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Am nächsten Morgen wartete vor Tans Büro ein eleganter junger Mann mit weißem Hemd und blauem Anzug. Er ging vor dem Fenster auf und ab, blieb stehen, um Sergeant Feng verächtlich zu mustern, bemerkte dann Shan und nickte ihm wissend zu, als würden sie ein Geheimnis miteinander teilen.
Shan trat ans Fenster und versuchte verzweifelt, irgendwelche Aktivitäten auf den Hängen der Südklaue auszumachen. Der Fremde glaubte irrtümlich, Shan wolle ein Gespräch mit ihm anfangen.
»Drei von fünf«, sagte der Mann. »Sechzig Prozent beantragen, vor Ablauf ihrer Zeit nach Hause geschickt zu werden. Haben Sie das gewußt, Genosse?« Das Wort Peking stand ihm unsichtbar auf die Stirn tätowiert.
»Die meisten, die ich kenne, bleiben bis zum letzten Tag dabei«, sagte Shan leise. Er beugte sich vor, so daß sein Gesicht die Scheibe berührte. Die 404te müßte inzwischen den Hang erreicht haben. Würde der Direktor sich heute überhaupt die Mühe machen, sie nach draußen zu schaffen?
»Sie ertragen die Kälte nicht«, fuhr der Mann fort und ließ nicht erkennen, ob er Shan gehört hatte. »Sie ertragen die Luft nicht. Sie ertragen die Trockenheit nicht. Sie ertragen den Staub nicht. Sie ertragen die Blicke auf der Straße nicht. Sie ertragen die zweibeinigen Heuschrecken nicht.«
Als Madame Ko in den Warteraum trat, eilte der Fremde sofort auf sie zu. »Es gibt nichts, das wichtiger wäre!« versicherte er ihr langsam und laut, als wäre sie irgendwie behindert. »Ich muß ihn sofort sprechen!« Sie lächelte ihn kühl an und wies auf die Stühle, die entlang der Wand standen.
Doch der Mann ging weiterhin auf und ab und schaute immer wieder kurz zu Tans Tür. »Ich bin seit zwei Jahren hier. Es gefällt mir sehr gut. Von mir aus können es zehn werden. Wie steht's mit Ihnen?«
Shan blickte langsam auf und hoffte, daß die Frage nicht an ihn gerichtet war. Doch die Augen des Mannes waren wie zwei Gewehrläufe und zielten direkt auf sein Gesicht. »Drei bisher.«
»Das ist ein Mann nach meinem Geschmack!« rief der Fremde. »Es gefällt mir überaus gut hier«, wiederholte er. »Es ist die Herausforderung meines Lebens. An jeder Kreuzung lauern neue günstige Gelegenheiten«, sagte er und wartete, daß Shan ihm beipflichten würde.
»Zumindest Überraschungen. An jeder Kreuzung lauern neue Überraschungen«, erwiderte Shan wohlüberlegt.
Der Mann lachte kurz und verhalten und nahm dann auf dem Stuhl neben Shan Platz. Shan legte beide Hände schützend auf seine Akte.
»Ich habe Sie noch nie zuvor gesehen. Sind Sie bei einer Einheit in den Bergen?«
»In den Bergen«, murmelte Shan. Das äußere Zimmer war nicht beheizt, und so trug er noch immer den unauffälligen grauen Mantel, den Feng an jenem Morgen für ihn aus dem Laderaum des Wagens hervorgezogen hatte.
»Der Alte hat zu viele Verpflichtungen«, teilte der Mann ihm vertraulich mit und nickte in Richtung von Tans Tür. »Berichte für die Partei. Berichte für die Armee. Berichte für die Öffentliche Sicherheit. Berichte über den Stand der Berichte. Wir lassen der Bürokratie nicht soviel Spielraum. Sonst bekommt man ja gar nichts mehr geregelt.«
Fengs Kopf sackte nach hinten. Er fing an zu schnarchen.
»Wir?« hakte Shan nach.
Mit theatralischer Geste öffnete der Fremde eine kleines Plastiketui und reichte Shan eine geprägte Visitenkarte.
Shan musterte die Karte sorgfältig. Sie war aus papierdünnem Kunststoff gefertigt. Li Aidang stand darauf. Eine Generation zuvor war dies einer der Lieblingsnamen ehrgeiziger Eltern gewesen. Li, der die Partei liebt. Als Shan die Berufsbezeichnung las, erstarrte er vor Schreck. Stellvertretender Ankläger. Tan hatte es also getan, dachte er, er hatte einen Ermittler von außerhalb hinzugezogen. Dann fiel Shans Blick auf die Adresse. Bezirk Lhadrung.
Er strich ungläubig mit dem Finger über die Worte. »Sie sind sehr jung für einen so verantwortungsvollen Posten«, sagte er schließlich und sah Li an. Der stellvertretende Ankläger war höchstens Anfang Dreißig. Er trug eine teure Armbanduhr und kurioserweise seltsame westliche Sportschuhe. »Und ziemlich weit weg von zu Hause.«
»Peking fehlt mir gar nicht. Zu viele Leute und zu wenige günstige Gelegenheiten.«
Da war dieses Wort wieder. Es wirkte merkwürdig, einen stellvertretenden Ankläger von günstigen Gelegenheiten sprechen zu hören.
Madame Ko kam zurück.
»Offenbar versteht er nicht...«, setzte Li herablassend an. »Es geht um die Festnahme. Er muß die Ermächtigungen unterzeichnen, und außerdem wird er wollen, daß...«
Madame Ko verließ das Zimmer, ohne Li zu beachten. Während er ihr hinterherstarrte, erschien ein höhnisches Grinsen auf seinem Gesicht, als hätte er sich soeben etwas besonders Vergnügliches vorgenommen. Er beugte sich vor und betrachtete Fengs zusammengesackte Gestalt. »Falls das hier mein Büro wäre, würden die Leute sich etwas respektvoller benehmen«, sagte er voller Geringschätzung. Dann tauchte Madame Ko wieder auf, öffnete die Tür zum benachbarten Konferenzraum und bedeutete Li mit einem Nicken, er möge eintreten.
Mit einem leisen verächtlichen Schnauben schritt Li erhobenen Hauptes ins Nebenzimmer. Madame Ko rückte schweigend einen Stuhl für ihn vom Tisch ab, kehrte dann in den Warteraum zurück und schloß die Tür hinter sich. Li starrte ungeduldig auf die Seitentür, die zu Tans Büro führte.
»Ich frage mich«, sagte Shan, »ob der Oberst überhaupt beabsichtigt, diesen Raum zu betreten.« Er war sich nicht sicher, ob Madame Ko ihn gehört hatte, denn sie trat in eine Nische, aber sie reagierte mit einem belustigten Nicken, als sie mit zwei Tassen Tee zurückkehrte. Sie reichte Shan eine der Tassen und setzte sich neben ihn.
»Er ist ein ungehobelter junger Mann. Heutzutage gibt es so viele davon, die alles andere als wohlerzogen sind.«
Shan hätte beinahe gelacht. Vermutlich wäre sein Vater der gleichen Meinung gewesen, und zwar hinsichtlich aller Generationen, die seit der Mitte des Jahrhunderts in China aufgewachsen waren. Alles andere als wohlerzogen. »Ich möchte nicht, daß er wütend auf Sie ist«, sagte Shan.
Madame Ko bedeutete ihm, er möge seinen Tee trinken. Sie wirkte wie eine ältere Tante, die einen Jungen für die Schule fertigmachte. »Ich arbeite jetzt seit neunzehn Jahren für Oberst Tan.«
Shan lächelte unbeholfen. Sein Blick wanderte zu dem Spitzendeckchen, das auf dem Tisch lag. Es war lange her, daß er mit einer richtigen Dame Tee getrunken hatte. »Zuerst habe ich mich gewundert, wer wohl so mutig gewesen ist, dem Oberst die Petition zur Freilassung Lokeshs zu überreichen«, sagte Shan. »Ich glaube, inzwischen weiß ich, wer es war. Sie hätten ihn gemocht. Er hat wunderschöne Lieder aus dem alten Tibet gesungen.«
»Ich bin altmodisch. Da, wo ich herkomme, wurde uns beigebracht, die Alten zu ehren, und nicht, sie ins Gefängnis zu stecken.«
Auf welchem fernen Planeten war das denn, hätte Shan beinahe gefragt, aber dann bemerkte er, wie sie unschlüssig in ihre Teetasse starrte, und erkannte, daß sie ihm etwas sagen wollte.
»Ich habe einen Bruder«, gestand sie plötzlich. »Er ist nicht viel älter als Sie. Ein Lehrer. Vor fünfzehn Jahren wurde er verhaftet, weil er etwas Schlimmes geschrieben hatte, und in ein Lager in der Nähe der Mongolei geschickt. Niemand spricht über ihn, aber ich muß oft an ihn denken.« Sie blickte auf. Ihre Miene war unschuldig und neugierig. »Sie müssen doch nicht leiden, oder? In den Lagern, meine ich. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er leiden müßte.«
Shan trank einen großen Schluck Tee und zwang sich zu einem Lächeln. »Wir bauen einfach nur Straßen.«
Madame Ko nickte ernst.
Im nächsten Moment ertönte ein Summer, und Madame Ko wies auf die Tür des Obersts. Li platzte aus dem Konferenzraum und starrte Shan unsicher an. Als Shan von Madame Ko in Tans Büro gedrängt wurde, hörte er Li ungläubig rufen: »Sie sind das!« Dann schloß sie die Tür.
Tan stand mit dem Rücken zu Shan am Fenster. Die Vorhänge waren vollständig aufgezogen, und in dem hellen Licht konnte Shan die hintere Wand zum erstenmal deutlich erkennen. Er sah das verblichene Foto eines Mädchens und eines weitaus jüngeren Tans neben einem Kampfpanzer. Links davon hing eine Landkarte, über der in großen Buchstaben nei lou stand, was sie als geheime Verschlußsache einstufte. Sie zeigte die tibetischen Grenzregionen. Über der Karte hing ein antikes Schwert, ein zhan dao, die robuste Zweihandklinge, die in früheren Jahrhunderten bevorzugt von Scharfrichtern eingesetzt wurde.
»Unser Mann wurde heute morgen aufgegriffen«, sagte Tan, ohne sich umzudrehen.
Li hatte eine Festnahme erwähnt.
»In den Bergen, wo sie sich normalerweise verstecken. Wir hatten Glück. Der Narr trug noch immer Jaos Brieftasche bei sich.« Tan ging zu seinem Schreibtisch. »Bei der Öffentlichen Sicherheit ist er aktenkundig.« Er warf Shan einen ungehaltenen Blick zu. »Setz dich, verdammt. Wir haben viel zu erledigen.«
»Der stellvertretende Ankläger ist bereits da. Ich vermute, ich werde meine Arbeit an ihn übergeben.«
Tan blickte auf. »Li? Du hast Li Aidang getroffen?«
»Sie haben nie erwähnt, daß es einen stellvertretenden Ankläger gibt.«
»Es war nicht von Bedeutung. Li ist unfähig, er muß noch viel lernen. Jao hat die ganze Arbeit erledigt. Li liest Bücher und besucht Versammlungen. Er ist ein Politoffizier.« Tan stieß eine Mappe von sich, die mit den roten Streifen des Büros für Öffentliche Sicherheit versehen war. »Der Mörder ist seit seiner Jugend ein kultureller Unruhestifter. 1989 die Aufstände in Lhasa. Weißt du über diesen Aufruhr Bescheid?«
Offiziell hatte dieser Aufstand, der begann, als Mönche den Tokhang Tempel in Lhasa besetzten, nie stattgefunden. Offiziell wußte niemand, wie viele Mönche gestorben waren, als die Kriecher mit Maschinengewehren das Feuer eröffneten. In einem Land, in dem Himmelsbegräbnisse praktiziert wurden, konnte man die Überreste der Toten leicht verschwinden lassen.
»Einige Jahre später hat es auch hier einen Zwischenfall gegeben«, fuhr Tan fort. »Auf dem Marktplatz.«
»Ich habe davon gehört. Mehrere Priester wurden verstümmelt. Die hiesige Bevölkerung nennt sie die DaumenAufstände.«
Tan ging nicht darauf ein. Traf es wirklich zu, fragte Shan sich, daß Tan derjenige gewesen war, der die Amputation der Daumen angeordnet hatte?
»Er war dabei. Die meisten Beteiligten erhielten drei Jahre Zwangsarbeit. Er bekam sechs Jahre, weil er einer der fünf Rädelsführer des Aufruhrs war. Jao hat ihn angeklagt. Die Fünf von Lhadrung wurden sie von den Leuten genannt.« Tan schüttelte angewidert den Kopf. »Meine Befürchtung wird immer wieder bestätigt; wir sind beim ersten Mal viel zu nachsichtig mit ihnen verfahren. Und jetzt haben wir Jao an einen von ihnen verloren... «
»Ich könnte eine Liste der Zeugen anfertigen, deren Aussagen das Gericht benötigen wird«, sagte Shan ausdruckslos. »Dr. Sung aus dem Krankenhaus. Die Soldaten, die den Kopf gefunden haben. Und sie werden einen Sprecher aus den Reihen der Wachen der 404ten hören wollen, damit dieser von der Entdeckung des Körpers berichtet.«
»Sie?«
»Die Leute aus dem Büro des Anklägers.«
»Zur Hölle mit Li, das habe ich dir doch schon gesagt.«
»Man kann ihn nicht aufhalten. Er arbeitet für das Justizministerium.«
»Ich sagte bereits, er ist politisch orientiert. Er sitzt hier lediglich seinen Turnus ab, um in der Heimat Pluspunkte zu sammeln. Von Kapitalverbrechen hat er keinerlei Ahnung.«
Shan sah Tan in die Augen, um sich zu vergewissern, daß er ihn richtig verstanden hatte. Glaubte Tan allen Ernstes, es gäbe auch nur einen einzigen Bereich des Justizministeriums, der nicht politisch orientiert war? Nicht umsonst war der Vorsitzende des obersten Staatsgerichtshofs zugleich der höchste Zuchtmeister der Partei. »Er arbeitet für das Justizministerium«, wiederholte Shan langsam.
»Ich werde sagen, er sei zu sehr persönlich involviert. Als würde er den Mord an seinem Vater untersuchen. Sein Urteilsvermögen wird durch den Kummer getrübt.«
»Oberst, am Anfang hatten wir hier den Tod eines Fremden, den man vielleicht durch einen Unfallbericht hätte vertuschen können. Womöglich wäre niemand dahintergekommen. Dann hatten wir aufgrund des Toten eine Strafaktion gegen die 404te. Davon werden bereits weitaus mehr Leute Notiz nehmen. Und jetzt gibt es nicht nur den Mord an einem Justizbeamten, sondern zudem die Verhaftung eines bekannten Staatsfeinds. Das dürfte niemandem mehr entgehen. Jetzt wird die Politik peinlich genau verfolgen, was weiterhin passiert.«
»Ich glaube dir nicht, Shan. Die Politiker machen dir keine Angst. Du verachtest die Politik. Aus diesem Grund bist du in Tibet gelandet.«
Shan rechnete damit, einen Anflug von Spott in Tans Gesicht wahrzunehmen. Aber er irrte sich. »Du willst wegen deines Gewissens einen Rückzieher machen, nicht wahr?« fuhr der Oberst fort. »Glaubst du, unsere Ermittlungen werden nicht wahrheitsgetreu verlaufen?«
Shan preßte die Hände aneinander. Er hatte schon wieder verloren. »In meiner Abteilung in Peking wurden regelmäßig Agitationssitzungen abgehalten. Man warf mir vor, ich würde nicht begreifen, daß ohne einen Konsens keine Wahrheitsfindung möglich sei.«
Tan starrte ihn schweigend an und brach dann in lautes, heiseres Gelächter aus. »Und dann haben sie dich nach Tibet geschickt. Dieser Minister Qin hat wirklich Humor.« Tans Belustigung schwand, als er Shans Gesicht musterte. Er stand auf und ging wieder zum Fenster. »Du irrst dich, Genosse, wenn du glaubst, Männer wie ich hätten kein Gewissen«, sagte er. »Mach nicht mich dafür verantwortlich, daß du mein Gewissen nicht verstehen kannst.«
»Das hätte ich selbst nicht besser ausdrücken können.«
Tan wandte sich um. »Verdreh mir nicht die Worte im Mund, verdammt noch mal!« rief er zornig und kehrte an seinen Tisch zurück. Er verschränkte die Hände über der Akte der Öffentlichen Sicherheit. »Ich sage es zum letztenmal. Diese Untersuchung wird nicht von grünen Jungs aus dem Büro des Anklägers durchgeführt werden. Jao war ein Held der Revolution. Er war mein Freund. Manche Angelegenheiten sind zu wichtig, um sie zu delegieren. Du wirst wie besprochen fortfahren. Auf der Akte wird meine Unterschrift stehen. Und wir werden diese Diskussion nicht noch einmal führen.«
Shan bemerkte, daß Tans Blick auf die Tür gerichtet war. Plötzlich begriff er, daß Tan dem stellvertretenden Ankläger nicht nur mißtraute. Nein, er hatte regelrecht Angst vor Li.
»Man kann den stellvertretenden Ankläger nicht vollständig übergehen«, stellte Shan fest. »Es werden im Zusammenhang mit Jaos Person Fragen auftauchen, die sein Büro beantworten muß. Über seine Feinde, seine Fälle, sein Privatleben. Sein Wohnsitz wird durchsucht werden müssen. Seine Reiseunterlagen. Sein Auto. Es muß einen Wagen gegeben haben. Er wird uns vielleicht verraten, wo Jao seinen Mörder getroffen hat.«
»Ich habe ihn seit vielen Jahren gekannt und kann womöglich selbst mit einigen Antworten dienen. Miss Lihua, seine Sekretärin, ist eine Freundin von mir. Sie wird ebenfalls behilflich sein. Für die anderen wirst du einen schriftlichen Fragenkatalog zusammenstellen, den ich dann weiterleite. Wir können Madame Ko einen Teil davon diktieren, bevor du gehst.«
Tan wollte Li beschäftigen. Oder ablenken.
Der Oberst schob Shan die Akte der Öffentlichen Sicherheit herüber. »Sein Name ist Sungpo. Vierzig Jahre alt. Verhaftet in einem kleinen Kloster namens Saskya im äußersten Norden des Landes. Keine Lizenz. Verflucht nachlässig, die Leute in ihre heimatlichen gompas zurückkehren zu lassen.«
»Sie wollen ihn nicht nur wegen Mordes vor Gericht stellen, sondern auch, weil er ohne Erlaubnis als Mönch praktiziert hat?« Shan konnte nicht anders. »Wirkt das nicht ein wenig...« Er suchte nach einem passenden Wort. »Übereifrig?«
Tan runzelte die Stirn. »Es muß in dem gompa noch andere geben, die man unter Druck setzen kann. Der übliche Satz für das Tragen einer Kutte ohne Lizenz beträgt zwei Jahre. Jao hat diese Strafe ständig verhängt. Falls nötig, schnapp sie dir und drohe ihnen mit dem lao gai, sofern sie nicht reden wollen.«
Shan starrte ihn an.
»Na gut«, gab Tan kaltlächelnd nach. »Sag ihnen, daß ich sie ins lao gai schicken werde.«
»Sie haben noch nicht gesagt, wie man auf den Mann gekommen ist.«
»Durch einen Informanten. Es gab einen anonymen Anruf in Jaos Büro.«
»Das heißt, Li hat die Verhaftung vorgenommen?«
»Ein Team der Öffentlichen Sicherheit.«
»Also hat er mit eigenen Ermittlungen angefangen?«
Wie aufs Stichwort ertönte ein lautes Hämmern an der Tür. Eine hohe Stimme protestierte, und Madame Ko erschien. »Genosse Li«, meldete sie mit errötetem Gesicht. »Er besteht darauf.«
»Sagen Sie ihm, er soll später vorbeikommen. Geben Sie ihm einen Termin.«
Ein winziges Lächeln verriet, wie gut Madame Ko dieser Vorschlag gefiel. »Da ist noch jemand«, fügte sie hinzu. »Von der amerikanischen Mine.«
Tan seufzte und wies auf einen Stuhl in der Ecke. Gehorsam nahm Shan dort Platz. »Bitten Sie ihn herein.«
Lis Proteste nahmen an Lautstärke zu, als eine Gestalt zur Tür hereinstürmte. Es war die rothaarige Amerikanerin, die Shan bei der Höhle gesehen hatte. Sie und Tan musterten sich verwirrt.
»Es gibt dazu wirklich nichts mehr zu sagen, Miss Fowler«, sagte Tan in eiskaltem Tonfall. »Die Angelegenheit ist abgeschlossen.«
»Ich habe darum gebeten, Ankläger Jao zu sprechen«, erwiderte Fowler zögernd und ließ den Blick durch das Büro schweifen. »Man hat mir gesagt, ich solle herkommen. Ich dachte, vielleicht ist er zurückgekehrt.«
»Sie sind nicht wegen der Höhle hier?«
»Wir haben beide unseren Standpunkt geäußert. Ich werde mich schriftlich beim Religionsbüro beschweren.«
»Das könnte peinlich werden«, erwiderte Oberst Tan.
»Sie haben auch allen Grund dazu, peinlich berührt zu sein.«
»Ich meine, für Sie. Sie haben keinerlei Beweise. Es gibt gar keine Grundlage für eine Beschwerde. Wir werden aussagen müssen, daß Sie sich unbefugt in eine Militäroperation eingemischt haben.«
»Sie hatte vor, Ankläger Jao aufzusuchen«, schaltete Shan sich ein.
Tan warf ihm einen wütenden Blick zu, während Fowler zum Fenster ging, so daß sie nur ein kurzes Stück neben Shan stand. Sie trug wieder Bluejeans, dieselben Wanderstiefel und eine blaue Nylonweste, wie Shan sie auch bei dem Amerikaner vor der Höhle gesehen hatte. Um ihren Hals hing an einer schwarzen Kordel eine Sonnenbrille. Sie trug kein Makeup und keinen Schmuck, abgesehen von winzigen goldenen Ohrsteckern. Wie lautete doch der andere Name, den Oberst Tan benutzt hatte? Rebecca. Rebecca Fowler. Die Amerikanerin warf einen kurzen Blick auf Shan, und er sah, daß sie ihn wiedererkannte. Du warst auch da, beschuldigten ihre Augen ihn, und hast die Ruhe eines heiligen Orts gestört.
»Tut mir leid. Ich bin nicht hergekommen, um mich zu streiten«, sagte sie in neuem, versöhnlicherem Tonfall zu Tan.
»Es gibt ein Problem bei der Mine.«
»Falls es dort keine Probleme gäbe«, stellte Tan teilnahmslos fest, »würde man Sie nicht zur Leitung der Mine benötigen.«
Ihre Züge verhärteten sich. Shan konnte erkennen, wie sehr sie mit sich rang, keinen neuen Disput zu beginnen. Sie entschloß sich, den Blick himmelwärts zu richten. »Ein Arbeitsproblem.«
»Dann ist das Ministerium für Geologie die zuständige Stelle. Vielleicht kann Direktor Hu Ihnen behilflich sein«, schlug Tan vor.
»Es geht nicht um diese Art von Problem.« Sie drehte sich um und sah Tan an. »Ich würde einfach nur gern mit Jao sprechen. Ich weiß, daß er vermutlich unterwegs ist. Eine Telefonnummer würde mir schon genügen.«
»Wieso Jao?« fragte Tan.
»Wenn ich ein Problem habe, das ich nicht verstehen kann, ist Jao mir behilflich.«
»Welche Art von Problem können Sie denn nicht verstehen?«
Fowler seufzte und setzte sich wieder vor Tans Schreibtisch. »Meine Versuchsproduktion hat angefangen. Die kommerzielle Produktion ist für nächsten Monat geplant. Aber zunächst müssen meine ersten Lieferungen von unserem Labor in Hongkong analysiert und freigegeben werden.«
»Ich verstehe immer noch nicht... «
»Jetzt hat das Ministerium die Transporttermine vorverlegt, ohne vorher mit mir Rücksprache zu halten. Die Luftfrachtpläne wurden ohne Mitteilung geändert, die Sicherheitsbestimmungen und bürokratischen Hürden verschärft. Wegen der Touristen.«
»Die Saison hat früh begonnen. Der Tourismus wird zu Tibets größter Devisenquelle. Die Vorgaben wurden erhöht.«
»Als ich diese Stelle übernommen habe, war Lhadrung für Touristen gesperrt.«
»Das ist richtig«, räumte Oberst Tan ein. »Es handelt sich um eine neue Initiative. Bestimmt werden Sie sich freuen, ein paar Ihrer Landsleute zu Gesicht zu bekommen, Miss Fowler.«
Rebecca Fowlers düstere Miene zeugte eher vom Gegenteil. War die Minenleiterin lediglich nicht an Touristen interessiert, oder störte sie sich in erster Linie daran, daß eventuell Amerikaner zu Besuch kommen würden? fragte Shan sich.
»Behandeln Sie mich nicht so gönnerhaft. Es dreht sich lediglich um die Devisen. Wenn man uns nur ließe, würden wir ebenfalls sehr bald Devisen einbringen.«
Tan zündete sich eine Zigarette an und lächelte kalt. »Miss Powler, der erste Besuch von Touristen aus Ihrem Land im Bezirk Lhadrung muß reibungslos über die Bühne gehen. Aber dennoch begreife ich nicht...«
»Um meine Container rechtzeitig auf den Weg zu bringen, benötige ich Doppelschichten. Und ich kann nicht einmal eine halbe Schicht zusammenstellen. Meine Arbeiter trauen sich nicht mehr zu den hinteren Teichen. Manche weigern sich sogar, das Hauptgelände zu verlassen.«
»Ein Streik? Wenn ich mich recht erinnere, hat man Sie davor gewarnt, nur Arbeiter aus der tibetischen Minderheit einzustellen. Sie sind unberechenbar.«
»Das ist kein Streik, nein. Sie sind gute Arbeiter. Aber sie haben Angst.«
»Angst?«
Rebecca Fowler fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Sie sah aus, als hätte sie seit Tagen nicht mehr geschlafen. »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Sie sagen, unsere Sprengungen hätten einen Dämon erweckt. Sie sagen, er sei wütend. Die Leute haben Angst vor den Bergen.«
»Dies ist ein abergläubisches Volk, Miss Fowler«, gab Tan zu bedenken. »Das Büro für Religiöse Angelegenheiten verfügt über Berater, die sich mit den Minderheiten auskennen. Kulturelle Vermittler. Direktor Wen könnte einige davon herschicken.«
»Ich brauche keine Berater. Ich brauche jemanden, der meine Maschinen bedient. Sie haben doch eine Pioniereinheit. Leihen Sie sie mir für zwei Wochen.«
»Sie reden hier von der Volksbefreiungsarmee, Miss Fowler«, rief Tan aufgebracht. »Nicht von irgendwelchen Tagelöhnern, die Sie von der Straße auflesen können.«
»Ich rede von der einzigen ausländischen Investition in Lhadrung. Der größten im östlichen Tibet. Ich rede von amerikanischen Touristen, die in zehn Tagen ein Modellprojekt besuchen sollen. Wenn wir nichts unternehmen, wird sich den Leuten ein katastrophaler Anblick bieten.«
»Ihr Dämon«, sagte Shan plötzlich. »Hat er einen Namen?«
»Ich habe keine Zeit für...«, setzte Fowler ärgerlich an, verstummte dann aber. »Spielt das eine Rolle?«
»Auf der Südklaue wurde eine ähnliche Beobachtung gemacht. Im Zusammenhang mit einem Mord.«
Tan erstarrte.
Fowler reagierte nicht sofort. Ihre grünen Augen richteten sich auf Shan und musterten ihn mit einer durchdringenden Intensität, die der eines Raubvogels glich.
»Ich wußte ja gar nichts von einer Morduntersuchung. Das wird meinen Freund Ankläger Jao bestimmt interessieren.«
»Oh, durchaus. Ankläger Jao war von Anfang an sehr daran interessiert«, erwiderte Shan und ignorierte Tans wütenden Blick.
»Also hat man ihn bereits informiert?«
»Shan!« Tan stand auf und drückte einen Knopf an der Kante seines Tisches.
»Ankläger Jao war das Opfer.«
Tan stieß einen Fluch aus. Er rief nach Madame Ko.
Rebecca Fowler lehnte sich wie betäubt auf ihrem Stuhl zurück. »Nein!« Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Verdammt, nein. Sie erlauben sich einen Scherz mit mir«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Nein. Er ist weg. An der Küste, in Dalian, hat er gesagt.«
»Ankläger Jao wurde in der Nacht auf vorgestern an der Südklaue ermordet«, sagte Shan und behielt bei diesen Worten ihre Augen genau im Blick.
»Ich habe an dem Abend mit Jao gegessen«, flüsterte Fowler.
In diesem Moment kam Madame Ko herein.
»Ich glaube, wir könnten etwas Tee gebrauchen«, schlug Shan vor.
Madame Ko nickte ernst und ging wieder hinaus.
Fowler schien etwas sagen zu wollen, doch dann sackte sie nach vorn zusammen und barg das Gesicht in den Händen, bis Madame Ko mit einem Tablett zurückkehrte. Der heiße Tee wirkte anregend genug, um Miss Fowler wieder zu ihrer Stimme zu verhelfen. »Wir haben zusammen an den Investitionsanträgen gearbeitet«, erklärte sie. »An den Einfuhrgenehmigungen und all den anderen Papieren.« Sie sprach mit angespanntem, nervösem Flüstern. »Er war an unserem Erfolg interessiert. Er sagte, er würde mich zum Abendessen einladen, falls wir noch vor Juni in Produktion gingen. Wir haben es geschafft. Zumindest sah es für uns so aus. Letzte Woche rief er an. Er war in Festtagsstimmung und sagte, er wolle das Essen vor seinem Jahresurlaub abhalten.«
»Wo?« fragte Shan.
»In dem mongolischen Restaurant.«
»Um welche Uhrzeit?«
»Früh. So gegen fünf.«
»War er allein?« »Nur wir beide. Sein Fahrer wartete im Wagen.«
»Sein Fahrer?«
»Balti, der kleine khampa«, bestätigte Fowler. »Er war immer in Jaos Nähe. Jao hat ihn wie einen Lieblingsneffen behandelt.«
Shan musterte Oberst Tan. War es möglich, daß Tan einen eventuellen Zeugen tatsächlich vergessen hatte?
»Wohin wollte er nach dem Essen?« fragte Shan.
»Zum Flughafen.«
»Haben Sie ihn abfahren sehen?«
»Nein. Aber er wollte zum Flughafen. Er hat mir sein Ticket gezeigt. Es war ein Nachtflug, aber man braucht bis zu zwei Stunden, um zum Flughafen zu kommen, und er wollte ganz bestimmt nicht riskieren, diesen Flug zu verpassen. Er war ganz aufgeregt wegen der Abreise.«
»Warum ist er dann in die entgegengesetzte Richtung gefahren?«
Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Offenbar war ihr ein neuer Gedanke gekommen. »Der Dämon«, sagte sie mit plötzlich ausgemergeltem Gesicht. »Der Dämon war auf den Drachenklauen.«
Es klopfte, und dann trat wieder Madame Ko ein, gefolgt von dem bebrillten Tibeter, den Shan bei der Höhle am Steuer des Wagens der Amerikaner gesehen hatte. Der Mann war nicht besonders groß und hatte dunkle Haut und kleine Augen. Seine ausgeprägten Gesichtszüge ließen ihn irgendwie anders aussehen als die meisten Tibeter, die Shan kannte.
»Mr. Kincaid«, stieß der Tibeter hervor und hielt Miss Fowler einen Umschlag entgegen. Er bemerkte Tan und richtete seinen Blick sofort zu Boden. »Er sagt, ich soll Ihnen das hier unter allen Umständen sofort geben.«
Rebecca Fowler stand auf und streckte langsam und zögernd die Hand aus. Der Tibeter ließ den Umschlag hineinfallen und zog sich unterwürfig aus dem Raum zurück.
Tan sah ihm hinterher. »Einer der Fleisch-Affen arbeitet für Sie?«
Das war es, erkannte Shan. Der Mann war ein ragyapa aus der uralten Kaste, die sich um die Beseitigung von Tibets Toten kümmerte.
»Luntok ist einer unserer besten Ingenieure«, sagte Fowler frostig. »Er hat die Universität besucht.« Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Stück Papier und zuckte überrascht zusammen. Sie ließ das Blatt sinken, starrte Tan wütend an und las es dann ein weiteres Mal. »Was ist nur mit euch los?« fragte sie ungläubig. »Wir haben einen Vertrag, verdammt.«
Sie sah erst Tan, dann Shan an. »Das Ministerium für Geologie«, verkündete sie in einem Tonfall, der zu verstehen gab, daß Tan ihrer Meinung nach bereits Bescheid wissen mußte, »hat meine Betriebserlaubnis vorerst außer Kraft gesetzt.«
Die leere Baracke, die man ihnen im Lager Jadefrühling zur Verfügung gestellt hatte, war dermaßen baufällig, daß Shan das Blechdach bei jedem Windstoß tatsächlich erzittern und abheben sehen konnte. Sergeant Feng belegte das einzeln stehende Bett mit Beschlag, das normalerweise dem Unteroffizier der Kompanie zustand, und ließ Shan und Yeshe mit ausholender Geste die freie Wahl zwischen den zwanzig eisernen Etagenbetten, die an den Wänden der Unterkunft aufgereiht waren. Shan ignorierte ihn und begann, seine Akten auf dem Metalltisch auszubreiten, der am Ende der Bettreihen stand.
»Ich brauche einen Schlüssel zu dem Gebäude«, teilte er Sergeant Feng mit.
Feng, der in einem Schrank nach Bettzeug wühlte, drehte sich kurz um, weil er sich vergewissern wollte, ob Shans Forderung ernst gemeint war. »Halt's Maul.« Er fand sechs Decken, behielt drei, gab zwei an Yeshe weiter und warf die letzte Shan zu Shan ließ sie zu Boden fallen und schritt die Bettreihen ab, um ein Versteck für seine Notizen zu suchen.
In weniger als dreißig Metern Entfernung stand auf der anderen Seite des Exerzierplatzes das Arrestlokal. Ein vertrockneter Heidebusch wurde über das Gelände geweht. Aus einem Lautsprecher, der an einem Kabel aus seinem zerbrochenen Rahmen hing, drang stotternd eine martialische Melodie, irgendein Militärmarsch, der infolge der atmosphärischen Störungen nicht wiederzuerkennen war. Gruppen von Soldaten hatten sich am Rand des Platzes gesammelt und musterten ärgerlich die neuen Wachen, die vor dem Gebäude Posten bezogen hatten.
»Kriecher«, wurde Shan von Yeshe voller Bestürzung gewarnt, als sie quer über den Platz auf das Haus zugingen. »Die gehören nicht hierher. Das ist ein Armeestützpunkt.«
»Wir haben Sie bereits erwartet«, teilte der diensthabende Offizier der Öffentlichen Sicherheit Shan am Eingang kurz und bündig mit. »Oberst Tan hat uns benachrichtigt, daß Sie ein Verhör des Gefangenen durchführen würden.« Währenddessen ließ er den Blick über die drei Männer schweifen und machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung. Er musterte kurz Sergeant Fengs graues Gesicht, erachtete Yeshe sogleich als völlig uninteressant und konzentrierte sich dann auf Shan, der nach wie vor den anonymen grauen Mantel eines leitenden Funktionärs trug. Der Offizier zögerte kurz vor der Tür, als sei er angesichts der Besucher verwirrt, zuckte schließlich aber die Achseln.
»Bringen Sie ihn dazu, daß er ißt«, sagte er und trat beiseite. »Ich kann dafür sorgen, daß der Spinner nicht abhaut«, fuhr er fort, während er die schwere Metalltür zum Zellenblock aufschloß. »Aber ich kann nicht verhindern, daß er sich zu Tode hungert. Falls er zu schwach wird, schieben wir ihm einen Schlauch in den Magen. Er muß bei Kräften bleiben.«
Klingt ganz nach jemandem, der den Ablauf der Volksgerichtsprozesse gewöhnt ist, dachte Shan. Von dem Angeklagten wurde erwartet, daß er mit reumütig gesenktem Kopf vor dem Tribunal stand. Die außerordentliche Dramatik der Verhandlung eines Kapitalverbrechens wurde stets noch erhöht, wenn der Angeklagte physische Stärke bewies, weil der Wille des Volkes ihn dann noch deutlicher brechen konnte.
Der feuchte Korridor stank nach Urin und Schimmel. Zu beiden Seiten befanden sich Zellen, die durch Betonwände voneinander getrennt wurden. Das einzige Licht stammte von trüben Glühlampen, die entlang der Mitte des Gangs hingen. Als Shans Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er, daß die Zellen, abgesehen von Metalleimern und Strohsäcken, leer waren. Am Ende des Korridors stand ein kleiner metallener Schreibtisch, an dem eine zusammengesunkene schlafende Gestalt saß, deren Stuhl an der Wand lehnte.
Der Offizier stieß mit schneidender Stimme eine einzelne Silbe hervor, woraufhin der Mann hastig aufsprang und fahrig salutierte. »Der Unteroffizier wird sich um Ihre Wünsche kümmern«, sagte der Offizier und machte kehrt. »Falls Sie weitere Männer benötigen, stehen meine Wachen zu Ihrer Verfügung.«
Shan schaute ihm verwirrt hinterher. Weitere Männer? Der Unteroffizier nahm umständlich einen Schlüssel vom Gürtel und öffnete ein großes Schubfach des Schreibtisches. Er winkte einladend. »Bevorzugen Sie eine bestimmte Technik?«
»Technik?« fragte Shan beunruhigt.
Das Schubfach enthielt neben einem Haufen schmutziger Lumpen sechs Gegenstände: Ein Paar Handschellen. Einige zehn Zentimeter lange Bambussplitter. Eine große Klemmschraube, die problemlos um das Fußgelenk oder die Hand eines Mannes passen würde. Ein Stück Gummischlauch.
Einen Zimmermannshammer. Eine Spitzzange aus rostfreiem Stahl. Und den Lieblings-Westimport des Büros, einen elektrischen Viehtreiber.
Shan kämpfte gegen den Brechreiz an, den er plötzlich verspürte. »Öffnen Sie uns lediglich die Zellentür.« Er schob das Schubfach zu. Yeshes Gesicht hatte sämtliche Farbe verloren.
Der Unteroffizier und Feng warfen sich belustigte Blicke zu. »Ihr erster Besuch, richtig? Sie werden schon sehen«, sagte der Unteroffizier zuversichtlich und öffnete die Tür. Feng setzte sich auf die Tischkante und fragte den Wachposten nach einer Zigarette. Shan und Yeshe traten in die Zelle.
Der Raum war für mehrere Gefangene gedacht. Auf dem Boden lagen sechs Strohsäcke, und entlang der linken Wand stand eine Reihe von Eimern, von denen einer ein paar Zentimeter hoch mit Wasser gefüllt war. Ein weiterer Eimer war umgedreht aufgestellt und diente als Tisch. Auf ihm standen zwei kleine Blechschalen mit Reis. Der Reis war kalt und offenbar nicht angerührt worden.
Die hintere Wand der Zelle lag im tiefen Schatten. Shan versuchte, das Gesicht des Mannes zu erkennen, der dort saß, bis er bemerkte, daß der Häftling zur Wand schaute. Shan rief nach mehr Licht. Der Wachposten brachte eine batteriebetriebene Taschenlampe, die Shan auf einen umgestülpten Eimer legte.
Der Gefangene Sungpo saß im Lotussitz. Er hatte die Ärmel seines Sträflingskittels abgerissen und daraus ein gomthag-Band angefertigt, das um seine Knie und den Rücken geknotet war. Dabei handelte es sich um ein traditionelles Hilfsmittel bei längeren Meditationen, mit dem ein erschöpftes Umkippen des Körpers vermieden werden sollte, solange der Geist sich anderswo befand. Sein Blick schien auf einen Punkt jenseits der Wand gerichtet zu sein, und seine Hände lagen vor seiner Brust aneinander.
Shan setzte sich mit dem Rücken zur Wand, so daß er den Mann ansah, verschränkte die Beine und bedeutete Yeshe, es ihm gleichzutun. Einige Minuten lang harrte er schweigend aus, weil er hoffte, daß der Mann zuerst das Wort ergreifen würde.
»Man nennt mich Shan Tao Yun«, sagte er schließlich. »Ich wurde beauftragt, die Fakten über Ihren Fall zusammenzustellen.«
»Er kann Sie nicht hören«, sagte Yeshe.
Shan rückte bis auf wenige Zentimeter an den Mann heran. »Es tut mir leid. Wir müssen reden. Man wirft Ihnen einen Mord vor.« Er berührte Sungpo, der blinzelte und sich in der Zelle umschaute. Sein tiefgründiger und intelligenter Blick ließ keine Angst erkennen. Er rückte herum, so daß er nun die angrenzende Wand ansah, so wie ein Schlafender sich nachts in seinem Bett umdrehen würde.
»Sie stammen aus Saskya gompa«, sagte Shan und veränderte ebenfalls seine Position, bis er sich wieder gegenüber dem Mann befand. »Hat man Sie dort verhaftet?«
Sungpo verschränkte die Hände vor dem Bauch und legte dann die Mittelfinger aneinander. Shan erkannte das Symbol. Der Diamant des Verstands.
»Ai yi!« keuchte Yeshe.
»Was versucht er zu sagen?«
»Gar nichts. Und er wird auch nichts sagen. Diesen Mann hat man verhaftet? Das ergibt keinen Sinn. Er ist ein tsampsa«, sagte Yeshe resigniert. Er stand auf und ging zur Tür.
»Er hat ein Gelübde abgelegt?«
»Er ist in Klausur gegangen und braucht völlige Abgeschiedenheit. Er wird keinesfalls zulassen, daß man ihn stört.«
Shan drehte sich verwirrt zu Yeshe um. Es mußte sich um einen überaus schlechten Scherz handeln. »Aber wir müssen mit ihm reden.«
Yeshe stand zum Korridor gewandt. Ein neuer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. War es Verlegenheit, überlegte Shan, oder sogar Angst? »Unmöglich«, sagte Yeshe nervös. »Es ist ein Verstoß.«
»Gegen sein Gelübde?«
»Nicht nur gegen seines«, flüsterte Yeshe.
Plötzlich verstand Shan. »Sie sprechen von sich selbst.« Zum erstenmal gab Yeshe ihm gegenüber die religiösen Verpflichtungen zu, die er als Jüngling eingegangen war.
Shan legte eine Hand auf Sungpos Bein. »Können Sie mich hören? Sie werden des Mordes beschuldigt. In zehn Tages überstellt man Sie an ein Gericht. Sie müssen mit mir reden.«
Auf einmal war Yeshe wieder neben ihm und zerrte ihn weg. »Sie verstehen es nicht. Es ist sein Gelübde.«
Shan dachte, er wäre auf alles vorbereitet gewesen. »Wegen seiner Verhaftung? Aus Protest?«
»Natürlich nicht. Damit hat es nichts zu tun. Schauen Sie sich seine Akte an. Er wurde bestimmt nicht direkt im gompa festgenommen.«
»Nein«, bestätigte Shan, der den entsprechenden Bericht gelesen hatte. »Es war eine kleine Hütte, ungefähr anderthalb Kilometer oberhalb des gompa.«
»Ein tsam khan. Eine besondere Art Obdach. Zwei Zimmer. Für Sungpo und einen Begleiter. Man hat ihn aus seinem tsam khan geholt. Ich weiß nicht, wie weit er ist.«
»Wie weit?«
»In seinem Zyklus. Das Kloster Saskya ist orthodox. Man folgt dort den alten Regeln. Drei, drei, dei wäre der übliche Zyklus.«
Shan ließ sich zur Tür der Zelle ziehen. »Drei?«
»Der kanonische Zyklus. Absolutes Stillschweigen für drei Jahre, drei Monate und drei Tage.«
»Er spricht mit niemandem?«
Yeshe zuckte die Achseln. »Jedes Kloster folgt einem eigenen Protokoll. Manchmal ist vorgesehen, daß der Abt oder ein anderer hochverehrter Lama mit einem tsampsa kommunizieren darf.«
Inzwischen schaute Sungpo wieder auf einen Punkt jenseits der Mauern. Shan war sich nicht sicher, ob der vermeintliche Mörder sie überhaupt gesehen hatte.