frau und sprach Englisch, sie hatte zudem porzellanfarbene Haut, kastanienbraunes Haar und war größer als alle Chinesen, die vor ihr standen. Tan sah zum Himmel empor, als hielte er Ausschau nach dem unheilvollen Wirbelwind, der sie abgesetzt haben mußte.
Shan trat wie betäubt einen Schritt näher. Die Frau trug schwere Wanderstiefel und amerikanische Bluejeans. Ein kleiner, teurer japanischer Fotoapparat hing um ihren Hals.
»Ich habe ein Recht darauf, wütend zu sein«, rief sie. »Wo ist das Religionsbüro? Wo ist Ihre Genehmigung?«
Shan ging um die Hütte herum. Neben Tans rotbeflaggter Limousine stand ein weißer Geländewagen mit Allradantrieb. Shan trat hinter das Auto, wo der Oberst ihn nicht mehr sehen konnte, die Stimme der Frau aber noch klar und deutlich zu hören war. Er lauschte ihr mit stiller Freude. Während seiner Pekinger Zeit hatte er einmal pro Woche eine westliche Tageszeitung gelesen, um die Sprachkenntnisse aufzufrischen, die sein Vater ihn heimlich gelehrt hatte. Inzwischen jedoch war es drei Jahre her, daß er zum letztenmal ein englisches Wort gehört oder gelesen hatte.
»Die Kommission wurde nicht unterrichtet!« fuhr sie fort. »Das Religionsbüro ist nicht vor Ort vertreten! Ich rufe Wen Li an! Ich verständige Lhasa!« Ihre Augen funkelten zornig. Sogar aus sechs Metern Entfernung erkannte Shan, daß sie grün waren.
Shan ging um den weißen Wagen herum; es handelte sich um einen amerikanischen Jeep, eine sehr viel neuere Ausgabe des Modells, das Feng fuhr. Am Steuer saß ein nervös wirkender Tibeter, der eine Brille mit dickem schwarzen Gestell trug. Auf der Fahrertür befand sich ein Symbol, eine Zeichnung der beiden gekreuzten Nationalflaggen Amerikas und Chinas, die oben und unten auf chinesisch und englisch von den Worten Mine der Sonne flankiert wurde.
»Sie ist wirklich hübsch, wenn sie wütend wird«, sagte jemand hinter ihm in perfektem Mandarin, aber der Sprachrhythmus war nicht chinesisch.
Shan glitt zur Seite, um einen Blick auf den Mann zu werfen. Es war ein schlanker, hochgewachsener Westler mit langem strohblonden Haar, das er im Nacken zu einem kurzen Zopf zusammengebunden hatte. Er trug eine Brille mit goldfarbenem Metallgestell und eine blaue daunengefütterte Nylonweste, auf der das gleiche Emblem wie auf dem Wagen zu sehen war. Nachdem er einen amüsierten Seitenblick auf Shan geworfen hatte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau, zog ein seltsames rechteckiges Objekt aus der Tasche und hob es an den Mund. Es war eine Mundharmonika, erkannte Shan plötzlich, als der Amerikaner ein Lied zu spielen begann.
Er spielte ganz passabel, aber vor allem spielte er sehr laut. Viele traditionelle amerikanische Lieder waren in China ziemlich beliebt, und Shan erkannte die Melodie sofort. »Home on the Range«.
Einige der Soldaten lachten. Die Amerikanerin warf ihrem Begleiter einen beleidigten Blick zu. Aber Tan war ganz und gar nicht belustigt. Als die Frau ihre Kamera hob und auf die Höhle richtete, wachte er schlagartig aus seiner Erstarrung auf. Er murmelte einen Befehl, und sogleich sprang einer seiner Männer vor und hielt die Linse des Apparates mit der Hand zu. Der Amerikaner mit der Mundharmonika spielte weiter, aber sein Blick verhärtete sich. Er ging ein paar Schritte auf die Frau zu, als könnte sie seinen Schutz benötigen. Shan sah, wie zwei von Tans Offizieren stillschweigend ihre Position veränderten, so daß sie zwischen dem Amerikaner und der Höhle blieben.
»Miss Fowler«, sagte Tan auf Mandarin. Er hatte sich wieder gänzlich unter Kontrolle. »Die Verteidigungsanlagen der Volksbefreiungsarmee sind streng geheim. Sie haben kein Recht, sich hier aufzuhalten. Ich könnte Sie jetzt verhaften lassen.« Der Bluff war alles andere als unglaubhaft. In Tibet waren mehr chinesische Atomwaffen stationiert als in jeder anderen Region des Landes.
Die Frau starrte ihn schweigend an, aber ihre Augen funkelten noch immer herausfordernd. Der Amerikaner ließ die Mundharmonika sinken und antwortete auf englisch, obwohl er Tan offensichtlich verstanden hatte. »Nur zu«, sagte er und streckte die Handgelenke aus, »verhaften Sie uns. Das wird die Vereinten Nationen mit Sicherheit interessieren.«
Oberst Tan warf dem Amerikaner einen gereizten Blick zu, flüsterte einem seiner Offiziere etwas ins Ohr und lächelte die Frau dann mürrisch an. »So sollten Freunde sich nicht benehmen. Rebecca, nicht wahr? Bitte, Rebecca, machen Sie sich bewußt, in welche Schwierigkeiten Sie sich und Ihre Begleiter gerade bringen.«
Jemand packte Shan am Arm und zerrte ihn auf den Wagen zu, in dem nach wie vor Yeshe und Feng saßen. »Oberst Tan sagt, ihr müßt verschwinden. Sofort«, drängte der Soldat.
Shan ließ sich zu dem Auto führen, aber an der Tür riß er sich los und drehte sich noch einmal zu der merkwürdigen Frau um. Zunächst warf sie ihm nur einen flüchtigen Blick zu. Dann wandte sie sich erneut in seine Richtung und musterte ihn nachdenklich, vielleicht weil ihr bewußt wurde, daß Shan an diesem Ort der einzige Chinese ohne Uniform war. Ihre grünen Augen ließen auf einen wachen, rastlosen Verstand schließen. Eine Frage schien sich in ihrer Miene zu manifestieren. Noch bevor Shan herausfinden konnte, ob diese Frage sich auf hn bezog, wurde er in den Wagen gestoßen.
Auf seinem Tisch im Gebäude der Gefängnisverwaltung erwartete ihn bereits eine Akte. Madame Ko hatte sie persönlich vorbeigebracht, und auf dem Umschlag stand »Bekannte Unruhestifter/Bezirk Lhadrung«. Es war eine alte Akte, die vom häufigen Gebrauch zahlreiche Eselsohren davongetragen hatte, und sie war in vier Kategorien unterteilt. Drogensüchtige Kultanhänger lautete die erste Überschrift. Sie ging auf die wunderliche Meinung der Polizei zurück, daß fanatische Rituale mit Drogenmißbrauch einhergehen würden. In den großen chinesischen Städten war man schon vor einigen Jahren wieder davon abgerückt. Jugendbanden. Die fünfzehn aufgeführten Personen waren allesamt älter als dreißig Jahre. Kriminelle Wiederholungstäter. Die Liste umfaßte jeden aus Lhadrung, der irgendwann in einem lao gai-Gefängnis gesessen hatte, fast dreihundert Namen. Kulturelle Agitatoren. Dies war bei weitem die längste Liste. Hinter jedem Namen wurde entweder ein gompa oder die Bezeichnung »nicht registriert« aufgeführt. Es handelte sich ausschließlich um Mönche. Viele davon hatte man vor einigen Jahren während der Daumen-Aufstände verhaftet. Ein Dutzend der nicht registrierten Mönche war mit einem zusätzlichen Eintrag versehen: Möglicher purba. Shan war verwirrt. Ein purba war ein ritueller Dolch, der bei tibetischen Zeremonien benutzt wurde. Er blätterte bis zum Ende der Akte weiter. Keine Liste der mordlustigen Schutzdämonen.
Er nahm den Hörer des Telefons ab. Madame Ko meldete sich nach dem dritten Klingeln. »Sagen Sie dem Oberst, es wird noch eine weitere Autopsie nötig sein.«
»Autopsie?«
»Er muß Dr. Sung in der Klinik davon berichten.«
»Ach, hätte ich das doch nur vorher gewußt«, seufzte sie. »Ich war nämlich gerade erst dort.«
»Sie sind im Krankenhaus gewesen?«
»Ich sollte etwas dort abliefern, also bin ich schnell hingegangen. Es war in Zeitungspapier und Plastiktüten eingewickelt. Damit der Kohl frisch bleibt, hat er gesagt.«
Shan starrte den Hörer an. »Danke, Madame Ko«, murmelte er.
»Gern geschehen, Xiao Shan«, sagte sie fröhlich und legte auf.
Xiao Shan. Die Worte ließen ihn sich plötzlich einsam fühlen, denn er hatte sie schon seit vielen Jahren nicht mehr gehört. Seine Großmutter hatte ihn so genannt; es war die altertümliche Anrede für eine jüngere Person. Kleiner Shan.
Er ertappte sich dabei, wie er hinaus ins Hauptbüro starrte und einem Arbeiter beim Anspitzen von Bleistiften zusah. Ihm war ganz entfallen, wie viele tausend kleine Dinge dort draußen zur täglichen Routine gehörten, und sei es nur das Anspitzen eines Bleistifts. Er biß die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Frage an, die kein Gefangener im Gulag sich zu stellen wagte: War er in der Lage, jemals wieder dort draußen zu leben? Nicht, ob er je freigelassen würde, denn jeder Häftling mußte an eine zukünftige Entlassung glauben, sondern wer er sein würde, wenn man ihn freiließ. Alle kannten die Geschichten über einstige Sträflinge, die niemals wieder zurechtkamen, die zu verängstigt waren, um ihr Bett zu verlassen, oder die auf ewig gebeugt gingen, als trügen sie noch immer Ketten, so wie das Pferd, das nie wieder wegzulaufen versucht, nachdem man ihm einmal die Vorderbeine zusammengebunden hat. Warum gab es niemals Geschichten über Häftlinge, die sich nach der Freilassung erfolgreich wieder eingliedern konnten? Vielleicht weil so schwer zu verstehen war, was der Begriff Erfolg für einen Überlebenden des Gulags bedeutete. Shan erinnerte sich an Chojes letzte Worte zu Lokesh, nachdem die beiden dreißig Jahre in derselben Gefängnisbaracke zugebracht hatten. »Du mußt lernen, wieder du selbst zu sein«, hatte Choje gesagt, während Lokesh an seiner Schulter weinte.
Er schlug seinen Notizblock auf. Auf dem letzten Blatt waren sie noch immer zu lesen. Der Name seines Vaters. Sein eigener Name. Ohne nachzudenken, zeichnete er ein weiteres Schriftzeichen, eine komplexe Figur, die mit einem Kreuz begann, in dessen Vierteln kleine Striche auf die Mitte wiesen. Sie standen für gedroschenen Reis und verbanden sich zu dem Piktogramm einer lebenden Pflanze über dem Herd eines Alchimisten. Zusammen bedeuteten sie Lebens-Kraft. Das war eines der Lieblingsideogramme seines Vaters gewesen. An dem Tag, als sie kamen, um ihm seine Bücher wegzunehmen, hatte er es auf die staubige Fensterscheibe gezeichnet. Choje hatte Shan das entsprechende Zeichen in tibetischer Schrift gelehrt. Aber Choje nannte es anders: die Unbeugsame Macht des Seins.
Vor dem Tisch bewegte sich etwas. Shan klappte den Block zu und bedeckte ihn instinktiv mit den Händen. Es war aber nur Feng, der aufstand, weil Leutnant Chang sich näherte.
Chang wies auf Shan und lachte. Dann beugte er sich zu Feng und sprach leise mit ihm. Shan starrte an ihnen vorbei ins Büro und sah den einfarbigen Gestalten bei ihren verschiedenen Tätigkeiten zu.
Als er den Block wieder aufschlug, erinnerte er sich an das einundzwanzigste Kapitel des Taoteking und schrieb zwei Zeilen daraus an das Ende seiner Ermittlungsnotizen. Im Zentrum liegt die Lebenskraft, hieß es dort. Im Zentrum der Lebenskraft liegt die Wahrheit.
Er stellte den Block aufgeklappt vor sich hin, so daß der Vers zu sehen war, und musterte ihn nachdenklich. Jeder Fall besitzt eine eigene Lebenskraft, eine eigene Essenz, ein eigenes grundlegendes Motiv, hatte er einst seinen Untergebenen eingeschärft. Finde diese Lebenskraft, und du findest die Wahrheit.
Shan bemerkte ein leises Geräusch vor sich. »Was machen Sie da?« fragte Yeshe und schaute sich unsicher zu Sergeant Feng um. »Ich stehe hier schon seit fünf Minuten.« Er hielt einen Teller mit drei großen momo-Klößen. Das Hauptbüro hinter ihm war leer und dunkel.
Die momos waren die erste Mahlzeit, die Shan an diesem Tag zu Gesicht bekam. Er wartete, bis Feng sich umdrehte, stopfte sich zwei davon in die Tasche und schlang den dritten hinunter. Der Kloß war köstlich und mit echtem Fleisch gefüllt. Er stammte vermutlich aus der Küche der Wachen, denn die momos der Häftlinge wurden mit grobem Getreide vollgestopft, worunter stets eine große Portion Gerstenspreu gemischt war. Während seines ersten Winters hatte man die momos mit gemahlenen Maiskolben gefüllt, wie sie sonst nur an Schweine verfüttert wurden, weil in jenem Jahr eine Dürre den Ernteertrag geschmälert hatte. Mehr als ein Dutzend Mönche waren an der Ruhr und an Unterernährung gestorben. Die Tibeter hatten einen eigenen Ausdruck für diese Art des Hungertods, der Tausende von Opfern gefordert hatte, als anfangs beinahe die gesamte geistliche Bevölkerung Tibets im Gefängnis saß. Tod durch die momo-Kugel. Nach der Dürre hatte die Tibetische Freundschaftsvereinigung, eine buddhistische Wohlfahrtsorganisation, die Erlaubnis erhalten, den Gefangenen zweimal pro Woche eine Mahlzeit zu bringen. Direktor Zhong hatte es als große Versöhnungsgeste bezeichnet und dabei überaus fröhlich getan. Shan war davon überzeugt, daß der Direktor die eigentlich für die Häftlingsverpflegung bestimmten Gelder in die eigene Tasche steckte.
»Ich habe unser Gespräch mit Dr. Sung zusammengefaßt«, sagte Yeshe steif und schob zwei Seiten maschinengeschriebenen Text über den Tisch.
»Mehr haben Sie nicht erledigt?«
Yeshe zuckte die Achseln. »Man arbeitet noch immer an den Vorratsunterlagen. Es gab Schwierigkeiten mit den Computern.«
»Die verschwundenen Vorräte, von denen Sie erzählt haben?«
Yeshe nickte.
Shan dachte weiter über die Notizen nach und schaute geistesabwesend auf »Was für Vorräte?«
»Ein Lastwagen mit Kleidung. Ein weiterer mit Nahrungsmitteln. Etwas Baumaterial. Vermutlich stimmen bloß die Listen nicht. Irgend jemand hat zu viele Wagen gezählt, als sie im Depot von Lhasa losgefahren sind.«
Shan hielt inne und fügte seinem Block eine weitere Notiz hinzu.
»Aber das hat doch nichts hiermit zu tun«, wandte Yeshe ein.
»Sind Sie sicher?« fragte Shan. »Den Großteil meiner Arbeit in Peking habe ich mit Korruptionsfällen zugebracht. Wenn die Armee darin verwickelt war, habe ich immer zuerst bei der zentralen Nachschubverwaltung angefragt, denn deren Auskünfte waren stets verläßlich. Wenn dort Lastwagen, Raketen oder Bohnen gezählt wurden, war nicht nur ein Mann damit betraut. Man schickte gleich zehn, und jeder zählte dieselben Lieferungen ab.«
Yeshe zuckte die Achseln. »Heutzutage benutzen sie Computer. Ich bin wegen meines nächsten Auftrags hergekommen.«
Shan musterte Yeshe. Der Tibeter war nicht viel älter als sein eigener Sohn, und ebenso wie sein Sohn war auch er so klug und wurde so nutzlos verschwendet. »Wir müssen Jaos Aktivitäten rekonstruieren. Zumindest die letzten paar Stunden.«
»Mit seiner Familie sprechen, meinen Sie?«
»Er hatte keine Familie. Nein, wir müssen in der Stadt das mongolische Restaurant aufsuchen, in dem er an jenem Abend gegessen hat. Sein Haus. Sein Büro, falls man uns läßt.«
Yeshe hatte inzwischen einen eigenen Notizblock. Er schrieb fieberhaft mit, was Shan sagte, machte dann kehrt wie ein Soldat beim Exerzieren und verließ den Raum.
Shan arbeitete noch eine Stunde, las die Namenslisten, schrieb Fragen und mögliche Antworten in seinen Block, von denen jede unpräziser als die letzte wirkte. Wo befand sich Jaos Wagen? Wer hatte ein Interesse am Tod des Anklägers? Warum, überlegte er schaudernd, schien Choje so überzeugt davon zu sein, daß der Dämon wirklich existierte? Wieso hatte der Ankläger des Bezirks Lhadrung wie ein Tourist gewirkt? Weil er eine Reise antreten wollte? Nein. Weil er amerikanische Dollars und eine amerikanische Firmenkarte in der Tasche hatte. Wie wütend mußte dieser Mörder sein, um das Opfer sorgfältig so weit wegzulocken, nur um es dann zu enthaupten? Das konnte keine Affekthandlung gewesen sein. Oder doch? Könnte ein normales Treffen im Streit geendet haben? Jao wurde niedergeschlagen, und in Panik nahm sein Gegner eine Schaufel, um den Ankläger mit einem einzigen gräßlichen Akt zu töten? Um dann den Kopf fast zehn Kilometer weit zu dem Schädelschrein zu schleppen? Bekleidet mit einem Kostüm? Nein, das war keine blinde Wut, sondern die Tat eines Fanatikers, der sich für seine Sache ereiferte. Aber was für eine Sache? Politik? Oder eher Leidenschaft? Oder war es ein Akt der Huldigung gewesen, Ankläger Jao an solch einem heiligen Ort abzulegen? Shan warf den Bleistift auf den Tisch und ging zur Tür. »Ich muß zurück zu meiner Hütte«, sagte er zu Sergeant Feng.
»Kommt nicht in Frage«, erwiderte Feng.
»Demnach werden Sie und ich, Sergeant, die Nacht hier verbringen?«
»Niemand hat etwas gesagt. Wir gehen nicht vor morgen ins Lager Jadefrühling.«
»Niemand hat etwas gesagt, weil ich ein Häftling bin, der in seiner Hütte schläft, und Sie ein Wachposten sind, der in seiner Unterkunft schläft.«
Feng verlagerte sein Gewicht unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Sein rundes Gesicht schien sich zusammenzuziehen, und er blickte zu der Fensterreihe am anderen Ende des Gangs, als würde er hoffen, einen zufällig vorbeikommenden Offizier um Rat fragen zu können.
»Ich kann hier auf dem Boden schlafen«, sagte Shan. »Aber was ist mit Ihnen? Wollen Sie die ganze Nacht wach bleiben? Dafür bräuchten Sie einen besonderen Befehl. Ohne Befehle bleibt die übliche Routine bestehen.«
Shan holte einen der momos hervor, die er eingesteckt hatte, und streckte ihn Feng entgegen.
»Du kannst mich nicht mit Essen bestechen«, grunzte der Sergeant und musterte den momo mit offensichtlichem Interesse.
»Das ist keine Bestechung. Wir sind doch ein Team. Ich möchte, daß Sie morgen guter Dinge sind. Wir werden in die Berge fahren.«
Feng nahm den Kloß und fing an, ihn mit kleinen, vorsichtigen Bissen zu verzehren.
Draußen lag eine totenähnliche Stille über dem Lager. Kein Windhauch störte die frostige, frische Luft. Von oben ertönte der einsame Schrei eines einzelnen Ziegenmelkers.
Sie blieben am Tor stehen. Feng war noch immer unschlüssig. Von der Felswand hallte ein schwaches Klirren wider, das weit entfernte Klimpern von Metall auf Metall. Sie lauschten einen Moment und hörten noch ein anderes Geräusch, ein leises metallisches Rattern. Feng erkannte es als erster. Er stieß Shan durch das Tor, schloß es ab und lief auf das Unterkunftsgebäude der Wachen zu. Der 404ten stand die nächste Stufe der Bestrafung unmittelbar bevor.
Shan bot Choje den letzten momo an.
Der Lama lächelte. »Du arbeitest härter als wir anderen. Du brauchst dein Essen selbst.«
»Ich habe keinen Appetit.«
»Zwanzig Rosenkränze für die Lüge«, sagte Choje gutmütig und legte den momo zwischen die Altarmarkierungen auf den Boden. Der khampa sprang vor, kniete nieder und verbeugte sich, bis seine Stirn den Boden berührte. Choje wirkte überrascht. Er nickte, und der khampa stopfte sich den Kloß in den Mund. Er stand auf und verneigte sich vor Choje. Dann hockte er sich neben die Tür. Der katzengleiche khampa war der neue Wächter.
Plötzlich wurde Shan klar, daß die anderen Gefangenen nicht mit ihren Gebetsketten beschäftigt waren. Sie saßen über ihre Betten gebeugt und schrieben auf die Rückseiten von Etiketten oder auf den Rand der seltenen Zeitungen, die manchmal von der Freundschaftsvereinigung mitgebracht wurden. Ein paar der Männer schrieben mit Bleistiftstummeln. Die meisten benutzten kleine Stücke Holzkohle.
»Rinpoche«, sagte Shan. »Sie sind eingetroffen. Bis morgen früh werden sie die Wachen abgelöst haben.«
Choje nickte langsam. »Diese Männer - tut mir leid, wie ist das Wort, mit dem die Truppen der Öffentlichen Sicherheit so häufig bezeichnet werden?«
»Kriecher.«
Choje lächelte belustigt. »Diese Kriecher«, fuhr er fort, »sind nicht unser Problem. Sie sind das Problem des Direktors.«
»Man hat den Toten identifiziert«, verkündete Shan. Mehrere der Priester blickten auf. Er schaute sich um, während er sprach. »Sein Name war Jao Xengding.«
Schlagartig senkte sich eisiges Schweigen über die Hütte.
Chojes Hände formten ein mudra. Es war eine Anrufung des mitfühlenden Buddhas. »Ich sorge mich um seine Seele.«
»Möge er in der Hölle verrotten«, ertönte eine Stimme aus dem Schatten.
Choje blickte tadelnd auf und wandte sich dann seufzend wieder an Shan. »Ihm steht ein schwieriger Übergang bevor.«
Trinle meldete sich unvermutet zu Wort. »Seine Taten werden ihm zu schaffen machen. Und die gewaltsamen Umstände seines Todes. Er konnte nicht angemessen darauf vorbereitet sein.«
»Er hat viele Leute ins Gefängnis geschickt«, warf Shan ein.
Trinle sah ihn an. »Er muß von diesem Berg verschwinden.«
Shan öffnete den Mund, um seinen Freund zu berichtigen, aber dann begriff er, daß nicht von Jaos Körper die Rede war.
»Wir werden für ihn beten«, sagte Choje. »Solange seine Seele den Übergang noch nicht geschafft hat, müssen wir beten.«
Solange seine Seele den Übergang noch nicht geschafft hat, wird er auch weiterhin die 404te bestrafen, dachte Shan.
Ein Mönch brachte eines der Etiketten und legte es Choje zur Begutachtung vor. Er musterte es und sprach leise mit dem Mann, der daraufhin den Fetzen zurück zu seinem Bett mitnahm und wieder daran zu arbeiten begann.
In diesem Moment sah Shan den alten Choje wieder so vor sich wie bei ihrem ersten Treffen: Shan kniete im Schlamm, und Choje kam quer über den Platz auf ihn zu, ohne die Wachen zu beachten. Er wirkte so heiter und gelassen, als würde er über eine Wiese schlendern, um einen verletzten Vogel zu retten.
Shan war völlig am Boden zerstört, als die Aufseher ihn zum erstenmal ins Lager der 404ten brachten. Drei Monate Verhöre, verbunden mit einer politischen Therapie, die rund um die Uhr dauerte, hatten ihn physisch und mental zerrüttet. Die Öffentliche Sicherheit hatte ihn am Ende seiner letzten Untersuchung abgefangen, unmittelbar bevor er einen überaus speziellen Bericht an den Staatsrat abschicken wollte, anstatt an seinen offiziellen Vorgesetzten, den Wirtschaftsminister. Anfangs hatten sie ihn einfach nur zusammengeschlagen, bis ein Arzt der Öffentlichen Sicherheit Bedenken wegen eventueller Hirnschäden anmeldete. Dann hatten sie Bambussplitter benutzt, aber diese Methode hatte solch bestialische Schmerzen hervorgerufen, daß Shan ihre Fragen nicht mehr hören konnte. Also hatten sie sich subtilerer Methoden bedient und schließlich chemische Präparate anstatt der üblichen Folterwerkzeuge eingesetzt, was weitaus schlimmer war, denn so konnte er sich kaum daran erinnern, was er ihnen bereits erzählt hatte.
Er hatte in seiner Zelle im moslemischen Teil Chinas gesessen - bei einer Gelegenheit war ihm durch das Fenster eines Raums ein kurzer Blick auf die endlosen Weiten der Wüste vergönnt gewesen, was bedeuten mußte, daß er sich im Westen des Landes befand - und die taoistischen Verse seiner Jugend rezitiert, um seinen Geist am Leben zu erhalten. Man hielt Shan ständig die von ihm begangenen Delikte vor, las manchmal während der tamzing-Sitzungen wie ein Lehrer vor den Schülern endlose Parolen von Wandtafeln ab oder schleuderte ihm die Aussagen von Zeugen entgegen, deren Namen er noch nie gehört hatte. Verrat. Korruption. Diebstahl von Staatseigentum in Form der Akten, die er sich geliehen hatte. Er hatte nur verschwommen gelächelt, denn die wahre Natur seiner Straftaten war ihnen nie bewußt geworden. Seine Schuld bestand darin, vergessen zu haben, daß gewisse hochstehende Mitglieder der Regierung gar nicht fähig waren, ein Verbrechen zu begehen. Er hatte unerlaubterweise an der Partei gezweifelt, denn er hatte sich geweigert, all seine Beweise zu enthüllen - nicht nur, um seine Quellen zu schützen, sondern auch um sich selbst zu retten, denn sein Leben wäre wertlos gewesen, sobald man geglaubt hätte, über alle Informationen zu verfügen. Am Ende hatte Shan nach diesen Monaten voller endloser, zermürbender Schmerzen nur eine Lektion, nur eine einzige absolute Wahrheit über sich selbst erfahren: Er war nicht imstande aufzugeben.
Vielleicht war es das, was Choje in jener ersten Stunde gesehen hatte, als Shan aus einem Transportwagen der Öffentlichen Sicherheit benommen in das Lager taumelte und sich fragte, ob man schließlich doch beschlossen hatte, das Risiko einzugehen und ihn zu erschießen.
Die anderen Häftlinge hatten im ersten Moment genauso benommen gewirkt und ihn angestarrt, als wäre er der Vertreter einer gefährlichen neuen Spezies. Dann schienen sie zu dem Schluß zu kommen, daß es sich bei ihm lediglich um einen weiteren Chinesen handelte. Die khampas spuckten ihn an. Die anderen mieden ihn zumeist, und einige formten ein mudra der Reinigung, als wollten sie den neuen Teufel aus ihren Reihen vertreiben.
Shan hatte mit zitternden Knien unsicher in der Mitte des Platzes gestanden und sich gefragt, welche neue Hölle seine Peiniger sich wohl für ihn ausgedacht haben mochten, als einer der Wachposten ihn zu Boden stieß. Er fiel mit dem Gesicht in eine kalte Pfütze und bespritzte die Stiefel des Mannes mit Schlamm. Als Shan sich mühsam auf die Knie erhoben hatte, befahl die wütende Wache ihm, die Stiefel sauberzulecken.
»Ohne eine Volksarmee hat das Volk überhaupt nichts«, hatte Shan mit traurigem Lächeln gesagt. Seine Worte waren ein Zitat des Verehrten Vorsitzenden und stammten aus dem kleinen roten Buch.
Der Wachposten hatte Shan zurück in den Schlamm gestoßen und hieb mit seinem Schlagstock auf die Schultern des Gefangenen ein, als einer der älteren tibetischen Häftlinge zu ihnen trat. »Dieser Mann ist zu schwach«, hatte der Sträfling leise gesagt. Als der Wachposten lachte, beugte der Gefangene sich über Shans entkräftet daniederliegenden Körper und fing die Schläge mit seinem eigenen Rücken ab. Die Wache verabreichte die eigentlich für Shan gedachte Strafe mit großem Vergnügen und rief dann Unterstützung herbei, um den bewußtlosen Mann in den Stall zu zerren.
Dieser Zwischenfall hatte alles verändert. In einem einzigen, alles verhüllenden Moment vergaß Shan seine Schmerzen und sogar seine Vergangenheit, als ihm klar wurde, daß er eine bemerkenswerte neue Welt betreten hatte, und diese Welt war Tibet. Ein hochgewachsener Mönch, der sich als Trinle vorstellte, half Shan auf die Beine und führte ihn in die Baracke. Niemand spuckte ihn mehr an, niemand richtete mehr zornige mudras gegen ihn. Erst acht Tage später, als Choje aus dem Stall freigelassen wurde, konnte Shan zum erstenmal mit ihm sprechen. »Die Suppe«, hatte Choje beim Anblick von Shan mit schiefem Lächeln gesagt und dabei den dünnen Gerstenbrei der 404ten gemeint, »schmeckt nach einer Woche Abwesenheit gleich viel besser.«
Shan schaute auf, als Choje seine Frage wiederholte.
»Was tun sie dir an?«
Er wußte, daß Choje keine Antwort erwartete. Shan sollte sich lediglich mit dieser Frage auseinandersetzen. Sobald die Kriecher das Kommando übernommen hatten, würde die 404te nie wieder so sein wie früher. Plötzlich verspürte Shan einen Stich im Herzen, als er begriff, daß man ihnen Choje vermutlich nehmen würde. Er starrte auf ein neues mudra, das die Hände des Lama formten. Es war das Zeichen des Mandalas, des Lebenskreises.
»Rinpoche. Dieser Dämon namens Tamdin... «
»Herrlich, nicht wahr?«
»Herrlich?«
»Daß der Beschützer ausgerechnet jetzt erscheint.«
Shan runzelte verwirrt die Stirn.
»Nichts im Leben geschieht zufällig«, erklärte Choje.
Stimmt, dachte Shan verdrießlich. Jao wurde aus einem bestimmten Grund umgebracht. Der Mörder wollte aus einem bestimmten Grund, daß es wie die Tat eines buddhistischen Dämons aussah. Die Kriecher waren aus einem bestimmten Grund hier und gewillt, die 404te zugrunde zu richten. Aber Shan kannte keinen dieser Gründe. »Rinpoche, wie würde ich Tamdin erkennen, falls er mir begegnet?«
»Er tritt in vielen Gestalten und Größen auf«, erwiderte Choje. »In Nepal und im Süden kennt man ihn als Hayagriva. In den älteren Klöstern nennen sie ihn den Roten Tigerteufel. Oder den pferdeköpfigen Dämon. Er trägt eine Kette aus Schädeln um den Hals und hat gelbes Haar. Seine Haut ist rot. Vier Fangzähne ragen aus seinem Maul. Sein Kopf ist riesig. Darüber befindet sich ein zweiter, sehr viel kleinerer Kopf - der Kopf eines Pferdes, der manchmal grün gefärbt ist. Er ist fett vom Gewicht der Welt, und sein Bauch hängt nach unten. Ich habe ihn vor vielen Jahren bei den Festtagstänzen gesehen.« Choje faltete die Hände, und das mudra verschwand. »Aber Tamdin kann nur dann gefunden werden, wenn er selbst es wünscht. Niemand, der nicht dazu ermächtigt ist, vermag ihn zu kontrollieren.«
Shan dachte schweigend nach. »Trägt er Waffen?«
»Falls er eine benötigt, wird sie sich in seiner Hand befinden«, entgegnete Choje rätselhaft. »Sprich mit einem Angehörigen der Schwarzhutsekte. Früher gab es einen alten ngagspa der Schwarzhüte in der Stadt. Ein Zauberer mit Namen Khorda. Er hat die alten Riten praktiziert und die jungen Mönche mit seinen Hexereien eingeschüchtert. Unterwiesen wurde er in einem gompa der Nyingmapa.«
Zu den Schwarzhüten gehörten die traditionellsten der tibetischen Buddhisten-Sekten. Unter diesen wiederum stellten die Nyingmapa die älteste Linie dar, die noch am engsten mit den Schamanen verbunden war, von denen Tibet einst regiert wurde.
»Er kann eigentlich nicht mehr am Leben sein«, sagte Choje, »denn er war bereits alt, als ich noch ein Junge war. Aber er hatte Lehrlinge. Frag danach, wer Schwarzhut-Zauber wirken kann und wer bei Khorda gelernt hat.«
Choje sah Shan prüfend an, so wie ein Vater vielleicht einen Sohn mustern würde, der sich anschickte, eine lange und gefährliche Reise anzutreten. Er winkte ihn zu sich heran. »Komm näher.«
Als Shan der Aufforderung folgte, legte Choje ihm eine Hand auf den Hinterkopf und drückte ihn nach unten. Er flüsterte Trinle etwas zu, woraufhin dieser ihm eine rostige Schere reichte. Dann schnitt Choje eine Locke von Shans kurzem Haar direkt oberhalb des Nackens ab. Das war normalerweise bei Initiationsriten üblich, wenn Studenten zu einem Kloster zugelassen wurden. Es sollte sie daran erinnern, wie viele Opfer Buddha gebracht hatte, um Rechtschaffenheit zu erlangen.
Shans Herzschlag beschleunigte sich aus unerklärlichen Gründen. »Ich bin dessen nicht würdig«, sagte er, als er aufblickte.
»Natürlich bist du das. Du bist ein Teil von uns.«
Eine tiefe Traurigkeit wallte in ihm auf. »Was geht hier vor, Rinpoche?«
Aber Choje seufzte nur und sah auf einmal furchtbar müde aus. Der alte Lama stand auf und ging zu seinem Bett. Unterdessen nahm Trinle ein fleckiges Stück Papier, auf das man ein Ideogramm geschrieben hatte, und reichte es Shan. »Das ist für dich«, sagte Trinle.
Fragend musterte Shan das Blatt. Die Schriftzeichen waren nach alter Art verfaßt, wie die Inschrift auf dem Medaillon. Das Bild zeigte mehrere konzentrische Kreise, in deren Mitte sich eine Lotusblume befand. Jedes ihrer Blütenblätter war mit geheimen Symbolen versehen. »Ist es ein Gebet?«
»Nicht ganz. Ein Talisman. Ein Schutzzauber, gesegnet von Rinpoche und geschrieben auf dem Fragment eines alten heiligen Buches. Sehr mächtig.« Trinle faßte die unteren Ecken an. »Hier«, erklärte er, »du mußt es falten und eine kleine Rolle daraus fertigen. Trag es um deinen Hals. Wir würden eigentlich ein Amulett an einer Kette dafür brauchen, aber es gibt hier nichts dergleichen.«
»Sind alle hier damit beschäftigt, Schutzzauber zu verfassen?«
»Nicht so wie dieser. Nicht so mächtig. Wir hatten nur dieses eine Fragment. Auch die Symbole konnten wir nur ein einziges Mal anrufen. Dies sind keine Worte der Hände oder Lippen. Sie werden niemals ausgesprochen. Rinpoche mußte nach ihnen greifen und sie einfangen. Es dauert mehrere Stunden, diesen Talisman mit Macht zu erfüllen. Er hat den ganzen Tag daran gearbeitet. Es hat ihn sehr erschöpft. Tamdin wird diese Formel erkennen, denn sie kann aus der Welt dieses Dämons wahrgenommen werden, also weiß er, daß du kommst. Es sit nicht nur ein Schutz. Es ist eher wie eine Empfehlung, damit du mit ihm in Verbindung treten kannst. Choje sagt, du wandelst auf den Pfaden der Schutzdämonen.«
Shan war versucht zu fragen, ob das bedeuten sollte, daß die Dämonen ihn ansonsten angreifen würden, aber dann kam ihm eine andere Frage in den Sinn. Wie war Choje an das Fragment eines alten Manuskripts gelangt?
Einige der Mönche legten ihre Zauberformeln auf den Altar und schauten Choje erwartungsvoll an. Andere trugen ihre Schriften zu einem Bett im hinteren Teil der Hütte. Shan schloß sich ihnen an. Auf dem Bett saß einer der alten Mönche und hatte vor sich ein seltsames Flickwerk aus Bannformeln liegen. Er bildete aus den Etiketten einen größeren Zauberspruch und verband sie geschickt mit dünn geflochtenem menschlichen Haar.
Shan bemerkte, daß Trinle auf den dicken Notizblock in seiner Tasche starrte. Er riß ein Dutzend leerer Blätter ab und reichte sie Trinle zusammen mit seinem Bleistift.
»Was bedeuten die anderen Zauberformeln?«
»Jeder von uns bemüht sich nach Kräften. Manche versuchen, Bardo-Riten für den jungpo vorzubereiten. Andere sind lediglich Schutzzauber. Ich weiß nicht, ob Rinpoche sie segnen wird. Ohne den Segen eines der Mächtigen werden sie nutzlos sein.«
»Er wird die Schutzzauber nicht segnen? Er will nicht, daß sie vor dem jungpo geschützt werden?«
»Nicht vor dem jungpo. Diese hier sind gegen die bösen Mächte dieser Welt gerichtet. Tsonsung-Zauber. Zum Schutz vor Schlagstöcken. Vor Bajonetten. Vor Kugeln.«