172572.fb2 Der fremde Tibeter - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 7

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Kapitel 6

Während man die südlichen Klauen des Drachen noch nicht bezwungen hatte, wurden ihre nördlichen Gegenstücke bereits von einer holprigen Schotterstraße im Zaum gehalten, die entlang ihrer Grenzen verlief. Gereizt lenkte Sergeant Feng den Wagen über diese Strecke und fluchte laut über jeden der Felsen, die gelegentlich den Weg versperrten. Immer wieder legte er Pausen ein und grübelte über der Landkarte, obwohl er ihre Route vor dem Aufbruch mit einem roten Stift markiert hatte, als müßte er eine Militärkolonne an ihr Ziel lotsen. Anfangs hatte er befohlen, daß Yeshe mit der Karte zwischen ihm und Shan sitzen würde, aber nach fünfzehn Kilometern hielt er an und ließ die beiden aussteigen. Er musterte nachdenklich die Sitzbank, als würden sich zahlreiche verwirrende Alternativen eröffnen. Dann hellte sich sein Gesicht auf. Mit zufriedenem Grunzen schnallte er sein Pistolenholster von der rechten auf die linke Hüfte und ließ Shan in der Mitte Platz nehmen.

Shan sog die Karte gierig in sich auf. Er hatte das Tal während der letzten drei Jahre nur wenige Male verlassen und sich dabei stets in einem geschlossenen Gefangenentransporter befunden, so daß er einzelne Stücke der umliegenden Geographie nur völlig zusammenhanglos zu Gesicht bekam, als wären es Teile eines unerklärten Puzzles. Jetzt setzte er die Teile schnell zusammen. Er fand die Baustelle auf der Südklaue, wo Jao ermordet worden war, dann die Höhle, in der man den Kopf abgelegt hatte. Schließlich vollzog er ihren Weg durch die Berge nach, der zunächst um einen Gebirgskamm herumführte, bis sie beinahe die tiefe Schlucht erreichten, die Nord- und Südklauen voneinander trennte. Dann ging es im großen Bogen nach Westen weiter und um einen weiteren Kamm herum, bis sie letztendlich ein kleines Hochplateau erreichen würden, das auf der Karte mit einem handgeschriebenen Eintrag in schwarzer Tinte versehen war. Mei guo ren stand dort lediglich zu lesen. Amerikaner.

Als Feng den Wagen anhielt, um abermals Felsen aus dem Weg zu räumen, erkannte Shan, daß sie sich am Rand der zentralen Schlucht befanden, die bei den Tibetern als Drachenschlund bekannt war. Einige Jahrhunderte zuvor war von dieser Stelle aus ein Steinschlag in den Schlund gerutscht und hatte eine schmale Lücke hinterlassen, die sich der Schlucht entgegenneigte und einen guten Ausblick auf die Südklaue bot. Auf der Karte gab es an diesem Punkt ein kleines Symbol - drei Punkte, die ein Dreieck bildeten. Ruinen. Das war ein allumfassender Begriff. Er konnte einen Friedhof bedeuten, ein Kloster einen Schrein oder eine Schule. Ein Pfad führte den kurzen Abhang des Steinschlags empor und verschwand in Richtung des Abgrunds. Shan half Feng mit den Felsen, hielt dann kurz inne und lief den Pfad hinauf.

Die Ruine war eine Brücke, eine jener aufsehenerregenden Seilkonstruktionen, die in einem früheren Jahrhundert von Ingenieuren der Mönche mit dem Ziel errichtet worden waren, die Pilgerpfade begehbar zu machen. Sie war arg mitgenommen, aber nicht zerstört. Der Pfad, der zur Brücke und auf der anderen Seite von ihr wegführte, schien häufig benutzt zu werden. In mehr als einem Kilometer Entfernung entdeckte Shan einen kleinen roten Fleck, der sich deutlich von dem trockenen Heidekraut des steilen Hangs abhob.

»Wir dürften in ungefähr dreißig Minuten da sein«, sagte Feng, als Shan zum Wagen zurückkehrte. Er ließ den Motor an und protestierte lautstark, weil Shan ein Fernglas von der Rückbank nahm und wieder den Pfad hinaufstieg.

Er versuchte noch immer, den roten Fleck ins Visier zu bekommen, als Yeshe neben ihm sagte: »Ein Pilger.«

Shan erkannte sofort, daß Yeshe recht hatte. Obwohl die Entfernung zu groß war, glaubte er beinahe hören zu können, wie die hölzernen Hand- und Knieblöcke auf den Boden schlugen, wenn der Mann niederkniete, sich demütig in den Staub warf und mit der Stirn die Erde berührte. Alle frommen Buddhisten versuchten im Lauf ihres Lebens, zu jedem der fünf heiligen Berge zu pilgern. Wenn sie auf ihrem Weg an der 404ten vorbeikamen, durchbrachen die Häftlinge die Disziplin und riefen ihnen kurze Ermutigungen oder eine Zeile aus einem Gebet zu. Manchmal nahm ein Mann oder eine Frau sich für eine solche Pilgerreise ein ganzes Jahr Zeit. Mit dem Bus dauerte die Fahrt von Lhasa zum heiligsten Gipfel, dem Kailas, etwa zwölf Stunden. Der im Staube liegende Pilger benötigte bis zu vier Monate.

Sergeant Feng tauchte auf. »Die Amerikaner! Wir sollen doch zu den Amerikanern fahren.«

»Ich gehe über die Schlucht bis zu dem Gebirgskamm auf der anderen Seite«, sagte Shan.

Feng hob die Hand zur Stirn, als verspüre er plötzlich große Schmerzen. »Du kannst da nicht rüber«, knurrte er. Er nahm die Karte und grinste. »Schau doch selbst nach. Die Brücke existiert gar nicht.« Vor einigen Jahren hatte Peking alle alten Hängebrücken von den Karten getilgt. Die meisten waren von der Volksluftwaffe bombardiert worden, weil sie das Fortkommen der Widerstandskämpfer erleichterten.

»Gut«, sagte Shan. »Dann werde ich jetzt diese imaginäre Brücke überqueren. Sie können solange hier warten und sich vorstellen, ich würde dicht neben Ihnen stehen.«

Fengs rundes Gesicht umwölkte sich. »Hiervon hat der Oberst nichts gesagt«, murmelte er.

»Und Ihre Aufgabe besteht darin, mir bei den Ermittlungen behilflich zu sein.«

»Meine Aufgabe besteht darin, einen Sträfling zu bewachen.«

»Dann lassen Sie uns umkehren. Wir werden Oberst Tan bitten, seine Befehle zu erläutern. Sicherlich hat der Oberst vollstes Verständnis dafür, wenn ein Soldat einen Befehl nicht versteht.«

Sergeant Feng schaute verwirrt zurück zum Wagen. Yeshe hingegen wirkte äußerst ungeduldig. Er machte einen Schritt auf das Fahrzeug zu, als wolle er so schnell wie möglich weiterfahren. »Ich kenne den Oberst«, sagte der Sergeant verunsichert. »Wir haben schon lange Zeit vor Tibet zusammen gedient. Er hat meine Versetzung arrangiert, als ich darum bat, in seinen Bezirk zu kommen.«

»Hören Sie, Sergeant. Das hier ist keine militärische Übung, sondern eine Ermittlung. Ermittler entdecken und reagieren. Ich habe diese Brücke entdeckt, und jetzt werde ich darauf reagieren. Vom Kamm dieses Bergrückens aus kann man vermutlich die Baustelle der 404ten sehen. Ich muß wissen, ob es möglich wäre, dort hinunterzuklettern, was bedeuten würde, daß es außer der Straße noch eine andere Route gibt.«

Feng seufzte. Er überprüfte demonstrativ die Munition in seiner Pistole, schnallte den Gürtel enger und ging auf die Brücke zu. Yeshe wirkte sogar noch zögerlicher als Feng.

»Sie werden ihm niemals helfen können, das wissen Sie doch, oder?« sagte Yeshe zu Shans Rücken.

Shan drehte sich um. »Ihm helfen?«

»Sungpo. Ich weiß, was Sie denken. Sie glauben, Sie müßten ihm helfen.«

»Falls er schuldig ist, werden die Beweise den Vorwurf erhärten. Und falls er unschuldig ist, verdient er dann nicht unsere Hilfe?«

»Ihnen ist das egal, weil es Sie nicht stört, wenn Ihnen Schaden zugefügt wird. Aber Sie werden lediglich erreichen, daß auch wir anderen in Mitleidenschaft gezogen werden. Sie wissen, daß Sie niemanden retten können, der bereits formell beschuldigt wurde.«

»Wer versuchen Sie zu sein? Ein kleines Vögelchen, das dem Büro gern ein Liedchen trällern würde? Ist das Ihr Lebensinhalt?«

Yeshe starrte ihn aufgebracht an. »Ich versuche zu überleben«, sagte er steif. »Wie alle anderen auch.«

»Dann ist alles Verschwendung gewesen. Ihre Ausbildung. Ihre Zeit im Kloster. Ihre Haftstrafe.«

»Ich habe eine Anstellung. Ich werde die notwendigen Papiere erhalten und in die Stadt gehen. In der sozialistischen Ordnung gibt es für jeden einen Platz«, sagte er mit hohler Stimme.

»Für Leute wie Sie gibt es immer einen Platz. China ist voll davon«, erwiderte Shan und ging weiter.

Feng hatte die Brücke bereits erreicht und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. »Das ist... wir können doch nicht...« Er beendete den Satz nicht, sondern starrte auf die ausgefransten Haltetaue, die fehlenden Trittbretter und das Schwanken der wackligen Konstruktion im Wind.

Direkt vor der Brücke befand sich ein mehr als mannshoher Felshaufen. »Ein Opfer«, sagte Shan. »Reisende müssen zuerst ein Opfer darbieten.« Er nahm einen Stein vom Abhang, legte ihn auf den Haufen und trat auf die Brücke. Feng schaute zur Straße, als wolle er sich vergewissern, daß keine Zeugen zugegen waren. Dann suchte er sich hastig einen eigenen Stein und legte ihn auf den Haufen.

Die Bretter knarrten. Das Seil ächzte. Der Wind fegte durch den Trichter des Schlunds. Neunzig Meter unter ihnen floß ein schmales Rinnsal zwischen den zerklüfteten Felsen hindurch. Shan mußte sich zu jedem einzelnen Schritt zwingen und hatte große Mühe, die ängstlich verkrampften Hände von den Führungsseilen zu lösen und sich neuen Halt zu suchen.

In der Mitte blieb er stehen und stellte überrascht fest, daß man von hier aus eine gute Sicht auf Tans stolze Errungenschaft hatte, die neue Straßenbrücke, die sich am Übergang vom Schlund zum Tal befand. Der Wind zerrte an Shans Kleidung und versetzte die Brücke in Bewegung, so daß sie beunruhigend zu schaukeln begann. Er drehte sich um. Feng rief ihm etwas zu, doch seine Worte gingen im Wind unter. Er bedeutete Shan, nicht stehenzubleiben, denn er zweifelte, daß die Brücke das Gewicht von zwei Männern auf Dauer aushalten würde. Yeshe stand dort, wo Shan ihn zurückgelassen hatte, und starrte in den Abgrund.

Auf der anderen Seite der Schlucht stiegen sie zwanzig Minuten lang den steilen Abhang hinauf. Shan ging voran, und Sergeant Feng, der älter und weitaus schwerer war, kam nur mit Mühe hinterher. Schließlich rief der Sergeant eine Warnung. Als Shan sich umdrehte, hatte Feng die Pistole gezogen. »Falls du wegläufst, werde ich dich jagen«, schnaufte der Sergeant. »Alle werden dich jagen.« Er richtete die Waffe auf Shan, senkte sie aber sogleich wieder mit bestürztem Blick, als hätte die Bewegung ihn erschreckt. »Sie werden deine Tätowierung zurückbringen«, sagte er zwischen den keuchenden Atemzügen. »Mehr brauchen sie nicht. Nur die Tätowierung.« Er wirkte völlig unentschlossen. Dann winkte er mit der Pistole. »Komm her.«

Shan ging langsam auf ihn zu und wußte nicht, was ihn erwarten würde.

Feng nahm ihm das Fernglas ab und machte sich auf den Rückweg.

Shan ließ den Blick über den langgestreckten Hang des Bergrückens Richtung Süden schweifen. Der rote Fleck, der einen Pilger darstellte, war fast außer Sichtweite. Jenseits des oberhalb von Shan gelegenen Kamms befand sich die 404te. Er kletterte weiter. Als er den Grat erreicht hatte, fühlte er sich plötzlich überraschend heiter. Das Gefühl war so ungewohnt, daß er sich auf einen Felsen setzte, um darüber nachzudenken. Es war nicht nur die Befriedigung darüber, daß er einen weiteren Weg zur Baustelle gefunden hatte, die er nun unterhalb vor sich sah Es war nicht nur der ehrfurchtgebietende Ausblick wie vom Dach der Welt, der sich so weit erstreckte, daß Shan in mehr als hundertfünfzig Kilometern Entfernung den weiß schimmernden Gipfel des Chomolungma erspähen konnte, des höchsten Bergs im Himalaja. Es war die Klarheit.

Einen Moment lang schien er nicht nur die Kammlinie erreicht, sondern eine neue Dimension betreten zu haben. Der Himmel war nicht einfach bloß klar, sondern wie eine Linse, die alles größer und detaillierter als zuvor wirken ließ. Die Unordnung in seinem Geist schien vom Wind weggeblasen worden zu sein. Er berührte die Stelle an seinem Hinterkopf, an der man ihm die Haarlocke abgeschnitten hatte. Choje hätte gesagt, er erstürme die Tore der Buddhaschaft.

Und dann begriff er es: Es ging nur um den Berg. Man hätte Jao überall umbringen können, erst recht irgendwo entlang der abgelegenen Straße zum Flughafen. Doch man hatte ihn zur Südklaue gelockt, und zwar weil jemand wollte, daß ein jungpo den Berg beschützen würde. Jemand wollte den Bau der Straße verhindern. Viele Leute hatten ein Motiv für den Mord an Jao. Aber wer hatte Veranlassung, den Berg zu retten? Oder die Immigranten aufzuhalten, die sich im dahinter liegenden Tal niederlassen würden? Jao hatte sich in Begleitung von jemandem befunden, den er kannte und dem er vertraute. Diejenigen, die er kannte und denen er vertraute, wären aber am Bau und nicht an der Verhinderung von Straßen interessiert. Dem Mord haftete eine gewisse ungestüme Leidenschaft an, und doch hatte der Täter alles sorgfältig geplant. Es sah fast so aus, als gäbe es zwei Verbrechen, zwei Motive und zwei Mörder.

Shan fuhr mit den Fingern über die Schwielen an seinen Händen. Sie wurden bereits weich, schon nach so wenigen Tagen. Sein Blick richtete sich wieder auf die 404te, Die Gefangenen befanden sich auf dem Hang, und unterhalb von ihnen, am Ende der Brücke, hatte sich etwas verändert. Dort ragten drohend zwei riesige graue Panzer auf, neben denen die Mannschaftswagen der Kriecher standen. Die Häftlinge arbeiteten nicht. Sie warteten. Die Kriecher warteten ebenfalls. Rinpoche wartete. Sungpo wartete. Und jetzt wartete auch er selbst. Alles wegen des Bergs.

Aber Shan konnte nicht warten. Falls er nur abwartete, würde Sungpo von Tan vernichtet werden. Und die 404te würde den Kriechern zum Opfer fallen.

Er folgte dem Kamm zurück bis zur Abbruchkante am Drachenschlund. Aber die Felswand war nicht völlig senkrecht. Ein steiler schmaler Pfad, ein Ziegenpfad, führte in einer Reihe von Serpentinen bis zu einem Haufen Felsplatten neunzig Meter unter Shan. Langsam, denn ein Fehltritt würde einen tödlichen Sturz bedeuten, folgte er dem Pfad zu den Felsen. Sie waren vom Berg herabgefallen und hatten sich auf einem kleinen Vorsprung gesammelt, so daß eine windgeschützte Stelle entstanden war.

Shan trat hinaus auf eine große flache Platte und stellte fest, daß er genau auf die neue Drachenschlundbrücke schaute. Er war so nah dran, daß er nicht nur die laufenden Dieselmotoren der Panzer, sondern sogar vereinzelte Gesprächsfetzen der Wachen vom Abhang hören konnte.

Aus Angst, gesehen zu werden, wollte er wieder zurückweichen, als er plötzlich Kreidemarkierungen auf dem Felsen bemerkte. Es handelte sich um tibetische Schriftzeichen und buddhistische Symbole, obwohl er noch nie etwas Vergleichbares gesehen hatte. Er fertigte auf seinem Block eine Zeichnung davon an und trat zwischen zwei Platten, die so gefallen waren, daß sie ein umgekehrtes V und damit ein Dach bildeten. Er erstarrte. Im hinteren Teil des Unterschlupfes hatte man ein kreisförmiges Bild auf den Stein gemalt, ein kompliziertes Mandala, dessen Erstellung viele Stunden gedauert haben mußte. Davor stand eine Reihe kleiner Keramiktöpfe, wie man sie für Butterlampen benutzte. Sie waren alle zerbrochen. Aber sie waren nicht etwa zufällig kaputtgegangen. Man hatte sie in einer Reihe aufgestellt und dann nacheinander zertrümmert, wie bei einem Ritual.

Shan musterte erneut die Kreidezeichen. War der Pilger hiergewesen? Hatte der Pilger die 404te beobachtet? Er stieg wieder zum Kamm hinauf, weil er hoffte, einen weiteren Blick auf das rote Gewand zu erhaschen, aber der Pilger war nicht mehr zu sehen. Shan folgte dem Hang in südlicher Richtung und hielt nach Anzeichen Ausschau, die ihm verraten würden, welchen Weg der Pilger genommen hatte. Es gab noch einen weiteren Ziegenpfad, aber nichts, das auf Menschen oder einen Dämon schließen ließ.

Er hielt auf einen Felsvorsprung zu, der aus der Seite des Kamms ragte, und beschloß, daß er zu Feng und Yeshe zurückkehren würde, sobald er den Vorsprung erreicht hatte. Doch als er bei der großen Felsformation ankam, hörte er ein Blöken, das ihn weitergehen ließ. Hinter den Felsen befand sich an windgeschützter Stelle ein Teich. Eine kleine Schafherde lag am Rand des Wassers und genoß die Wärme. Die Tiere schauten ihm entgegen, wichen jedoch nicht zurück, als er sich näherte. Shan hockte sich am Wasser nieder und wusch sich das Gesicht. Dann legte er sich rücklings auf einen flachen Felsen, der die Sonnenhitze gespeichert hatte.

Ohne den Wind war die Sonne verführerisch. Einige Minuten lang schaute Shan den Tieren zu, nahm dann aus einer Laune heraus eine Handvoll Kiesel vom Boden neben dem Felsen und begann, die Steine abzuzählen Das war ein Trick, den sein Vater ihn gelehrt hatte. Lege immer sechs Steine beiseite, und die Anzahl die am Ende übrigbleibt, würde als unterste Ziffer des Tetragramms dienen, mit dessen Hilfe das Taoteking befragt wurde. Nach der ersten Runde hatte er noch vier Steine in der Hand, was einer durchbrochenen Linie aus zwei Segmenten entsprach. Nach drei weiteren Durchläufen hatte Shan ein Tetragramm aufgebaut, das aus zwei durchgehenden Linien über einer doppelt geteilten und eine einfach durchbrochenen Linie bestand. Im Tao-Ritual bedeutete dies Kapitel acht.

Am besten ist es, wie das Wasser zu sein. Der Wert des Wassers liegt darin, zu nähren ohne zu streben.

Er sprach die Worte laut und mit geschlossenen Augen.

Es bleibt an Orten, die andere verachten, und ist daher dem Gang der Dinge nah.

So hatte er es von seinem Vater gelernt. Sie benutzten Steine oder Reiskörner, schlossen dann die Augen und sprachen die Verse.

Shan ließ seinen Vater vor dem geistigen Auge erscheinen. Sie waren allein, nur sie beide, in dem geheimen Tempel in Peking, der ihnen durch so viele schwierige Jahre geholfen hatte. Sein Herz hüpfte vor Freude. Zum erstenmal seit mehr als zwei Jahren konnte er die Stimme seines Vaters hören, wie sie die Verse nachsprach. Die Stimme war noch immer da, nicht verloren, wie er befürchtet hatte, und wartete in einer entlegenen Ecke seines Verstands auf einen solchen Moment. Er roch den Ingwer, den sein Vater stets bei sich hatte. Falls er die Augen aufschlug, würde er dieses heitere Lächeln sehen, das dank des Stiefels eines Rotgardisten auf ewig schief bleiben würde. Shan lag regungslos da und erforschte ein fremdes Gefühl, von dem er beinahe glaubte, daß es Freude war.

Als er schließlich die Augen wieder öffnete, waren die Schafe verschwunden. Er hatte sie nicht gehen hören, und er konnte sie auf dem Abhang nicht entdecken. Mit friedlichem Gesichtsausdruck richtete er sich auf, drehte sich um und erstarrte. Auf einem Felssims über ihm saß eine kleine Gestalt, die in einen übergroßen Schaffellmantel gehüllt war und eine rote Wollmütze trug. Sie lächelte Shan überaus freundlich an.

Wie hatte der Mann sich so leise nähern können? Was hatte er mit den Schafen gemacht?

»Die Frühlingssonne ist am besten«, sagte die Gestalt mit einer Stimme, die stark, ruhig und hoch war. Das war kein Mann, sondern ein Junge, ein Jugendlicher.

Shan zuckte verunsichert die Achseln. »Deine Schafe sind verschwunden.«

Der Junge lachte. »Nein. Die Schafe glauben, daß ich verschwunden sei. Sie werden mich nachher schon finden. Wir halten sie nur deswegen, damit sie uns zu hochgelegenen Orten bringen. Eine Meditationstechnik, wenn man so will. Es ist jedesmal anders. Heute haben die Schafe mich zu dir geführt.«

»Eine Meditationstechnik?« fragte Shan, weil er nicht sicher war, ob er richtig gehört hatte.

»Du bist einer von ihnen, nicht war?« bemerkte der Junge auf einmal.

Shan wußte nicht, was er darauf antworten sollte.

»Han. Ein Chinese.« Es lag keinerlei Bosheit in den Worten des Jungen, nur Neugier. »Ich habe noch nie einen Chinesen gesehen.«

Shan starrte den Jungen verwirrt an. Sie befanden sich keine fünfundzwanzig Kilometer von der Bezirkshauptstadt entfernt. Bis zur nächsten Garnison der Volksbefreiungsarmee waren es rund dreißig Kilometer, und der Junge hatte noch nie einen Han- Chinesen zu Gesicht bekommen?

»Aber ich habe die Werke von Laotse studiert«, sagte der Junge und verfiel plötzlich in fließendes Mandarin.

Demnach war er die ganze Zeit hier gewesen. »Für jemanden, der noch nie einen Han gesehen hat, sprichst du sehr gut«, erwiderte Shan, ebenfalls auf Mandarin.

Der Junge schwang die Beine über die Kante. »Wir leben in einem Land der Lehrer«, stellte er sachlich fest. »Kapitel einundsiebzig«, sagte er und meinte damit wieder das Taoteking. »Kennst du die Einundsiebzig?«

»Wer weiß, daß er nicht weiß, ist weise«, rezitierte Shan. »Wer nicht um das Wissen weiß, ist leidend.« Nachdenklich betrachtete er den rätselhaften Jungen. Er sprach wie ein Mönch, war aber viel zu jung dafür. »Hast du es schon mal mit der Fünfundzwanzig versucht? Der Gang der Dinge bedeutet Fortschritt. Fortschritt bedeutet Ferne. Ferne bedeutet Rückkehr.«

Erneut leuchtete das Gesicht des Jungen freudig auf. Er wiederholte die Textstelle.

»Lebt deine Familie auf dem Berg?«

»Meine Schafe leben auf dem Berg«, erwiderte der Junge.

»Wer lebt auf dem Berg?« Shan ließ nicht locker.

»Die Schafe leben auf dem Berg«, wiederholte der Junge. Er nahm einen Kiesel auf. »Warum bist du gekommen?«

»Ich glaube, ich bin auf der Suche nach Tamdin.«

Der Junge nickte, als habe er mit dieser Antwort gerechnet. »Wenn er erweckt wird, müssen die Unreinen sich fürchten.«

Shan bemerkte eine Gebetskette an seinem Handgelenk, ein sehr altes Stück, das aus Sandelholz geschnitzt war.

»Wirst du in der Lage sein, Tamdin offen anzusehen, wenn du ihn findest?« fragte der Junge.

Shan schluckte und sah den merkwürdigen Jungen grübelnd an. Das schien die weiseste Frage zu sein, die man gegenwärtig stellen konnte. »Ich weiß es nicht. Was glaubst du?«

Das heitere Lächeln legte sich wieder auf das Gesicht des Jungen. »Das Geräusch des Wassers ist es, was ich glaube«, sagte er und warf den Kiesel in die Mitte des Teiches.

Shan sah den Kreisen zu, die über die Oberfläche des Wassers liefen. Dann wandte er sich zur Seite. Der Junge war verschwunden.

Als Shan zurückkehrte, lehnte Feng schlafend an dem Felshaufen. Yeshe saß am Rand der Brücke, keine zwei Meter von der Stelle entfernt, an der Shan ihn zurückgelassen hatte. Der Groll war aus seiner Miene verschwunden.

»Haben Sie irgendwelche Geister gesehen?« fragte er Shan.

Shan schaute zurück auf den Abhang. »Ich weiß es nicht.«

Nachdem Sergeant Feng den letzten Bergkamm hinter sich gelassen hatte und den Weg hinunter zum Plateau einschlagen wollte, hielt er den Wagen an, um sich anhand der Karte zu vergewissern. »Hier sollte doch eine Mine sein«, murmelte er. »Von einer Fischzucht hat niemand was gesagt.«

Unter ihnen erstreckten sich über eine weite Fläche zahlreiche künstlich angelegte Seen, so daß quer über die gesamte Hochebene ein großes ordentliches Rechteck neben dem anderen lag. Verwirrt musterte Shan die Szenerie. Am Ende der Straße befanden sich drei langgestreckte niedrige Gebäude, die in einer Reihe vor den Teichen angeordnet waren.

Auf dem Gelände herrschte keinerlei Aktivität, aber vor den Gebäuden stand ein Militärlaster. Tan hatte seine Pioniere geschickt. Vor dem Eingang des mittleren Hauses standen ein Dutzend Männer in grünen Uniformen und hörten jemandem zu, der auf den Stufen saß.

Niemand achtete auf Shan und Yeshe, als sie ausstiegen, aber sobald Sergeant Feng sich blicken ließ, kam Bewegung in die Soldaten. Sie zerstreuten sich eilig und mieden sorgfältig jeden Blickkontakt mit den Besuchern. Nun konnte man erkennen, wer dort mit einem Klemmbrett in der Hand auf der Treppe saß. Es war die amerikanische Leiterin der Mine, Rebecca Fowler. Warum, fragte Shan sich plötzlich, schickte Tan seine Pioniere, wenn doch das Ministerium für Geologie die Betriebserlaubnis der Mine außer Kraft gesetzt hatte?

Die Begrüßung der Amerikanerin bestand aus einem Stirnrunzeln. »Das Büro des Oberst hat angerufen. Es hieß, Sie wollten mit uns sprechen«, sagte sie langsam und präzise auf Mandarin. Sie stand auf und verschränkte die Arme, so daß das Klemmbrett an ihre Brust gedrückt wurde. »Aber ich weiß nicht, wie ich meinem Team Ihre Anwesenheit erklären soll. Er hat das Wort inoffiziell benutzt.«

»Theoretisch ist dies eine Untersuchung für das Justizministerium.«

»Aber Sie sind kein Angehöriger des Ministeriums.«

»In China ist es eine Art Kunstform, sich mit der Regierung auseinanderzusetzen«, entgegnete Shan.

»Er hat gesagt, es gehe um Jao. Aber er würde das gern geheimhalten. Eine theoretische Untersuchung. Theoretisch und geheim«, sagte sie mit einem herausfordernden Funkeln im Blick.

»Ein Mönch wurde verhaftet. Da gibt es nicht mehr viel geheimzuhalten.«

»Dann ist der Fall also geklärt.«

»Das hängt von der späteren Beweislage ab.«

»Ein Mönch wurde ohne Beweise verhaftet? Sie meinen, er hat ein Geständnis abgelegt?«

»Nicht unbedingt.«

Die Amerikanerin warf wütend die Arme empor. »Genau wie bei meinen Arbeitspapieren. Ich habe von Kalifornien aus den Antrag gestellt. Man hat mir gesagt, man könne keine Arbeitspapiere ausstellen, weil ich ja noch gar nicht hier arbeiten würde. Also habe ich geschrieben, daß ich kommen und den Antrag vor Ort stellen würde. Die Antwort lautete, ich dürfe ohne Arbeitspapiere nicht einreisen.«

»Sie hätten sagen sollen, das Geld für Ihr Projekt würde erst dann überwiesen werden, wenn Sie vor Ort den Empfang bestätigen könnten.«

Fowler schnitt eine Grimasse. »Mir ist etwas Besseres eingefallen. Nachdem ich drei Monate lang Faxe geschickt hatte, bin ich als Mitglied einer japanischen Reisegruppe nach Lhasa gefahren. Per Anhalter auf einem Lastwagen ging es dann weiter bis zu Jaos Büro. Dort habe ich ihn gebeten, mich zu verhaften. Weil ich nämlich ansonsten anfangen würde, das einzige ausländische Investitionsprojekt des Landes ohne meine Arbeitspapiere zu leiten.«

»So haben Sie ihn kennengelernt?«

Sie nickte. »Jao hat eine Weile darüber nachgedacht und ist dann in Gelächter ausgebrochen. Innerhalb von zwei Stunden hat er mir die Papiere besorgt.« Sie wies auf die Tür und ging voran in einen großen offenen Raum, in dem mehrere Schreibtische zu zwei großen Quadraten angeordnet waren. An einigen der Tische saßen Tibeter in weißen Hemden. Die meisten der Männer verließen sofort den Raum, als sie die Besucher sahen.

Fowler blieb neben der Tür eines angrenzenden Konferenzzimmers stehen, doch Shan ging zu einem der Schreibtische. Der Tisch war mit seltsamen Landkarten bedeckt, die leuchtend bunt waren und keinerlei Grenzlinien aufwiesen. Shan hatte dergleichen noch nie zu Gesicht bekommen.

Fowler trat an seine Seite und warf eine Zeitung auf die Karten. Einer der Büroangestellten rief, daß im Konferenzraum Tee bereitstehen würde. Yeshe und Feng folgten dem Mann hinein.

Shan blieb bei den Schreibtischen zurück. Er entdeckte Fotos von buddhistischen Artefakten, kleinen Götterstatuen, Gebetsmühlen, Zeremonienhörnern und zarten thangka-Bildern, die auf Seidenrollen gemalt waren. Jeder der Gegenstände wurde von einem anonymen Arm vor den Sucher der Kamera gehalten. Gesichter waren nicht zu sehen. »Ich bin verwirrt. Sind Sie nun Geologin oder Archäologin?«

»Die Vereinten Nationen nehmen Bestandsaufnahmen der Altertümer vor, die es wert sind, erhalten zu werden. Sie sind Teil des Menschheitserbes und gehören keiner politischen Partei.«

»Aber Sie arbeiten nicht für die Vereinten Nationen.«

»Meinen Sie denn nicht, daß es Dinge gibt, die alle Menschen gemeinsam haben?« fragte sie.

»Ich fürchte, ja.«

Rebecca Fowler musterte ihn unsicher und ging dann Tee holen. Shan schlenderte um das Quadrat aus Tischen herum. Am Rand des Raums lagen zwei Büros, die man durch gläserne Trennwände abgeteilt hatte. Auf einer der Türen stand PROJEKTLEITUNG, auf der anderen CHEFINGENIEUR. In Fowlers Büro lagen zahlreiche Akten und noch mehr dieser eigentümlichen Karten herum. An den Wänden des anderen Zimmers hingen Fotos mit tibetischen Motiven - kunstvolle Schnappschüsse von Kindern, Tempelruinen und windgepeitschten Gebetsfahnen. Vor einer der Wände stand ein Regal voller englischsprachiger Bücher über Tibet.

An der Wand vor Fowlers Büro hing ein Gruppenfoto, auf dem ein Dutzend ausgelassener Männer und Frauen zu sehen war. Shan erkannte Fowler, dann den blonden Amerikaner mit der metallgerahmten Brille, den stellvertretenden Ankläger Li sowie den leitenden Ankläger Jao.

»Die feierliche Einweihung dieses Gebäudes«, erklärte Fowler und reichte ihm einen Becher Tee. »Als die Anlage offiziell eröffnet wurde.«

Shan wies auf eine attraktive junge Chinesin, die strahlend lächelte. »Miss Lihua«, sagte Fowler. »Jaos Sekretärin.«

»Was hatten Ankläger Jao und sein Stellvertreter mit Ihrer Arbeit zu tun?«

Fowler zuckte die Achseln. »Jao war eher so eine Art allgemeiner Beobachter. Alles, was mit der Aufsichtskommission zusammenhing, hat er an Li delegiert.«

»Sie haben hier Telefone«, bemerkte Shan und wies auf die Schreibtische. »Aber ich sehe keine Leitungen.«

»Das ist ein Satellitensystem«, erläuterte sie. »Wir müssen mit unserem Labor in Hongkong in Kontakt bleiben. Und zweimal pro Woche sprechen wir mit unserer Zentrale in Kalifornien.«

»Auch mit dem UN-Büro in Lhasa?«

»Nein. Es handelt sich um ein internes System, das nur für ganz bestimmte Empfangsstationen innerhalb unserer Gesellschaft zugelassen wurde.«

»Nicht mal Lhadrung?«

Fowler schüttelte den Kopf. »Eine Verbindung nach Kalifornien steht innerhalb von sechzig Sekunden. Wenn ich jemanden in Lhadrung erreichen will, bedeutet das fünfundvierzig Minuten Fahrt. Ihr Land«, sagte sie, ohne zu lächeln, »ist ein einziges Paradoxon.«

»Als würde man amerikanischen Süßstoff in den Buttertee rühren«, sagte Shan, der in diesem Moment einer Tibeterin in weißem Bürokittel dabei zusah, wie sie kleine rosafarbene Pillen in eine Schale des traditionellen milchigen Gebräus schüttete.

Es gab Anschlagtafeln mit Sicherheitsvorschriften auf chinesisch und englisch sowie Mitteilungen über Belegschaftsversammlungen. Am anderen Ende des Raums befand sich eine geschlossene rote Tür, auf der ein Schild unbefugten Zutritt untersagte.

»Befindet sich das amerikanische Personal schon lange hier, Miss Fowler?« fragte Shan.

»Nur ich und Tyler Kincaid. Seit achtzehn Monaten.«

»Kincaid?«

»Mein Chefingenieur. Eine Art stellvertretender Leiter.« Sie warf Shan einen bedeutungsvollen Blick zu, den er dahingehend verstand, daß er Kincaid zusammen mit ihr bei der Höhle gesehen hatte. Der fröhliche Amerikaner, der »Home on the Range« gespielt hatte, um Oberst Tan eins auszuwischen; cfer Mann auf dem Foto der Gebäude-Einweihung.

»Keine anderen Westler? Was ist mit Besuchern aus Ihrer Firma?«

»Keine. Die Gegend ist viel zu abgelegen. Nur Jansen vom Büro der Vereinten Nationen in Lhasa. Ab übernächster Woche wird das alles anders.«

»Sie meinen die amerikanischen Touristen.«

»Genau. Die Touristen sollen etwa zwei Stunden hier verbringen. Und danach werden wir zum regulären Besuchspunkt der Touristenrundfahrten. Ich schätze, wir werden ihnen die leeren Büros und Tanks zeigen, damit sie etwas über die chinesische Bürokratie lernen.«

Shan ging nicht darauf ein. »Die UN-Kommission für Altertümer. Was haben Sie damit zu tun?«

»Manchmal leihen die sich von uns einen Lastwagen oder ein paar Seile.«

»Seile?«

»Sie erforschen Höhlen und klettern auf Berge.«

»Nehmen sie auch Artefakte mit?«

Fowler erstarrte. »Sie registrieren Artefakte«, sagte sie mit finsterem Blick. »Ich schätze, man könnte mich als Angehörige des hiesigen Komitees bezeichnen.«

»Es gibt ein Komitee?«

Fowler reagierte nicht.

»Was ist mit den Schwierigkeiten? Ohne die Unterstützung der Regierung können Sie nicht arbeiten. Ihre Betriebserlaubnis.« »Erinnern Sie mich bitte nicht daran.«

»Und dann die Erlaubnis, ein Satellitentelefon zu betreiben das ist wirklich außergewöhnlich. Aber Sie stellen sich offen gegen die Bemühungen der Regierung...«

Sergeant Feng tauchte neben Shan auf und stieß einen kurzen heiseren Laut aus, eine seiner Warnungen.

»... gegen die Bemühungen der Regierung, Artefakte zu beseitigen«, fuhr Shan auf englisch fort.

Rebecca Fowlers Augen blitzten überrascht auf. »Ihr Englisch ist gut«, antwortete sie in ihrer Muttersprache. »Wir befinden uns nicht in der Position, irgend etwas zu verhindern, das die Regierung tut. Wir sind lediglich der Überzeugung, daß Regierungen den Umgang mit kulturellen Errungenschaften nicht geheimhalten dürfen, vor allem, wenn Errungenschaften einer anderen Kultur betroffen sind. Die Kommission für Altertümer hilft beim Sammeln der Beweise.«

»Demnach haben Sie zwei Jobs?«

Feng stellte sich wütend zwischen sie, schien aber nicht sicher zu sein, was er tun sollte.

Fowler war fünfzehn Zentimeter größer als Feng. Sie sprach über seinen Kopf hinweg weiter, allerdings wieder auf Mandarin. »Wie steht's mit Ihnen, Inspektor? Wie viele Jobs hat ein inoffizieller Ermittler?«

Shan antwortete nicht.

Fowler zuckte die Achseln. »Ich bin Leiterin der Mine. Aber der Kommission gehört lediglich ein Ausländer an: Jansen, ein Finne. Er bittet andere Westler, die in entlegenen Gegenden arbeiten, ihm als Augen und Ohren zu dienen.«

»Ihr Komitee.«

Fowler nickte und schaute Sergeant Feng unangenehm berührt an.

»Sie haben noch immer nicht gesagt, weshalb Sie bei der Höhle aufgetaucht sind.«

»Ich wußte gar nicht, daß es dort eine Höhle gibt. Bis jemand die Armeelaster bemerkt hat.«

»Wer?«

»Armeefahrzeuge sind auffällig. Einer meiner tibetischen Ingenieure hat sie beim Klettern gesehen.«

»Aber Armeelastwagen lassen sich durch vielerlei Gründe erklären.«

»Eigentlich nicht. Es gibt im Hochgebirge zwei wesentliche Anlässe für Lastwagenverkehr. Entweder Manöver oder den Neubau eines Militärlagers oder Kollektivs. Das hier war kein Manöver, und es wurde auch kein Baugerät herangeschafft. Die Laster haben überhaupt nichts angeliefert. Zumindest nicht viel.«

»Also sind Sie zu dem Schluß gekommen, daß die Fahrzeuge statt dessen etwas abtransportiert haben. Sehr schlau.«

»Ich war mir nicht sicher. Aber sobald ich dort eintraf, habe ich zwei Dinge gesehen: Ihren Oberst und eine Höhle, vor deren Eingang es von Soldaten wimmelte.«

»Der Oberst könnte aus einem ganz anderen Grund dortgewesen sein.«

»Meinen Sie den Mord?«

»Ich habe mehrere amerikanische Freunde«, stellte Shan fest. »Und sie alle sind stets gern bereit, voreilige Schlüsse zu ziehen.«

»Es besteht ein Unterschied zwischen voreiligen Schlüssen und einer direkten Art. Warum sagen Sie nicht einfach nein? Tan hätte nein gesagt. Jao hätte nein gesagt, falls nötig.« Sie fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Shan erkannte, daß sie dies immer dann tat, wenn sie nervös war. »Sie haben Tan in seinem Büro offen herausgefordert. Sie sind nicht wie die anderen Chinesen, die ich kennengelernt habe.«

Das ging zu schnell. Shan trank seine Tasse aus und bat um mehr Tee. Während Fowler zu dem Konferenzraum neben der Eingangstür ging, nahm er das Anschlagbrett genauer in Augenschein. In einer der Ecken hing ein handgeschriebener tibetischer Text. Als Shan den Wortlaut erkannte, zuckte er vor Schreck zusammen. Es war die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Er führte Sergeant Feng weg von der Tafel und in das Konferenzzimmer, wo Fowler bereits am Tisch saß und mit dem Tee auf ihn wartete.

»Sind Sie demnach der Nachfolger von Ankläger Jao?« fragte Fowler.

»Nein. Dies ist lediglich ein kurzfristiger Auftrag, den der Oberst mir zugewiesen hat.«

»Er wäre enttäuscht gewesen. Jao las gern Arthur Conan Doyle, weil er selbst gern in Mordfällen ermittelte.«

»Das klingt ja ganz nach einer Gewohnheit.«

»Ein halbes Dutzend pro Jahr, schätze ich. Dies ist ein großer Bezirk.«

»Er hat die Fälle immer aufgeklärt?«

»Natürlich. Das war doch schließlich seine Aufgabe, oder?« fragte sie mit spöttischem Unterton. »Und jetzt haben Sie den Mörder schon verhaftet.«

»Ich habe niemanden verhaftet.«

Fowler musterte ihn nachdenklich. »Sie klingen, als würden Sie ihn für unschuldig halten.«

»Richtig.«

Fowler konnte ihre Überraschung nicht verbergen. »Langsam beginne ich Sie zu verstehen, Mr. Shan.«

»Nur Shan.«

»Ich begreife allmählich, warum Tan Sie von der Höhle weghaben wollte, als ich da war. Sie sind... wie hat er doch gleich die Tibeter genannt? Unberechenbar. Ich glaube nicht, daß Ihre Regierung diese Charaktereigenschaft zu würdigen weiß.«

Shan zuckte die Achseln. »Oberst Tan zieht es vor, sich nicht mit mehr als einer Krise gleichzeitig zu beschäftigen.«

Die Amerikanerin sah ihn an. »Wer von uns beiden stellt denn eine Krise für ihn dar, Sie oder ich?«

»Sie natürlich.«

»Na, ich weiß nicht recht.« Sie nippte an ihrem Tee. »Wenn Jao nicht von Ihrem Häftling ermordet wurde, von wem dann?«

»Von Ihrem Dämon. Tamdin.«

Fowler schaute sich um, ob jemand von ihrem Personal in Hörweite war. Die Leute hatten sich am anderen Ende des Raums versammelt. »Niemand hier macht Witze über Tamdin«, sagte sie leise und mit einem plötzlichen Anflug von Sorge in der Stimme.

»Das war kein Witz.«

»In jedem Dorf und jedem Schäferlager hier in der Gegend hören Sie Geschichten über den Besuch von Dämonen. Letzten Monat gab es Beschwerden über unsere Sprengungen. Es hieß, wir hätten ihn vermutlich aufgeweckt. Einen halben Tag lang hat niemand gearbeitet. Aber ich habe den Leuten erklärt, daß wir erst vor sechs Monaten mit den Sprengungen angefangen haben.«

»Wofür sind diese Sprengungen erforderlich?«

»Für Erdwälle. Für einen neuen Teich.«

Shan schüttelte verwundert den Kopf. »Aber wieso Teiche? Wozu all das Wasser? Wie können Sie hier Mineralien gewinnen? Es gibt doch gar keine Mine.«

Fowler lächelte. »Aber sicher«, sagte sie und wirkte erleichtert, das Thema wechseln zu können. »Direkt vor der Tür.« Sie nahm ein Fernglas und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Draußen führte sie ihn einen Pfad am Rand des größten Teichs entlang und hielt zielsicher auf die Mitte des höchsten Walls zu, der quer über die Talmündung verlief. Dort wartete sie, bis Yeshe und Sergeant Feng zu ihnen aufgeschlossen hatten. »Dies hier ist eine Niederschlagsmine.«

»Sie bauen Regen ab?« fragte Yeshe.

»So habe ich es eigentlich nicht gemeint, aber ich schätze, man könnte es so umschreiben. Wir bauen den Regen ab, der vor hundert Jahrhunderten gefallen ist.« Sie wies mit ausholender Geste über die Teiche hinweg. »Diese Ebene ist der Boden eines Beckens. Der einzige Abfluß führt in den Drachenschlund und wurde einst an dieser Stelle durch einen Erdrutsch blockiert. Die umliegenden Berge waren Vulkane. Lava strömte die Abhänge hinunter, und Lava steckt voller leichter Elemente. Bor. Magnesium. Lithium. Im Verlauf vieler Jahrhunderte hat der Regen die Lava aufgelöst und die Salze in das Becken geschwemmt. Ein Salzsee entstand. In Zeiten der Dürre bildete sich über dem See eine Kruste. Dreißig Zentimeter dick. Manchmal sogar anderthalb Meter. Dann wurde das Becken im Verlauf mehrerer feuchter Jahre wieder mit Wasser gefüllt, in dem sich ebenfalls die aufgelösten Minerale befanden. Dann eine weitere Kruste. Alle paar Jahrhunderte sorgte ein neuer Vulkanausbruch dafür, daß Lava auf den Hängen nachfloß. So ist auch der Große Salzsee in Amerika entstanden.«

»Aber diese Seen hier wurden künstlich angelegt.«

»Der natürliche Salzsee ist dennoch vorhanden. Genaugenommen elf davon. In verschiedenen Schichten, direkt unter uns. Wir haben bloß ein bißchen Erde bewegt, um die Oberflächenteiche zu bauen. Dort hinein pumpen wir die Salzlake und lassen sie verdunsten.« Fowler deutete auf drei kleine Hütten an verschiedenen Stellen des Talgrunds, die als Knotenpunkte für ein Netz aus Rohrleitungen dienten. »Aus diesen drei Brunnen wird alles gespeist.«

»Aber wo sind Ihre Fabrikanlagen?«

»In den Teichen. Bei der richtigen Konzentration schlagen sich die Bor-Partikel nieder. Jeder Teich wird in regelmäßigen Abständen trockengelegt, damit wir das Produkt einsammeln können, das sich auf dem Grund abgesetzt hat. Der Trick besteht dann, die richtige Konzentration aufrechtzuerhalten. Ein Fehler und wir ernten Tafelsalz. Oder ein Gemisch aus Metallen, deren Trennung zu teuer ist.«

Sie führte sie weiter bis zu dem Abfluß in den Drachenschlund, der durch den Wall versperrt wurde.

»Aber Sie haben doch gesagt, ein Erdrutsch hätte das Becken abgeriegelt.«

»Wir haben ihn beseitigt, weil er zu unsicher gewesen wäre. Der Damm muß aus festem Lehm bestehen. Mit dem hier sind wir gerade fertig geworden. Es ist unser letzter Wall.« Shan sah, daß der Teich neben ihnen soeben von den Brunnen gefüllt wurde. Der Wasserspiegel stand noch beträchtlich niedriger als in den anderen Becken. Die Amerikanerin wies auf das andere Ende des Plateaus und reichte Shan das Fernglas. »Der Teich ganz hinten wird gerade abgeerntet.«

Neben dem Teich türmte sich ein Hügel aus leuchtendweißem Material auf.

»Wir verfügen über eine primitive Veredelungsanlage, um das Produkt leicht zu verbessern. Sobald wir mit der kommerziellen Produktion beginnen, werden wir es in Säcke von je einer Tonne Fassungsvermögen abfüllen und in die ganze Welt liefern.« Shan bemerkte, daß sie bei diesen Worten auf einen anderen Punkt schaute, nämlich auf eine Ansammlung von Arbeitern in der Mitte der Teichanlage. Er richtete das Fernglas auf die Männer und sah, daß es sich um zwei getrennte Gruppen handelte. Niemand schien zu arbeiten.

»Die ganze Welt?« fragte er.

»Einen Teil an Fabriken in China«, antwortete sie beunruhigt. »Das meiste aber nach Hongkong, von wo aus es nach Europa und Amerika verschifft wird.«

Shan musterte die stumpfgrauen Baufahrzeuge neben der zweiten Gruppe. »Warum hat Tan die Leute geschickt, obwohl Ihre Betriebserlaubnis außer Kraft gesetzt wurde?«

»Das Ministerium für Geologie hat diese Anordnung erlassen.«

»Wer hat unterschrieben?«

Rebecca Fowler zögerte, als würde sie überlegen, ob sie darauf antworten sollte. »Direktor Hu.«

»Vom örtlichen Büro des Ministeriums?«

»Richtig. Aber ich habe Tan erklärt, daß wir das gesamte Material in den Teichen verlieren würden, falls wir unsere Arbeit jetzt einstellten. Der Prozeß ist so abgestimmt, daß die kommerziellen Produkte sich als erste ablagern. Falls wir warten, werden sie verunreinigt. Sechs Monate Arbeit könnten umsonst gewesen sein. Er war mit mir einer Meinung, daß wir unsere Versuchslieferungen fertigstellen können, weil die Betriebserlaubnis sich lediglich auf die Produktion zum kommerziellen Verkauf bezieht.«

»Aber dann stellen Sie die Arbeit ein?«

»Bis wir herausgefunden haben, was eigentlich vor sich geht.«

»Soll das heißen, Hu hat keinen Grund für die zeitweilige Aufhebung genannt?«

Fowler wollte nicht darauf antworten. Sie trat zwei Schritte zur Seite und schaute eine Felswand am Ende des Teiches empor. Shan beobachtete sie und versuchte herauszufinden, ob sie wegen Ankläger Jao, Direktor der Minen Hu oder ihm selbst aus der Fassung geraten war. Dann folgte er ihrem Blick. Die Klippe war beinahe senkrecht und erhob sich mindestens einhundert Meter hoch. Plötzlich bemerkte er eine Bewegung an der Wand und sah, daß von oben zwei weiße Seile herabbaumelten.

Fowler drehte sich um und schaute in Richtung der Abflußöffnung. »Man kann bis ins Tal blicken«, stellte sie fest.

Aber Shan wandte sich nicht um. Die Seile bewegten sich. Am oberen Rand tauchten zwei Gestalten in leuchtendroten Westen und weißen Helmen auf.

Plötzlich war von Yeshe ein überraschter Ausruf zu vernehmen. Er schaute den Drachenschlund hinunter. »Die 404te! Man kann sehen..«Er fing sich wieder und warf Shan, der soeben mit dem Fernglas herumfuhr, einen verlegenen Blick zu. Es dauerte nur wenige Sekunden, dem Drachenschlund bis zum Fuß der Bergkette zu folgen. Hinter ihnen lag eine mehr als dreißig Kilome ter lange Fahrt über eine beschwerliche Bergstraße, und dennoch hatten sie einen ungehinderten Ausblick auf die Baustelle der 404ten. Ein Rabe hätte im Flug weniger als fünf Kilometer zurücklegen müssen. Shan justierte die Linse nach und musterte Tans Brücke, die Panzer der Kriecher und die lange Reihe der Gefangenentransporter.

Er spürte den wütenden Blick der Amerikanerin und ließ das Fernglas sinken.

»Mein Chefingenieur hat es mir gezeigt«, sagte sie in vorwurfsvollem Tonfall. »Das ist eines Ihrer Sträflingsprojekte. Sklavenarbeit.«

»Die Regierung setzt häufig Zwangsarbeiterkolonnen im Straßenbau ein«, sagte Yeshe auf einmal selbstgerecht. »Peking sagt, es schärfe das sozialistische Bewußtsein.«

»Ich habe mit der UN darüber gesprochen.«

»Ich für meinen Teil bin sehr für den internationalen Dialog«, sagte Shan. Er spürte, wie sich der Lauf einer Pistole in seinen Rücken bohrte. Sergeant Feng stand hinter ihm. Shan drehte sich um. Fengs ausgestreckter Daumen wies in seine Richtung, und die Augen des Soldaten glühten.

Fowler hatte den Zwischenfall verfolgt. Sie schien etwas sagen zu wollen, als plötzlich ein lautes Geheul von der Felswand widerhallte. Sie drehten sich um und sahen, wie die beiden Gestalten sich mit hoher Geschwindigkeit abseilten und dabei immer wieder von der Wand abstießen.

»Verrückter Narr«, murmelte Fowler. »Das ist Kincaid. Er schult die jungen Ingenieure. Bevor seine Zeit hier herum ist, hat er sich noch den Everest vorgenommen. Er will mit einem Team aus Tibetern hochsteigen.«

»Everest?« fragte Yeshe.

»Verzeihung«, erwiderte Fowler. »Chomolungma heißt er bei Ihnen. Mutter Berg.«

»Es heißt >Gottmutter der Welt<«, korrigierte Yeshe sie.

Als die Gestalten den Fuß der Felswand erreichten, machten sie freudige Luftsprünge und umarmten sich. Dann kamen sie den langen Wall entlang, der schlanke Mann mit den leuchtenden Augen und dem Pferdeschwanz, den Shan bei der Höhle gesehen hatte, und der junge Tibeter, der ihm am Steuer des Geländewagens und später in Tans Büro begegnet war.

»Ich bin Tyler«, stellte der Amerikaner sich vor. »Tyler Kincaid. Einfach nur Kincaid reicht aus.« Als er Sergeant Feng bemerkte, verschwand sein Lächeln. Sein Blick richtete sich auf die Pistole des Soldaten. »Das hier ist Luntok, einer unserer Ingenieure«, sagte er und wies beiläufig mit dem Daumen auf seinen Begleiter.

»Kincaid ist für den Zauber in den Teichen verantwortlich«, erklärte Fowler.

»Die Natur zaubert von ganz allein«, entgegnete er gelassen. Er sprach leicht gedehnt, wie Shan es bei den Schauspielern in amerikanischen Westernfilmen gehört hatte. »Ich liefere ihr bloß eine Gelegenheit.«

Nachdenklich musterte er Shan und senkte dann die Stimme.

»Sie waren bei der Höhle. Mit Tan«, sagte er anklagend. »Wir wollen wissen, was es mit dieser Höhle auf sich hat.«

»Ich ebenfalls. Ich muß wissen, weshalb Sie dort aufgetaucht sind.«

»Weil dort etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Weil es ein heiliger Ort ist«, sagte Kincaid.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Es ist eine jener Stellen, die von den Buddhisten als Orte der Macht bezeichnet werden. Am Ende eines Tals gelegen und nach Süden geöffnet. Daneben eine Quelle und ein großer Baum.«

»Demnach sind Sie bereits dort gewesen?«

Kincaid machte eine ausholende Geste in Richtung der Berge. »Wir klettern ziemlich oft in der Gegend herum. Luntok hat die Lastwagen gesehen. Aber auch ohne die Laster hätten wir dort etwas Wichtiges vermutet. Die Topographie ist zu eindeutig.«

Plötzlich ertönte ein Signalhorn und gab ein langes durchdringendes Heulen von sich, das in den Ohren schmerzte. Neben Fowler tauchte ein Arbeiter auf, der nach dem Lauf über den Wall vernehmlich nach Luft keuchte. »Es gibt einen Kampf!« rief er. »Sie werden die Ausrüstung zerstören!«

»Verfluchte BDKs!« herrschte Tyler seine Kollegin an. »Ich hab's dir doch gesagt!« Er rannte auf den Ort der Auseinandersetzung zu. Luntok folgte ihm dicht auf den Fersen.

Die tibetischen Arbeiter hatten sich in der Mitte des Tals aufgereiht. Ein riesiger grauer Bulldozer, auf dem ein halbes Dutzend von Tans Pionieren saß, war durch eine primitive Barrikade aus kleineren Wagen und Baggern aufgehalten worden. Die Soldaten ließen in schneller Folge das Signalhorn des Bulldozers erschallen, so daß es sich wie die Geschoßgarbe eines Maschinengewehrs anhörte. Die Tibeter saßen mit übergeschlagenen Beinen vor den Fahrzeugen auf dem Boden.

Kincaid lief zwischen die Linien, stellte sich zu den Tibetern und hielt den Soldaten eine Standpauke.

Shan streckte Rebecca Fowler das Fernglas entgegen. Sie nahm es nur zögernd. »Das hatte ich nicht beabsichtigt...«, sagte sie. »Falls jemand verletzt würde, könnte ich mir das niemals verzeihen.« Sie drehte sich zu Shan und wirkte beinahe überrascht, daß sie ihm dieses Geständnis gemacht hatte. Ihr Blick wurde flehentlich. »Sagen Sie ihnen, sie sollen gehen.«

»Wem?«

»Den Soldaten. Sagen Sie Tan, daß wir es irgendwie anders schaffen werden, den Zeitplan einzuhalten.«

»Es tut mir leid. Ich habe keinerlei Befehlsgewalt.«

»Natürlich haben Sie das«, wandte Yeshe ein. »Sie sind ein direkter Vertreter von Oberst Tan und werden ihm jedes Fehlverhalten melden.« Yeshe schien hin und her gerissen zu sein. Dann rannte er auf die Soldaten zu. Er würde nicht zulassen, daß ein Zwischenfall bei der Mine den Abschluß seines Auftrags verzögerte. Schließlich hatte der Mann ein Ziel, erinnerte Shan sich.

Die Soldaten ließen ihren Bulldozer immer wieder die Schaufel heben und senken, so daß die Maschine wie ein hungriges Ungeheuer wirkte, das gierig seine Beute verschlingen wollte. Kincaid lief hin und her, wies energisch auf die Teiche, die Berge und die Geräteschuppen.

»Mr. Kincaid ist ein ungewöhnlich eifriger Mann«, stellte Shan fest. Er bemerkte Fowlers verwirrten Blick. »Für einen Bergbauingenieur.«

»Tyler Kincaid ist ein Schatz. Er hätte überall für die Gesellschaft arbeiten können. New York. London. Kalifornien. Australien. Er hat sich für Tibet entschieden. Wir sind dreizehntausend Kilometer von zu Hause entfernt und versuchen, mit unerprobter Technik und einer unerprobten Belegschaft in unerprobtem Gelände eine Mine zu eröffnen. Bei so einem Projekt ist ein gewisser Arbeitseifer meines Erachtens unabdingbar.«

»Sie sagen, er hätte überall arbeiten können. Weil er so qualifiziert ist?«

»Erstens das und zweitens, weil seinem Vater die Firma gehört.«

Shan beobachtete, wie Tyler Kincaid zum Anführer der Soldaten ging, ihn bei den Schultern packte und schüttelte. Seinem Vater gehörte das Unternehmen, und Kincaid arbeitete an dem zweifellos weltweit entlegensten und unzugänglichsten Außenposten der Firma. »Er hat etwas erwähnt. BDKs. Was bedeutet das?«

»Das ist bloß seine Art, sich auszudrücken.«

»Aber wen meint er damit?«

»Die Bürokraten, schätze ich.« Sie erkannte, daß er sich damit nicht zufriedengeben würde, und zuckte die Achseln. »Ein BDK ist ein Beschissener Dreckskommunist«, erklärte sie und richtete dann ihre Aufmerksamkeit mit einem belustigten Grinsen wieder auf die Arbeiter.

Yeshe tauchte vor den Soldaten auf und deutete in Richtung Shan. Die Schaufel des Bulldozers verharrte in der Bewegung, und die Soldaten schauten mit spürbarer Unsicherheit zum Wall. Kincaid nutzte die Atempause, um zum Verwaltungsgebäude zu rennen, aus dem er sogleich wieder mit Höchstgeschwindigkeit zurückkehrte. Er trug einen schwarzen Kasten bei sich. Fowler hob das Fernglas, gab einen kurzen amüsierten Laut von sich und reichte es dann an Shan weiter.

Kincaid brachte einen tragbaren Kassettenrekorder. Er stellte ihn vor den Bulldozer hin und begann, amerikanische Rockmusik abzuspielen, und zwar dermaßen laut, daß Shan sie vom Wall aus hören konnte. Dann fing der amerikanische Ingenieur zu tanzen an.

Im ersten Moment starrten ihn alle nur an. Dann lachte einer der Soldaten. Einer seiner Kameraden begann ebenfalls zu tanzen, dann einer der Tibeter. Alle anderen lachten jetzt auch.

Fowler seufzte. »Danke«, sagte sie, als wäre Yeshes Einschreiten Shans Idee gewesen. »Krise abgewendet, Problem nach wie vor nicht gelöst«, sagte sie und machte sich auf den Rückweg zum Büro.

Shan schloß zu ihr auf. »Haben Sie schon an einen Priester gedacht?« fragte er.

»Einen Priester?«

»Die Tibeter arbeiten nicht, weil sie glauben, daß auf irgendeine Weise ein Dämon erweckt wurde.«

Fowler schüttelte bekümmert den Kopf und ließ den Blick über das Tal schweifen. »Irgendwie kann ich das alles gar nicht glauben. Ich kenne diese Leute. Sie sind keine Heiden.«

»Das haben Sie mißverstanden. Die meisten glauben nicht etwa, daß irgendein Ungeheuer die Berge heimsucht, sondern daß das Gleichgewicht gestört wurde. Das daraus resultierende Ungleichgewicht bringt Böses hervor. Der Dämon ist lediglich eine Manifestation jenes Unheils. Es könnte die Gestalt einer Person, eines Vorfalls oder sogar eines Erdbebens annehmen. Wiederhergestellt werden kann das Gleichgewicht durch die richtigen Rituale, den richtigen Priester.«

»Sie sagen, all das sei symbolisch gemeint? Der Mord an Jao war bestimmt kein symbolischer Akt.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher.«

Sie schaute in den Schlund hinunter und dachte über Shans Vorschlag nach. »Das Religionsbüro würde ein Ritual niemals zulassen. Der Direktor sitzt in unserer Aufsichtskommission.«

»Ich habe durchaus nicht an einen der Priester des Büros gedacht. Sie würden jemand Besonderen benötigen. Jemand mit den richtigen Fähigkeiten. Jemand aus den alten Klöstern. Der richtige Priester würde den Leuten begreiflich machen, daß sie nichts zu befürchten haben.«

»Gibt es denn wirklich nichts zu befürchten?«

»Für Ihre Arbeiter bestimmt nicht.«

»Gibt es denn wirklich nichts zu befürchten?« wiederholte die Amerikanerin und fuhr sich mit den Fingern durch das kastanienbraune Haar.

»Ich weiß es nicht.«

Sie gingen schweigend weiter.

»Bei meinen Angaben über die Auswirkungen des Projekts habe ich nichts dergleichen vorhergesehen«, sagte Fowler.

»Es handelt sich nicht unbedingt um eine Folge Ihrer Arbeit an der Mine.«

»Aber ich dachte, das wäre auf jeden Fall der Auslöser...«

»Nein. Irgend etwas ist hier vorgefallen. Nicht der Mord an Jao, denn davon wissen nur wenige. Etwas anderes. Irgend etwas wurde beobachtet. Etwas, das den Tibetern Angst eingejagt hat und das im Rahmen ihrer Weltsicht erklärt werden mußte. Eine mögliche Erklärung wären die Arbeiten am Berg. Jeder Felsen, jeder noch so kleine Stein hat seinen Platz. Und jetzt sind die Felsen und Steine bewegt worden.«

»Aber der Mord hat damit zu tun, nicht wahr?« Es war eigentlich keine Frage. »Der Dämon. Tamdin.« Ihre Stimme war nun beinahe ein Flüstern.

»Ich weiß es nicht.« Shan sah sie an. »Mir war nicht klar, daß der Mord Sie so sehr aus der Fassung gebracht hat.«

»Ich muß ständig daran denken«, sagte sie und schaute zurück zu den Arbeitern. Die Fahrzeuge entfernten sich voneinander. »Ich kann nachts nicht schlafen.« Sie wandte sich wieder zu Shan um. »Ich tue seltsame Dinge. Ich spreche zum Beispiel mit jemandem, der mir völlig fremd ist.«

»Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen möchten?« Während sie sich den Gebäuden näherten, bemerkte Shan eine Bewegung am Ende des hintersten Hauses. Aus einer Seitentür traten einige Tibeter, zumeist Arbeiter, aber auch alte Frauen und Kinder in traditioneller Kleidung.

Rebecca Fowler schien keine Notiz davon zu nehmen. »Ich bin nur irgendwie der Ansicht, daß eine Verbindung zwischen meinen und Ihren Problemen besteht.«

»Zwischen dem Mord an Ankläger Jao und der Aufhebung Ihrer Betriebserlaubnis?«

Fowler nickte langsam. »Da ist noch etwas, aber jetzt, nachdem die Erlaubnis außer Kraft gesetzt wurde, klingt es so, als wäre ich rachsüchtig. Jao war Mitglied unserer Aufsichtskommission. Bevor er bei seinem letzten Besuch von hier weggefahren ist, hat Jao sich erbittert mit Direktor Hu vom Ministerium für Geologie gestritten. Nach dem Treffen hat Jao ihn draußen regelrecht angeschrien. Es ging um diese Höhle. Jao hat gesagt, Hu müsse mit dem, was er bei der Höhle macht, unbedingt aufhören. Er sagte, er würde selbst eine Gruppe schicken.«

»Demnach wußten Sie schon vor diesem Streit von der Höhle?«

»Nein. Ich habe das alles zunächst nicht verstanden. Aber später hat Luntok dann von den Lastwagen erzählt, die ihm aufgefallen waren. Ich hatte immer noch keine Verbindung hergestellt, bis ich selbst bei der Höhle gewesen war. Und sogar dann habe ich mich noch so sehr über Tan geärgert, daß mir der Streit zwischen Jao und Hu erst später eingefallen ist.«

Sie hatten schon fast den Wagen erreicht, wo Yeshe und Sergeant Feng bereits warteten. Sie blieb stehen. »Wie finde ich den Priester, den ich brauche?« fragte sie mit eindringlicher Stimme.

»Fragen Sie Ihre Arbeiter«, schlug Shan vor. War es möglich, fragte er sich, daß sie Hu und sogar Tan herausfordern würde, um den Betrieb ihrer Mine zu sichern?

»Ich kann nicht. Auf diese Weise wäre es offiziell. Das Religionsbüro würde vor Wut schäumen. Das Ministerium für Geologie wäre völlig außer sich. Helfen Sie mir dabei, einen zu finden. Ich kann das nicht allein.«

»Dann fragen Sie die Berggipfel.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich weiß es nicht. Es ist eine tibetische Redensart. Ich glaube, es bedeutet, daß man beten soll.«

Rebecca Fowler packte seinen Arm und sah ihn verzweifelt an. »Ich möchte Ihnen helfen«, sagte sie, »aber Sie dürfen mich nicht belügen.«

Seine Antwort war ein unbeholfenes, schiefes Lächeln. Dann schaute er sehnsüchtig zu den fernen Gipfeln. Miss Fowler würde er niemals belügen, aber er würde sich bereitwillig selbst etwas vormachen, falls darin seine einzige Aussicht auf Flucht bestand.