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Die Laternenpfähle entlang der Straße, die aus der Stadt führte, wurden silbern angemalt, zweifellos für die hochverehrten Gäste, die in Kürze aus Peking und Amerika eintreffen würden. Aber es wehte ein scharfer Wind, so daß im selben Moment, in dem die Arbeiter die Farbe auftrugen, auch schon Sandpartikel an den Pfählen klebten und sie noch schäbiger als zuvor aussehen ließen. Shan beneidete die Proletarier um die Fähigkeit, die wichtigste Lektion ihrer Gesellschaft zu verinnerlichen, nämlich daß das Ziel eines jeden Arbeiters nicht dann lag, eine gute Arbeit abzuliefern, sondern eine vorschriftsmäßige Arbeit.
Die kleinen Häuschen, in denen die öffentlichen Telefone untergebracht waren, wurden ebenfalls neu gestrichen, obwohl Sergeant Feng keinen einzigen Apparat finden konnte, der funktionierte. Er folgte einem Kabel zu einem muffigen Teeladen am Stadtrand und requirierte das Telefon für ein Gespräch.
»Niemand wird dich aufhalten«, erwiderte Oberst Tan, als Shan ihm sagte, er müsse die Schädelhöhle inspizieren. »Ich habe die Höhle an dem Tag geschlossen, an dem wir den Kopf gefunden haben. Warum hast du so lange gebraucht? Die paar Knochen jagen dir doch hoffentlich keine Angst ein.«
Als der Geländewagen die flachen Geröllhügel erklomm, die aus dem Tal führten, wirkte Yeshe unruhiger als gewöhnlich. »Das hätten Sie nicht tun sollen«, platzte es schließlich aus ihm heraus. »Sie sollten sich nicht auf diese Weise einmischen.«
Shan drehte sich um. Yeshes Blick schweifte unstet in die Höhe, während sie auf die gewaltige Erhebung der Drachenklauen zufuhren. Riesige Kumuluswolken, die vor dem kobaltblauen Himmel blendend weiß wirkten, hatten sich an die fernen Gipfel geheftet.
»Einmischen? Wie meinen Sie das?«
»Na, was Sie getan haben. Das Schädelmantra. Sie hatten kein Recht, den Dämon zu beschwören.«
»Sie glauben also, das hätte ich getan?«
»Nein. Es ist nur so, daß diese Leute...« Yeshe verstummte.
»Diese Leute? Sie meinen Ihre Leute?«
Yeshe runzelte die Stirn. »Beschwörungen sind riskant. Für die alten Buddhisten waren Worte die gefährlichste Waffe von allen.«
»Sie glauben, ich hätte einen Dämon beschworen?« wiederholte Shan.
Yeshe sah ihn kurz an und schaute dann weg. »So einfach ist das nicht. Die Leute werden von den Worten erfahren, die Sie gesprochen haben. Manche werden sagen, der Dämon werde von dem Beschwörenden Besitz ergreifen. Andere werden sagen, der Dämon sei eingeladen worden, erneut zu handeln. Khorda hatte recht. Der Name des Dämons bedeutet Unbarmherzigkeit.«
»Ich dachte, der Dämon sei bereits freigelassen.«
Yeshe sah voller Schmerz in seine Hände. »Unsere Dämonen neigen dazu, selbsterfüllend zu sein.«
Shan musterte seinen Begleiter nachdenklich. Er hatte noch nie jemanden kennengelernt, der im einen Moment wie ein Mönch und im nächsten wie ein Parteifunktionär klang. »Was heißt das?«
»Ich weiß es nicht. Es wird etwas geschehen. Es wird zu einer Ausrede.«
»Wofür? Dafür, die Wahrheit zu sagen?«
Yeshe zuckte zusammen und sah wieder aus dem Fenster.
Nur eines, was der Zauberer gesagt hatte, ergab einen Sinn.
Folge Tamdins Pfad. Der Tamdin-Mörder war von der 404ten über die Berge zur Schädelhöhle gegangen. Und Shan mußte diesem Pfad folgen und zu dem schrecklichen, heiligen Ort der toten Lamas zurückkehren.
Ein einzelner Armeelaster mit zwei schläfrigen Soldaten stand an der Abzweigung zur Schädelhöhle und bewachte die Zufahrt, solange Tan das Projekt für die Dauer der Ermittlungen geschlossen hatte. Die plötzlich auftauchenden Besucher ließen die Männer erschrecken und nach den Gewehren greifen. Dann sahen sie Feng am Steuer und entspannten sich wieder.
Als sie in das kleine Tal fuhren, war die Luft merkwürdig ruhig. Über ihnen jagten die Wolken schnell vorüber, aber als sie das kleine Plateau mit dem einzelnen Baum erreichten, bemerkte Shan, daß kein Windhauch die Zweige bewegte. Als er aus dem Wagen stieg, beschlich ihn eine sonderbare Vorahnung. Es war auch kein Geräusch zu hören. Außer dem Braun und Grau der Felsen und der Hütte gab es hier kaum etwas Farbiges, abgesehen von einem neuen Schild, dessen leuchtendrote Buchstaben besagten: ACHTUNG - ZUTRITT AUF ANWEISUNG DES MINISTERIUMS FÜR GEOLOGIE UNTERSAGT.
Yeshe warf Shan einen besorgten Blick zu und folgte ihm dann zum Höhleneingang. Feng blieb zurück, während sie ihre Taschenlampen überprüften, und nahm auffallend gründlich die Reifen des Fahrzeugs in Augenschein.
Die beiden Männer gingen schweigend durch den Eingangstunnel, und mit jedem Schritt fiel Yeshe ein Stück hinter Shan zurück.
»Das hier ist kein...«, setzte Yeshe nervös an, als er Shan am Eingang zur Hauptkammer einholte. Die riesigen Gestalten auf den Wänden schienen im trüben, zitternden Licht der Lampen zu tanzen und die Neuankömmlinge wütend anzustarren.
»Kein was?«
»Kein Ort, an dem...« Yeshe rang mit sich, aber Shan war sich über den Grund dafür nicht sicher. Hatte man ihm befohlen, Shan irgendwie aufzuhalten? Hatte er vielleicht beschlossen, von seiner Aufgabe zurückzutreten?
Die Bilder der Dämonen und Buddhas schienen mit Yeshe zu reden. Er neigte den Kopf in ihre Richtung, und sein Gesicht umwölkte sich, aber es war weder Angst vor den Abbildungen noch Wut auf Shan. Es war nur Schmerz. »Wir sollten nicht hier sein«, sagte er. »Dieser Ort ist nur für die heiligsten Personen.«
»Sie weigern sich aus religiösen Gründen weiterzumachen?«
»Nein«, gab Yeshe abwehrend zurück. Er richtete seinen Blick auf den Höhlenboden und vermied es, die Gemälde anzusehen. »Ich meine, dieser Ort ist nur für die religiösen Minderheiten von Bedeutung.« Er schaute auf, sah Shan aber nicht ins Gesicht. »Das Büro für Religiöse Angelegenheiten verfügt über Spezialisten. Die wären weitaus qualifizierter, um kulturelle Interpretationen vorzunehmen.«
»Wie seltsam. Ich dachte, ein ausgebildeter Mönch wäre eine noch bessere Wahl.«
Yeshe wandte sich ab.
»Ich glaube, Sie haben Angst«, sagte Shan. »Angst davor, daß jemand Ihnen vorwerfen könnte, Tibeter zu sein.«
Yeshe stieß ein Geräusch aus, das fast wie ein Lachen klang, aber als er sich wieder umdrehte, war seine Miene vollkommen ernst.
»Wer sind Sie?« fragte Shan. »Der gute Chinese, der sich danach sehnt, in einer Milliarde gleichgeschalteter Mitbürger aufzugehen? Oder der Tibeter, der erkennt, daß hier Leben auf dem Spiel stehen? Nicht nur eines, sondern viele. Und wir sind die einzigen, die diese Leben vielleicht retten können. Ich. Und Sie.« Yeshe drehte sich um, als habe er etwas gehört, und erstarrte.
Shan folgte seinem Blick. Am anderen Ende der Kammer waren Lichter aufgetaucht, im nächsten Moment wurden aufgeregte Stimmen laut.
Sie schalteten sofort ihre eigenen Lampen aus und wichen in den Tunnel zurück. Tan hatte die Höhle geschlossen. Niemand außer ihnen durfte sie betreten. Draußen hatten keine anderen Fahrzeuge gestanden. Wer auch immer die Eindringlinge waren, sie gingen für den Fall ihrer Entdeckung ein großes Risiko ein.
»Purbas«, flüsterte Yeshe. »Wir müssen verschwinden, schnell.«
»Aber wir haben sie doch eben erst am Markt zurückgelassen.«
»Nein. Ihre Zahl ist groß, und sie sind sehr gefährlich. Ein Erlaß aus der Hauptstadt besagt, es sei die Pflicht eines jeden Bürgers, sie zu melden.«
»Demnach wollen Sie von mir weg, um die Leute zu melden?« fragte Shan.
»Was soll das heißen?«
»Seit wir die purbas auf dem Marktplatz getroffen haben, war die ganze Zeit Sergeant Feng bei uns. Sie haben ihm nichts erzählt.«
»Diese Leute sind Verbrecher.«
»Sie sind Mönche. Werden Sie sie melden?« wiederholte Shan die Frage.
»Falls wir bei der Zusammenarbeit mit ihnen erwischt werden, wird man uns das als eine Verschwörung auslegen«, erwiderte Yeshe voller Qual. »Mindestens fünf Jahre lao gai.«
Shan erkannte, daß die Eindringlinge sich nicht in dem Schädelgang befanden, sondern in einer kleineren Nische in der Mitte der gegenüberliegenden Wand. Er stieß Yeshe vorwärts und schlich sich leise am Rand der großen Kammer entlang. Plötzlich, als keine zehn Meter mehr vor ihnen lagen, zuckte ein gleißender Blitz auf.
Der Fotoapparat war auf die Wandgemälde neben Shan gerichtet, doch der Blitz traf ihn dennoch mitten ins Gesicht und blendete ihn. Ein schriller Schrei zerriß die Stille und wurde abrupt erstickt. »Verflucht«, stöhnte jemand anders, dessen Stimme deutlich tiefer war.
Shan schirmte die Augen vor einem weiteren Blitz ab und schaltete seine Lampe ein. Rebecca Fowler starrte ihnen wie betäubt entgegen. Sie hatte eine Hand auf die Brust gelegt, als hätte man ihr dort einen Stoß versetzt.
»Meine Güte«, sagte der Mann mit der Kamera. »Ich habe tatsächlich einen Moment lang geglaubt, ich hätte ein Gespenst gesehen.« Tyler Kincaid stieß ein kurzes, gequältes Lachen aus und richtete einen starken Handstrahler auf die Höhle hinter ihnen. »Sind Sie allein?«
»Die Armee ist draußen«, rief Yeshe, als wolle er den Amerikanern drohen.
»Sergeant Feng ist draußen«, korrigierte Shan.
»Tja, hier sind wir also«, sagte Kincaid und machte noch ein Foto. »Wie Diebe in der Nacht, könnte man sagen.«
»Diebe?«
»Bloß ein Scherz - ich meine, wie Sie hier ohne Licht herumschleichen. So ganz offiziell kommt mir das nicht vor.«
»Und falls man mich fragt, wie soll ich die Verbindung zwischen dieser Höhle und Ihrem Minenprojekt erklären, Miss Fowler?« fragte Shan.
Kincaids Bemerkung schien ihr Selbstvertrauen wiederhergestellt zu haben. »Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Die UN-Kommission für Altertümer. Wer wird danach fragen?« Sie neigte den Kopf. »Und wieso sind Sie hier?«
Shan ignorierte die Frage. »Und Mr. Kincaid?«
»Ich habe ihn gebeten mitzukommen. Wegen der Bilder.«
Shan erinnerte sich an die Fotos der Tibeter im Büro des Amerikaners.
»Und wieviel haben Sie bisher gesehen?«
»Das hier.« Rebecca Fowler wies mit ausholender Geste respektvoll auf die umliegende Hauptkammer. »Und eben gerade haben wir die Aufzeichnungen entdeckt.«
»Aufzeichnungen?«
Sie führte ihn in die Nische, deren Eingang teilweise durch einen Segeltuchvorhang verdeckt wurde. Aus Brettern und Holzkisten hatte man drei primitive Tische gefertigt. Auf dem ersten Tisch standen Kartons voller Akten, auf dem zweiten leere Bierflaschen und von Zigarettenstummeln überquellende Aschenbecher. Der dritte Tisch war weitaus sauberer. Man hatte ein Tuch darüber gebreitet, unter dem einige Schachteln mit Disketten, die Unterlage eines tragbaren Computers und ein offenes Hauptbuch lagen.
Kincaid schoß weitere Fotos, während Shan und Fowler das Buch in Augenschein nahmen, dessen erster Eintrag einen Monat zurücklag. Es verzeichnete den Abtransport eines Altars, mehrerer Reliquienschreine, Opferlampen und einer Buddhastatue. Abmessungen, Gewicht und Mengenangaben waren peinlich genau aufgeführt.
»Was steht da?« fragte Fowler. Es war nicht unüblich, daß Ausländer lediglich den chinesischen Wortschatz, nicht jedoch die Schriftzeichen lernten.
Shan zögerte einen Moment und faßte die Angaben dann schnell zusammen.
»Was ist mit Büchern?« fragte Tyler Kincaid. »Die alten Manuskripte. Jansen sagt, sie seien normalerweise gut erhalten und könnten leicht gerettet werden.«
Auf einer der Seiten war die Entnahme von zweihundert Manuskripten vermerkt. »Ich weiß es nicht«, entgegnete Shan.
Er wußte sehr wohl, was mit gefundenen Manuskripten passierte. Einmal hatte ein Kipplaster mehrere hundert alte religiöse Traktate vor der 404ten ausgeschüttet. Dann hatte man die Häftlinge mit vorgehaltener Waffe gezwungen, die Bände in kleine Stücke zu reißen, die daraufhin in großen Kesseln gekocht und mit Kalk und Sand vermischt wurden, um als Mörtel für die neue Latrine der Wachen zu dienen.
»Und auf der ersten Seite?« fragte Fowler.
»Der ersten Seite?«
»Wer hat das geschrieben? Wer hat die Leitung inne?«
Shan blätterte zurück. »Ministerium für Geologie, steht da. Auf Anweisung von Direktor Hu.«
Fowlers Hand schoß vor und hielt die Seite fest. Dann rief sie Kincaid und forderte ihn auf, das Buch zu fotografieren. »Dieser Bastard«, murmelte sie. »Kein Wunder, daß Jao ihn aufhalten wollte.«
Konnte es sein, dachte Shan, daß Fowler nicht wegen der Altertümer in dieser Höhle war, sondern wegen ihrer Betriebserlaubnis?
Kincaid tauschte das Objektiv aus und fing an, die Seiten zu fotografieren. Bei den detaillierten Einträgen hielt er inne. »Man hat einen Altar mitgenommen, haben Sie gesagt. Wo steht das?«
Shan zeigte es ihm.
Kincaid wies mit ausgestrecktem Finger auf eine senkrechte Zahlenreihe im rechten Teil der Seite. »Was ist das?«
»Gewichte und Abmessungen«, erklärte Shan.
»Da steht hundertsechsunddreißig Kilo.« Der Amerikaner nickte. »Aber sehen Sie nur, hier ist etwas, das sogar noch mehr wiegt. Hundertneunzig Kilo.«
»Die Statue.«
»Das kann nicht sein«, wandte Kincaid ein und folgte der Zeile des Eintrags. »Hier steht, sie ist nur einundneunzig Zentimeter hoch.«
Shan schaute noch einmal nach. Der Amerikaner hatte recht.
Yeshe, der über ihre Schultern blickte, hatte eine Erklärung parat. »In diesen alten Schreinen«, sagte er mit spröder Stimme, »war die Altarstatue oftmals aus massivem Gold.«
Kincaid stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Mein Gott! Die ist Millionen wert.«
»Unbezahlbar«, sagte Fowler mit aufgeregtem Blick. »Das richtige Museum... «
»Ich glaube kaum«, warf Shan ein.
»Haben Sie eine Vorstellung davon, wie einzigartig diese Statue wäre? Ein bedeutender Fund. Die Entdeckung des Jahres.«
»Nein.« Shan schüttelte langsam den Kopf. Die Begeisterung der Amerikaner machte ihn beinahe wütend. Nein, nicht die Begeisterung. Die Naivität.
»Was meinen Sie?« fragte Fowler.
Shan antwortete, indem er den Strahl seiner Lampe durch den Raum wandern ließ. Er fand, was er suchte, unter einem der anderen Tische: mehrere Hämmer und Meißel. »Hundert neunzig Kilo Gold würden sich in einem großen Stück nur sehr unbequem transportieren lassen.« Er nahm einen der Meißel und zeigte den Amerikanern die glänzenden Metallfragmente, die sich in die Klingen der Werkzeuge gegraben hatten.
Rebecca Fowler packte den Meißel und starrte ihn an. Dann schleuderte sie ihn gegen die Wand. »Diese Schweine!« rief sie. Wütend nahm sie einige der Computerdisketten und steckte drei in ihre Hemdtasche, während sie Shan anstarrte, als wollte sie ihn herausfordern, sich mit ihr anzulegen.
Kincaid warf der Frau einen erkennbar bewundernden Blick zu und fertigte dann weitere Fotos an. Yeshe blätterte durch das Hauptbuch und hielt bei einem losen Blatt im hinteren Teil inne.
Er blickte erregt auf und reichte die Seite an Shan weiter. »Für eine Art Rechenschaftsbericht«, flüsterte er, als wolle er nicht, daß die Amerikaner etwas davon mitbekamen. »Vom Büro für Religiöse Angelegenheiten.«
»Aber die Seite ist leer.«
»Ja«, erwiderte Yeshe, »aber sehen Sie doch mal genauer hin. Hier sind Felder für den Namen des gompa, das Datum, die gefundenen Relikte und deren weitere Verwendung. Falls das Büro solche Verzeichnisse anlegt, könnten wir herausfinden, ob es irgendwo ein Tamdin-Kostüm gegeben hat.«
»Und außerdem, wann es entdeckt wurde und wo es sich jetzt befindet.« Shan nickte mit einem Anflug von Tatendrang.
»Genau.«
Shan faltete das Blatt und wollte es einstecken. Dann besann er sich eines anderen und gab es Yeshe, der es in seinem Hemd verstaute und dabei zum erstenmal so wirkte, als verspüre er eine gewisse Befriedigung.
Langsam schlüpfte Shan aus der Nische und ließ seine drei Begleiter bei den Wandgemälden zurück. Er betrat den Gang, in den Oberst Tan ihn mitgenommen hatte. Unmittelbar bevor das Licht seiner Lampe auf den ersten der Schädel fiel, blieb er stehen und versuchte sich zu überlegen, wie er die anderen hierauf vorbereiten sollte. Doch es fiel ihm nichts ein, und so zwang er sich weiterzugehen.
Sogar die Toten in Tibet waren anders. Zu Hause hatte er nach der Kulturrevolution einige Massengräber gesehen. Aber dort hatten die Toten weder heilig noch weise oder auch nur vollständig gewirkt. Sie schienen einfach nur benutzt worden zu sein.
Während er dem Gang in den Schrein folgte, ertappte er sich plötzlich dabei, wie er keuchend nach Luft rang. Er blieb stehen und musterte die Reihen leerer Augenhöhlen. Sie schienen ihn alle zu beobachten, die zahllosen Schädel, die wie die endlose Gebetskette aus Totenköpfen aussahen, die Khorda ihm in die Hände gedrückt hatte, bevor er Shan nach Tamdin rufen ließ. Plötzlich wurde ihm klar, daß diese Schädel Zeugen gewesen waren. Tamdin war mit Ankläger Jaos Kopf hier aufgetaucht, und die Schädel hatten das alles mit angesehen. Die Schädel wußten es.
Hinter sich spürte er ein Schaudern. Die anderen hatten den Gang entdeckt. Fowler stöhnte. Kincaid fluchte laut. Yeshe gab eine Art Wimmern von sich. Shan biß die Zähne zusammen und ging weiter bis zu dem Regal, auf dem Jaos Kopf gelegen hatte. Er versuchte, den Abschnitt zu zeichnen, hielt jedoch inne. Seine Hand zitterte zu sehr.
»Was erwarten Sie hier zu finden?« flüsterte Yeshe nervös über seine Schulter. Er stand mit dem Rücken zu Shan, als rechne er damit, jeden Augenblick hinterrücks überfallen zu werden. »Wir sollten an einem Ort wie diesem nicht länger verweilen.«
»Der Mörder ist mit Jaos Kopf hergekommen. Ich möchte den Schädel finden, der hier weggenommen wurde, um Platz für Jao zu schaffen. Warum wurde gerade dieses Regal ausgewählt? Gab es einen Grund dafür, daß gerade dieser Schädel weggenommen wurde? Und wo ist der Schädel geblieben?« Shan war sich nahezu sicher, daß er die Antwort auf die letzte Frage bereits kannte. Der fehlende Schädel war bestimmt in die Hütte geworfen worden, um mit den anderen Köpfen verarbeitet zu werden.
Yeshe schien ihm nicht zugehört zu haben. »Bitte«, flehte er. »Wir müssen gehen.«
Als die Amerikaner näher kamen, sprachen sie über tibetische Geschichte. »Kincaid meint, dies sei vermutlich eine Höhle von Guru Rinpoche gewesen«, sagte Fowler. Auch sie flüsterte jetzt.
»Guru Rinpoche?« fragte Shan.
»Der berühmteste der alten Einsiedler«, schaltete Yeshe sich ein. »Er hat im Laufe seines Lebens zahlreiche Höhlen in ganz Tibet bewohnt und jede zu einem Ort großer Macht werden lassen. Die meisten wurden schon vor Jahrhunderten in Schreine umgewandelt.«
»Ich wußte ja gar nicht, daß Mr. Kincaid ein solcher Gelehrter ist«, merkte Shan an.
»Jao wollte sie aufhalten«, sagte Fowler plötzlich mit heiserer Stimme. Shan blickte auf. Eine einzelne Träne glitt ihre Wange hinab.
»Was ist das?« fragte Yeshe in gehetztem Flüsterton. »Ich glaube, ich habe etwas gehört!«
Da war tatsächlich etwas. Shan spürte es. Kein Geräusch. Keine Bewegung. Keine Person. Etwas Unbeschreibliches und Gewaltiges, das durch Fowlers Traurigkeit ausgelöst worden zu sein schien. Er ließ den Block sinken und stand schweigend mit den anderen da, während die Blicke aus den leeren Augenhöhlen der schimmernden Schädel sie durchbohrten. Sie befanden sich nicht im Herzen des Bergs. Sie standen im Zentrum des Universums, und die lähmende Stille, die sie umfing, war gar keine Stille, sondern eine bedrohliche Atempause, wie unmittelbar vor einem gellenden Schrei.
Auf einmal erkannte Shan, daß Choje recht hatte. Es war völlig bedeutungslos, ob es sich bei Tamdin tatsächlich um das groteske Ungeheuer handelte, das Shan auf dem Wandgemälde gesehen hatte. Wer oder was auch immer der Mörder gewesen war, es mußte sich um einen Dämon handeln, und zwar nicht wegen der Enthauptung des Anklägers Jao, sondern weil er die Häßlichkeit dieser Tat an solch einen makellosen Ort gebracht hatte.
Shan bemerkte noch etwas Neues, ein leises raschelndes Geräusch, das zu einem regelrechten Geplapper anschwoll. Es schien von den Schädeln zu kommen. Rebecca Fowler trat mit angsterfülltem Blick näher an Kincaid heran. Die beiden standen wie erstarrt da und lauschten, dann drehte Kincaid sich plötzlich herum und richtete seine Kamera auf Yeshe. Er feuerte den Blitz wie eine Waffe ab, und das Geräusch verstummte. Da begriff Shan, daß sie den Widerhall eines Mantras gehört hatten, dessen Urheber Yeshe gewesen war.
Der Bann war gebrochen.
»Sie könnten mir behilflich sein«, sagte Shan, nachdem er sich gefangen hatte.
Fowler blickte verstört auf. »Gern.«
»Wir brauchen eine Bestandsaufnahme. Könnten Sie, Mr. Kincaid, die Regale fotografieren?« Die Schädel wußten es, rief Shan sich ins Gedächtnis. Vielleicht konnte er sie zum Sprechen bringen.
Kincaid nickte langsam. »Die drei Regalbretter dürften jeweils auf eine Aufnahme passen. Mein Film müßte gerade noch dafür ausreichen.«
»Die Inschriften bei jedem der Schädel müssen mit aufs Bild. Nachdem ich mir die Fotos angesehen habe, könnten wir sie vielleicht an Ihre UN-Kommission weiterleiten.«
Fowler bedankte sich bei Shan mit einem kleinen traurigen Nicken, blieb jedoch im Hintergrund, als Yeshe sich daran machte, Kincaid bei der ersten Reihe von Schädeln zu helfen. Vorsichtig folgten sie und Shan dem weiteren Verlauf des Gangs. Die Regale hörten auf und wichen weiteren Dämonenbildern, die auf die Wände gemalt waren.
»Stimmt es, daß man Sie hierzu zwingt und daß Sie irgendein Gefangener sind?« fragte Fowler plötzlich.
Shan ging weiter. »Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Niemand. Tyler hat lediglich erwähnt, daß keiner weiß, wer Sie sind. Wir dachten, Sie wären irgendein auswärtiger Beamter. Aber auswärtige Beamten.. ich weiß nicht... auswärtige Beamten werden normalerweise sehr respektvoll behandelt.« Sie schreckte vor ihren eigenen Worten zurück.
Ihre Verlegenheit rührte ihn.
»Tyler sagt, es sei komisch, wie Ihr Sergeant Sie im Auge behält. Er trägt eine Waffe, aber er ist kein Leibwächter, denn dann würde er auf Ihr Umfeld aufpassen. Doch Ihr Sergeant beobachtet nur Sie.«
Shan blieb stehen und richtete seine Taschenlampe auf das Gesicht der Amerikanerin. »Wenn ich nicht gerade mit einer Morduntersuchung beschäftigt bin, baue ich Straßen«, gestand er. »In einer Arbeitsbrigade, wie es so schön heißt.«
Fowler hob die Hand vor den Mund. »Mein Gott«, flüsterte sie. »In einem dieser schrecklichen Gefängnisse?« Sie wandte den Blick ab und schaute zu den Dämonen. Als sie wieder das Wort ergriff, glänzten ihre Augen feucht. »Es tut mir so leid. Ich bin solch eine Närrin.«
»Ein sehr hochstehender Parteifunktionär hat einmal zu mir gesagt, es gäbe in meinem Land nur zwei Sorten von Leuten«, sagte Shan. »Herren und Sklaven. Ich bin anderer Ansicht, und ich fände es betrüblich, falls Sie dieser Meinung wären.«
Fowler lächelte zaghaft. »Aber weshalb führen Sie dann diese Ermittlungen durch?«
»Das war mein Beruf, bevor ich zum Straßenarbeiter befördert wurde. Ich war Untersuchungsbeamter in Peking.«
»Aber Sie bieten Tan die Stirn, ich habe es selbst gesehen. Er ist doch Ihr...«
Shan hob abwehrend eine Hand. Er wollte das nächste Wort nicht hören. Womöglich Gefängniswärter? Oder sogar Sklavenhalter? »Vielleicht gerade deswegen - weil er mir nichts Schlimmeres mehr antun kann.« Das war die Art von Halbwahrheit, die eine Amerikanerin vermutlich glauben würde.
»Und deshalb werden Sie auch nicht beweisen, daß Jao von diesem Mönch ermordet wurde?«
»Ich kann nicht. Der Mönch ist unschuldig.«
Fowler starrte ihn an. Vielleicht wußte sie zuviel über China, um eine solch kategorische Behauptung zu akzeptieren, dachte Shan.
»Aber was geht hier vor sich? Sie kommen hier wie ein Dieb angeschlichen. Li führt auch eine Untersuchung durch, ist aber nicht bei Ihnen. Wovor hat Tan solche Angst?«
Demnach verstand sie mehr von China, als Shan erwartet hatte. »Ich bin im Hinblick auf Ihre Person auch ein wenig verwirrt, Miss Fowler«, entgegnete er. »Sie sind die Projektleiterin, aber Sie haben gesagt, die Firma sei Eigentum von Mr. Kincaids Vater.«
Die Amerikanerin wirkte belustigt. »Das ist eine lange Geschichte. Im wesentlichen läuft es auf folgendes hinaus: Die Tatsache, daß Tylers Vater der Firmenchef ist, bedeutet nicht automatisch, daß die beiden gut miteinander auskommen.«
»Sie stehen sich nicht nahe? Soll das heißen, Tibet ist eine Art Strafe für ihn?«
»Wissen Sie, was ein Aussteiger ist? Tyler hat Bergbau studiert, ganz wie die Familie wollte, damit er eines Tages die Firma übernehmen könnte. Doch nach dem Abschluß verkündete er, er lege eigentlich gar keinen Wert darauf, denn die Firma schädige die Umwelt und trage zur Verarmung der örtlichen Bevölkerungen bei. Dann hat er mehrere hunderttausend Dollar seines Treuhandvermögens für eine Ranch in Kalifornien ausgegeben, dort ein paar Jahre gelebt und sie dann einer Tierschutzgruppe überlassen, die den Bau einer neuen Mine blockierte, die sein Vater errichten wollte. Es hat einige Jahre gedauert, bis die Wogen sich so weit geglättet hatten, daß die beiden überhaupt wieder ein Wort miteinander wechselten, und dann noch ein paar Jahre, bis Tyler einverstanden war, für die Firma zu arbeiten. Aber sein Vater blieb so mißtrauisch, daß er ihm keine leitende Position überlassen wollte. Immerhin, die beiden reden wieder miteinander. Tyler hat wirklich vor, ein neues Leben zu beginnen, und er ist ein verdammt guter Ingenieur. Eines Tages wird er der Präsident der Gesellschaft und damit einer der reichsten Männer Amerikas sein.«
»Und Sie? Sie sind ziemlich jung für einen solch verantwortungsvollen Posten.«
»Jung?« Fowler schüttelte langsam den Kopf und seufzte. »Ich habe mich schon lange nicht mehr jung gefühlt.« Sie blieb stehen und schaute nach vorn. Der Gang führte in eine weitere Kammer. »Ich schätze, ich bin das genaue Gegenteil von Tyler. Ich hatte nie Geld, aber ich habe hart gearbeitet, viel gespart und Stipendien erhalten. Zehn Jahre lang habe ich geschuftet wie ein Pferd, um diesen Punkt zu erreichen.«
»Und dann haben Sie sich für Tibet entschieden?«
Sie zuckte die Achseln und ging weiter. »Es ist nicht das, was ich erwartet habe.«
Die Malereien in der Kammer zeigten verschiedene tibetische Landschaften, Bilder von Bergen, Palästen und Schreinen. An einem Ende des Raums waren Knochenstücke und ein Dutzend Schädel in Form eines Dreiecks auf dem Boden angeordnet. Keine fünf Meter davon entfernt lagen mehrere Schädel in einer Reihe. Daneben fanden sich Stiefel ab drücke und Zigarettenkippen. Die Soldaten hatten Bowling gespielt.
Fowler nahm einen der Schädel und hielt ihn ehrfürchtig in Händen. Dann fing sie an, auch die anderen aufzusammeln, als wolle sie die Gebeine zurück in die Regale legen. Shan berührte ihren Arm. »Das geht nicht«, warnte er. »Man wird sonst wissen, daß Sie hier gewesen sind.«
Sie nickte schweigend und legte die Schädel zurück. Dann machte sie sich mit bekümmerter Miene auf den Rückweg durch den Gang. Yeshe und Kincaid warteten in der Hauptkammer. Sobald Fowler und Shan eingetroffen waren, brachen die vier eilig auf. Keiner sprach ein Wort, bis sie sich in der Nähe des Eingangs befanden.
»Warten Sie eine Viertelstunde«, schlug Shan vor, »und dann kehren Sie auf demselben Weg zurück, auf dem Sie hergekommen sind.« Er fragte nicht, woher sie eine geheime Route kannten. »Ich werde Sie wegen der Fotos...«
Er wurde durch Fowlers erschrockenen Aufschrei unterbrochen. Im Eingang war eine Gestalt aufgetaucht, die vom hellen Sonnenlicht wie durch einen Scheinwerfer erhellt wurde.
»Er ist es!« stieß Fowler in heiserem Flüsterton hervor und wich mit Kincaid in den Schatten zurück. Doch Shan benötigte keine Erklärung. Bei dem Mann dort vor ihnen konnte es sich nur um Direktor Hu vom Ministerium für Geologie handeln.
Shan trat hinaus ins Licht.
»Genosse Inspektor!« rief der kleine untersetzte Mann. »Wie erfreulich! Ich hatte gehofft, Sie hier anzutreffen.« Seine winzigen schwarzen Augen wirkten in dem breiten Gesicht wie Käfer.
»Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden«, stellte Shan ruhig fest und ließ derweil den Blick über das Gelände schweifen.
»Nein. Aber ich bin extra den langen Weg hergekommen, um Ihnen zu helfen. Und hier sind Sie und bemühen sich nach Kräften, mir behilflich zu sein.« Feierlich überreichte er Shan seine Karte. Sie war aus Plastik. Direktor der Minen, Bezirk Lhadrung stand darauf. Hu Yaohong. Hu, der rot sein will.
Hinter ihrem Wagen war ein rotes Auto geparkt. Plötzlich erinnerte Shan sich: Genau dieser Geländewagen hatte an dem Tag in der Nähe der Baustelle gestanden, als Jaos Leiche gefunden wurde. Er schaute genauer hin. Es war ein englischer Land Rover, das teuerste Fahrzeug, das er je in Lhadrung gesehen hatte.
»Sie sind hergekommen, um zu helfen?« fragte Shan.
»Erstens das und zweitens, um eine Sicherheitsüberprüfung vorzunehmen.«
Da stand ein Mann und sprach mit Feng. Shan erschrak, als ihm klar wurde, daß Hu nicht etwa die Wachposten an der Zufahrt gemeint hatte. Der zweite Besucher war Leutnant Chang von der 404ten. Chang musterte ihn träge, wie ein Ladenbesitzer, der seine Ware im Auge behält.
Als Direktor Hu einen Schritt in Richtung der Höhle machte, stellte Shan sich ihm in den Weg. »Ich habe ein paar Fragen an Sie.«
»Ich möchte Ihnen in meiner Mine etwas zeigen... «
»Nein«, widersprach Shan. Hatte Hu die Amerikaner gesehen? Halb rechnete er damit, daß jeden Moment Kincaid auftauchen und ein paar Fotos schießen würde. »Bitte, ich würde lieber darauf verzichten.« Er legte die Hand auf den Magen und versuchte, möglichst benommen auszusehen. »Ich fühle mich da drinnen wirklich nicht wohl.«
»Haben Sie Angst?« Der Direktor der Minen wirkte amüsiert. Er trug einen großen goldenen Ring. Für einen Geologen schien er außerordentlich gut gekleidet zu sein. »Vielleicht sollten wir im Wagen Platz nehmen. Er stammt aus England, wissen Sie?«
»Ich muß zurück in die Stadt zu Oberst Tan.«
»Hervorragend! Ich werde Sie fahren. Ich muß Ihnen unbedingt meine Beweise darlegen.« Hu stieß einen kurzen Befehl aus, woraufhin Chang ihm die Schlüssel zuwarf und dann nickte, als Hu ihn anwies, mit Feng und Yeshe im anderen Auto zu folgen.
»Beweise?« fragte Shan.
Hu schien ihn nicht gehört zu haben. Sie sprachen kein weiteres Wort, bis sie die Hauptstraße erreicht hatten. Hu fuhr schnell und schien Spaß an der unebenen Strecke zu haben.
Belustigt registrierte er, wie Shan sich am Armaturenbrett festklammerte, während sie über den Schotter holperten. In den Kurven gab er jedesmal Gas und lachte, wenn das Heck des Wagens herumschwang.
»Die Zivilisation«, sagte Direktor Hu auf einmal. »Wissen Sie, das ist ein Prozeß, kein Konzept.«
»Sie haben etwas von Beweisen gesagt«, erwiderte Shan verwirrt.
»Genau. Es ist mehr als ein Prozeß. Es ist eine Dialektik. Ein Krieg. Mein Vater war in Xinjiang bei den Moslems stationiert. Die waren früher sogar noch schlimmer als die Buddhisten. Bombenanschläge. Überfälle mit automatischen Waffen. Viele gute Arbeiter der Regierung wurden geopfert. Die Dynamik der Zivilisation. Neu gegen Alt. Wissenschaft gegen Mythologie.«
»Sprechen Sie von der Auseinandersetzung zwischen Chinesen und Tibetern?«
»Genau. Es handelt sich um Fortschritt, das ist alles. Moderne landwirtschaftliche Techniken, Universitäten, fortschrittliche Medizin. Glauben Sie, die medizinische Entwicklung wäre kein Kampf gewesen? Ein Kampf gegen volkstümlichen Aberglauben und Zauberer. Früher ist hier jedes zweite Neugeborene gestorben. Jetzt überleben die Babys. Ist es das nicht wert, dafür zu kämpfen?«
Womöglich nicht, wenn die Regierung dir nicht gestattet, Kinder zu bekommen, wollte Shan antworten. »Soll das heißen, Ankläger Jao sei ein Märtyrer für die Zivilisation gewesen?«
»Aber gewiß. Wissen Sie, seine Familie wird einen Brief vom Staatsrat erhalten. Die Lektion liegt auf der Hand. Die Herausforderung besteht darin, den Leuten klarzumachen, diese Lehre zu begreifen.«
»Den Leuten?«
»Dieser Fall muß als Gelegenheit genutzt werden, der Bevölkerungsminderheit zu verdeutlichen, wie rückschrittlich ihr Verhalten ist.«
»Und dazu möchten Sie mit Ihren Beweisen beitragen.«
»Es ist meine Pflicht.« Hu griff in seine Tasche und holte ein gefaltetes Stück Papier hervor. »Das hier ist die Aussage eines Wachpostens, der an der Zufahrt zur Schädelhöhle stationiert war. In der Mordnacht wurde dort in der Nähe ein Mönch gesehen.«
»Ein Mönch? Oder ein Mann, der wie ein Mönch gekleidet war?«
»Es ist doch alles da. Die Beschreibung paßt auf diesen Sungpo.«
Ein Mönch habe sich in der Nähe der Zufahrt verdächtig benommen, hatte der Posten geschrieben. Er sei mittelgroß und von normaler Statur gewesen, mit kahlgeschorenem Kopf. Er habe feindselig gewirkt und etwas in einem Stoffbeutel bei sich getragen. Der Soldat hatte die Aussage unterzeichnet. Gefreiter Meng Lau. Shan steckte das Blatt ein.
»Wann hat der Wachposten diesen Mann gesehen?«
Hu zuckte die Achseln. »Später. Nach dem Mord. Es ist abends passiert, nicht wahr?«
»Wie nah war er dran? Es war Neumond. Ziemlich wenig Licht.«
Hu seufzte ungeduldig. »Soldaten geben gute Zeugen ab, Genosse. Ich habe mit mehr Dankbarkeit gerechnet.«
Als sie den Talgrund erreichten, erhöhte er das Tempo und lachte, weil Feng, Yeshe und Chang, die nach wie vor dicht hinter ihm blieben, in eine Staubwolke gehüllt wurden. »Sie haben gesagt, Sie hätten Fragen an mich, Genosse Inspektor?«
»Hauptsächlich über die Sicherheitsvorkehrungen. Und wie jemand nachts in die Höhle gelangen konnte«, erwiderte Shan.
»Nach der Entdeckung der Höhle haben wir zunächst Wachen direkt am Eingang aufgestellt. Aber nachdem die Leute erfahren hatten, was sich dort drinnen befindet, wurde es ihnen zu unheimlich. Also haben wir ein Kommando an der Zufahrt postiert. Es ist der einzige Weg, der dorthin führt, daher erschien es uns als hinreichende Maßnahme.«
»Aber offenbar gibt es noch einen anderen Weg.«
»Diese Mönche klettern wie die Eichhörnchen.«
»Wer hat die Höhle ursprünglich entdeckt?«
»Wir«, erwiderte Hu. »Ich habe Erkundungsteams.«
»Demnach wurden auch die Mineralvorkommen der Amerikaner von Ihnen gefunden?«
»Natürlich. Wir haben die notwendige Lizenz erteilt.«
»Aber jetzt wollen Sie die Erlaubnis widerrufen.«
Hu sah Shan verärgert an und bremste den Wagen ab. Sie hatten den Stadtrand von Lhadrung erreicht. »Ganz und gar nicht. Diskutiert wird lediglich die Betriebserlaubnis, die sicherstellt, daß sie sich an genau festgelegte Verwaltungsregulanen halten. Wir führen einen Dialog über die Art des Managements. Ich bin ein Freund dieser amerikanischen Firma.«
»Meinen Sie mit >Management< bestimmte Führungskräfte?«
»Die Art der Teichkonstruktion, die Erntetechnologie, die Spezifikation der Ausrüstung, der Energieverbrauch und auch die Methoden des Führungspersonals unterliegen allesamt gewissen Genehmigungskriterien. Weshalb fragen Sie?«
»Falls Sie also wollen würden, daß eine bestimmte Führungsperson das Projekt verläßt, könnten Sie einfach die Betriebserlaubnis außer Kraft setzen.«
Direktor Hu lachte. »Und ich dachte, Ihr Interesse für Geologie würde sich auf das Schleppen von Steinen beschränken.«
Shan wog seine Worte sorgfältig ab, während sie vor dem Gebäude der Bezirksverwaltung parkten. »Ich finde es interessant, daß Sie von meinem Status als Sträfling gewußt haben und dennoch den ganzen Weg hinaus zur Höhle gefahren sind. Ich dachte, der Direktor der Minen würde einfach anordnen, daß ich bei ihm zu erscheinen habe.«
Hu lächelte ausdruckslos. »Ich bringe Leutnant Chang das Fahren bei. Als Oberst Tan mir erzählt hat, wo Sie sich befinden..« Hu zuckte die Achseln. »Chang muß lernen, die Bergstraßen zu beherrschen.«
»Ist das auch der Grund für Ihr Erscheinen auf der Baustelle der 404ten an dem Tag, an dem die Leiche gefunden wurde?«
Hu seufzte und bemühte sich, seine Ungeduld zu unterdrücken. »Wir müssen aufpassen, daß keine Fehler geschehen.«
»In geologischer Hinsicht, vermute ich.«
Hu grinste. »Die Berghänge sind unsicher. Wir haben uns um die Straßen des Volkes zu kümmern.«
Shan war versucht, erneut zu fragen, ob Hu von Geologie sprach. »Genosse Direktor, würden Sie mich zum Oberst begleiten?« fragte er statt dessen.
Direktor Hus amüsierter Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er warf Chang, der hinter ihnen aufgetaucht war, die Schlüssel zu und folgte Shan hinein.
Madame Ko begrüßte Shan mit einem Nicken und huschte in Tans verdunkeltes Büro. Die Augen des Oberst waren geschwollen. Er streckte sich. Shan schaute sich im Zimmer um. Auf dem Tisch neben seinem Schreibtisch lag ein zerknülltes Kissen.
»Oberst Tan, ich würde Direktor Hu gern eine Frage stellen.«
»Und deshalb hast du mich gestört?« knurrte Tan.
»Ich wollte das in Ihrer Gegenwart tun.«
Tan zündete sich eine Zigarette an und deutete auf Hu.
»Direktor Hu«, fragte Shan, »können Sie uns sagen, warum Sie die Erlaubnis der Amerikaner außer Kraft gesetzt haben?«
Hu sah Tan stirnrunzelnd an. »Er mischt sich in die Angelegenheiten des Ministeriums ein. Es ist kontraproduktiv, einen öffentlichen Dialog über unsere Schwierigkeiten mit der amerikanischen Mine zu beginnen.«
Tan nickte langsam. »Sie müssen nicht darauf antworten. Genosse Shan ist manchmal ein wenig übereifrig.« Er bedachte Shan mit einem tadelnden Blick.
»Könnten Sie uns dann vielleicht verraten, wo Sie in der Nacht von Ankläger Jaos Ermordung gewesen sind?« fragte Shan.
Der Direktor der Minen starrte Shan ungläubig an. Dann erschien ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. Er wandte sich Tan zu und brach in Gelächter aus.
»Direktor Hu hat sich in meiner Gesellschaft befunden«, erklärte Tan mit einem kalten Lächeln. »Er hatte mich zum Abendessen zu sich eingeladen. Wir haben Schach gespielt und gutes chinesisches Bier getrunken.«
Hu lachte so laut, daß er kaum noch Luft bekam. »Ich muß jetzt los«, sagte er keuchend, salutierte spöttisch in Shans Richtung und ging zur Tür hinaus.
»Du hast Glück, daß er so gelassen ist«, warnte Tan. Er wirkte nicht im mindesten belustigt.
»Sagen Sie mir eines, Oberst. Ist die Schädelhöhle ein offizielles Projekt?«
»Natürlich. Du hast doch all die Soldaten dort gesehen. Eine große Unternehmung.«
»Ich meine, weiß Peking davon?«
Tan atmete den Rauch aus. »Das ist Sache des Ministeriums für Geologie.«
»Die Höhle ist voller kultureller Artefakte. Der eigentliche Einsatz wird von der Armee durchgeführt. Wie passen Hu und das Ministerium für Geologie dort hinein?«
»Sie haben die Höhle entdeckt. Aber sie haben nur wenig Personal. Als Verwalter des Bezirks habe ich die Unterstützung der Armee angeboten. Das ist für die Männer eine gute Feldübung.«
»Wer zieht einen Nutzen aus dem Gold?«
»Die Regierung.«
»Wer ist in diesem Fall die Regierung?«
»Ich weiß nicht, welche Dienststellen daran beteiligt sind. Mehrere Ministerien haben damit zu tun. Es gibt entsprechende Protokolle.«
»Wieviel erhält Ihr Büro?«
Diese Andeutung ließ Tan hochfahren. »Ich bin Soldat. Gold läßt Soldaten verweichlichen.«
Shan glaubte ihm, wenngleich nicht aus dem Grund, den Tan vorgab. Für einen Mann wie den Oberst war nicht Geld, sondern politischer Einfluß die Quelle der Macht.
»Vielleicht gibt es in der Regierung Leute, die nicht gutheißen würden, daß man Gräber plündert.«
»Und das heißt?«
»Wußten Sie, daß Ankläger Jao und Direktor Hu sich wegen der Höhle gestritten haben? Die Amerikanerin ist Zeugin einer solchen Auseinandersetzung geworden. Ich glaube, daß Hu daher versucht, sie aus dem Land zu vertreiben.«
Ein mattes Lächeln erschien auf Tans Gesicht. »Genosse, du irrst dich. Du weißt nicht, weswegen Hu und Jao sich gestritten haben.«
»Jao wollte, daß Hu mit dem aufhörte, was er tat.«
»Richtig. Aber er sollte nicht etwa die Höhle aufgeben, sondern die Buchführung. Jao war der Ansicht, das Justizministerium müsse einen größeren Anteil erhalten. Sein Büro. Ich habe das schriftlich. Er hat ein paar Beschwerdebriefe verfaßt und mich um Vermittlung gebeten. Madame Ko kann dir Kopien davon geben.«
Shan sank auf einen Stuhl und schloß die Augen. Hu war es nicht. »Was ist mit seinen Leuten? Können wir die Akten über deren Vorgeschichte bekommen?«
Tan nickte nachsichtig. »Madame Ko wird sie anfordern.«
»Wer auch immer Jao ermordet hat, wollte damit etwas über diese Höhle zum Ausdruck bringen.«
»Dann frag ihn.«
»Der Gefangene spricht nicht.«
»Dann geh und frag deinen verdammten Dämon«, erwiderte Tan gereizt und ging zu seinem Schreibtisch.
»Das würde ich gern. Was meinen Sie, wo soll ich nachsehen?«
»Da kann ich dir auch nicht helfen. Dämonen werden nicht von mir verwaltet.« Er nahm eine Akte und wies auf die Tür.
Shan stand auf und wußte auf einmal genau, wohin er sich wenden mußte. Es gab tatsächlich jemanden, der Dämonen verwaltete.
Wie so vieles andere in Tibet, unterlag auch das Wetter besonderen Gesetzen. Nur selten war es trocken, ohne daß gleich eine Dürre hereinbrach, und praktisch jeder Regenguß glich einer mittleren Sintflut. Als er von Tans Büro aufgebrochen war, hatte strahlender Sonnenschein geherrscht, aber bis sie die Räumlichkeiten des Büros für Religiöse Angelegenheiten im Nordteil der Stadt erreicht hatten, war das Wetter komplett umgeschlagen. Der Himmel schüttete kleine Eisbälle über sie aus. Shan hatte mal gelesen, daß jährlich fünfzig Tibeter durch Hagelschauer ums Leben kamen. Bevor er aus dem Wagen stieg, reichte er Feng ein Stück Papier. »Gefreiter Meng Lau aus dem Lager Jadefrühling. Ich brauche Ihre Hilfe, um herauszufinden, ob er in der Nacht des Mordes an der Zufahrt zur Höhle Wachdienst gehabt hat.«
Sergeant Feng nahm das Blatt regungslos entgegen. Offenbar war er sich nicht sicher, wie er auf diese Bitte Shans reagieren sollte.
»Sie wissen, wen Sie fragen müssen. Mir würde man das nie verraten, selbst wenn ich den Versuch unternähme. Bitte, Genosse Sergeant.«
Feng warf den Zettel auf das Armaturenbrett und riß die Verpackung eines Schokoriegels auf. Sein Desinteresse schien Shan zu verspotten.
Shan und Yeshe wurden mit einer knappen Entschuldigung in ein leeres Büro im ersten Stock geführt. Dann bot man ihnen den obligatorischen Tee an. Shan schlenderte in dem Zimmer umher. In einem Ablagekorb auf dem Schreibtisch befand sich ein Stapel Zeitschriften, deren oberste China bei der Arbeit war, ein Parteiorgan, in dem Hochglanzbilder des Proletariats veröffentlicht wurden. Auf dem Beistelltisch lag ein einzelnes Buch, dessen Titel Arbeiterhelden der sozialistischen Teppichfabriken lautete. Shan hob die Zeitschriften an. Unten im Stapel lagen einige amerikanische Nachrichtenmagazine, das jüngste mehr als ein Jahr alt.
Sie waren allein. »Haben Sie entschieden, was Sie tun werden?« fragte Shan. »Hinsichtlich der purbas.« Und der Amerikaner, hätte er beinahe hinzugefügt.
Yeshe schaute nervös zur Tür. Er zog die schmalen Schultern zusammen, und sein Gesicht verzog sich, als würde er gleich anfangen zu weinen. »Ich bin kein Informant. Aber manchmal stellt man mir Fragen. Was kann ich tun? Für Sie ist es einfach. Ich muß an meine Freiheit denken. Mein Leben. Meine Pläne.«
»Verstehen Sie denn nicht, was der Gefängnisdirektor Ihnen angetan hat?« fragte Shan. »Sie müssen hier raus.«
»Was hat er denn schon getan? Er hilft mir. Er ist vielleicht der einzige Freund, den ich habe.«
»Ich werde den Oberst um einen neuen Assistenten bitten. Sie müssen hier raus.«
»Was hat Zhong getan?« hakte Yeshe nach.
»Sie mißverstehen die Justizorgane. Daß man Ihnen, einem Tibeter, sofort nach der Umerziehung in einem Arbeitslager eine Anstellung in Chengdu anbietet, wäre nicht nur sehr ungewöhnlich, sondern für Zhong absolut unmöglich zu bewerkstelligen. Die Öffentliche Sicherheit in Chengdu müßte zustimmen, nachdem sie zuvor ein offizielles Gesuch der Öffentlichen Sicherheit in Lhasa erhalten hat. Der neue Arbeitgeber müßte einverstanden sein, ohne Sie zu kennen, was niemals geschehen würde. Man müßte Reisepapiere auf den Namen Ihrer neuen Arbeitseinheit ausstellen, die gar nicht existiert. Zhong hat keine Papiere für Sie. Solche Dinge unterstehen nicht seiner Amtsgewalt. Er hat Sie belogen, damit Sie weiterhin mit ihm reden und ihm von mir berichten. Wenn dann alles vorbei ist und man beschließt, daß ich erneut das Volk enttäuscht habe, weil ich Sungpo nicht verdammen wollte, wird er Sie beschuldigen, sich mit mir verschworen zu haben, und Sie wieder einsperren. Zur Verhängung einer Haftstrafe von weniger als einem Jahr ist lediglich die Unterschrift eines örtlichen Beamten der Öffentlichen Sicherheit nötig. Und schon hat Zhong seinen geschätzten Gehilfen wieder bei sich.«
»Aber er hat es mir versprochen.« Yeshe rang verzweifelt die Hände. »Ich weiß nicht, wohin. Ich habe kein Geld, kein Empfehlungsschreiben, keine Reisepapiere. Es gibt keinen Ort, an den ich gehen könnte. Die einzige wirkliche Anstellung, die ich bekommen könnte, ist ein Job bei der chemischen Fabrik in Lhasa. Dort heuert man gern Tibeter an, sogar ohne Papiere. Ich habe die Arbeiter gesehen. Nach ein paar Monaten fallen ihnen die Haare aus. Bis man vierzig ist, hat man kaum noch Zähne im Mund.« Er blickte auf. Statt der Verbitterung, die Shan erwartet hatte, war ihm ein Anflug von Dankbarkeit anzumerken. »Selbst wenn Sie recht haben, was könnte ich schon tun? Und Sie stecken in der gleichen Klemme, nur schlimmer.«
»Ich habe nichts zu verlieren. Ich bin ein lao gai-Gefangener mit unbestimmter Haftstrafe«, sagte Shan und versuchte, möglichst desinteressiert zu klingen, während er ans Fenster trat. »In meinem Fall steckt vielleicht eine Absicht dahinter. Aber Sie haben lediglich Pech gehabt. Vielleicht sollten Sie krank werden.«
Der Wind drückte gegen die Scheiben, und die Lichter flackerten. Die Häftlinge der 404ten zuckten stets zusammen, sobald derartiges Wetter aufzog. Es klang zu sehr nach Maschinengewehrfeuer, wenn der Hagel auf die Blechdächer ihrer Hütten prasselte.
»Falls man mich fragt, habe ich die purbas nie gesehen«, sagte Yeshe. »Aber das ist es nicht allein. Falls man herausfindet, daß die purbas Sungpo helfen, wird man das als Beweis dafür werten, daß die Radikalen hinter dem Mord stecken und Sungpo einer von ihnen ist.« Seine Stimme verklang. Unter ihnen hatte eine alte Limousine mit roter Standarte gehalten, die zweifellos schon vor vielen Jahren in einer der Städte im Osten ausgemustert worden war. Ein Mann mit einem ramponierten Regenschirm lief vom Haus zum Auto, um den Fahrgast aus dem Fond des Wagens abzuholen.
Zwei Minuten später betrat der Direktor des Büros für Religiöse Angelegenheiten das Zimmer. Er war einige Jahre jünger als Shan und trug einen abgenutzten blauen Anzug und eine rote Krawatte, die ihm das Aussehen eines gewissenhaften Bürokraten verliehen. Sein Haar war militärisch kurz geschnitten. Am Handgelenk trug er eine Uhr, auf deren lackiertem Zifferblatt die chinesische Flagge abgebildet war. Solche Uhren wurden zumeist verdienten Parteimitgliedern verliehen.
»Genosse Shan!« begrüßte der Mann ihn lautstark. »Ich bin Direktor Wen.« Er wandte sich Yeshe zu. »Tashi delay«, sagte er unbeholfen.
»Ich spreche Mandarin«, erwiderte Yeshe mit deutlichem Unbehagen.
»Wunderbar! Genau darum geht es beim neuen Sozialismus. Ich habe letzten Monat in Lhasa eine diesbezügliche Rede gehalten. Wir dürfen uns nicht auf unsere Unterschiede konzentrieren, habe ich gesagt, sondern auf die Brücken zwischen uns.«. Er klang aufrichtig. Seufzend sprach er wieder Shan an. »Deshalb ist es auch so tragisch, wenn die gesellschaftsfeindlichen Bestrebungen kulturelle Dimensionen annehmen. Es treibt einen Keil zwischen die Leute.«
Shan entgegnete nichts darauf.
»Oberst Tans Büro hat wegen der Ermittlungen angerufen.« Er hielt verlegen inne. »Man hat um meine uneingeschränkte Mitarbeit gebeten. Selbstverständlich hätte man mich gar nicht erst darum bitten müssen.«
»Sie sind für alle Klöster im Bezirk Lhadrung zuständig«, sagte Shan, nachdem man ihnen Tee gebracht hatte.
»Die Klöster müssen ihre Lizenzen allesamt bei meiner Behörde beantragen.«
»Und auch jeder Mönch.«
»Und jeder Mönch«, bestätigte Direktor Wen und sah Yeshe an.
»Eine große Verantwortung«, stellte Shan fest.
Yeshe schaute stumm zu Boden. Er schien außerstande zu sein, Wen anzusehen. Langsam und ungelenk, als bereite es ihm Schmerzen, holte er seinen Notizblock hervor und fing an, das Gespräch zu protokollieren.
»Siebzehn gompas. Dreihunderteinundneunzig Mönche. Und eine lange Warteliste.«
»Und die Bestandslisten der gompas!«
»Wir haben ein paar. Das Antragsverfahren ist recht langwierig. Unter anderem wird auch eine umfassende Übersicht verlangt.«
»Ich meine die alten gompas.«
»Alt?«
Shan sah Wen an, ohne zu blinzeln. »Ich kenne Mönche, die hier vor Jahrzehnten gelebt haben. 1940 gab es in diesem Bezirk einundneunzig gompas und Tausende von Mönchen.«
Wen winkte ab. »Das war lange vor meiner Geburt. Vor der Befreiung. Als die Kirche noch als Instrument zur Unterdrückung des Proletariats benutzt wurde.«
Yeshe starrte unverwandt auf seinen Notizblock. Diese Reaktion hatte nichts damit zu tun, daß Shan ihm zuvor Zhongs wahre Absichten erläutert hatte. Nein, es lag an Wen. Und Yeshes Verhalten zeugte auch nicht von Schmerz, erkannte Shan. Es war Angst. Weshalb war er wegen des Direktors für Religiöse Angelegenheiten dermaßen beunruhigt? »Damals«, sagte Shan, »gab es in manchen der großen gompas an Festtagen besondere Tanzzeremonien.«
Wen nickte. »Ich habe entsprechende Filme gesehen. Die Kostüme waren kunstvoll gearbeitet und stellten Sinnbilder dar. Gottheiten, Geister, Dämonen, Clowns.«
»Wissen Sie, wo diese Kostüme sich heutzutage befinden?«
»Eine faszinierende Frage.« Er nahm den Telefonhörer ab.
Kurz darauf erschien eine junge Tibeterin an der Tür. »Ah, Miss Taring«, begrüßte Wen sie. »Unsere... Freunde haben nach den alten Festspielkostümen gefragt und wo man sie heute finden könnte.« Er wandte sich an Shan. »Miss Taring ist unsere Archivarin.«
Die Frau nickte Shan zu und nahm auf einem Stuhl an der Wand Platz. »In Museen«, sagte sie in steifem Tonfall und nahm ihre metallgeränderte Brille ab. »Peking, Chengdu oder auch das Kulturmuseum in Lhasa.«
»Aber man findet doch immer neue Artefakte«, sagte Shan.
»Wurde vielleicht bei einer kürzlichen Prüfung ein solches Kostüm entdeckt?« murmelte Yeshe.
Die Frage schien Miss Taring zu überraschen. Ihr Blick richtete sich hilfesuchend auf Wen. »Ja, wir führen entsprechende Überprüfungen durch«, sagte Wen. Yeshe sah ihn noch immer nicht an. »Die Lizenzen wären bedeutungslos, würde man die Voraussetzungen nicht genau kontrollieren.«
»Und die Artefakte werden aufgelistet?« fragte Shan.
»Die Artefakte gehören dem Volk und sind Teil des Vermögens, das aus den Beständen der Kirche zurückgegeben wird. Die gompas übernehmen für uns die treuhänderische Verwaltung. Selbstverständlich müssen wir nachprüfen, was sich wo befindet.«
»Und manchmal werden auch neue Artefakte entdeckt.« Shan ließ nicht locker.
»Manchmal.«
»Aber keine Kostüme.«
»Nicht seitdem ich hier Dienst tue.«
»Wie können Sie da sicher sein?« fragte Shan. »In Ihren Bestandsverzeichnissen müssen doch Tausende von Artefakten aufgeführt sein.«
Wen lächelte herablassend. »Verehrter Genosse, Sie müssen sich vergegenwärtigen, daß diese Kostüme unersetzliche Schätze darstellen. Falls man heutzutage eines davon fände, würde das ziemliches Aufsehen erregen.«
Shan schaute zu Yeshe, um sich zu vergewissern, daß dieser nach wie vor schrieb. Hatte er richtig gehört? Verehrter Genosse? Er wandte sich an die Archivarin. »Miss Taring, Sie sagen, alle bekannten Kostüme befänden sich in Museen.«
»Einige der großen gompas in der Nähe von Lhasa haben die Erlaubnis erhalten, diese Tänze wieder aufzuführen. Bei gewissen genehmigten Veranstaltungen. Hauptsächlich für Touristen.« Sie musterte ihn argwöhnisch.
»Devisen«, sagte Shan.
Miss Taring nickte ungerührt.
»Hat Ihre Behörde eine vergleichbare Genehmigung für Lhadrung erteilt?«
»Noch nie. Die hiesigen Klöster sind zu arm, um solche Zeremonien durchführen zu können.«
»Ich dachte, vielleicht jetzt, wo doch die Amerikaner kommen..«
Direktor Wens Augen leuchteten auf, und er sah die Archivarin an. »Warum sind wir noch nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen?« Er wandte sich Shan zu. »Miss Taring organisiert unsere Vorkehrungen für den Besuch der Amerikaner und wird auch als Fremdenführerin zu einigen kulturellen Sehenswürdigkeiten dienen. Sie spricht Englisch mit amerikanischem Akzent.«
»Eine hervorragende Idee, Genosse Direktor«, sagte die Archivarin. »Aber es gibt hier keine geübten Tänzer. Viele dieser Kostüme sind vielleicht nicht das, was Sie glauben - es handelt sich eher um ganz besondere Maschinen. Mechanische Arme, komplizierte Befestigungen und dergleichen mehr. Die Mönche mußten monatelang trainieren, nur um zu begreifen, wie man mit diesen Kostümen umzugehen hatte. Bis sie gut genug für eine Zeremonie waren und die Tänze und genauen Bewegungen kannten, benötigten sie bisweilen mehrere Jahre.«
»Aber eine kurze Vorführung bei einem der neuen Projekte müßte machbar sein«, behauptete Wen. »Die Amerikaner brauchten doch gar nicht den authentischen Tanz zu sehen, sondern bloß die Kostüme, verbunden mit ein paar anmutigen Bewegungen, einigen Zimbeln und Trommeln. Sie könnten Fotos schießen.«
Miss Taring schenkte Direktor Wen ein knappes, unverbindliches Lächeln.
»Neue Projekte?« fragte Shan.
»Ich bin erfreut, Ihnen mitteilen zu können, daß einige gompas unter unserer Aufsicht wieder aufgebaut worden sind. Es stehen dafür öffentliche Mittel zur Verfügung.«
Öffentliche Mittel. Was mochte das bedeuten? überlegte Shan. Daß man die alten Schreine ausplünderte, um stattdessen Attrappen zu errichten? Daß man Altertümer zerstörte, um mit dem Erlös Kulissen zu finanzieren, in denen man buddhistische Scharaden für die Touristen aufführen konnte? »Hat Ankläger Jao an der Erteilung der Lizenzen für solche Projekte mitgewirkt?« fragte er.
Der Direktor stellte seine Tasse ab. »Danke, Miss Taring.« Die Archivarin stand auf und verneigte sich leicht vor Shan und Yeshe. Wen wartete, bis sie gegangen war. »Tut mir leid. Ich glaube, Sie wollten auf den Mord zu sprechen kommen.«
»Genosse Direktor, ich habe die ganze Zeit über den Mord gesprochen«, sagte Shan.
Wen starrte ihn mit neuem Interesse an. »Es gibt ein Komitee. Jao, Oberst Tan und ich selbst. Jeder hat hinsichtlich der Entscheidungen ein Vetorecht.«
»Nur wenn es um den Wiederaufbau geht.«
»Bei Lizenzen, Aufbauprojekten, der Genehmigung zur Aufnahme neuer Novizen, der Publikation religiöser Traktate, der Einladung der Öffentlichkeit zur Teilnahme an Gottesdiensten.«
»Hat Ankläger Jao jemals einen solchen Antrag abgelehnt?« fragte Shan.
»Das haben wir alle schon getan. Die Verteilung der kulturellen Ressourcen muß genau abgewogen werden, um Mißbrauch zu vermeiden. Die tibetische Minderheit ist nur ein kleiner Teil der chinesischen Bevölkerung. Wir können einfach nicht jedes Gesuch pauschal genehmigen«, verkündete Wen nachdrücklich und mit geübter Stimme.
»Und in letzter Zeit? Gab es irgendein besonderes Projekt, das Jao partout nicht unterstützen wollte?«
Wen schaute zur Decke und verschränkte die Hände im Nacken. »Nur eines während der letzten paar Monate. Er hat einen Antrag auf Wiederaufbau abgelehnt. Das Kloster Saskya.«
Saskya war Sungpos gompa. »Aus welchem Grund?«
»Am unteren Ende desselben Tals gibt es noch ein weiteres, größeres gompa. Khartok. Es hatte zuvor bereits um Wiederaufbau ersucht. Es liegt weitaus günstiger für die Besucher und bedeutet daher eine bessere Investition.«
Shan stand auf. »Ich habe gehört, Sie seien noch nicht lange auf diesem Posten.«
»Knapp sechs Monate.«
»Es heißt, Ihr Vorgänger sei ermordet worden.«
Direktor Wen nickte bekümmert. »Zu Hause gilt er als Märtyrer.«
»Aber fürchten Sie denn gar nicht um Ihr Leben? Ich habe keine Wachen gesehen.«
»Wir lassen uns nicht einschüchtern, Genosse. Ich habe eine Aufgabe zu erledigen«, verkündete Wen entschieden. »Die Minderheiten haben das Recht, ihre Kultur zu bewahren. Doch solange es kein Gleichgewicht gibt, droht Gefahr von Reaktionären. Peking traut nur wenigen von uns zu, hier an vorderster Front für Ordnung zu sorgen. Ohne uns würde Chaos herrschen.«