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»Es gibt Neuigkeiten«, murmelte Sergeant Feng dem Soldaten im Kampfanzug zu, der am Tor der 404ten Wache stand. »Die taiwanesische Invasion wird an der Küste stattfinden, nicht im Himalaja.«
Die 404te glich einem Kriegsschauplatz. Am Rand des Bereichs waren Zelte errichtet worden. Man hatte den ursprünglichen Stacheldrahtzaun durch zusätzliche Drahtrollen aufgestockt, an denen gefährlich aussehende, rasiermesserscharfe Klingen angebracht waren. Die Stromzufuhr war unterbrochen, abgesehen von dem Draht, der zu einer neuen Scheinwerferbatterie am Tor führte, so daß das Gelände ins Halbdunkel getaucht wurde, als sich der letzte Schimmer der Abenddämmerung über das Tal senkte. Die Soldaten waren damit beschäftigt, aus Sandsäcken Unterstände für Maschinengewehre zu bauen, als rechneten die Truppen des Büros mit einem Frontalangriff. Ein frischgemaltes Schild erklärte einen fünf Meter breiten Streifen innerhalb des Zauns zur Todeszone. Sollte ein Gefangener unaufgefordert diesen Bereich betreten, konnte er ohne Vorwarnung erschossen werden.
Der Soldat hob sein Sturmgewehr. Sein Gesicht strahlte eine Roheit aus, die Shan erschaudern ließ. Sergeant Feng stieß Shan so heftig durch das Tor, daß er auf die Knie fiel. Der Kriecher musterte Feng einen Moment lang und wich dann mit widerwilligem Stirnrunzeln zurück.
»Man muß denen klarmachen, wer hier das Sagen hat«, murmelte Feng, als er zu Shan aufschloß. Shan erkannte, daß es als eine Art Entschuldigung gemeint war. »Verdammte großspurige Gockel. Sacken den ganzen Ruhm ein und ziehen dann weiter.« Er blieb stehen und musterte die Unterstände der Kriecher. Dann deutete er auf Shans Baracke. »Dreißig Minuten«, rief er und ging zurück in die hell erleuchtete Todeszone.
Die Luft in der dunklen Hütte roch intensiv nach Paraffin. Ein Geräusch war zu hören, als würden Mäuse über einen Felsboden huschen. Die Gebetsketten liefen auf Hochtouren. Jemand flüsterte Shans Namen, und eine Kerze wurde entzündet. Mehrere der Häftlinge setzten sich auf, ließen die Rosenkränze sinken und starrten ihn an. Die Müdigkeit war ihren Gesichtern deutlich anzusehen. Aber manche der Männer ließen noch etwas anderes erkennen. Widerstand. Es ängstigte Shan, aber es freute ihn auch.
Trinle sprang auf, sobald er Shan erblickte.
»Ich muß mit ihm sprechen«, bat Shan nachdrücklich. Choje lag völlig regungslos auf dem Bett hinter Trinle.
»Er ist sehr erschöpft.«
Plötzlich hob Choje die Hände und faltete sie über Mund und Nase. Dann atmete er dreimal tief durch. Das war für jeden frommen Buddhisten das Ritual des Erwachens. Das erste Mal atmete man aus, um die Sünde zu tilgen, das zweite Mal, um die Verwirrung zu beseitigen, und das dritte Mal, um die Hindernisse auf dem Weg der Wahrhaftigkeit beiseite zu schieben.
Choje setzte sich auf und begrüßte Shan mit einem kurzen Lächeln. Er trug ein Priestergewand, ein unerlaubtes Priestergewand, das man aus Sträflingshemden zusammengenäht und irgendwie gefärbt hatte. Wortlos stand er auf, trat in die Mitte des Raums und ließ sich im Lotussitz nieder. Trinle gesellte sich zu ihm, und Shan nahm zwischen ihnen Platz.
»Du bist schwach, Rinpoche. Ich hatte nicht vor, deine Ruhe zu stören.«
»Es gibt so viel zu tun. Heute hat jede Hütte zehntausend Rosenkränze gebetet. Viele der Männer haben sich vorbereitet. Morgen werden wir versuchen, noch mehr zu schaffen.«
Shan biß die Zähne zusammen und kämpfte gegen seine Gefühle an. »Vorbereitet?«
Choje lächelte nur.
Ein seltsames scharrendes Geräusch durchbrach die Stille.
Shan fuhr herum. Einer der jungen Mönche drehte ehrfürchtig eine Gebetsmühle, die man aus einer Blechdose und einem Bleistift angefertigt hatte.
»Bekommst du zu essen?« fragte Shan.
»Die Küche wurde geschlossen«, erklärte Trinle. »Es gibt nur Wasser. Am Tor werden mittags Eimer hingestellt.«
Shan zog die Papiertüte aus der Manteltasche, in der sich sein aufgespartes Mittagessen befand. »Ein paar Klöße.«
Choje nahm die Tüte feierlich entgegen und reichte sie Trinle, damit dieser den Inhalt verteilte. »Wir danken dir. Wir werden versuchen, etwas davon an diejenigen im Stall weiterzugeben.«
»Sie haben den Stall aufgemacht«, flüsterte Shan. Es war keine Frage, sondern eine qualvolle Feststellung.
»Drei der Mönche aus einem gompa im Norden. Sie haben vor dem Tor gesessen und eine Teufelsaustreibung gefordert.«
»Ich habe die Truppen draußen gesehen. Sie wirken ungeduldig.«
Choje zuckte die Achseln. »Sie sind jung.«
»Sie werden nicht damit alt werden, auf streikende Häftlinge zu warten.«
»Was können sie schon erwarten? Da ist ein verärgerter jungpo. Es würde nur einen Tag dauern, das Gleichgewicht wiederherzustellen.«
»Oberst Tan wird Exorzismus auf dem Berg niemals zulassen. Es wäre für ihn eine Niederlage, und er würde vor aller Augen in Verlegenheit gebracht.«
»Dann wird dein Oberst eben mit allen beiden leben müssen.« In Chojes Stimme schwang keinerlei Trotz mit, sondern lediglich ein Anflug von Mitleid.
»Mit allen beiden«, wiederholte Shan. »Du meinst Tamdin.«
Choje seufzte und schaute sich in der Hütte um. Da war noch ein anderes ungewohntes Geräusch. Shan drehte sich um und sah den khampa neben der Tür sitzen. Die Augen des Mannes funkelten angsteinflößend.
»Holst du uns hier raus, Zauberer?« fragte er Shan. Er hatte den Griff von seiner Blechschale abgebrochen und schärfte ihn an einem Stein. »Wieder einer deiner Tricks? Läßt du die Kriecher alle verschwinden?« Er lachte und fuhr mit seiner Tätigkeit fort.
»Trinle hat seine Pfeilmantras geübt«, merkte Choje an und musterte den khampa mit betrübtem Blick. Ein Pfeilmantra war laut der alten Legenden ein Zauberspruch, durch den die Zielperson innerhalb kürzester Zeit über große Entfernungen transportiert wurde. »Er wird sehr gut dann. Eines Tages wird er uns überraschen. Ich habe als Junge einmal beobachtet, wie ein alter Lama den Ritus vollführt hat. Auf einmal verschwamm seine Gestalt, und dann war er verschwunden. Wie ein Pfeil, der von einer Bogensehne schnellt. Eine Stunde später war er wieder da und trug eine Blume bei sich, die nur bei einem achtzig Kilometer entfernten gompa wuchs.«
»Also wird Trinle dich mit Pfeilgeschwindigkeit verlassen?« fragte Shan und konnte seine Ungeduld nicht verhehlen.
»Trinle weiß so vieles. Ein Teil des Wissens muß erhalten bleiben.«
Shan seufzte tief, um sich selbst zu beruhigen. Choje klang so, als würde der Rest ihrer Welt nicht überleben. »Ich muß mehr über Tamdin wissen.«
Choje nickte. »Manche sagen, Tamdin sei noch nicht fertig.« Er blickte Shan traurig in die Augen. »Er wird keine Gnade zeigen, falls er noch einmal zuschlägt. Zu Zeiten des Siebenten«, sagte Choje und meinte damit den siebten Dalai Lama, »wurde eine komplette mandschurische Armee vernichtet, als sie in Tibet einfiel. Auf ihrem Vormarsch ist ein Berg über ihnen zusammengestürzt. Die Schriften sagen, es sei Tamdin gewesen, der den Berg umgestoßen hat.«
»Rinpoche, hör mir bitte gut zu. Glaubst du an Tamdin?«
Choje sah Shan mit großer Wißbegierde an. »Der menschliche Körper ist solch ein unvollständiges Gefäß für den Geist. Mit Sicherheit ist im Universum noch ausreichend Platz für viele andere Behältnisse.«
»Aber glaubst du an einen leibhaftigen Dämon, der in den Bergen umgeht? Ich muß erfahren, ob... ob es irgendeine Möglichkeit gibt, dies alles zu beenden.«
»Du stellst die falsche Frage«, erwiderte Choje sehr langsam und im gleichen Tonfall, in dem er sonst Gebete sprach. »Ich glaube, daß die Essenz, die man Tamdin nennt, in der Lage ist, von einem Menschen Besitz zu ergreifen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Wenn es manche gibt, die Buddhaschaft erlangen, so gibt es vielleicht andere, denen die Tamdinschaft vorherbestimmt ist.«
Shan barg den Kopf in beide Hände und kämpfte gegen eine überwältigende Müdigkeit an. »Falls es eine Hoffnung geben soll, muß ich mehr davon verstehen.«
»Du mußt lernen, es zu bezwingen.«
»Was soll ich bezwingen?«
»Diese Sache namens Hoffnung. Du bist noch immer ganz davon erfüllt, mein Freund. Sie läßt dich irrtümlich glauben, du könntest die ganze Welt besiegen. Sie lenkt dich von weitaus wichtigeren Dingen ab, und sie läßt dich glauben, die Welt wäre von Opfern, Schurken und Helden bevölkert. Aber das ist nicht unsere Welt. Wir sind keine Opfer, sondern fühlen uns vielmehr geehrt, daß unser Glaube auf die Probe gestellt wird. Falls es uns bestimmt ist, von den Kriechern vernichtet zu werden, dann ist das eben unsere Bestimmung. Weder Hoffnung noch Angst werden etwas daran ändern.«
»Rinpoche, mir fehlt die Kraft, nicht zu hoffen.«
»Manchmal mache ich mir Sorgen um dich«, sagte Choje. »Ich fürchte, daß du zu sehr nach Antworten suchst.«
Shan nickte traurig. »Ich weiß nicht, wie man nicht danach suchen kann.«
Choje seufzte. »Sie haben einen Lama verhaftet«, sagte er. »Einen Einsiedler aus dem Kloster Saskya.«
Shan hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich zu fragen, auf welche Weise Informationen sich innerhalb der tibetischen Bevölkerung und über Gefängnismauern hinweg verbreiteten. Es war beinahe so, als würden die Tibeter eine geheime Form der Telepathie praktizieren.
»Ist dieser Lama der Täter?« fragte Choje.
»Du glaubst, ein Lama wäre zu einer solchen Tat fähig?«
»Jeder Geist kann einen Fehltritt tun. Buddha persönlich mußte gegen zahllose Versuchungen ankämpfen, bis er schließlich die Verwandlung erfuhr.«
»Ich habe diesen Lama gesehen«, sagte Shan ernst. »Ich habe ihm ins Gesicht geschaut. Er hat es nicht getan.«
»Ah«, seufzte Choje und verstummte. »Ich verstehe«, sagte er nach einer ganzen Weile. »Du mußt die Freilassung dieses Lama erreichen, indem du beweist, daß der Mord von dem Dämon Tamdin begangen wurde.«
»Ja«, gab Shan mit leiser Stimme schließlich zu und sah in seine Hände.
Die beiden Männer saßen schweigend da. Vor irgendwo außerhalb der Hütte war ein langes geisterhaftes Stöhnen zu vernehmen, als leide jemand unsägliche Schmerzen.
Yeshe weigerte sich, als Shan ihm am nächsten Morgen seine Aufgabe erklärte. »Allein die Frage nach einem Zauberer könnte mich hinter Gitter bringen«, klagte er.
Feng fuhr sie durch die niedrigen Hügelgebiete und Heideflächen, die den Weg in die Stadt säumten. Eine gewundene Reihe von Weiden und hohen Riedgräsern markierte den Verlauf des Flusses, der nach den zahlreichen Kaskaden im Drachenschlund nun mit etwas gemächlicherer Geschwindigkeit durch das Tal floß. Sie passierten eine Stelle, an der Bulldozer einen Hügel eingeebnet hatten, damit einige Reihen inzwischen absterbender Gewächse angepflanzt werden konnten Wind und Trockenheit hatten die Pflanzen dermaßen gebeugt und verdreht, daß man nicht mehr zu erkennen vermochte, worum es sich handelte. Ein weiterer fehlgeschlagener Versuch, etwas von außerhalb hier Wurzeln schlagen zu lassen, das Tibet weder brauchte noch wollte.
»Wofür hat man Sie bestraft?« fragte Shan den Tibeter. »Weshalb wurden Sie zu Zwangsarbeit verurteilt?«
Yeshe antwortete nicht.
»Warum haben Sie nach wie vor Angst vor ihnen? Man hat Sie doch freigelassen.«
»Jeder geistig gesunde Mensch hat Angst vor ihnen.« Yeshe grinste anzüglich.
»Es geht um Ihre Reisepapiere, nicht wahr? Sie glauben, Sie werden sie nicht bekommen, falls Sie mit mir zusammenarbeiten Ohne neue Reisepapiere werden Sie niemals aus Tibet herauskommen, nie eine standesgemäße Anstellung in Sichuan erhalten und sich nie Ihren neuen Fernsehapparat kaufen können.«
Yeshe schien sich über diese Vorhaltungen zu ärgern, aber er stritt sie nicht ab. »Es ist falsch, diese Leute, die Zauberformeln benutzen, auch noch zu bestärken«, sagte er. »Sie sorgen dafür, daß Tibet einem früheren Jahrhundert verhaftet bleibt. So wird es für uns ganz bestimmt keinen Fortschritt geben.«
Shan starrte Yeshe an, sagte jedoch nichts. Yeshe rutschte auf seinem Sitz herum und schaute mißmutig zum Fenster hinaus. Auf der Straße ging eine Frau, die sich in einen großen Filzumhang gewickelt hatte, und führte an einem Seil eine Ziege hinter sich her.
»Soll ich Ihnen sagen, woraus die Geschichte Tibets bestanden hat?« fragte Yeshe mürrisch und schaute dabei weiterhin aus dem Fenster. »Aus einem einzigen langen Machtkampf zwischen Priestern und Zauberern. Die Geistlichen verlangen, daß wir nach Vollkommenheit streben. Doch der Weg zur Vollkommenheit ist sehr lang. Die Zauberer bieten Abkürzungen an. Sie ziehen ihre Macht aus der Schwäche des Volkes, und das Volk ist ihnen auch noch dankbar dafür. Manchmal sitzen die Priester am Ruder und errichten ihr Ideal. Dann wieder herrschen die Zauberer und ruinieren das Ideal, obgleich sie vorgeben, in dessen Namen zu handeln.«
»Darum geht es also in Tibet?«
»Das ist der Antrieb der Gesellschaft. In China ist es das gleiche, denn ihr habt auch eure Zauberer. Nur daß ihr sie Sekretär Sowieso und Minister Irgendwas nennt. Mit einem kleinen roten Zauberbuch, verfaßt vom Vorsitzenden persönlich. Dem Oberzauberer.«
Auf einmal blickte Yeshe bestürzt auf, denn ihm wurde plötzlich klar, daß Feng ihm womöglich zugehört hatte. »Ich hatte nicht vor...«, stotterte er und drehte sich wieder zum Fenster um.
»Demnach jagen diese Schüler von Khorda Ihnen Angst ein, nicht wahr?« fragte Shan. Vielleicht sollten sie alle lieber Angst haben, erkannte er. Falls du Tamdin erreichen willst, hatte Choje gesagt, dann sprich mit Khordas Lehrlingen.
»Schüler? Wer hat hier was von Schülern gesagt? Das ist gar nicht nötig. Die Leute erzählen andauernd von dem alten Zauberer. Er lebt, wenn man das so nennen will. Es heißt, er brauche nicht zu essen. Manche behaupten, er brauche nicht einmal zu atmen. Aber wir werden seinen Unterschlupf ausfindig machen müssen.«
»Unterschlupf?«
»Sein Versteck. Es könnte eine Höhle hoch in den Bergen sein, vielleicht aber auch der Marktplatz. Er ist sehr geheimnistuerisch und bleibt ständig in Bewegung, huscht von Schatten zu Schatten. Man sagt, er könne sich in Luft auflösen wie ein schmaler Rauchfetzen. Wir werden vermutlich etwas Zeit benötigen.«
»Gut. Der Sergeant und ich gehen erst zum Restaurant und dann zu Ankläger Jaos Haus. Danach ins Büro des Oberst. Kommen Sie dorthin, sobald Sie den Zauberer gefunden haben.«
»Dieser Khorda wird niemals bereit sein, mit einem Ermittler zu sprechen.«
»Dann sagen Sie ihm die Wahrheit. Erzählen Sie ihm, daß ich ein geplagter Mann bin, der etwas Magie dringend nötig hat.«
Als Shan eintraf, wollte das Restaurant soeben schließen. »Haben Sie Ankläger Jao gekannt?« rief er dem Oberkellner durch einen Spalt in der Tür zu.
»Ja. Gehen Sie.«
»Er hat hier vor fünf Tagen mit einer Amerikanerin zu Abend gegessen.«
»Er hat oft hier gegessen.«
Shan legte eine Hand auf den Türgriff. Der Mann schien die Tür erst zudrücken zu wollen, aber dann sah er Feng und gab nach. Eilig zog er sich durch den vorderen Flur zurück.
Shan trat ein und folgte dem Schatten des fliehenden Kellners. Im Gang hockten einige Hilfskellner. In der Küche wich jeder seinem Blick aus.
Er holte den Mann ein, als dieser durch eine Seitentür wieder den Speiseraum betrat. »Hat jemand an dem betreffenden Abend eine Nachricht überbracht?« fragte Shan den Kellner, der seinen unbeholfenen Rückzug weiter fortsetzte, Tabletts aufnahm und nervös nach ein paar Schritten wieder abstellte, nur um kurz darauf einen Stapel Teller vom Tresen zu nehmen.
»He, Sie da!« rief Sergeant Feng von der Türöffnung aus.
Der Mann zuckte zusammen und ließ vor Schreck die Teller fallen, die auf dem Boden in tausend Stücke zerbrachen. Er blickte verzweifelt auf die Scherben. »Das weiß niemand mehr. Es war viel zu tun.«
Der Mann begann zu zittern.
»Wer ist hier gewesen? Jemand war bereits vor mir da. Jemand hat Ihnen gesagt, Sie sollen nicht mit mir sprechen.«
»Das weiß niemand mehr«, wiederholte der Kellner.
Als Feng sich anschickte, den Raum zu betreten, hob Shan beschwichtigend die Hand und ging weg.
»Wer wird die Teller bezahlen?« klagte der Kellner hinter ihm. Shan konnte ihn noch immer wie ein Kind schluchzen hören, als er zur Tür hinausging und wieder in den Wagen einstieg.
Ankläger Jao hatte in einem kleinen Haus im Regierungsbezirk auf der neuen Seite der Stadt gewohnt, einem quadratischen Stuckgebäude mit zwei Zimmern und einer separaten Küche. In Tibet war dies gleichbedeutend mit einer vornehmen Villa.
Shan blieb am Eingang stehen und bemerkte, daß das Heidekraut entlang der Hauswand kürzlich niedergetrampelt worden war. Die Tür stand ein kleines Stück offen. Er stieß sie mit dem Ellbogen auf und achtete darauf, keinesfalls die Fingerabdrücke zu verwischen, die sich eventuell auf dem Türgriff befinden mochten. Er hoffte, hier vielleicht eine Antwort auf die Frage zu finden, weshalb Ankläger Jao den Umweg zur Südklaue eingeschlagen hatte. Zumindest würde er einen Eindruck von Jao dem Privatmann bekommen, was Shan helfen könnte, die Interessen und Antriebe des Ermordeten nachzuvollziehen.
Es war ein ordentliches, anonymes Zimmer. Auf einem kleinen Tisch in der Ecke lag unter einem Poster der Hongkonger Skyline ein dekoratives Mah-Jongg-Spiel. Die einzigen weiteren Einrichtungsgegenstände waren zwei große, dick gepolsterte Sessel. Shan blieb verblüfft stehen. Auf einem der Sessel saß zusammengesackt ein junger Mann und schlief tief und fest.
Plötzlich hörte Shan Stimmen aus der Küche. Li Aidang erschien, genauso elegant und herausgeputzt wie bei ihrem ersten Zusammentreffen in Oberst Tans Büro. »Genosse Shan!« rief er mit geheuchelter Begeisterung. »Es heißt doch Shan, nicht wahr? Sie haben sich neulich nicht formell vorgestellt. Sehr schlau.« Der Mann auf dem Sessel regte sich, warf blinzelnd einen kurzen Blick auf Shan, streckte sich und schloß wieder die Augen.
Hinter Li war eine Gruppe tibetischer Frauen soeben damit beschäftigt, die Wände und den Boden abzuwaschen. »Sie säubern dieses Haus, bevor die Ermittlungen vollständig durchgeführt sind?« fragte Shan ungläubig.
»Kein Grund zur Sorge. Alles bereits durchsucht. Nichts gefunden.«
»Manchmal sind Beweise nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Papiere. Fingerabdrücke.«
Li nickte, als würde er Shan nachsichtig belehren müssen. »Aber das Verbrechen wurde doch gar nicht hier verübt. Und das Haus gehört dem Ministerium. Man darf es nicht leerstehend lassen.«
»Was ist, wenn der Mörder etwas Bestimmtes haben wollte? Was ist, wenn er hierher zurückgekommen ist und das Haus durchsucht hat?«
Li breitete die Arme aus. »Es hat nichts gefehlt«, sagte er. »Und wir wissen bereits über die Bewegungen des Mörders Bescheid. Von der Südklaue zur Höhle. Von der Höhle zurück zu seinem Kloster.« Er hob die Hand, um weitere Diskussionsversuche abzuwehren, und rief dann dem Mann auf dem Sessel etwas zu. Der Mann regte sich erneut und reichte Li eine Mappe, die dieser an Shan weitergab. »Ich habe mir die Freiheit erlaubt, Jaos Arbeitsplan zusammenzustellen. Die Komitees, denen er angehört hat. Einzelheiten der Verhandlung, in deren Verlauf der Verdächtige Sungpo als einer der Fünf von Lhadrung zu einer Haftstrafe verurteilt wurde.«
»Ich dachte, wir würden mit seiner Sekretärin sprechen.«
»Hervorragende Idee«, erwiderte Li und zuckte die Achseln. »Aber sie nimmt ihren Urlaub immer gleichzeitig mit Jao. Sie ist in Hongkong und in derselben Nacht wie Jao abgereist. Ich habe sie selbst zum Flughafen gebracht.«
Draußen blieb Shan neben dem Wagen stehen und sah ungläubig dabei zu, wie die Putzkolonne anfing, auch die Außenwände des Hauses mit einem Schlauch abzuspritzen.
»Kleine Vögel singen laut«, sagte Feng belustigt, als er sich hinter das Steuer setzte.
Plötzlich fiel es Shan wieder ein. Die einzige Person, der er davon erzählt hatte, daß er zum Haus und zum Restaurant gehen würde, war Yeshe.
Als Dr. Sung in der Eingangshalle der Klinik auftauchte, trug sie einen Operationskittel und blutige Handschuhe. Um ihren Hals hing eine koujiao-Maske. »Sie schon wieder?«
»Sie klingen enttäuscht«, sagte Shan.
»Die Schwester hat gesagt, da seien zwei Männer mit Fragen über Ankläger Jao. Ich dachte, es wären die anderen.«
»Die anderen?«
»Der stellvertretende Ankläger. Sie beide sollten eine Dialektik in Erwägung ziehen.«
»Wie bitte?«
»Miteinander reden. Machen Sie Ihre Arbeit richtig, damit ich bei meiner nicht unnötig behindert werde.«
Shan biß die Zähne zusammen. »Demnach ist Li Aidang hier gewesen und hat Fragen über die Leiche gestellt?«
Shans Unbehagen schien Sung zu gefallen. »Nicht nur über die Leiche, sondern auch über Sie und Ihre Begleiter«, erwiderte sie und warf einen kurzen Blick auf Feng, der am anderen Ende der Halle wartete. »Li hat die Liste der persönlichen Besitztümer mitgenommen. Sie, Genosse, haben gar nicht erst danach gefragt.«
»Tut mir leid«, entgegnete Shan, ohne zu wissen warum.
Doktor Sung streifte die Handschuhe ab. »Ich habe in einer Viertelstunde die nächste Operation.« Sie drehte sich um und ging den Flur hinunter.
»Der Oberst hat den Kopf herschicken lassen«, sagte Shan zu ihrem Rücken und folgte ihr.
»Was für eine entzückende Geste, habe ich gedacht«, sagte sie mit beißendem Sarkasmus. »Man hätte mich ja auch vorwarnen können. Hoppla, einfach so aus der Tüte. Hallo, Genosse Ankläger.«
Die Ärztin hatte doch sicherlich gewußt, womit man bei Tan rechnen mußte, dachte Shan. Dann begriff er. »Soll das heißen, Sie haben ihn gekannt?« »Es ist eine kleine Stadt. Selbstverständlich habe ich Jao gekannt. Wir haben uns letzte Woche voneinander verabschiedet, weil er in Urlaub fahren wollte. Dann packe ich das Päckchen des Obersts aus, und plötzlich starrt er mir entgegen, als hätten wir noch eine Rechnung zu begleichen.«
»Und wie lauten Ihre Schlußfolgerungen?«
»Worüber?« Sie öffnete einen Schrank und musterte die beinahe leeren Fächer. »Na, großartig.« Sie zog die Handschuhe wieder an. »Ich habe schriftlich um mehr Handschuhe gebeten. Man sagte mir, ich solle doch einfach die alten Handschuhe sterilisieren. Diese Narren. Was passiert wohl mit LatexHandschuhen, wenn man versucht, sie auszukochen?«
»Die Untersuchung des Kopfes.«
»Ai yi!« rief sie und verdrehte die Augen. »Jetzt will er auch noch die Autopsie eines Kopfes«, sagte sie zu der fleckigen Decke.
Shan schaute sie einfach nur an.
»Okay. Ein Schädel, intakt. Ein Gehirn, intakt. Hör-, Seh-, Geschmacks- und Geruchsorgane allesamt intakt. Ein großes Problem.«
Shan beugte sich vor. »Sie haben etwas gefunden?«
»Er hätte dringend mal zum Friseur gemußt.« Sie ging weiter den Flur entlang. Shan starrte ihr hinterher.
»Haben Sie seine zahnärztlichen Unterlagen überprüft?« fragte er.
»Sie glauben schon wieder, Sie wären in Peking. Jao hatte Zahnersatz im Mund, aber der wurde nicht in Tibet angefertigt Es gibt keine Unterlagen, mit denen man den Befund vergleichen könnte.«
»Haben Sie untersucht, ob der Kopf zu dem Körper gehört?«
»Wie viele geköpfte Leichen haben Sie denn sonst noch auf Lager, Genosse?«
Shan sah sie wortlos an.
Sung murmelte etwas vor sich hin, zog die Handschuhe hoch und warf ihm eine koujiao aus dem Schrank zu.
Schweigend gingen sie ins Leichenschauhaus. Der Gestank dort drinnen war nahezu überwältigend. Shan band sich die Maske fester vor Mund und Nase und schaute über seine Schulter. Sergeant Feng hatte sich geweigert mitzukommen. Er wartete auf dem Flur und schaute durch das kleine Fenster in der Tür.
Auf einem der Untersuchungstische befand sich ein fleckiger Karton, der auf einem zugedeckten Körper stand. Shan wandte sich ab, als Dr. Sung den Inhalt des Kartons hervorholte und sich über die Leiche beugte.
»Erstaunlich. Er paßt.« Sie winkte Shan zu sich heran. »Vielleicht möchten Sie es selbst versuchen? Nein, ich weiß etwas Besseres. Wir schneiden Arme und Beine ab und spielen ein lustiges Legespiel.«
»Mich interessiert die Art der Schnitte.«
Sung warf ihm einen verärgerten Blick zu, nahm dann eine Flasche mit Alkohol und säuberte das Fleisch rund um den Hals. »Eins, zwei... ich zähle drei Schnitte. Keine brutalen Hiebe, wie ich schon gesagt habe. Präzise, als würde man eine Scheibe von einem Braten abschneiden.«
»Woher wissen Sie das?«
»Falls der Mörder sich auf reine Kraftanwendung beschränkt hätte, wäre das Gewebe zerquetscht worden. Das hier sind hingegen sehr saubere Schnitte, die von einem rasiermesserscharfen Instrument stammen. Als hätte ein Metzger sie vorgenommen.«
Ein Metzger. Er hatte Sung zuvor bereits darauf hingewiesen, daß Tibet das einzige Land auf der Welt war, in dem es Metzger gab, deren Hauptaufgabe im Zerteilen menschlicher Körper bestand. »Haben Sie nach einem Bluterguß am Kopf gesucht?«
Sung blickte auf.
»Sie haben es ja schon richtig erkannt«, fügte Shan hinzu. »Zunächst wurde er hingelegt. Kein Blut auf seiner Kleidung. Man muß ihn bewußtlos geschlagen haben. Dann hat man ihm den Kopf abgeschnitten.«
»Wir müssen hier nur selten vollständige Autopsien durchführen«, flüsterte sie und zog eine Rollampe an den Rand des Tisches. Es sollte wohl so eine Art Entschuldigung darstellen.
Sergeant Feng ging draußen im Korridor auf und ab, während sie die Kopfhaut untersuchte.
»Da haben wir's«, sagte sie schließlich. »Hinter dem rechten Ohr. Eine lange gezackte Quetschung. Ein Stück der Haut ist aufgeplatzt.«
»Ein Knüppel? Ein Schlagstock?«
»Nein, etwas mit unebener Oberfläche. Könnte ein Stein gewesen sein.«
Shan zog die Karte hervor, die der Ankläger bei sich getragen hatte. »Wissen Sie, weshalb Jao mit jemandem gesprochen haben könnte, der Röntgenapparate verkauft?«
Sung musterte das kleine Stück Karton. »Amerikanische Geräte?« fragte sie und gab ihm die Karte zurück. »Zu teuer für Tibet.« Sie zog einen Schreibblock aus der Tasche und machte sich eifrig Notizen.
»Warum könnte er sich für solche Geräte interessieren?«
Sie zuckte die Achseln. »Das muß wohl mit einer seiner Untersuchungen zu tun gehabt haben.« Sie stellte den Kragen ihrer Bluse auf, als sei ihr plötzlich kalt geworden.
»Was ist mit den Amerikanern bei der Mine? Würden die mit solchen Apparaten etwas anfangen können?«
Sung schüttelte den Kopf. »Die müssen wie alle anderen hierher ins Krankenhaus kommen. Die Zuteilung der medizinischen Ressourcen ist sorgfältig geplant.«
»Und was bedeutet das?« fragte Shan.
»Es bedeutet, daß die produktivsten Angehörigen des Proletariats zuerst versorgt werden müssen.«
Shan starrte sie ungläubig an. Sie betete hier argwöhnisch einen Leitsatz herunter, als würden sie sich in einer tamzing- Sitzung befinden. »Die produktivsten Angehörigen, Doktor?«
»Es gibt ein Memo aus Peking. Ich kann es Ihnen zeigen. Darin steht, daß die Tibeter permanente Hirnschäden erleiden, weil sie ihre Kindheit in sauerstoffarmen Höhenlagen verbringen.«
Shan wollte sich damit nicht zufriedengeben. »Sie sind eine Absolventin der Bei Da-Universität, Doktor. Der Unterschied zwischen medizinischer und politischer Wissenschaft ist Ihnen doch sicherlich bewußt.«
Sie erwiderte seinen Blick einen Moment lang und schaute dann zu Boden.
»Das hier ist bestimmt nicht einfach«, kam Shan ihr entgegen. »Eine Autopsie an einem Freund vorzunehmen.«
»Freund? Jao und ich haben hin und wieder ein paar Worte gewechselt. Meistens ging es bloß um irgendwelche Ermittlungen oder Amtspflichten. Und er hat Witze erzählt. In Tibet bekommt man nur selten Witze zu hören.«
»Zum Beispiel?«
Sung dachte kurz nach. »Den hier weiß ich noch. Warum sterben Tibeter jünger als Chinesen?« Sie sah ihn erwartungsvoll an, und ihr Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Weil sie es so wollen.«
»Ermittlungen. Sie meinen Morde?«
»Man liefert mir hier Tote an. Mord, Selbstmord, Unfall. Ich fülle lediglich die Formulare aus.« »Aber unser Formular wollten sie nicht ausfüllen.«
»Manchmal ist es schwierig, das Offensichtliche zu ignorieren.«
»Und bei den anderen? Sind Sie denn nie neugierig?« fragte er.
»Neugier kann sehr gefährlich sein, Genosse.«
»Wie viele Unfalltode haben Sie in den letzten beiden Jahren untersucht?«
»Meine Aufgabe besteht darin, Ihnen über diesen Toten hier Auskünfte zu erteilen«, erwiderte Sung stirnrunzelnd. »Mehr nicht.«
»Richtig. Schließlich haben Sie für die anderen Fälle ja Ihre Formulare.«
Sung hob kapitulierend beide Hände. »Also, ich kann mich noch an drei erinnern, die beim Klettern abgestürzt sind. Vier wurden von einer Lawine verschüttet. Ein Erstickungstod. Vier oder fünf bei Verkehrsunfällen. Einer ist verblutet. Es fällt nicht in meinen Verantwortungsbereich, darüber Buch zu führen. Außerdem betreffen diese Fälle größtenteils die Han- Bevölkerung. Die örtlichen Minderheiten«, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Blick, »machen nur selten von den Einrichtungen Gebrauch, die ihnen von der Volksregierung zur Verfügung gestellt werden.«
»Der Erstickungsfall?«
»Der Direktor des Büros für Religiöse Angelegenheiten ist in den Bergen gestorben.«
»Höhenkrankheit?«
»Er hat nicht genug Sauerstoff bekommen«, räumte Sung ein.
»Aber das wäre eine natürliche Todesursache.«
»Nicht unbedingt. Er hat nach einem Schlag auf den Kopf das Bewußtsein verloren. Bevor er sich davon erholen konnte, hat jemand seine Luftröhre mit Kieseln vollgestopft.« »Kieseln?« Shan fuhr auf.
»Wirklich rührend«, sagte Sung mit einem morbiden Lächeln. »Das war die traditionelle Methode, um Angehörige des Königshauses zu töten.«
Shan nickte langsam. »Weil es niemandem gestattet war, ihnen Gewalt anzutun. Gab es eine Verhandlung?«
Sung zuckte abermals die Achseln. Es schien ihre Lieblingsgeste zu sein. »Ich glaube ja. Gegen ein paar üble Elemente. Sie wissen schon, Protestler.«
»Was für Protestler?«
»Keine Ahnung. An die Gesichter kann ich mich nicht erinnern. Falls man es verlangt, gehe ich hin und lese dem Gericht meine medizinischen Berichte vor. Es ist immer das gleiche.«
»Sie meinen, Sie lesen immer Ihre Berichte vor. Und dann wird immer ein Tibeter verurteilt.«
Sungs einzige Antwort war ein wütender Blick.
»Ihr Pflichtbewußtsein ist wirklich begeisternd«, sagte Shan.
»Ich würde gern eines Tages nach Peking zurückkehren, Genosse. Wie steht's mit Ihnen?«
Shan ignorierte die Frage. »Derjenige, der verblutet ist. Ich vermute, er hat sich eigenhändig fünfzig tödliche Stichwunden beigebracht.«
»Nicht ganz«, sagte Sung und funkelte ihn böse an. »Sein Herz wurde herausgeschnitten. Ich habe da eine bestimmte Theorie.«
»Eine Theorie?« fragte Shan mit einem Funken Hoffnung.
»Es war kein Selbstmord.« Auf dem Weg nach draußen stieß sie dermaßen heftig die Tür auf, daß Sergeant Feng beiseite springen mußte.
Zwanzig Minuten später stand Shan in Tans Büro. Er war im Warteraum an Yeshe vorbeigegangen und hatte dessen aufgeregtes Flüstern ignoriert.
»Deine Dreistigkeit, Häftling Shan, wird nur von der Größe des Chomolungma übertroffen«, erklärte Tan.
»Wissen Sie ganz bestimmt, daß die Fälle nicht miteinander in Verbindung stehen?«
»Unmöglich«, knurrte der Oberst. »Die Fälle sind abgeschlossen. Du solltest eigentlich ein Loch auffüllen und nicht ständig neue schaufeln.«
»Aber falls ein Zusammenhang... «
»Es gibt keinen.«
»Die Fünf von Lhadrung werden sie von den Leuten genannt. Sie selbst haben sie erwähnt, Oberst. Ich habe es zuerst nicht verstanden, als Sie sagten, die Protestler würden Ihre Befürchtung immer wieder bestätigen, daß Sie nach den Daumen-Aufständen zu nachsichtig vorgegangen seien. Der Grund ist, daß diese Leute erneut verhaftet werden. Als Mordverdächtige.«
»Die Kultanhänger der Minderheit haben Schwierigkeiten, sich an unsere Gesetze zu halten. Vermutlich ist das Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen.«
»Wie viele der Fünf wurden wegen Mordes verhaftet?«
»Das beweist nur, daß es ein Fehler war, sie beim erstenmal freizulassen.«
»Wie viele?«
»Sungpo ist der vierte.«
»Jao hat sie angeklagt?«
»Natürlich.«
»Diese Verbindungen kann man nicht ignorieren. Das Ministerium würde es jedenfalls bestimmt nicht tun.«
»Ich erkenne keine Verbindungen.«
»Die fünf waren alle hier in Lhadrung und wurden gemeinsam verurteilt und inhaftiert. Eine Verbindung. Dann werden, einer nach dem anderen, vier davon des Mordes beschuldigt. Eine Verbindung. Die ersten drei werden von Jao angeklagt, dem vierten legt man den Mord an Jao zur Last. Eine Verbindung. Ich benötige Informationen über diese drei anderen Fälle. Vielleicht ist der Schlüssel zu allem in einer Verschwörung zu finden.«
Oberst Tan nahm Shan mißtrauisch in Augenschein. »Bist du gewillt, eine buddhistische Verschwörung aufzudecken?«
»Ich bin gewillt, die Wahrheit herauszufinden.«
»Hast du schon mal von denpurbas gehört?« fragte Tan.
»Ein purba ist ein Zeremoniendolch, wie er in buddhistischen Tempeln benutzt wird.«
»Es ist auch der Name, den sich eine neue Widerstandsgruppe gegeben hat. Zumeist Mönche, obwohl sie nicht vor Gewalt zurückzuschrecken scheinen. Von ganz besonderem Schlag. Natürlich gibt es eine Verschwörung. Von buddhistischen Gewalttätern wie den purbas, mit dem Ziel, Regierungsbeamte zu ermorden.«
»Heißt das, die anderen Opfer waren ebenfalls Beamte?«
Tan zündete sich eine Zigarette an und musterte Shan nachdenklich. »Es heißt, daß du dir durch deine Paranoia nicht den Blick aufs Wesentliche verstellen lassen solltest.«
»Aber was ist, wenn es sich um etwas anderes handelt? Was ist, wenn die Fünf von Lhadrung selbst zu Opfern einer Verschwörung geworden sind?«
Tan winkte ungehalten ab. »Zu welchem Zweck denn?«
»Um ein größeres Verbrechen zu verschleiern. Ohne Kenntnis der anderen Fälle kann ich vorerst nichts Genaueres dazu sagen.«
»Die anderen Morde wurden alle aufgeklärt. Vergiß das nicht.«
»Was ist, wenn es noch ein weiteres Muster gibt?«
»Ein Muster?« Wenn er den Rauch ausatmete, wirkte Tan wie ein Drache. »Wen kümmert das schon?«
»Bei lediglich zwei Morden läßt sich noch kein Muster feststellen. Manchmal auch bei drei noch nicht. Aber jetzt haben wir vier. Vielleicht war bislang etwas unsichtbar, das sich nun erkennen läßt. Was ist, falls das Ministerium zu dieser Erkenntnis gelangt; immerhin liegen dort alle Akten vor? Vier Morde innerhalb weniger Monate. Vier der fünf bekanntesten Dissidenten des Bezirks werden wegen dieser Morde vor Gericht gestellt, aber man unternimmt keinerlei Anstrengung, eine mögliche Verbindung zwischen den Fällen zu untersuchen. Und unter den Opfern befinden sich mindestens zwei der wichtigsten Funktionäre des Bezirks. Zwei oder drei könnte man eventuell noch als Zufall abtun. Vier Morde sehen schon nach einer Welle von Verbrechen aus. Fünf jedoch würden wie fahrlässiger Leichtsinn wirken.«
Ein Muster, hielt Shan sich erneut vor Augen, als er Yeshe und Feng auf den bevölkerten Marktplatz folgte. Es gab ein Muster, davon war er fest überzeugt. Er wußte es instinktiv, so wie ein Wolf vielleicht eine Beute auf der anderen Seite des Waldes wittern würde. Aber woher kam diese Ahnung? Warum war er sich so sicher?
Der Markt bestand aus einem Durcheinander aus Verkaufsständen und Hausierern, die ihre Waren auf Decken am Boden feilboten. Shan riß erstaunt die Augen auf und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Hier vor ihm herrschte mehr Leben, als er es in den letzten drei Jahren gesehen hatte. Eine Frau hielt Garn aus Yak-Haaren in der ausgestreckten Hand, eine andere rief den Preis für Töpfe voller Ziegenbutter. Shan beugte sich hinunter und berührte einen Korb mit Eiern. Seit seiner Zeit in Peking hatte er kein einziges Ei mehr gegessen. Er hätte den Korb stundenlang anstarren können. Diese wunderbaren Eier. Ein alter Mann bot eine Vielzahl kunstvoller tormas an, der Bildnisse aus Butter und Teig, die als Opfergaben Verwendung fanden. Kinder. Shans Blick fiel auf eine Schar Kinder, die mit einem Lamm spielten. Er kämpfte gegen den Wunsch an, zu den Kindern zu gehen und eines davon zu berühren, nur um sich zu vergewissern, daß es eine solche Jugend und Unschuld immer noch gab.
Sergeant Fengs Hand auf seiner Schulter holte Shan auf den Boden der Tatsachen zurück, und er ging zwischen den Ständen weiter. Die Fragen tauchten wieder auf, der Eindruck, es gebe ein Muster. Lag es nur an seinem Wissen, daß ein Mann wie Sungpo keinen Mord begehen würde? Nein. Da war noch etwas. Wenn es nicht Sungpo war, dann war es eine Verschwörung. Aber wessen Verschwörung? Die der Beschuldigten? Oder die der Beschuldiger? Würde er der Welt beweisen, daß die Mönche schuldig waren, und sich dafür auf ewig Selbstvorwürfe machen? Oder würde er nachweisen, daß sie unschuldig waren, und dafür bis in alle Ewigkeit von der Regierung bestraft werden?
Feng kaufte einen Spieß mit gerösteten Holzäpfeln. Ein Mann mit einem milchigweißen Auge drehte eine Gebetsmühle und bot Krüge voller chang an, dem tibetischen Bier, das aus Gerste hergestellt wurde. Neben einem einzelnen Mädchen mit hüftlangen Zöpfen war Yakkäse aufgestapelt, hart, trocken und schmutzig. Ein Junge verkaufte Plastiktüten voller Joghurt, ein alter Mann irgendwelche Tierhäute. Shan bemerkte, daß die meisten Tibeter sich kleine Heidekrautzweige an die Gewänder gesteckt hatten. Ein einarmiges Mädchen rief ihnen zu, sie sollten ein Stück Seide kaufen, das man als khata benutzen konnte. Die Luft roch beißend nach gebuttertem Tee, Weihrauch und ungewaschenen Menschen.
Ein Trupp Soldaten überprüfte die Papiere eines drahtigen Mannes, der sich rastlos umschaute und in seinem Gürtel einen Dolch nach traditioneller Art der khampa trug. Als die Soldaten näher kamen, packte er nicht etwa den Dolch, sondern ein Amulett, das um seinen Hals hing, das gau-Medaillon, in dem sich vermutlich die Anrufung eines Schutzgeistes befand. Man ließ ihn weitergehen. Als der Mann dankbar sein gau tätschelte, fiel es Shan plötzlich wieder ein: Die Anwohner hatten sich über die Sprengungen beschwert, weil Tamdin dadurch verärgert worden sei. Fowler hatte gesagt nein, sie hätten erst vor sechs Monaten mit den Sprengungen angefangen. Das bedeutete, Tamdin war schon vor mehr als sechs Monaten gesehen worden. Tamdin war bereits davor verärgert gewesen. Ein Muster. Hatte Tamdin zuvor schon gemordet?
Yeshe blieb am anderen Ende des Marktes neben einem Laden stehen, dessen Eingang von einem dreckigen Teppich verdeckt wurde, der über zwei hohen Pfosten hing. Sergeant Feng musterte den dunklen Innenraum des Geschäfts und runzelte die Stirn. Mehr als ein chinesischer Soldat war an Orten wie diesem bereits in einen Hinterhalt geraten. Er wies auf einen Teeverkäufer in der Mitte des Marktplatzes. »Ich trinke zwei Tassen, mehr nicht.« Dann griff er in seine Hemdtasche und holte eine Trillerpfeife hervor, die an einer Kordel hing. »Danach alarmiere ich die Streife.« Er zog mit den Zähnen einen Apfel vom Spieß und ging weg.
Das Gebäude hatte keine Fenster und keinen anderen Eingang als den, durch den sie hereingekommen waren. Der Innenraum wurde lediglich von Butterlampen erhellt, deren trübes Licht durch Weihrauchschwaden noch zusätzlich gedämpft wurde. Als Shans Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er mehrere Regale voller Töpfe und Krüge. Er befand sich in dem Laden eines Kräuterkundigen. Hinter einem breiten Brett, das auf zwei hochkant stehenden Kisten lag, saß eine ausgemergelte Frau. Sie warf Shan und Yeshe einen leeren Blick zu. Vor der rechten Wand saßen drei Männer absolut regungslos auf dem Lehmboden. Shan folgte Yeshes Blick nach links, in die dunkelste Ecke des Raums. Auf einem roh behauenen Tisch stand ein schmutziger kegelförmiger Hut, dessen Krempe nach oben gebogen war. Dahinter befand sich ein dunklerer Schatten, der die Form eines Tiers hatte, vielleicht ein großer Hund. »Der Hut eines Zauberers«, flüsterte Yeshe nervös. »Ich habe keinen mehr gesehen, seit ich ein kleiner Junge war.«
»Du hast nichts von einem Chinesen gesagt«, rief die alte Vettel. Bei diesen Worten sprang einer der Männer vom Boden auf und packte einen dicken Stock, der an den Regalen lehnte.
Yeshe legte Shan eine Hand auf den Arm und hielt ihn zurück. »Der ist in Ordnung«, erwiderte er fahrig. »Er ist nicht so.«
Die Frau musterte Shan mit eisigem Blick und nahm dann vom untersten Regalbrett ein Glas, in dem sich irgendein Pulver befand. »Du willst etwas für die Potenz, nicht wahr? Das wollen die Chinesen immer.«
Shan schüttelte langsam den Kopf und schaute Yeshe an. Nicht so? Er ging einen Schritt auf den Tisch in der Ecke zu. Der Schatten dahinter schien sich bewegt zu haben. Jetzt konnte man erkennen, daß es sich eindeutig um einen Mann handelte, der anscheinend schlief oder berauscht war. Shan machte noch einen Schritt. Die linke Gesichtshälfte des Mannes war eingeschlagen worden. Ein großes Stück von seinem linken Ohr fehlte. Vor ihm stand eine braune Schale mit silbernem Rand. Shan betrachtete das eigentümliche Muster auf dem Gefäß. Das war gar keine Schale, sondern die obere Hälfte eines menschlichen Schädels.
Plötzlich sprang ein zweiter Mann vor, verharrte kurz neben Shans Ellbogen und murmelte eine Drohung, doch Shan verstand den Dialekt nicht. Als Shan sich umdrehte, erkannte er zu seiner Überraschung, daß es sich bei dem Mann um einen Mönch handelte, der allerdings irgendwie wild und barbarisch wirkte, wie Shan es noch nie zuvor bei einem Priester gesehen hatte.
»Er sagt...« Yeshe warf einen Blick auf den Schlafenden. »Er sagt, falls Sie ein Foto machen, werden Sie sofort in die zweite Stufe der heißen Hölle geschickt.«
Ganz gleich, wohin Shan kam, die Leute warnten ihn stets vor dem großen Leid, das ihm drohte. Er drehte die Handflächen nach außen, um zu zeigen, daß er nichts darin verborgen hielt. »Sagen Sie ihm, daß ich diese besondere Hölle noch nicht kenne«, forderte er Yeshe müde auf.
»Machen Sie sich nicht über ihn lustig«, warnte Yeshe. »Er meint Kalasutra. Man nagelt Sie fest und schneidet Ihren Körper mit einer glühend heißen Säge in kleine Stücke. Diese Mönche gehören einer uralten Sekte an, von deren Mitgliedern kaum jemand mehr übrig ist. Sie werden Ihnen berichten können, daß diese Hölle tatsächlich existiert. Vielleicht sind diese Männer selbst schon dort gewesen.«
Shan musterte den Mönch und erschauderte.
Yeshe packte seinen Arm und zog daran. »Nein. Verärgern Sie ihn nicht. Dieser Trunkenbold kann nicht der Mann sein, den wir suchen. Lassen Sie uns von hier verschwinden.«
Shan ignorierte ihn und ging wieder auf die Frau zu.
»Ich könnte dir die Zukunft weissagen«, sagte die Frau mit einer Stimme, die dem Glucksen einer Henne glich.
»Kein Interesse«, entgegnete Shan. Auf dem Tisch lag eine Messingplatte von der Größe seines Handtellers, deren Rand mit kleinen Abbildungen Buddhas versehen war. Die Mitte war blankpoliert.
»Ihr Leute mögt doch Weissagungen.«
»Weissagungen erzählen etwas über Tatsachen. Mich interessieren Zusammenhänge«, sagte Shan. Er griff nach der Platte.
Yeshes Hand schoß vor und packte seinen Arm, bevor er sie berühren konnte.
»Für dich nicht«, sagte die Frau und warf Yeshe einen tadelnden Blick zu, als wünschte sie, Shan hätte die Scheibe angefaßt.
»Was ist das?« fragte er. Yeshe wandte ihm den Rücken zu, als müßte er Shan vor eventuellen Angriffen beschützen.
»Große Kraft«, gackerte die Frau. »Ein Zauber. Eine Falle.«
»Eine Falle wofür?«
»Den Tod.«
»Es fängt den Tod? Du meinst Geister?«
»Nicht diese Art von Tod«, erwiderte sie geheimnisvoll und stieß seine Hand weg.
»Das verstehe ich nicht.«
»Dein Volk versteht nie. Es fürchtet den Tod als Ende des Lebens. Aber das ist nicht der wichtige Tod.«
»Du meinst, es fängt die Kräfte ein, die der Seele schaden.«
Die Frau nickte langsam und anerkennend. »Wenn man es richtig anwendet.« Sie betrachtete ihn einen Moment lang, nahm dann eine Handvoll schwarzer und weißer Kiesel aus einer Schale und warf sie auf den Tisch. Feierlich ordnete sie die Steine in einer Reihe an und zog nach sorgfältiger Überlegung ein paar der Kiesel aus der Linie heraus. Sie sah Shan traurig an. »Im nächsten Monat darfst du nicht allein im Boden graben. Du mußt torma-Opfer verbrennen. Du mußt dich vor schwarzen Hunden verneigen.«
»Ich muß mit Khorda sprechen.«
»Wer bist du?« fragte die Frau.
Shan wog seine Worte sorgfältig ab. »Im Augenblick weiß ich lediglich, wer ich nicht bin«, flüsterte er zurück.
Sie kam um den Tisch herum und nahm seine Hand, als könne er sich verirren, falls er allein versuchte, die Ecke zu erreichen. Der Mönch wollte sich Shan erneut in den Weg stellen, aber ein gebieterischer Blick der Frau ließ ihn innehalten. Er wich zurück und setzte sich mit dem Gesicht nach außen direkt in den Eingang. Yeshe nahm neben ihm an der Tür Platz, behielt jedoch Shan im Blick, als würde er ihm jede Sekunde zur Rettung beispringen müssen.
Shan setzte sich vor dem Tisch auf eine Kiste und sah den alten Mann an.
In diesem Moment öffneten sich schlagartig die Augen des Mannes und schauten sich wachsam um. Er wirkte wie ein Raubtier, das plötzlich aus dem Schlaf erwachte.
Shan hatte den flüchtigen Eindruck, er würde in das Gesicht eines Götzenbildes blicken. Das Auge auf der zerschmetterten Gesichtshälfte des Mannes musterte ihn mit übernatürlicher Intensität. Der Augapfel war nicht mehr vorhanden und durch eine leuchtendrote Glaskugel ersetzt worden. Das rechte, lebendige Auge wirkte allerdings auch nicht viel menschlicher. Es glühte ebenfalls wie ein Juwel, das von hinten beleuchtet wurde.
»Choje Rinpoche hat mir geraten, mit dir zu sprechen.« Das Auge schien sich kurz nach innen zu wenden, als suche es nach einer Erinnerung. »Ich kannte Choje, als er nichts weiter als ein braungewandeter rapjung war, ein Lehrling«, sagte Khorda schließlich. Seine Stimme war wie Geröll, das man an einem Felsen rieb. »Man hat sein gompa vor vielen Jahren eingenommen. Wo studiert er heute?«
»In der 404. lao gai-Brigade.«
Khorda nickte langsam. »Ich habe gesehen, wie sie gompas einnehmen.« Die rechte Seite von Khordas Gesicht verzerrte sich zu einem abscheulichen Grinsen. »Weißt du, was das bedeutet?« fragte der Zauberer. »Sie vernichten es. Sie tragen es Stein um Stein ab. Sie löschen jegliche Spur seiner Existenz aus. Sie machen das Fundament dem Erdboden gleich. Sie nennen es Rückgewinnung. Sie nehmen die Steine und bauen Baracken. Falls sie ein Loch schaufeln könnten, das groß genug ist, würden sie ganz Tibet darin begraben.« Khorda starrte Shan an. Nein, er starrte auf einen Punkt hinter Shan, den er durch Shans Schädel hindurch zu sehen schien. Kurz darauf schloß er die Lider.
»Ich habe einen Toten berührt«, sagte Shan.
Langsam öffnete sich das linke Augenlid. Das rote Juwel starrte ihn an. »Eine weitverbreitete Sünde. Kaufe eine Ziege frei.« Khordas Stimme klang wie ein Schatten ihrer selbst. Sie war heiser und keuchend und schien aus weiter Ferne zu kommen.
Diese Art der Buße war unter den Hirtenvölkern üblich, die eine Ziege aus der Herde freikauften, um sie vor dem Kochtopf zu retten. »Dort, wo ich lebe, gibt es keine Ziegen.«
Die Wange verzog sich erneut zu einem halben Grinsen. »Der Freikauf eines Yaks wäre sogar noch besser.«
»Der Mörder hat das hier getragen.«
Das Gesicht des Zauberers straffte sich. Sein gutes Auge öffnete sich und fixierte starr die Scheibe, die Shan ihm entgegenstreckte. Er nahm sie Shan aus der Hand und hielt sie sich näher vor das Gesicht.
»Sobald er erst mal erweckt war, würde er wohl kaum untätig herumsitzen.« Khorda nickte wissend. »Wenn er alles gesehen hat, wird er nie wieder ruhen.«
»Alles? Du meinst die Morde?«
»Er meint 1959«, erklärte die Frau hinter Shan. Das Jahr der abschließenden chinesischen Invasion.
»Ich muß ihn treffen.«
»Leute wie du..«, sagte Khorda, »Leute wie du können ihn nicht treffen.«
»Aber ich muß.«
Wieder das scheußliche Grinsen. »Du wirst die Folgen tragen?«
»Ich werde die Folgen tragen«, erwiderte Shan. Er fühlte seine Lippen bei diesen Worten zittern.
»Deine Hände«, krächzte Khorda. »Zeig sie mir.«
Nachdem Shan sie mit den Handflächen nach oben auf den Tisch gelegt hatte, beugte Khorda sich über jede einzelne und musterte sie lange. Dann blickte er auf und sah Shan in die Augen. Gleichzeitig schob er Shans Hände zusammen und ließ eine Gebetskette hineinfallen.
Die Perlen waren eiskalt und schienen seine Hände taub werden zu lassen. Sie waren aus Elfenbein gefertigt, und jede einzelne war kunstvoll zu einem winzigen Schädel geschnitzt worden.
»Sprich mir nach«, sagte Khorda. In seiner Stimme schwang etwas Neues mit, ein durchdringender Befehlston, der Shan in sein Auge blicken ließ. »Sieh mich an, mit den Perlen in deinen Händen, und wiederhole die folgenden Worte. Om! Padme te krid kum phat!« stieß er hervor.
Shan tat, wie ihm geheißen.
Hinter ihm keuchte Yeshe auf. Die Frau gab ein Geräusch von sich, das wie das Krächzen eines Raben klang. War es Lachen? Oder ein angstvoller Aufschrei?
Sie wiederholten das seltsame Mantra mindestens zwanzigmal. Dann bemerkte Shan, daß Khorda aufgehört hatte und nur noch er selbst sprach. Er fühlte sich schwindlig, dann packte ihn ein starkes Kältegefühl, und alles schien dunkel zu werden. Die Worte kamen schneller und schneller heraus, als würde seine Stimme von jemand anderem kontrolliert. Plötzlich gab es einen hellen Blitz, der direkt in seinem Kopf aufzuzucken schien, und Khorda stieß ein lautes Brüllen aus, als habe er furchtbare Schmerzen.
Shan erzitterte heftig. Er ließ den Rosenkranz fallen und sah plötzlich wieder den Raum vor sich. Das Zittern hörte auf, doch seine Hände blieben weiterhin eiskalt.
Der Zauberer keuchte, als hätte er sich körperlich sehr angestrengt. Argwöhnisch schaute er sich im Zimmer um und achtete besonders auf die Schatten in den Ecken, als würde er damit rechnen, daß etwas von dort hervorspringen könnte. Er streckte den Arm aus und stieß mit einem knorrigen Finger Shans Brust an. »Bist du noch am Leben?« krächzte er. »Bist das immer noch du, Chinese?« Er nahm die Gebetskette und musterte abermals Shans Handflächen.
Shans Herz raste. »Wie finde ich Tamdin?« fragte er.
»Folge seinem Pfad. Er wird jetzt nicht mehr weit entfernt sein«, sagte der Zauberer mit seinem schiefen Grinsen. »Falls du mutig genug dafür bist. Tamdins Pfad ist ein Pfad der Unbarmherzigkeit. Manchmal führt nur Unbarmherzigkeit zur Wahrheit.«
»Was...« Shans Mund war staubtrocken. »Was ist, falls jemand Tamdin beleidigt hat? Was wäre in so einem Fall zu tun?«
»Einen Schutzdämon beleidigen? Dann rechne damit, nur das Nichts zu erlangen.«
»Nein. Ich meine, ein wahrhaft Gläubiger hat etwas im Namen Tamdins getan, hat vorgegeben, Tamdin zu sein. Vielleicht hat er sich sogar Tamdins Gesicht geborgt.«
»Für die Rechtschaffenen gibt es Zauber, um Vergebung zu erlangen. Bei dem Mädchen könnte es funktionieren.«
»Ein Mädchen hat Tamdin um Verzeihung ersucht?«
Khorda erwiderte nichts.
»Kann es auch bei mir funktionieren?« Falls ein Ungläubiger ein Kostüm benutzte, würde er nicht um einen solchen Zauber bitten, erkannte Shan. Aber ein Ungläubiger hätte auch nur dann Veranlassung, sich auf diese Weise zu verkleiden, wenn er den buddhistischen Mönchen schaden wollte. Und dann würde er sich keine Gedanken um Vergebung machen. Shan seufzte. Er wünschte, er könnte sich einfach damit begnügen, das Nichts zu erlangen.
Khorda nahm seinen Zaubererhut und setzte ihn auf. Wie aufs Stichwort erschien die Frau mit einem Blatt Reispapier, Tinte und einem Pinsel. Khorda nahm den Pinsel und begann, das Papier zu beschriften. Er zeichnete mehrere große Ideogramme, schloß dann das rechte Auge und hob das Blatt vor das rote Juwel auf der linken Seite seines Gesichts. Er schüttelte bekümmert den Kopf, riß das Papier in kleine Fetzen und ließ sie zu Boden fallen. »Es bleibt nicht an dir haften«, stöhnte Khorda und richtete seinen unheimlichen Blick auf Shan. »Für dich ist sehr viel mehr erforderlich.« Die Hand des Zauberers, die nach wie vor den Rosenkranz umklammert hielt, begann zu zittern.
»Was siehst du?« hörte Shan sich wie aus einiger Entfernung selbst fragen. Er massierte sich die Finger. Die Stellen, an denen sie die Schädelkette berührt hatten, fühlten sich noch immer eiskalt an.
»Ich kenne Männer wie dich. Wie ein Magnet. Nein. Anders. Wie ein Blitzableiter. Falls du nicht aufpaßt, wird deine Seele lange vor deinem Körper aufgebraucht sein.«
Khordas Hand zitterte plötzlich sehr heftig. Sie fing an, sich zu bewegen. Khorda schien dagegen anzukämpfen und zu versuchen, sie zurückzuhalten, jedoch vergebens. Sie zuckte auf Shan zu und griff in seine Tasche. Zwei knochige Finger zogen ein Stück Papier heraus. Es war Chojes Schutzzauber. Die zitternde Hand entfaltete das Blatt und ließ es dann plötzlich fallen, als hätte sie sich verbrannt.
Der alte Mann nahm die Zauberformel genau in Augenschein und nickte respektvoll. »Dieser Choje muß dich sehr lieben, Chinese, wenn er dir so etwas mitgibt«, sagte er ernst. Ein heiseres Lachen stieg aus seiner Kehle auf. »Jetzt weiß ich auch, wieso du überlebt hast«, stieß er hervor. »Aber es kann nicht ändern, was du getan hast.« Er seufzte tief, als habe eine machtvolle Umklammerung ihn freigegeben, und begann, die Schädelperlen in seiner Hand anzustarren. Eine tiefgehende Neugier zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als könne er nicht verstehen, auf welche Weise oder aus welchem Grund der Rosenkranz dorthin gelangt war.
»Was ich getan habe? Das Mantra mit den Schädeln?« fragte Shan.
Doch Khorda schien ihn nicht zu hören. Die Frau zog drängend an seinem Arm. »Die Beschwörung«, zischte sie, als sie ihn zur Tür hinausschob. »Du hast den Dämon beschworen.«
Als sie durch das Gewirr der Marktstände zurückgingen, befand sich vor ihnen ein zweirädriger Karren voller junger Ziegen, der von zwei alten Frauen gezogen wurde. Die Frauen stolperten, und der Karren stürzte um, so daß die Ladung sich direkt über Feng ergoß. Der Sergeant ging inmitten einer Schar meckernder Tiere zu Boden. Sofort brach überall um sie herum hektische Aktivität aus. Händler stießen wütende Rufe aus, um die Ziegen von ihren Waren fernzuhalten. Hirten sprangen zu Hilfe herbei und verschlimmerten das Durcheinander nur noch.
Neben Shan tauchten drei Männer auf, die wie Hirten mit Schaffellwesten und Mützen bekleidet waren. Sie stießen Yeshe und Shan in einen Durchgang, der ungefähr zwei Meter entfernt lag. Einer der Männer wandte ihnen den Rücken zu, um sie vor Fengs Blicken abzuschirmen; er begann, lautstark die Hirten anzufeuern.
»Wir wissen, daß ihr Sungpo habt«, sagte einer der Männer freiheraus. Er nahm seine Mütze ab. Ein vertrauter Haarschnitt wurde sichtbar. Mehrere lange Narben zogen sich kreuz und quer über sein Gesicht.
»Ist es nicht eine Verletzung der Klosterregeln, kein Mönchsgewand zu tragen?« fragte Shan.
Der Mann warf ihm einen mürrischen Blick zu. »Wenn man keine Lizenz hat, ist man nicht allzu wählerisch«, erwiderte er geistesabwesend. Seine Aufmerksamkeit galt Yeshe. »In welchem gompa warst du?« wollte er wissen.
Yeshe versuchte zu fliehen. Der Mann neben ihm packte ihn an der Schulter. Der Griff schien Yeshe den Atem zu rauben. Keuchend beugte er sich vor. Es handelte sich um einen traditionellen Zangengriff der asiatischen Kampfsportarten.
»Was für Mönche...«, setzte Shan an, als ihm plötzlich klar wurde, woher die Narben rührten. Sie waren eine freundliche Erinnerung an die Schlagstöcke der Öffentlichen Sicherheit und stammten von einer derart brutalen Tracht Prügel, daß lange Streifen Haut aufgeplatzt waren. Manchmal klebten die Häscher der Öffentlichen Sicherheit Sandpapier auf ihre Knüppel.
Der Begleiter des Mannes hielt Yeshe am Oberarm fest.
»Purbas!« warnte Yeshe.
»Manche behaupten, du seist einer der zung mag, die unter dem Schutz von Choje Rinpoche stehen«, sagte das Narbengesicht. Zung mag war ein tibetischer Begriff. Er bedeutete »Kriegsgefangene«. Choje hatte diese Bezeichnung noch nie benutzt. »Andere sagen, du stehst unter dem Schutz von Oberst Tan. Beides zugleich kann nicht sein. Du spielst ein gefährliches Spiel.« Schweigend nahm er Shans Arm, knöpfte die Manschette auf und schob den Ärmel hoch. Er drückte das Fleisch rund um die Tätowierung ein. Mit diesem Test erkannte man in den Gefängnissen Infiltratoren. Erst kürzlich angebrachte Tätowierungen wurden nicht bleich, weil sich darunter noch ein Bluterguß befand.
Der Mann nickte seinem Begleiter zu, der daraufhin Yeshe losließ. »Hast du eigentlich auch nur die geringste Vorstellung davon, was geschehen wird, falls ihr noch einen der Fünf hinrichtet?« In seinem Ärmel war ein weiteres Kleidungsstück sichtbar. Shan erkannte, daß er unter der Hirtenkleidung tatsächlich ein Priestergewand trug.
Aus irgendeinem Grund machte der Mann Shan wütend. »Mord ist ein Kapitalverbrechen.«
»Wir hier in Tibet wissen über Kapitalverbrechen Bescheid«, erwiderte derpurba wütend. »Mein Onkel wurde getötet, weil er die Aussprüche eures Vorsitzenden in einen Nachttopf geworfen hat. Mein Bruder wurde hingerichtet, weil er an einem Massengrab eine Zeremonie durchführen wollte.«
»Das ist Geschichte.«
»Macht es das besser?«
»Nicht im geringsten«, sagte Shan. »Aber was bedeutet es für dich und mich?«
Der purba, starrte ihn an. »Diese Leute haben meinen Lama ermordet«, sagte er.
»Diese Leute haben meinen Vater ermordet«, gab Shan zurück.
»Aber du wirst Sungpo anklagen.«
»Nein. Ich führe die Untersuchung durch.«
»Warum?«
»Ich bin ein lao gai-Gefangener. Diese Arbeit wurde mir zugewiesen.«
»Weshalb sollten sie dafür einen Sträfling benutzen? Das ergibt keinen Sinn.«
»Weil auch ich ein Leben vor der 404ten hatte. Ich war Ermittler in Peking. Deshalb hat Tan mich ausgesucht. Warum er überhaupt beschlossen hat, die Untersuchung nicht vom Büro des Anklägers durchführen zu lassen, weiß ich noch nicht.«
Der Haß in der Stimme des Mannes ließ nach. »Es gib hier bereits einmal Aufstände. Auch damals sind die Kriecher in dieses Tal gekommen. Viele wurden getötet. Es gab nie einen offiziellen Bericht darüber.«
Shan nickte bekümmert.
»Es sah so aus, als würden sie endlich Ruhe geben. Aber dann haben sie angefangen, die Fünf zu schikanieren.«
»Jeder der Fälle wurde vor Gericht verhandelt. Immerhin ging es jedesmal um einen Mord.« Auch wenn ihm die Gewalttätigkeit des Mannes widerstrebte, wollte Shan doch verzweifelt Einigkeit mit den purbas erzielen. »Akzeptiere doch wenigstens, daß Mörder bestraft werden müssen. Das hier ist kein Pogrom gegen die Buddhisten.«
»Bist du sicher?«
Nein, erkannte Shan müde, er war sich nicht sicher. »Aber es hat jedesmal mit einem Mord angefangen.«
»Seltsame Worte für jemanden aus Peking. Ich kenne Leute deines Schlages. Mord ist kein Verbrechen, sondern eine politische Erscheinung.«
Shan verspürte einen ungewohnten Eifer und erwiderte den Blick des jungen Mönches. »Was hast du vor? Willst du mich warnen? Willst du mich davon abhalten, eine Aufgabe zu erledigen, zu der ich gezwungen wurde?«
»Es muß eine angemessene Vergeltung geben, wenn ihr einen der Unseren wegnehmt.«
»Rache entspricht nicht der buddhistischen Lehre.«
Als der Mönch die Stirn runzelte, verzerrten die langen Streifen Narbengewebe sein Gesicht zu einer grausigen Maske. »Das ist die Geschichte der Zerstörung meines Landes. Friedliche Koexistenz. Laßt die Rechtschaffenheit über die rohe Gewalt obsiegen. Das funktioniert nicht, wenn die Rechtschaffenheit keine Stimme mehr hat.« Er packte Shans Kinn und zwang ihn zum Hinsehen, als er langsam den Kopf wandte, um Shan sein zerstörtes Gesicht in allen Einzelheiten zu zeigen. »Wenn du in diesem Land die andere Wange hinhältst, zerschmettern sie dir eben alle beide.«
Shan stieß die Hand des purba weg und sah ihm in die funkelnden Augen. »Dann hilf mir. Nur die Wahrheit kann all dem hier ein Ende bereiten.«
»Uns ist egal, wer den Ankläger ermordet hat.«
»Sie werden einen Verdächtigen nur dann freilassen, wenn sie einen besseren finden.«
Der purba starrte Shan noch immer mißtrauisch an. »In der Hütte von Choje Rinpoche gibt es einen chinesischen Gefangenen, der mit Rinpoche betet. Man nennt ihn den Chinesischen Stein, weil er so hart ist. Er hat nie klein beigegeben. Er hat durch einen Trick die Freilassung eines alten Mannes erreicht.«
»Der Name des alten Mannes war Lokesh«, erwiderte Shan. »Er hat die alten Lieder gesungen.«
Der Mann nickte langsam. »Was erwartest du von uns?«
»Ich weiß es nicht.« Shans Blick richtete sich auf Khordas Hütte. »Ich würde gern wissen, wer auf einmal nach Zauberformeln gefragt hat, um Vergebung von Tamdin zu erlangen.
Ein junges Mädchen. Und ich muß Balti, den khampa finden, Ankläger Jaos Fahrer. Niemand hat ihn oder den Wagen seit dem Mord gesehen.«
»Du glaubst, wir würden mit dir zusammenarbeiten?«
»Ja, um die Wahrheit herauszufinden.«
Der Mönch antwortete nicht. Inzwischen konnte man Sergeant Fengs Stimme hören, der über das Meckern der Ziegen hinweg Shans und Yeshes Namen rief.
»Hier.« Der purba vor ihnen drehte sich um und gab Yeshe eine kleine Ziege auf den Arm. Seine Tarnung.
Als Shan und Yeshe aus dem Durchgang traten, hob Feng soeben die Trillerpfeife an die Lippen.
Shan blickte zurück. Die purbas waren verschwunden.
Auf dem Rückweg zum Wagen sprach Yeshe kein Wort. Er setzte sich auf die Rückbank und starrte ein Stück Heidekraut an, wie die Leute auf dem Markt es getragen hatten. »Ein Mädchen hat es mir gegeben«, sagte er mit trostloser Stimme. »Sie hat gesagt, ich solle es für die anderen tragen. Ich habe gefragt, wen sie damit meinte. Die Seelen der 404ten, hat sie geantwortet. Sie sagte, der Zauberer habe verkündet, die Häftlinge würden allesamt als Märtyrer enden.«