172573.fb2 Der Kuss der Russalka - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 1

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Die Tote aus der Newa

Johannes hatte sich an die Wölfe und Winterstürme gewöhnt, an die Kühle der Sommernächte, an den Sumpf und an die Rohheit, mit der die Leibeigenen und die schwedischen Kriegsgefangenen zur Arbeit angetrieben wurden. Aber an die Toten würde er sich nie gewöhnen. Sie starben am Fieber, an Auszehrung oder, wie dieses Mädchen hier, im Wasser. Es war nichts Ungewöhnliches. Wenn man dem sumpfigen Flussland eine Stadt abtrotzte, verschlangen die Wellen den einen oder anderen und spuckten ihn bleich und aufgedunsen wieder aus. »Dieses Piterburch ist die Hölle«, hatte gestern erst der alte Gehilfe gemurmelt, der in der Tischlerwerkstatt von Johannes’ Onkel arbeitete. Nun, wenn man an einem trüben Tag wie diesem am Ufer der Newa stand, musste man ihm Recht geben.

Die Menschenmenge, die sich um das tote Mädchen geschart hatte, wogte um Johannes. Ellbogen trafen seine Seite, sein Brustbein und drängten ihn zurück. Viel konnte er nicht erkennen, nur durch die zuweilen aufblitzenden Lücken zwischen den Köpfen bot sich das Bild eines nackten Arms, der von einem Brett baumelte. Bei diesem flüchtigen Blick staunte Johannes darüber, wie weiß Haut sein konnte. Vergeblich versuchte er sich aus der Menge zu schieben, stattdessen drückten ihn einige Neugierige noch näher heran. Gemurmel umbrandete ihn und verstärkte die Ahnung von Gefahr, die ihn mahnte, sich sehr schnell einen Fluchtweg zu suchen.

»Aufgespießt!«, flüsterte ein Bauer ohne einen Zahn im Mund und bekreuzigte sich. »Mord!«

Das Getuschel wurde immer lauter, sprang von Mund zu Mund. Johannes stemmte sich gegen einen untersetzten Aufseher und schaffte es, sich ein Stück nach außen zu kämpfen. Es war höchste Zeit, zu verschwinden. Wenn die russischen Fronarbeiter von Mord sprachen, war er als »Ausländer« nicht gerade sicher. Zar Peter liebte seine deutschen und holländischen Zimmerleute, die er für die Errichtung seiner Stadt aus Moskau und fremden Ländern geholt hatte, aber das einfache Volk, das aus allen Teilen des Zarenreichs zur Hilfsarbeit rekrutiert worden war, sah die Sache anders.

»Jetzt ermorden die Ketzer schon unsere Mädchen!«, knurrte nun eine Bauersfrau.

»Wo willst du denn hin?«, sagte eine heisere Stimme hinter Johannes. Schon packten ihn mehrere Hände grob an Hemd und Haaren. Johannes ließ ihnen keine Zeit, weitere Vermutungen anzustellen, er wand sich geschickt aus dem Griff und schlug eine der schmutzigen, schlammverschmierten Hände weg.

Er hatte Glück, dass er hoch gewachsen war und von seinen vier Brüdern früh gelernt hatte, wie man sich prügelte. Stoff riss, ein Hieb traf ihn in die Seite, aber er ließ sich nichts gefallen. Oft genug hatte er solche Pöbeleien gemeistert, als er noch in der Deutschen Vorstadt in Moskau gelebt hatte.

Beinahe war es ihm gelungen, sich freizuboxen, als ein Lederriemen über seinen Kopf hinwegzischte und mit einem hässlichen Klatschen auf Fleisch landete. Der Kerl, der sich eben wieder auf Johannes stürzen wollte, brüllte auf und hielt sich die Wange.

Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor, an denen ein helles Büschel von Johannes’ schulterlangem Haar klebte. Die Menschenmenge verstummte. Dutzende von entsetzten Augen starrten einen Reiter an.

Blinzelnd sah sich Johannes um und erkannte erleichtert Oberst Derejew, der in aller Ruhe seine Peitsche wieder einrollte. Derejew unterstand direkt Zar Peter. Und was in diesem Moment noch wichtiger war: Er kannte Johannes und seinen Onkel. Nicht dass er den alten Zimmermann und Tischler und seinen Lehrjungen besonders mochte, aber er würde nie zulassen, dass ein Ausländer von einer aufgebrachten Meute verprügelt oder womöglich gar gelyncht wurde. Derejew würdigte Johannes keines Blickes, sondern sprang vom Pferd und ging geradewegs auf das Mädchen zu. Die Menge teilte sich und floss hinter ihm nur zögernd wieder zusammen. Langsam schwoll das Gemurmel wieder an, dann hörte Johannes ersticktes Schluchzen und Gebete. Die Stimme der Vernunft ermahnte ihn endlich zu gehen, doch er blieb stehen und spähte zwischen den Leuten hindurch. Derejew beugte sich am Kopfende der Bahre zu dem Mädchen hinunter und hob das schmutzige Tuch, das die Leiche bedeckte, ein wenig an. Eine zerfetzte und überraschenderweise blutleere Schulter wurde sichtbar. Leblos ruhte die linke Hand des Mädchens neben der Wunde. Langes Haar, schwarz und voller Newaschlamm, war über das Gesicht gebreitet.

Johannes blieb der Mund offen stehen, als er sah, was alle sahen: Die Strähnen, an denen kein Schlamm klebte, schimmerten grünschwarz wie das Wasser eines tiefen Sees unter einem Gewitterhimmel.

Ein hoher Schrei ließ die Gebete verstummen. Derejew ließ das Tuch los und fuhr herum. Ein großer junger Mann torkelte in die Mitte des Kreises und warf sich neben der Bahre auf die Knie. Sein kantiges Gesicht wäre hübsch gewesen, wenn der lodernde Blick und die Grimasse des Wahnsinns es nicht entstellt hätten. Der zerschlissene taubenblaue Soldatenrock, der früher einem Feldgrenadier gehört haben musste, schlotterte um seinen Körper und bot in Verbindung mit den groben, sackartigen Hosen ein groteskes Bild. Jeden anderen hätte Derejew von seinen Soldaten verjagen oder sogar zusammenschlagen lassen, aber das hier war Mitja, der Gottesnarr. So schwieg Derejew nur und ließ den heulenden Wahnsinnigen gewähren. Unter allen Bräuchen und Verhaltensweisen, die Johannes in diesem seltsamen Land bisher kennen gelernt hatte, war dies eine der befremdlichsten: Selbst der jähzornigste Russe wurde freundlich und nachsichtig, wenn er sich einem Schwachsinnigen gegenübersah. Sie wurden nicht verspottet oder versteckt wie in Johannes’ Heimatdorf in der Nähe von Magdeburg. Hier galten sie als von Gott ausgewählte Narren.

»Der Himmel blutet«, stammelte Mitja. »Erde im Flussbett, Heuschrecken ertrinken in der steinernen Flut.« Speichel lief ihm aus dem Mund und tropfte auf die zerlumpten Ärmelaufschläge seines Uniformrocks. »Feuer fällt, wenn Fische fliegen!« Seine Stimme schraubte sich in die Höhe, bis er keine Luft mehr bekam. Die Menge flüsterte. Er sprang auf und deutete auf die bedeckte Tote. Röchelnd holte er Luft und schrie: »Russalka!« Der Arbeiter, der vor Johannes stand, wich vor Schreck so schnell zurück, dass er gegen Johannes prallte. Mit einem Fluch stieß der Mann ihn grob zu Seite und floh. »Russalka«, murmelte eine Bauersfrau und bekreuzigte sich. Dann drängte sie sich ebenfalls an Johannes vorbei und lief weg.

»Du! Zimmermann! Komm her!«, erscholl Derejews donnernde Stimme. Johannes begriff, dass er gemeint war, und ging zögernd durch die Menge, die ihm nun so schnell Platz machte, als hätte er die Pest.

Viele unfreundliche Blicke trafen ihn, aber die Leute schwiegen. Am Rand des freien Platzes, der sich um die provisorische Bahre gebildet hatte, blieb Johannes stehen. Der Gottesnarr war auf den Knien zusammengesackt und betete flüsternd eine unverständliche Litanei. In Derejews Stirn hatte sich eine tiefe Zornesfalte eingegraben. Mit argwöhnischem Blick betrachtete er die Menge. »Das Mädchen ist ertrunken!«, sagte er laut. Johannes wunderte sich darüber, dass Derejew eine Erklärung abgab. Verstohlen warf er einen Blick auf den Arm, der immer noch unter dem schmutzigen Tuch hervorragte. Die Haut war so weiß – es konnte kein Mädchen aus dem Volk sein.

Derejews Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

»Lauf zu deinem Onkel und sage ihm, er soll die Werkstatt freiräumen. Los!«

Johannes nickte und rannte los, froh den Platz verlassen zu können. Über die verschlammten Pfade führte sein Weg am Südufer der Newa entlang. An manchen Stellen waren die Wege mit Eichenbrettern ausgelegt. Wie jeden Tag waren auch heute die Lastenschlepper unterwegs, die Schauerleute verluden Holz, Ziegel und Stein auf Schiffe und Fuhrwerke, je nachdem wohin das Baumaterial gebracht werden sollte. Die Arbeiter, die an den ersten Fundamenten für die Steinhäuser bauten, sahen kaum auf, als Johannes vorbeirannte. Die Werkstatt seines Onkels befand sich etwa eine Meile vom Ufer entfernt in nordöstlicher Richtung, ganz in der Nähe der Sumpfgebiete, die noch trockengelegt werden mussten. Eines Tages sollte sich am Newadelta eine gewaltige Stadt erheben. Aus Stein sollte sie bestehen, nicht wie Moskau zum größten Teil aus Holz. Aber im Augenblick war von der zukünftigen Pracht noch nicht viel zu erahnen. So gut wie alle Gebäude bestanden hier noch aus Holz; Erdwälle waren dort aufgeschichtet, wo eines Tages gewaltige Steinmauern jedem Angriff trotzen würden. Je weiter sich Johannes vom Fluss entfernte, desto schlammiger wurde der Boden, der wegen des Regens aufgeweicht war. Er keuchte bereits, als er an der kleinen Gruppe von Häusern ankam, in denen sich die Drechsler und Zimmerleute aus der Deutschen Vorstadt in Moskau angesiedelt hatten. Das Wohnhaus, in dem Johannes mit seinem Onkel, seiner Tante und den Gehilfen lebte, erhob sich auf einem Fundament ein gutes Stück über dem Boden. Eine überdachte Treppe führte hinauf zur Tür. Durch die erhöhte Lage hatten die Bewohner die häufigen Überschwemmungen im Frühjahr, als das Eis auf dem Fluss schmolz, trockenen Fußes überstanden. Anders sah es mit der Werkstatt aus, die ebenerdig stand und wie ein grimmiger, länglicher Holzkoloss den Stürmen trotzte.

»Marfa!«, schrie Johannes schon von weitem. Seine Schritte schlugen schwer auf die Treppenstufen.

Im Inneren des Hauses war es dämmrig, nur das Feuer brannte im Ofen. Dort stand Johannes’ Tante, die Hände um einen Krug gekrampft. Ihr Gesicht war reglos wie immer, aber Johannes wusste, dass Marfa stets mit der schlimmsten aller möglichen Nachrichten rechnete. Keuchend holte er Luft. »Derejew bringt eine Tote«, brachte er heraus. »Wir sollen sie in der Werkstatt aufbahren.«

Marfa zog die Augenbrauen zusammen, stellte den Krug ab und strich sich das widerspenstige braune Haar aus dem Gesicht. Ihre Augen blitzten wie graues Eis. »So, sagt Derejew das«, meinte sie trocken.

»Dann gib Michael Bescheid!«

* * *

In der Wohnkammer war es an diesem Abend gedrängt voll. Die vier Gehilfen, die für gewöhnlich auf Holzpritschen in der Werkstatt schliefen, lagerten heute in der Stube. Außerdem schliefen hier Johannes und der alte Diener Iwan, nur durch einen dickeren Vorhang getrennt von der winzigen Kammer, die sich Johannes’ Onkel Michael und Marfa teilten. Das Haus war klein und in großer Eile gebaut worden, damit es noch vor den ersten Schneestürmen fertig wurde. Im nächsten Sommer, wenn alles gut ging, würden sie ein neues bauen. Nicht weit von hier, näher an der Newa. Schmuck würde es werden, steinern und geräumig.

Sobald die Gehilfen die verhüllte Tote auf eine der Werkbänke gebettet hatten, war die Werkstatt verschlossen worden. Gegen Abend schlichen immer noch Bauern und auch einige Aufseher an der Werkstatt vorbei, tuschelten miteinander, hielten sich jedoch in sicherer Entfernung. Nun war es spät am Abend, trotzdem schimmerte eine milchige Helligkeit durch die Türritze und die Fensterläden. Die seltsamen nordischen Nächte, in denen die Sonne nie ganz unterging, machten es schwer, zu schlafen und morgens ausgeruht an die Arbeit zu gehen. Obgleich es Sommer war, fror Johannes, als er nun mit nacktem Oberkörper auf dem Schemel saß und seiner wortkargen Tante zusah, wie sie den Riss in seinem Hemd nähte. Wie viele russische Stadtbewohnerinnen trug sie ein Kleid mit langen, weiten Ärmeln, das nicht eng geschnürt war und beinahe orientalisch wirkte. Dort, wo früher eine Borte aus Goldstickerei den Ausschnitt geziert hatte, prangte nun ein einfaches Band aus blauem Stoff, das die einstige Zierde nur notdürftig ersetzte. Marfa und Michael hatten erst vor zwei Jahren geheiratet – in Moskau, im selben Monat, als Johannes in Russland angekommen war. Damals war ihm Marfa hochmütig erschienen und so ernst wie eine Heiligenfigur. Sie war zwanzig Jahre jünger als Onkel Michael und stammte aus verarmtem Adel. Von ihrem einstigen Reichtum war ihr nur der alte Iwan geblieben. Er mochte bestimmt schon sechzig Jahre alt sein, sein Bart reichte ihm bis auf die Brust. Wie die Eichenkommode, die bestickte Bettdecke, der Spiegel und die drei Trinkschalen aus Bergkristall, die Marfa mit in die Ehe gebracht hatte, war Iwan sozusagen Teil des Hausrats. Leibeigenen wie ihm gehörte nicht einmal ihr Leben. Ihre Herren konnten sie jederzeit verschenken, verkaufen oder misshandeln. Iwan allerdings hatte Glück, denn Marfa behandelte ihn wie einen Bediensteten und steckte ihm hin und wieder sogar eine Kopeke zu. Alleine schon für diese Gutherzigkeit mochte Johannes seine Tante, auch wenn sie ihm sonst immer noch streng und unnahbar erschien.

»Das ist jetzt das dritte Hemd in zwei Sommern«, sagte sie und schnalzte missbilligend mit der Zunge.

»Ich habe mit der Prügelei nicht angefangen«, verteidigte er sich. Sie kniff die Lippen zusammen und schob einen neuen Faden durch das Nadelöhr. Iwan betrachtete düster den Bluterguss auf Johannes’ Jochbein und schwieg. Einer der Gehilfen hustete rasselnd. Das feuchte Klima machte allen zu schaffen, und die unzähligen Stechmücken, die eine Plage waren und Fieber brachten, verschlimmerten die Situation noch. Johannes betrachtete seine geschwollenen Fingerknöchel und seufzte. Die Arbeit morgen würde schwer werden, aber er wusste, dass sein strenger Onkel geprellte Knöchel nicht als Entschuldigung gelten lassen würde. In vielen Belangen des Lebens war Michael, der schon vor fast dreißig Jahren nach Russland gezogen war, selbst ein Russe geworden. Nur seine in vielen Lehr– und Arbeitsjahren erworbenen Handwerkertugenden, auf die er so stolz war – absolute Disziplin, Fleiß und Pflichterfüllung –, hatte er beibehalten und war dabei noch verbissener, als es Johannes’ Vater und seine Brüder je gewesen waren. Johannes hatte sich das Leben im Zarenreich anders vorgestellt. Es hatte nach Abenteuer und neuen Möglichkeiten geklungen, nach einer Freiheit, die er in der Enge seines Heimatdorfes nie gekannt hatte. Und da war noch etwas – das Meer! Unendliche Ozeane, die sich vor ihm auftaten.

Ginge es nach Johannes, wäre er auf dem Schiff geblieben, das ihn von Hamburg aus um das Nordkap und über das Eismeer bis zum Hafen von Archangelsk gebracht hatte. Im Licht dieser Erinnerung vergaß er sogar die Kälte und die schwere Arbeit an Deck und sehnte sich so sehr, dass er sich einbildete, den schlingernden Tanz des Meeres unter seinen Füßen zu spüren. Stattdessen saß er hier, Land und Leute waren ihm immer noch fremd, auch wenn er inzwischen zumindest die Sprache recht gut beherrschte. Wehmütig dachte er auch an die Zeit in der Deutschen Vorstadt in Moskau zurück. Einzig und allein dort hatte er sich ein wenig zu Hause gefühlt. Apotheker und Handwerker aus den verschiedensten Ländern lebten dort, Kaufleute mit ihren Familien, aber auch Abenteurer, Söldner und nicht zuletzt viele schottische Royalisten, die vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat geflohen waren und in der Ausländervorstadt eine Zuflucht gefunden hatten. Hier dagegen sah Johannes sich plötzlich mit Leibeigenen und Arbeitern, Bauern und Soldaten aus allen Teilen des Zarenreiches zusammengepfercht. Obwohl es auch hier von Architekten, Arbeitern und Fachleuten aus Frankreich, Holland und England wimmelte, bekam er es als Lehrling nur zu oft zu spüren, dass die meisten der einfachen Leute die Ausländer verachteten.

Der hustende Gehilfe war eingeschlafen und zitterte selbst jetzt noch. Johannes ließ seinen Blick zu dem Modellschiff aus Holz schweifen, das er noch in Moskau gebaut hatte. Die Sankt Paul stellte es dar, eine der großen Fregatten, die Zar Peter gehörten.

Eines Tages, dachte er. Eines Tages habe ich so ein Schiff und dann werde ich mich an Piterburch erinnern und lachen. Nervös zupfte er an seinen Fingern.

Dann würde er keine Ertrunkenen mehr sehen müssen. Nicht dass das Mädchen die erste Tote war, die er zu Gesicht bekommen hatte. In Moskau hatte er sogar einmal einem Arzt geholfen, das Opfer eines Raubmords in einer Seitengasse aufzusammeln und auf einen Karren zu legen. Aber das blasse Mädchen, das nebenan in der Werkstatt lag, beunruhigte ihn.

Das Gesicht des Gottesnarren kam ihm wieder in den Sinn. »Marfa?«, fragte er leise. »Was ist eine Russalka?«

Seine Tante sah von ihrer Näharbeit hoch. »Aberglaube«, antwortete sie trocken. »Man sagt, Russalkas kommen aus dem Reich der Toten und gehen dahin zurück.«

»Dann sind sie also Gespenster.«

Marfa zog den Mundwinkel hoch, unwillig noch mehr zu diesem Thema zu sagen. »Die Bauern glauben, Russalkas seien ertrunkene Mädchen. Sie wohnen vor allem in Weihern und haben einen Fischschwanz. Im Sommer verlassen sie das Wasser und tanzen in den Wäldern. Warum willst du das wissen?«

Ihr scharfer Blick machte ihn nervös, im nächsten Moment wurde ihm bewusst, dass er sich ertappt fühlte. »Mitja hat die Tote so genannt«, antwortete er. »Und die Leute am Ufer haben sich bekreuzigt.«

»Der Gottesnarr spricht die Wahrheit, denn die Wahrheit liegt in Gott«, murmelte Iwan. Manchmal hatte Johannes das Gefühl, dass auch Iwan einen guten Gottesnarren abgeben würde.

»Hör zu, Johannes«, sagte Marfa. Sie hatte nicht die Angewohnheit, ihm russische Namen zu geben, sondern sprach seinen Namen sehr korrekt auf Deutsch aus. »Du weißt, was Zar Peter von solchem Aberglauben hält. Lass niemandem zu Ohren kommen, dass du solchen Unsinn glaubst.« Sie sah ihn noch einmal scharf an – ein Blick, der sich anfühlte, als wäre seine Stirn ein durchsichtiges Blatt Papier, hinter dem sich seine Gedanken abzeichneten wie die Umrisse von Schattenpuppen. »Und bitte mach keine Dummheiten«, setzte Marfa prompt hinzu. »Ich will dich nicht erwischen, wie du in die Werkstatt schleichst, hörst du? Wer weiß, was dem armen Ding passiert ist. Vielleicht war es Mord, vielleicht …«, ihre Stimme wurde leiser, »… wird irgendein Mann in den nächsten Tagen dafür bezahlen, dass er sie angefasst hat. Aber wir mischen uns nicht ein, hast du mich verstanden?« Johannes erwiderte nichts und senkte den Kopf. Marfa konnte Gedanken lesen, und der Gedanke, der ihm nun durch den Kopf ging, würde ihr überhaupt nicht gefallen.

»Hast du sie gesehen?«, fragte er nach einer Weile.

Marfa machte eine ungehaltene Geste. »Nein. Warum sollte ich mir eine Tote ansehen, nun? Was gibt es da zu sehen, was?« Und noch schärfer setzte sie hinzu: »Wenn es deine Christine wäre – würdest du wollen, dass jemand sie anstarrt?«

Johannes schwieg betreten und betrachtete den hölzernen Türgriff, den Iwan schnitzte.

»Hör endlich auf, herumzuzappeln!«, knurrte Onkel Michael, der bis jetzt schweigend dagesessen hatte und eine Bauskizze für ein Holzgerüst angefertigt hatte. Im Schein des Feuers bekam sein weißes Haar einen goldenen Glanz und erinnerte daran, wie Michael als junger Mann ausgesehen hatte. »Tu irgendwas! Wenn dir sonst nichts einfällt, kannst du die Schnitzmesser schärfen.«

Johannes stand auf und holte sich die Kiste, in der sorgfältig sortiert mehrere Messer lagen. Seufzend ließ er sich auf seinem Schemel nieder und klappte vorsichtig, um seine geschwollenen Finger zu schonen, den Deckel hoch. Unauffällig beobachtete er Marfa und Michael, die sich über die Steuern für das Schleifen von Äxten unterhielten, über das Werkzeug, das neu hinzugekauft werden musste, und über das neue Haus, das eines Tages nicht weit vom Newaufer entfernt stehen würde. Seine Ungeduld wurde immer brennender, aber er durfte keinen Verdacht erregen. Also beugte er sich tief über seine Arbeit und dachte darüber nach, wie er es anstellen würde, sich ungesehen hinter die Werkstatt zu schleichen.

Iwan beendete seine Arbeit an dem Türknauf und pustete ein paar Holzsplitter weg. Liebevoll fuhr er mit der Hand über das Holz. Johannes konnte nicht umhin, die Kunstfertigkeit des Leibeigenen zu bewundern. Seine Becher und Trinkschalen verkauften sich zu einem guten Preis. Sogar Zar Peter besaß einen hölzernen Messergriff aus Iwans geschickten schwieligen Händen. Was jeden anderen Handwerker mit Stolz erfüllt hätte, war für den Alten jedoch ein Grund, nachts schlecht zu schlafen. Er fürchtete nicht die Hölle oder den Teufel, nein, Iwan hatte Angst vor dem Zaren. Eine Furcht, die Johannes gut verstehen konnte. So beeindruckend der riesenhafte Herrscher war, so launisch und unberechenbar konnte er sein.

Und Iwan fürchtete zu Recht, Zar Peter könnte ihm aus einer Laune heraus doch noch eigenhändig den Bart abschneiden, so wie er es sogar bei den höchsten Würdenträgern in Moskau gemacht hatte. Zar Peter konnte in seiner Begeisterung und Güte maßlos sein – und ebenso maßlos in seinen Wünschen und seiner Willkür. Was ein Mörder zu erwarten hatte, konnte Johannes sich nur zu lebhaft vorstellen.

Er schauderte und linste aus dem Fenster zu dem Holzbau hinüber, in dem sich die Schleifbänke und Sägen befanden. Rechts am Gebäude, unter einem Vordach, war Holz aufgeschichtet. Vor der Werkstatt hielt einer von Derejews Leuten Wache und Johannes nahm an, dass irgendwo -wahrscheinlich unter dem Fenster auf der Nordseite des Gebäudes – noch ein zweiter Bursche stand. Sehr viel Aufwand, um eine Tote zu bewachen, die angeblich einfach nur ertrunken war. Irgendetwas stimmte nicht. Nicht dass Johannes ernsthaft glaubte, das Mädchen könnte wirklich eine Russalka sein. Johannes glaubte nicht an Dinge wie das Wilde Heer, das über den Nachthimmel galoppierte, an Nachzehrer oder rachsüchtige Seelen. Aber wenn Derejew solche Maßnahmen ergriff, war etwas Außergewöhnliches mit ihr geschehen. Vermutlich handelte es sich bei dem Mädchen um eine Adlige. Es roch nach Mord, zweifellos.

Später als sonst zogen sich Marfa und sein Onkel in ihre Kammer zurück, die Gehilfen und Iwan legten sich auf Pritschen und Decken vor den Ofen. Johannes lag auf seiner Bettstatt, die tagsüber als Sitzbank diente, und starrte mit offenen Augen in das seltsame Zwielicht, das auch die dicken Vorhänge an den Fenstern nicht ganz aussperren konnten. Wie immer in solchen Nächten versuchte er sich Christines Gesicht vorzustellen, ihr hellbraunes Haar und ihre sanften Züge. Heute allerdings gelang es ihm nicht. Heute hatte die Kaufmannstochter smaragdschwarzes Haar und eine Haut, die zu gleißen schien wie Schnee in der Sonne.

* * *

Trotz seiner Gedanken musste er kurz eingenickt sein, denn als er die Augen aufschlug, lag gespenstische Ruhe über dem Haus. Nicht einmal der Gehilfe röchelte mehr, sein Schlaf war so tief, dass Johannes überlegte, ob er vielleicht gestorben war. Im selben Moment drehte der Mann sich um und schnappte grunzend nach Luft. Sofort war Johannes hellwach.

Es stand auf und schlich zum Fenster. Die Silhouette des Wachmanns zeichnete sich gegen die dämmrige Helligkeit ab. Johannes überschlug im Kopf die verschiedenen Möglichkeiten, in die Werkstatt zu kommen. Die Tür war verschlossen. Auf Derejews Befehl hatte Onkel Michael dem Wachposten sogar den Schlüssel überlassen müssen. Aber es gab kaum ein Schloss, das für Johannes ein großes Hindernis darstellte.

Leise tastete er nach seinem Gürtel, an dem ein Werkzeug hing, das Marfa im Scherz »Sankt Petrus’ Schlüssel« genannt hatte. Damit würde er sogar das Himmelstor öffnen können, hatte sie gesagt. Oft verloren die Auftraggeber Schlüssel zu Truhen und Fächern – und dann war Johannes’ Werkzeug, das er in nächtelanger Arbeit erdacht und selbst hergestellt hatte, ein willkommener Gast im Haus. Wie einfach der Mechanismus war, wusste allerdings nur Johannes – es gab nicht viele Arten von Schlössern. »Du bist grundanständig, aber dein Schatten ist der eines Diebs«, war Marfas Meinung. Dennoch – heute würde ihm sein Werkzeug nicht viel helfen, es sei denn, es würde ihm gelingen, den Wachposten von der Tür wegzulocken.

Natürlich konnte er auch über das Dach klettern, aber das würde zu viel Lärm machen. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, sich zur Rückwand des Gebäudes zu schleichen. Nur Johannes und Iwan wussten von dem gelockerten Brett, das lediglich an zwei Nägeln hing. Johannes hatte den Leibeigenen dabei beobachtet, wie er das Brett aus der Wand herausgehebelt hatte. Wie von Geisterhand verschwand er durch den Spalt, wenn er einen von Zar Peters Leuten in die Werkstatt kommen sah. Johannes hatte ihn niemals verraten. Es war immer nützlich, so hatte er sich gedacht, einen zweiten Ausgang zu haben.

Johannes lächelte und machte sich auf den Weg.

Eine Diele knarrte unter seinem Schritt und er hielt atemlos inne. Aber alle in der Stube schliefen beinahe so tief wie die Tote aus der Newa, die nebenan auf der Werkbank lag. Behutsam setzte Johannes den Fuß auf die Schwelle und drückte die Tür auf. Sie lag im Schatten und war von der Position des Wächters aus nur zu sehen, wenn dieser den Kopf weit nach links wandte. Flink huschte Johannes durch die Tür, sprang über die Stufen hinweg und lief geduckt an der Hauswand entlang. Unendlich laut erschien ihm das Geräusch seiner Schritte. Unter dem Fenster von Marfas und Onkel Michaels Kammer verweilte er und spähte nach dem zweiten Wachposten. Gerade war er um die Ecke gekommen und nestelte an seinem Degen. Johannes hielt die Luft an. Noch ein paar Schritte weiter und der Soldat würde ihn entdecken. Er hatte die Möglichkeit, einen Stein zu werfen, um ihn abzulenken. Allerdings war die Gefahr, dass der Wächter die Wurfbewegung aus dem Augenwinkel bemerkte, sehr groß. Vorsichtig versuchte er sich weiter an die Wand zu drücken und hoffte, der Mann würde nicht in seine Richtung blicken. Er hatte Glück. Irgendwo auf der anderen Seite der Werkstatt knackte es. Der Wächter horchte auf und wandte sich um. Diesen Augenblick nutzte Johannes, um mit wenigen Sätzen um das Haus zu huschen. Er hörte die Wächter sprechen, die nun um die Werkstatt herumgingen. Das war seine Chance. In dem Augenblick, als beide Soldaten außer Sichtweite waren, sprang er zur Rückwand der Werkstatt und hebelte mit einem flinken Griff das Brett heraus. Ein schmaler Spalt entstand, durch den er sich seitlich hindurchzwängen konnte.

»Da hinten!«, rief ein Wächter. Schwere Schritte polterten heran. Johannes riss sich eine Schramme in den Arm, als er so schnell wie möglich durch den Spalt schlüpfte und das Brett wieder heranzog. Sein Herz schlug lauter als Onkel Michaels Zimmermannshammer. Mit stockendem Atem verharrte er.

Schritte wurden lauter, dann, plötzlich, war Stille.

Der Wächter musste nun genau vor dem Brett stehen.

Johannes glaubte die Wärme seines Körpers durch das Holz hindurch zu spüren. Der Mann schien zu lauschen, dann murmelte er einen derben Fluch und entfernte sich wieder. Johannes atmete auf. Jetzt fiel ihm ein, dass er sich nicht überlegt hatte, wie er wieder ins Haus kommen würde. Die Werkstatt war dunkel, aber durch die hölzernen Ritzen fiel genug Licht, dass er die Umrisse der Handwerksgegenstände erahnen konnte – Sägen hingen an den Wänden und glänzten wie dunkles Wasser. Schlafenden Tieren ähnlich kauerten Tische und die kleineren Werkbänke im Raum. Mitten unter ihnen erhob sich die große Bank, auf der Onkel Michael die größeren Keilhölzer zurechtsägte. Sie war leer. Johannes kniff die Augen zusammen und sah noch genauer hin.

Kein Zweifel – auf der Werkbank lag nur noch das große Tuch, mit dem die Tote zugedeckt gewesen war. Ein Teil des Stoffes hing bis zum Boden hinunter, als hätte die Person ihn beim Aufstehen mit sich gezogen. Johannes erschrak bei diesem Gedanken.

Sie konnte nicht aufgestanden sein, sagte er sich. Sie war tot. Trotzdem fielen ihm unwillkürlich Iwans Geschichten ein, die von Toten erzählten, die während der Trauerwache mit klappernden Zähnen und blind tastenden Leichenfingern auf der Suche nach den Lebenden um ihren Sarg herumliefen. Zu allem Überfluss hörte er etwas – ein leichtes Schleifen, kaum wahrnehmbar und doch vorhanden. Fast hörte es sich so an, als würde jemand im Raum atmen. Er lauschte, doch das Geräusch war schon verschwunden. Vielleicht hatte er sich getäuscht oder die Geräusche, die von außen hereindrangen, spielten ihm einen Streich. Mit weichen Knien ging er auf die Werkbank zu. Ein neuer Laut ließ ihn zusammenfahren. Es war ein leises Klopfen, das direkt von der Bank kam. Zögernd streckte Johannes die Hand aus und berührte das Tuch. Es war nass – Tropfen fielen zu Boden und trafen mit dem sachten Klopfgeräusch, das er eben gehört hatte, auf dem Holz auf. Irgendjemand hatte die Leiche aus der Werkstatt geschafft.

Ihr Haar war nass gewesen und hatte den Stoff durchgeweicht. Beklommen betrachtete er die leere Grabstätte und gestand sich endlich ein, warum die Tote ihn so interessierte. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie er und seine Familie in einer leeren Kirche für die Seele seines Bruders gebetet hatten. Auch Simon hatte es aufs Meer gezogen, aber er überlebte schon die erste Fahrt mit einem deutschen Handelsschiff nicht. Es sank bei einem Sturm vor Rügen.

Sein Körper wurde nie gefunden.

Mühsam schob Johannes den Gedanken an Simon beiseite und wollte sich weiter umsehen, als sein Blick auf den Boden fiel. Er stutzte. Da war noch mehr Wasser auf dem Fußboden – Lachen und Tropfen zogen sich bis zum Fenster.

Ein Schleifen hinter ihm überraschte ihn, noch während er ungläubig auf die Abdrücke starrte. Instinktiv wirbelte er herum und machte eine abwehrende Handbewegung. Er hörte einen japsenden Laut, aber er traf nur eine lappenartige nasse Masse.

Dann wurde es dunkel. Im ersten Moment wehrte er sich voller Panik, dann begriff er, dass ihm jemand das nasse Leichentuch über den Kopf geworfen hatte.

Mit einem Keuchen entledigte er sich des schweren Stoffes und sah sich gehetzt um, bereit sich in einen Zweikampf zu stürzen. Doch alles, was er sah, war die Lücke in der Holzwand, durch die er selbst hereingekommen war. Der Angreifer hatte das Brett herausgedrückt und war geflohen. Draußen ertönten Rufe und wurden zu Tumult. Menschen wachten auf, Schritte polterten, als sich die Wächter an die Verfolgung des Eindringlings machten. Johannes drückte sich unter eine kleinere Bank und wartete darauf, dass die Tür aufflog und ein Wächter mit erhobenem Gewehr oder gezücktem Säbel vor ihm stand. Doch die Rufe entfernten sich, Stimmengewirr drang vom Haus herüber. Johannes nutzte seine Chance, zwängte sich durch die Öffnung und rannte. Er kam gerade rechtzeitig, um mit Iwan zusammenzustoßen, der in der Haustür erschien. Der alte Leibeigene runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts, sondern ließ ihn ein.

* * *

Mit schmerzenden Fingern schliff Johannes eine Querstrebe ab, die sein Onkel für ein Stützgestell benötigte. An Schlaf war nicht zu denken gewesen. Alle im Haus waren in Aufruhr, und in der Werkstatt stand Onkel Michael und diskutierte mit mehreren Hauptleuten, die den Raum inspizierten und das lose Brett begutachteten. In der Nähe der Werkstatt tauchten immer wieder bärtige Arbeiter in schlammverkrusteter, zerlumpter Kleidung auf. Sie deuteten auf das Gebäude, tuschelten und bekreuzigten sich. Johannes konnte sich eines mulmigen Gefühls nicht erwehren, als er sah, wie feindselig sie ihn betrachteten. Marfa war aufgeregt wie ein Huhn und so besorgt, dass ihre Schroffheit in Feindseligkeit umschlug. Mit harschen Worten verscheuchte sie die Schaulustigen und trieb die Gehilfen zur Arbeit an.

Erst gegen Mittag durften sie wieder in die Werkstatt.

Johannes bemerkte, dass das Brett mit neuen, langen Nägeln wieder in die Gebäuderückwand geschlagen worden war. Er zuckte zusammen, als sein Onkel ihn grob am Arm fasste.

»Die Nägel waren gelockert«, sagte Michael mit drohender Stimme. »Hast du davon gewusst?«

Johannes schluckte und senkte den Kopf. »Ja«, gab er zu.

Eine steile Zornesfalte erschien auf der Stirn seines Onkels, aber zumindest ließ er Johannes’ Arm los. »Wenn du mich jetzt belogen hättest, hätte ich dir nie wieder geglaubt. Iwan hat blonde Haare am Holz gefunden. Dem Herrgott sei Dank, dass er sie vor Derejews Leuten verborgen hat. Hast du gesehen, wer die Leiche rausgeschafft hat?«

»Nein«, sagte Johannes mit fester Stimme.

Sein Onkel blickte ihn prüfend an. Dann seufzte er und strich sich mit seiner schwieligen Hand über die Stirn. Er sah müde aus. »Nun«, meinte er schließlich.

»Zumindest bist du ehrlich. Bete, dass diese Tote uns nicht mehr kostet, als wir je bezahlen können.«

Noch nie hatte Johannes Marfa so blass gesehen.

Verstohlen wischte sie sich über die geröteten Augen, nachdem sie einen Krug mit Kwass in die Werkstatt gebracht und ihn hart auf einem der Tische abgestellt hatte. Dankbar nahm Johannes das Getränk an. Inzwischen mochte er das trübe Gebräu, das aus gebackenem Brot, Hefe, Honig und Gewürzen zubereitet wurde, aber er hatte lange gebraucht, um sich an den seltsamen Geschmack zu gewöhnen.

»Habt ihr gehört, was man redet?«, fragte Marfa an ihren Mann gewandt. Sie senkte die Stimme, aber Johannes konnte dennoch verstehen, was sie sagte.

»Von Mord sprechen sie! Das Gerücht geht um, dass ein Ausländer das Mädchen geschändet und umgebracht hat und wir ihm geholfen haben die Spuren seiner Tat zu verwischen.«

Michael stellte seinen Becher auf der Werkbank ab, wo gestern noch die Tote geruht hatte. »Arbeitergeschwätz«, knurrte er. »Lass sie reden. Solange Zar Peter nicht persönlich hier reinkommt und mich anklagt, wird uns nichts passieren.«

Marfa biss sich auf die Lippen und schwieg.

Gegen Abend rief Michael Johannes zu sich, damit er ihn zu den Bauten am linken Newaufer begleitete, dorthin, wo in Zukunft die Häuser der Adligen und Offiziere ihren Platz haben würden. Gerüste standen auf den unzähligen Baustellen, der Boden war festgestampft, man konnte bereits erkennen, dass sich an dieser Stelle schon in wenigen Jahren steinerne Straßen erstrecken würden. Bald würden in der neuen Stadt auch Hüttenwerke errichtet, Segeltuchwebereien für die Uniformen und Ziegelbrennereien.

Der Bauleiter, der Johannes’ Onkel zu sich bestellt hatte, war ein hagerer, schlecht gelaunter Flame. »Da drüben«, sagte er, »muss der Flaschenzug hin. Morgen kommt eine Ladung Steine, die wir hier zum Fundament herüberhieven müssen. Schaffst du das, Brehm?«

»Sicher«, knurrte Michael und wandte sich an Johannes und einen der Gehilfen. »Geht und holt Seile.«

Sein Gesicht war unbewegt, aber Johannes konnte sehen, dass der Ärger in Michaels Adern brodelte.

Viel zu oft spannten ihn die Baumeister für solche Hilfsarbeiten ein, obwohl er weit und breit der beste Gerüstbauer war. Dennoch – die Befehle galten auch für ihn. Jeder war dazu da, zu tun, was ihm befohlen war, jede Arbeitskraft wurde gebraucht, um Zar Peters neue Stadt zu erschaffen.

Gerade waren sie damit fertig, das Gerüst für den Flaschenzug mit Querbalken und Holzwinkeln zu verkanten, als einer von Derejews Leuten hoch zu Ross auf die Baustelle stürmte. Johannes glaubte in ihm einen der Männer zu erkennen, die vor der Werkstatt Wache gehalten hatten. Der Mann schien offenbar nicht für seine Nachlässigkeit bestraft worden zu sein, was erstaunlich war. Johannes betrachtete ihn genau, während dieser eine Papierrolle hervorzog. Unwillkürlich suchte Johannes nach Anzeichen, dass der Soldat geprügelt worden war. Manchmal bemerkte man eine Strafaktion daran, dass die Leute sich ungelenk bewegten oder das Gesicht verzogen, wenn die Prellungen und Wunden auf dem Rücken schmerzten, aber dieser hier saß völlig entspannt auf seinem Pferd und begann nun mit lauter Stimme zu lesen. Seine Stimme trug weit über den Platz und brachte auch die letzte Arbeit zum Erliegen.

»Im Auftrag Seiner Majestät, des Zaren, lässt mein Herr, Konstantin Derejew, der betraut ist mit dem Todesfall einer Arbeiterin, die gestern aus der Newa gezogen wurde, Folgendes verkünden: Nach Befragung von Zeugen steht nun fest, dass die Ertrunkene Natascha Neglowna Toraschkina hieß und eine Arbeiterin aus Nowgorod war! Sie verletzte sich, als ein Holzstapel auf sie fiel. Als sie die Wunde im Wasser der Newa reinigen wollte, wurde sie ohnmächtig und ertrank. Auf Anordnung Seiner Majestät, des Zaren, wurde den Verwandten erlaubt ihren Leichnam mit sich zu nehmen.« Die Arbeiter senkten den Blick, einige bekreuzigten sich wieder. Der Soldat ließ den Blick über die Menge schweifen. Seine Stimme nahm einen noch strengeren Ton an. »Über diesen Unfall wünscht Seine Majestät, der Zar, keine Gerüchte mehr zu hören. Wer dabei angetroffen wird, wie er Lügen über die Tote verbreitet, wird mit fünfzig Knutenhieben bestraft.« Die Stille, die sich um sie herum senkte, war beredter als jeder Fluch. Selbst Johannes schauderte. Fünfzig Hiebe mit der Knute würde kaum jemand überleben. Die dünnen, langen Lederstreifen, die an einem kurzen Holzgriff befestigt waren, schlitzten bei jedem Schlag die Haut auf.

Johannes hob den Blick und erschrak. Derejews Bote sah ihm direkt ins Gesicht. Die Warnung war unausgesprochen, aber so deutlich, als hätte er Johannes einen Lederriemen mitten durch das Gesicht gezogen.

Erschrocken senkte Johannes den Kopf und fasste den Hammer fester. Er würde schweigen, natürlich, niemand war so dumm, sich einer solchen Anordnung zu widersetzen. Aber dennoch – irgendwo in seinem Inneren erwachte ein Funken von Trotz und eine Stimme, die ihm sagte, dass er sich nicht auf diese Weise befehlen lassen wollte. Noch deutlicher war die Erinnerung an die Hand der Toten. Sie war so weiß gewesen und ihre Fingernägel sauber und so rund wie Halbmonde. Nie im Leben hatte diese Hand eine Schaufel oder einen Holzpflock berührt.

* * *

Weitere Regenfälle weichten den Boden auf, der eben erst trockengelegt und befestigt worden war.

Zwei Arbeiter, die versucht hatten von der Baustelle zu fliehen, wurden im Wald wieder eingefangen und mit zehn Knutenhieben bestraft, nur einem dritten Läufling gelang die Flucht. Der einzige Lichtblick in der Woche war eine Warenlieferung aus dem Umland, die Lebensmittel wie Gurken, Kohl, dreißig große Käfige mit Hühnern und Kisten voller Branntwein herbeischaffte. Die Preise für die Güter des täglichen Lebens, die zum größten Teil über ungerichtete Wege von weit her herbeigeschafft werden mussten, machten Johannes jedes Mal von neuem schwindeln. Auch wenn seine Familie nicht arm war, bewunderte er Marfa aufrichtig dafür, wie sie es schaffte, aus dem, was sie bezahlen konnten, so viele Mahlzeiten zuzubereiten. Auch wenn es beinahe jeden Tag nicht viel mehr als die »Kascha« gab, einen grobkörnigen Brei, musste Johannes niemals hungern. Besteuert wurde beinahe alles: Die Imker zahlten für die Gewinnung von Honig, Bauern für den Verkauf ihrer Gurken, sogar die Bestattung in einem Eichensarg kostete eine Sondersteuer. Trotz dieser Misslichkeiten ging das Leben in der gerade entstehenden Stadt, die an vielen Orten noch an eine schlammige, von Mücken verseuchte Barackensiedlung erinnerte, weiter.

Manchmal, wenn der Wind von der See kam, glaubte Johannes nachts Geschützfeuer zu hören. Die Newamündung war immer noch Kriegsgebiet. Vor wenigen Jahren hatte etwa acht Meilen weiter noch eine schwedische Festung gestanden, die Zar Peter erobert hatte. Seit Jahren führten Schweden unter König Karl und das Russische Zarenreich den Nordischen Krieg, der immer wieder neue Kriegsgefangene als Arbeitskräfte in das Newadelta spülte. Gesichert war die zukünftige Festungsstadt noch nicht, und die Angst davor, dass die Schweden das Newadelta angreifen könnten, war allgegenwärtig. Zwar gewährte die Festung Kronstadt, die vor der Newamündung auf der großen Insel Kotlin lag, zusätzlichen Schutz, aber in bangen Nächten fühlte Johannes sich so, als sei er mitten in der Hölle gelandet.

Nun verfolgte ihn auch noch die Tote in seine unruhigen Träume. Onkel Michael und Marfa verloren kein Wort mehr über sie, stattdessen betraute Michael seinen Neffen zum ersten Mal mit dem Aufbau eines Gerüsts im zukünftigen Palastviertel, wo die Sommerresidenz entstehen sollte.

Wie immer, wenn Johannes morgens am Newaufer entlangging, ließ er auch an diesem Tag seinen Blick sehnsuchtsvoll über den Fluss schweifen in der Hoffnung, eines von Zar Peters Schiffen zu sehen.

Dort, wo die Newa sich in drei mächtige Mündungsarme aufspaltete, lag die kleine Haseninsel so, als würde die große »Petersburger Insel«, die dahinter lag, sie halb umarmen wollen. Wenn Johannes die Augen zusammenkniff, konnte er erahnen, wo das Wohnhaus des Zaren stand, sein »Domik«. Es befand sich rechts von der Haseninsel auf der Sankt Petersburger Insel – ein einfaches Blockhaus aus Kiefernholz, das der Zar in drei Tagen eigenhändig gezimmert hatte, um von dort aus den Bau seiner Stadt zu überwachen. Nur zwei Zimmer waren darin und vor dem Haus lag ein einfaches Ruderboot.

Auf der vorgelagerten Haseninsel erhob sich dagegen ein weit imposanterer Bau: Auf einem Fundament aus Eichenpfählen stand bereits die Peter-Paul-Festung in Form eines länglichen, unregelmäßigen Sechsecks. Mehrere Bastionen waren angelegt, bereit jedem Gegner zu trotzen. Gerade war damit begonnen worden, die aufgeschütteten Erdwälle durch Steinmauern zu ersetzen. Doch schon jetzt gab die Festung ein großartiges Sperrwerk ab: So weit die Kanonen schießen konnten, war es möglich, jeden Punkt zu Wasser und zu Lande von den Bastionen aus unter Kreuzfeuer zu nehmen. So war die neue Stadt sowohl gegen die Angriffe der schwedischen Flotte von der Seeseite als auch vor schwedischen Landtruppen, die von Finnland oder von Livland aus angreifen konnten, geschützt.

Weiter links lag das zukünftige Zentrum der Stadt: die Wassilijewskij-Insel. Manche nannten sie auch Fürst Menschikows Insel, nach dem besten Freund des Zaren, der auch der Gouverneur der entstehenden Stadt war: Alexander Menschikow. Hier, an der östlichen Spitze, befand sich der Hafen. Enttäuscht erkannte Johannes jedoch, dass er an diesem Morgen keines der großen Schiffe zu sehen bekommen würde. Lediglich die üblichen Schwärme von Transportkähnen fuhren ihre Güter über den Fluss, außerdem kreuzten kleinere Ruderboote ihren vorgezeichneten Weg. Johannes’ Herz schlug höher, wenn er an die zwei Jachten des Zaren dachte, deren Konstruktion er inzwischen bis hin zum kleinsten Knoten an den Focksegeln auswendig kannte: die Sankt Peter und die Sankt Paul. In Amsterdam hatte sich der Zar zudem vor über zehn Jahren die erste Fregatte bauen lassen, der Grundstein zu seiner eigenen Flotte, die inzwischen um ein Vielfaches angewachsen war. Zu dieser Flotte gehörte auch ein schwedisches Schiff, das der Zar eigenhändig gekapert hatte. Johannes zog es nicht in die Seeschlachten, sehr wohl aber aufs Meer und am allermeisten in die Werft, die durch den Fluss getrennt schräg gegenüber vom Hafen auf dem südlichen Flussufer lag.

»Na, träumst du wieder?«, fragte Onkel Michael.

Johannes nahm sich zusammen und wandte sich wieder dem Gerüst zu, mit dem er gerade beschäftigt war. Der Hammer lag ihm heute schwer in der Hand.

Onkel Michael warf ihm einen düsteren Blick zu.

»Es ist ein langer Weg zum Schiffszimmermann«, sagte er, als seien Johannes’ Gedanken in schwarzer Schrift auf seine Stirn geschrieben. »Und wenn du meinst, du kommst schneller dorthin, wenn du bei mir die Zeit vertrödelst, hast du dich getäuscht.«

»Du würdest mich ohnehin nicht weglassen«, murmelte Johannes. Er widersprach seinem Onkel nicht oft, heute aber stieg seltsamerweise ein tiefer Ärger in ihm auf, Ärger darüber, dass sein Onkel mürrisch und unnahbar war.

»Aus gutem Grund«, gab Michael prompt zurück.

»Erstens brauche ich dich in der Werkstatt und zweitens möchte ich nicht, dass die See dich verschlingt.«

»Ich spreche nicht davon, Matrose zu werden«, erwiderte Johannes ernsthaft. »Ich spreche davon, Schiffe zu bauen.«

»Erst baust du sie und dann ruft dich die See«, sagte Michael. »Ich kenne diesen Ruf und er hat mir kein Glück gebracht.«

Johannes schwieg. Noch nie hatte er gewagt, seinen griesgrämigen Onkel nach seiner ebenso geheimnisvollen wie abenteuerlichen Vergangenheit zu befragen. Aber er wusste, dass er mit seinem Onkel am besten über das Schweigen sprach. So standen sie da, keiner von ihnen sagte ein Wort, die unausgesprochene Frage schwirrte wie ein lästiges Insekt in der Luft. Michael stand unschlüssig da, schließlich seufzte er und setzte sich auf die unterste Strebe des Gerüsts, an dem Johannes gerade arbeitete. »Setz dich«, sagte er beinahe freundlich. Johannes gehorchte. Michael sah ihn lange an, dann streckte er sich und deutete auf den Fluss. »Dein Vater hat es dir erzählt, nicht wahr?«

»Dass du zur See gefahren bist? Ja, er hat es erwähnt.«

»Es ist keine Heldentat«, sagte Michael. »Glaube es mir einfach. Ich kenne die Sehnsucht nach dem Meer, ich musste lügen, wenn ich sagen würde, ich verspüre sie nicht mehr, aber in Wirklichkeit waren es Einsamkeit, Entbehrungen und Stürme, die nur im Licht der Gewissheit, sie überlebt zu haben, in wunderschönen Farben erstrahlen. Es ist nichts für dich.«

»Woher willst du das wissen?«, erwiderte Johannes. »Nur eine Meile von hier baut Zar Peter seine Flotte. Russland wird eine riesige Seemacht werden!

Es wird Arbeit geben. Eines Tages könnte ich … ein eigenes Schiff haben.«

Michael sah ihn scharf an. »Weißt du, was du dafür alles lernen musst?«, gab er zu bedenken.

»Nichts, was der Zar nicht auch gelernt hätte. Er hat auf seinen Reisen beim Baumeister Brant gelernt und sogar als Schiffszimmermann auf den englischen Docks gearbeitet.«

»Das ist richtig«, sagte Michael. Sein Blick verdüsterte sich wieder. »Aber der Zar hat die Mittel dafür.

Du besitzt kein Geld – dein kostbarstes Gut ist dein Leben. Hüte es, Johannes. Ich will deinem Vater nicht schreiben müssen, dass du ertrunken bist wie dein Bruder.«

Johannes kniff die Lippen zusammen. Da war er wieder, der dumpfe Schmerz über Simons Tod. Fast hasste er Michael in diesem Moment dafür, dass er wieder an dieser Wunde rührte.

»Ich möchte dir nicht einreden, dass es unmöglich ist«, fuhr Michael sanfter fort. »Nur bitte ich dich, sehr gut zu überlegen, was du tust. Ich gebe dir noch zwei Jahre. Wenn du dann versuchen willst zu den Schiffsbauern zu gehen, steht der Weg dir frei.«

Johannes hob den Blick und sah seinen Onkel ungläubig an. »Warum?«, brachte er heraus.

Michael seufzte. »Warum, warum? Weil du ein noch größerer Dickkopf bist, als Simon es je war. Du bist als schweigsamer Lehrling zu mir gekommen – aber du bist schlau!«

»Danke!«, sagte Johannes. Er war so verwirrt, dass ihm weitere Worte fehlten.

Michael stand auf und rieb sich verlegen die Hände.

»Danke mir nicht zu früh«, sagte er sehr leise.

»Und liebe deinen Zaren nicht zu sehr. Zumindest nicht mehr als dein Leben.«

Mit einer barschen Geste scheuchte er Johannes zurück an die Arbeit. Er beeilte sich, den Hammer zu ergreifen und wieder ans Werk zu gehen. Die Freude über Michaels Vorschlag gab ihm das Gefühl, hundert Tage und Nachte arbeiten zu können ohne zu ermüden. In seinem Kopf sang es. Die täglichen Sorgen, selbst die Tote aus der Newa und Derejew waren mit einem Mal Tausende von Meilen entfernt. Im Geiste sah er sich bereits in der Admiralität arbeiten.

Nicht weit von hier entfernt stand diese Schiffswerft.

Hohe Erdwälle und ein Wassergraben umgaben das Gebäude mit dem u-förmigen Grundriss. Gerade jetzt, als Johannes eine Meile entfernt stand und Gerüste für die zukünftigen Häuser der Offiziere und Adligen zimmerte, wurde im Innenhof der Werft an den Schiffen für Zar Peters Flotte gebaut.

Mühsam nur unterdrückte Johannes das breite Grinsen, das sich ständig auf sein Gesicht schleichen wollte, und holte mit dem Hammer aus. In diesem Moment sah er in schlammgrüne Augen. Der Hammer kam aus dem Takt und verfehlte den Nagel.

Stattdessen schlug er mit einem Krachen eine unschöne Kerbe in das Kiefernholz. Der Gottesnarr Mitja stand vor dem Gerüst und starrte Johannes an.

Der zerlumpte Soldatenmantel schlotterte um seinen Leib. Als er sah, wie sehr er Johannes aus der Fassung gebracht hatte, grinste er triumphierend, was ihn mit einem Mal erschreckend klug aussehen ließ, drehte sich um und lief davon.

* * *

Seit dem Vorfall mit der Toten aus der Newa waren sieben Tage vergangen, als vor der Werkstatt Geschrei und auf geregtes Fußgetrappel ertönte. Schon wenn die Gehilfen die schweren, raschen Schritte von hohem Besuch hörten, veränderte sich die Atmosphäre in der Werkstatt. Einige Dinge, wie staubige Lumpen oder stumpfes oder beschädigtes Werkzeug, verschwanden, anderes dagegen, wie Brot, Gebackenes und ein Krug Kwass, wurde hastig herbeigeholt.

Auch heute war es so.

Johannes und Iwan, die gerade gemeinsam an der Sägebank standen, sahen sich an und dachten in diesem Augenblick wohl dasselbe. Aber während Iwan bei dem Gedanken, der Zar persönlich könnte in die Werkstatt kommen, blass wurde, fuhr Johannes erwartungsvoll hoch und rannte zur Tür. Es war nicht unwahrscheinlich, dass Zar Peter selbst zu den Handwerkern ging. Er liebte es, überall persönlich vor Ort zu sein. Nicht selten nahm er sogar einem Handwerker das Werkzeug aus der Hand und arbeitete viel geschickter damit. Viele Jahre hatte er in Deutschland und in anderen Ländern die verschiedensten Handwerkskünste erlernt. Marfa hatte Johannes erzählt, dass er unter dem Namen Pjotr Michajlow zu reisen pflegte.

Doch es war nicht der Zar, der Michaels Werkstatt einen Besuch abstattete. Vor dem Gebäude erschien eine Gruppe von Leuten, deren prächtige Röcke und Westen mit langen Reihen wertvoller Knöpfe verziert waren. Gold blinkte in der trüben Nachmittagssonne. Einer der Besucher, ein korpulenter Mann, dessen lichtes Haar im Nacken von einem Seidenband zusammengehalten wurde, trat vor. Seine geröteten Wangen bebten. Es war der Baumeister Carsten Sund, ein Auftraggeber von Onkel Michael. Heute strahlte er allerdings nicht wie üblich gemütliche Ruhe aus, sondern klammerte sich nervös an eine Ledermappe, aus der Papier quoll. Der Grund für seine Aufregung war offenbar der hagere, dunkelhaarige Mann, der ihn begleitete. Er trug einen Federhut und einen weißen Schalkragen, der so sauber war, dass er in der Sonne leuchtete.

»Michael!«, rief Carsten Sund schon von weitem.

»Komm raus. Du hast hohen Besuch!«

Onkel Michael wischte sich die Hände an einem Ledertuch ab und trat vor. Marfa kam aus dem Haus, auf einem Tablett drei von Iwan geschnitzte, prächtige Trinkbecher. Verstohlen sah sich Johannes nach Iwan um. Der alte Leibeigene war wie vom Erdboden verschwunden.

»Das, verehrter Obrist Trezzini, ist der Mann, von dem ich Euch erzählt habe«, begann Carsten Sund.

»Michael Brehm, der beste Zimmermann, wenn es um Gerüste geht, und der beste Tischler für Türen und Täfelungen. Seine Winkel sind so genau gefertigt, dass nicht einmal eine Wanze in den Spalt passt.« Er lachte nervös. Michael versuchte sich an einem Lächeln und verbeugte sich tief.

»Gut«, sagte Trezzini kühl, aber nicht unfreundlich. »Dann lasst uns einen Blick in eure Werkstatt werfen.« Immer noch suchte Johannes nach einer Verbindung zu dem Namen, der ihm bekannt vorkam. Ohne Umschweife und mit selbstbewusstem Schritt ging Trezzini zu einem der Tische, die die Gehilfen mit der Geschwindigkeit eines Wimpernschlags freigeräumt hatten, und nahm Carsten Sund die Mappe aus der Hand. Mit Schwung breitete er ein Papier auf dem Tisch aus, auf dem mit feinen Linien die Skizze einer prächtigen Kirche mit einer nadelartigen, weit in den Himmel ragenden Spitze eingezeichnet war. Daneben befanden sich Zeichnungen von Stützstreben und ein verschnörkeltes Portal.

Rechts oben war ein doppelköpfiger und zweifach gekrönter Adler abgebildet, das Wappen des russischen Zarenreiches.

Nun begriff Johannes, wen er vor sich hatte: Domenico Trezzini, einer der wichtigsten Architekten der Stadt. Trezzini selbst nannte sich »Obrist für Fortification«. Seit einem Jahr war er damit betraut, die Erdwälle, die die Festung auf der Haseninsel umgaben, durch Steinmauern zu ersetzen. Gleichzeitig arbeitete er daran, die Festungsgebäude und den Neubau der Kathedrale zu planen, deren Holzkonstruktion ebenfalls bald einem massiveren Bau weichen sollte. Fast zweitausend Schauerleute, die für das Verladen der Baumaterialien auf die Lastschiffe zuständig waren, standen unter seinem Befehl. Jeder Baumeister in der Stadt, jeder Handwerker hätte alles dafür gegeben, für Trezzini arbeiten zu dürfen. Michael war blass, aber er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Gemeinsam mit Sund beugte er sich über die Zeichnungen. Trezzini verschränkte die Arme und sah zu. Johannes erkannte, dass sich sowohl sein Onkel als auch dessen Auftraggeber auf dem Prüfstand befanden.

»Wir brauchen eine Konstruktion für ein Gerüst, das für die Zeit des Baus diese Streben stützt«, sagte Baumeister Sund und tippte auf die haarfeine Zeichnung. Johannes streckte den Hals, um besser sehen zu können, aber ein strenger Blick von einem der Männer, die Trezzini begleiteten, ließ ihn erstarren.

Es war nicht die Zeit, seinem Onkel Ärger zu machen.

Michael runzelte die Stirn. »Und es wird ein Rampensystem nötig sein, auf dem sich die Steine zur Mauer hochziehen lassen.« Trezzini lächelte verhalten. Onkel Michael betrachtete die Zeichnung, drehte sie ein wenig und schüttelte schließlich den Kopf.

»Die Konstruktion ist im Grunde korrekt. Aber wenn Ihr diese Querverstrebungen hier einsetzt, reißt Euch der erste Seilzug, der von dieser Seite kommt, diesen Balken hier weg.« Er kniff die Augen zusammen und betrachtete das Blatt lange. Die Gehilfen wagten nicht zu atmen. »Und ich glaube zu sehen«, fuhr er langsam fort, »dass sich hier ein Fehler eingeschlichen hat. Dieser Winkel hier kann unmöglich stimmen.« Johannes sah, wie Trezzini eine Augenbraue hochzog.

Michael holte ein weiteres Stück Papier, rechnete und verharrte, griff nach Zirkel und Lineal und zeichnete schließlich seinen eigenen Vorschlag auf.

Der Architekt beugte sich über das Blatt, betrachtete es lange, ließ seinen Blick zwischen den beiden Skizzen hin- und herwandern. Dann hellte sich sein Gesicht auf.

»Da seht Ihr es«, sagte Sund ruhig. »Meister Brehm wird Euch ein Gerüst bauen, das selbst die schwersten Steine nicht in die Knie zwingen werden.«

In diesem Moment erkannte Johannes, dass er Zeuge eines von allen Beteiligten ausgeführten Spiels geworden war – Trezzini hatte Michael eine Skizze mit einer falschen Berechnung gegeben um zu prüfen, wie gut er sein Handwerk verstand.

»Ihr fangt morgen an«, erklärte Trezzini. »Lasst uns alles Weitere besprechen.«

So schnell, wie sie in die Werkstatt gefegt waren, verließen sie den Ort wieder und gingen auf das Haus zu, wo Marfa schon dabei war, alle Köstlichkeiten, die sie in der zugigen Speisekammer hatte, auf den Tisch zu stellen. Johannes und die Gehilfen atmeten auf. Neben Johannes regte sich eine Holzplatte, die gegen einen Tisch gelehnt war. Mit einem Ächzen kroch Iwan wieder hervor. Sägespäne hingen in seinem Bart, den er so liebevoll glatt strich als sei er ein Kind, das er gerade noch rechtzeitig vor einem Mörder verborgen hatte. Er warf Johannes einen mürrischen Blick zu, setzte sich wieder an die Sägebank und arbeitete weiter, als wäre nichts geschehen.

* * *

Spät am Abend trat Johannes mit schmerzenden Händen und knurrendem Magen in das Haus und sah seinen Onkel und Carsten Sund am Tisch sitzen. Der hohe Besuch war längst gegangen, doch die beiden studierten immer noch einen ganzen Berg mit Bauzeichnungen und Plänen. Michael machte sich unermüdlich Notizen. Rechts von ihm saß Marfa und begutachtete eine Skizze. Verschütteter Wein am Rand des Tisches ließ darauf schließen, dass sie bereits lange über den Plänen brüteten. Johannes nahm sich ein Stück Brot und ging zum Feuer, wo die Kascha köchelte. Mit einem Holzlöffel schöpfte er ein wenig davon in eine Schüssel und setzte sich auf den Schemel, auf dem er sonst saß, wenn er Teile für seine Schiffsmodelle schnitzte.

»Ah, Johannes!«, rief Sund, der ihn hinter seinem Papierstapel erst jetzt wahrnahm. »Ab morgen gibt es noch mehr Arbeit!« Er strahlte, als müsste Johannes einen Freudensprung machen, und beugte sich wieder über einen Plan. Sein dickes Gesicht sah konzentriert aus und auch ein wenig besorgt. »Ich sag’s nicht gerne, Michael«, meinte er, »aber ich glaube, eine große Flut genügt, um diese Stadt einfach wegzuspülen. Sieh dir die Kanäle an! Nicht tief genug, um das Hochwasser aufzufangen. Hat auch einer der Kanalbauer gestern gesagt.«

Johannes wurde neugierig. Er stand auf und schob sich unauffällig an den Tisch heran.

»Hat Zar Peter diesen Plan gezeichnet?«, fragte Marfa.

Sund lachte. »Natürlich – man könnte meinen, er hätte nicht genug mit den Schweden zu tun, nein, er muss auch höchstpersönlich an den Plänen herummalen. Sogar auf den Schlachtfeldern entwirft er noch Bauskizzen. Seht euch das an! Das Palastufer – und hier werden die Adligen wohnen.« Mit seinem dicken Finger tippte er auf einen schraffierten Bereich auf der linken Newaseite. »Und hier, die ganze Wassilijewskij-Insel – da wird kein Platz sein für einen Baum, wo er nicht hingehört.«

»Er wird Tausende von Leuten brauchen, um die Insel zu besiedeln«, sagte Johannes.

»Das ist nun wirklich keine Schwierigkeit«, warf Marfa in ihrer nüchternen Art ein. »Sein Befehl genügt und die Soldaten, die Adligen und Bürger werden sich auf den Weg machen, ob sie wollen oder nicht. Der Zar befiehlt, sie gehorchen. Und die Steine für ihre Häuser müssen sie vermutlich auch noch selbst mitbringen.«

Michael nickte. »Man sagt, er überlege bereits, alle wohlhabenden Bürger zu verpflichten, sich hier in Piterburch ein Zweithaus zu errichten. Wer mehr als fünfhundert Bauern besitzt, soll sogar zweistöckig bauen.«

»Auf einer zugeteilten Parzelle«, setzte Sund hinzu und lächelte. »Sie müssen sich am linken Newaufer niederlassen. Die Häuser sollen im englischen Stil gebaut sein. Man könnte denken, von Russland soll nichts Russisches mehr übrig sein, wenn der Zar mit seinem Land fertig ist. Kirchen wie in Rom, Kanäle wie in Amsterdam.« Er lachte. »Nun, mir soll es recht sein. Ich werde mich hier wie zu Hause fühlen.«

Johannes betrachtete die Skizzen und die kleinen Quadrate und Rechtecke, die für die Parzellen standen. Hier plante Peter also die Häuser für die Menschen, die er aus Moskau und anderen Städten nach Petersburg befehlen wollte, um sie wie Schachfiguren auf sein selbst gestaltetes Spielbrett zu setzen. So unähnlich war sein gezeichneter Stadtplan einem Spielbrett auch nicht, besonders wenn man sich die Pläne für die große Wassilijewskij-Insel anschaute.

Schnurgerade, parallele Straßen erstreckten sich über die ganze Insel. Auf der Nordseite war ein riesiger Parkgarten geplant. Nach dem Vorbild von Amsterdam sollte es eine prächtige Wasserstadt mit einem Netzwerk aus Kanälen werden. Holländische Kanalbauer und Wasserwerker waren dabei, die Wasserstraßen in den Boden zu graben.

»Und wie läuft es auf der Insel?«, wollte Michael nun wissen.

Sund zuckte die Schultern. »Im Prinzip gut«, seufzte er. »Aber Fürst Menschikow ist unzufrieden mit dem General-Architekten Jean Baptiste Leblond.

Jeden Tag gibt es zwischen den beiden die üblichen Intrigen, Streitereien … Das sage ich dir im Vertrauen, Michael. Wenn Menschikow nicht der beste Freund des Zaren wäre, ich würde ihn mit gutem Gewissen in einen seiner Kanäle stoßen. Er weiß es immer besser als die Kanalbauer. Aber uns zwei muss das jetzt nicht kümmern. Mach du mal Trezzinis Gerüst fertig, dann sehen wir weiter.« Verschwörerisch beugte er sich vor. »Es ist gut für dich, diesen Auftrag zu haben. Zu schnell gerät man hier in Verruf.«

Michaels Zornesfalte erschien auf seiner zerfurchten Stirn. »Was soll das heißen?«, blaffte er. »Keiner von uns ist in Verruf!«

»Er meint die Gerüchte um die Tote«, mischte sich Johannes ein.

Carsten Sund sah ihn überrascht an. »Also gibt es sie doch«, sagte er. »Stimmt es, dass sie in eurer Werkstatt gestorben ist? Man sagt, sie sei eine Missgeburt gewesen.«

»Unsinn!«, donnerte Michael. »Wer erzählt so etwas?«

»Gerüchte erzählen sich selbst, Michael. Unter den Schauerleuten kursiert die Geschichte, das tote Fräulein habe Flossen an den Händen gehabt. Einer will gesehen haben, wie sie zur Newa zurückrannte, aus der sie gekommen war.«

»Abergläubisches Geschwätz«, warf Marfa ein.

»Ich glaube, es war eine Adlige«, sagte Johannes leise. Drei Augenpaare starrten ihn perplex an.

Heftig schüttelte Marfa den Kopf und bekreuzigte sich. »Misch dich nicht ein, Johannes, hörst du?«, zischte sie. »Derejew hat gesagt, sie ist ein Bauernmädchen. Belasse es dabei.«

»Warum?«, erwiderte Johannes. »Macht ihr euch nie Gedanken um die Wahrheit? Zählt hier nur, was Derejew befiehlt?«

»Ja«, antwortete Michael in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Carsten Sund dagegen sah Johannes mit einem funkelnden Interesse an. »Er ist nicht dumm, dein Neffe«, sagte er zu Michael. Dann grinste er über beide feiste Backen und nahm noch einen Schluck.

»Die Bauern halten jedenfalls an der Version der Werftarbeiter fest. Am Friedhof haben sie eine Zeremonie abgehalten, die sie ›Russalnaja‹ nennen. Sie haben Kerzen angezündet und Begräbnisbräuche zelebriert. Das soll die Nixen davon abhalten, auf dem Land Unheil anzurichten. Trotzdem – nehmt euch in Acht. Irgendjemand hetzt gegen uns Ausländer. Es gehen auch Gerüchte über Mord um.«

* * *

Der neue Auftrag beanspruchte Michaels Werkstatt so sehr, dass er die Erlaubnis bekam, ein paar Leibeigene als Gehilfen dazuzuholen. Einer der Gesellen unterwies sie darin, wie sie Holz zu schleppen hatten, und brachte ihnen bei, die Kiefernstämme festzuhalten, während ein Gehilfe diese mit dem Schrotbeil zu groben Vierkantbalken zurechthaute. Johannes betrachtete die Männer genau. Mit düsteren Mienen standen sie da, in Kittel und Hosen gekleidet, die Strümpfe bestanden aus Stoffstreifen oder anderen Lumpen, die mit Schnüren oder Rindenstreifen bis zu den Knien geschnürt waren. Bei dem Landvolk bestand Zar Peter nicht darauf, sein Bartverbot durchzusetzen, dementsprechend fielen ihnen struppige Bärte auf die Brust. Ihre Haare jedoch waren bis zu den Ohren abgeschnitten, und wie die meisten Bauern trugen auch diese hier Pelzkappen, obwohl es Sommer war. Auch wenn sie sich abweisend und schweigsam gaben, sah Johannes ihnen an, wie froh sie waren, nicht mehr ohne Werkzeuge und Schubkarren mit bloßen Händen Erde in grobe Stoffsäcke füllen zu müssen, mit der das sumpfige Land aufgeschüttet wurde. Mochten sie auch zu Hause in ihren Dörfern in Hütten gewohnt haben – hier waren sie in feuchten, schmutzigen Verschlägen untergebracht, mussten schlechtes Wasser trinken und erhielten nur wenige Werkzeuge. Viele waren unter der Knute der Aufseher gezwungen, die Erde, die sie transportieren mussten, einfach mit den Händen in die Jacken zu schaufeln; Johannes hatte auch Bauersfrauen gesehen, die dafür ihre Rockschöße benutzten. Nun, zumindest für die Zeit ihrer Schicht in Michaels Werkstatt würden die Leibeigenen unter besseren Bedingungen arbeiten.

Erst ein paar Tage später fiel Johannes auf, wie oft der Gottesnarr Mitja in der Nähe der Werkstatt saß.

Anscheinend tat er dort nichts, als vor sich auf den Boden zu starren und mit wiegendem Oberkörper Soldatenlieder zu singen, aber Johannes wusste sehr wohl, dass der Narr ihn beobachtete. Als Marfa ihn bemerkte, brachte sie ihm Brot und sprach freundlich mit ihm. Einer der Gehilfen ließ sich von ihm sogar segnen, eine Handlung, die Johannes wieder einmal befremdete. Ihm war die Anwesenheit des Verrückten unangenehm. Mehr als einmal stand er nachts auf und schaute auf die Straße, wo er die Gestalt zu sehen glaubte. Doch auch ohne Mitjas Anwesenheit waren Johannes’ Nächte sehr kurz. Noch immer schob sich das Bild des toten Mädchens in seine Gedanken.

Beinahe zur Besessenheit wurde die Frage, wer sie wirklich war und wohin sie verschwunden war. Aber selbst unauffällige Erkundungen bei den anderen Handwerkern und bei dem Münzschläger, der in der Festung arbeitete und sich von Michael eine Geldkassette fertigen ließ, brachten kein Ergebnis.

Eines Morgens trat Johannes aus der Werkstatt und stolperte beinahe über Mitja, der sich wie ein Wachhund vor der Tür zusammengekauert hatte. Der Narr schrie auf und sprang auf die Beine. »Gestohlen hast du sie!«, brüllte er und stach mit dem Zeigefinger in Richtung von Johannes’ Auge in die Luft.

»Dem Herrgott aus den Armen gerissen!« Dann begann er zu weinen. Tränen rannen über sein schmutziges Gesicht. »Zu der Weide hast du sie geschleppt und sie ertränkt wie eine Katze.« Einige der Arbeiter sahen herüber und durchbohrten Johannes mit grimmigen Blicken. Ihm war unbehaglich zumute. Die Worte des Narren konnten ihm schnell gefährlich werden. Alles in ihm wehrte sich dagegen, den feindseligen Verrückten anzulächeln, dennoch versuchte er einen freundlichen Eindruck zu machen.

»Lass mich vorbei, Mitja«, sagte er versöhnlich.

»Ich habe dir niemanden gestohlen.«

Mitja wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel

über das Gesicht und schmierte Spucke und Tränen über die Wange. Ein seltsames Muster aus dunklen und hellen Schlieren blieb auf seinem Gesicht zurück und ließ ihn noch verrückter und fremder aussehen.

Seine Augen glühten vor Hass und Verzweiflung.

»So viele Katzen!«, kreischte er. »Alle hast du sie aufgefressen! Und die räudigen Felle breitest du über Gottes goldenen Kelch.«

Seine Stimme schraubte sich hoch. Dann, plötzlich, drehte er sich um und fegte über den Platz. Mitten im Lauf blieb er stehen, schlitterte und verlor beinahe das Gleichgewicht.

»Ich rechne euch aus!«, schrie er drohend. »Jede Stunde! Ich bin Mathematiker!«

Als ihm keiner antwortete, rannte er davon. Die Gesichter der Arbeiter wandten sich Johannes zu.

Eine Sekunde lang konnte er in den Augen der Leibeigenen lesen wie in einem Buch. Im Spiegel ihrer hasserfüllten Blicke sah er sich selbst: einen Eindringling und Ketzer, den der Teufel geschickt hatte.

Schuld daran, dass der Zar sich vom alten Russland abgewandt hatte, um auf dem Rücken seiner Arbeiter ein neues Reich zu errichten. Die Ausländer, die Deutschen, die Ausbeuter und Gesandten des Teufels. In diesem Augenblick begriff Johannes, dass Zar Peters Befehle, seine Neuerungen und seine großen Pläne nur die dünne Kruste über einem uralten kochenden Vulkan bildeten. Oben auf der Kruste lebten Zar Peters Leute, glatt rasiert und nach französischer, deutscher oder ungarischer Mode gekleidet.

Tief unten aber, im brodelnden Kessel, sammelten sich die einfachen Bauern. Man konnte ein Volk verkleiden wie einen Wolf im Märchen. Aber es blieb ein Wolf – und sobald die Gelegenheit kam, würde dieser Wolf Deutsche wie Johannes mit Genuss und Grausamkeit verschlingen.

Einer der Bauern wagte ein verächtliches Lächeln und spuckte aus. Andere wandten den Blick ab und bekreuzigten sich. Johannes straffte die Schultern und zwang sich trotz seiner weichen Knie seinen Weg fortzusetzen.

* * *

»Was kann er damit gemeint haben, dass ich das Mädchen zur Weide geschleppt haben soll?« Missmutig rührte Johannes in seiner Kohlsuppe.

Marfa saß ihm gegenüber und versuchte einen Lederhandschuh ihres Mannes zu flicken, der ihn bei der Arbeit vor wundgescheuerten Stellen bewahrte.

»Die Gerüchte hat er gehört, das ist alles«, antwortete sie. »Gib nichts darauf, er hätte es zu jedem gesagt. Niemand wird wagen gegen Derejews Verlautbarung etwas einzuwenden.«

»Die Verlautbarung war gelogen«, sagte Johannes leise. »Das wissen wir beide.«

Sie seufzte und leckte den dicken Zwirn an. »Mag sein, mag nicht sein. Vergiss die Geschichte endlich.

Sie geht uns nichts an. Denk an etwas anderes. Denk von mir aus an Christine!«

Gegen seinen Willen errötete Johannes, als er den Namen der Kaufmannstochter hörte. Es war ihm peinlich, dass Marfa von ihr wusste, aber in der Deutschen Vorstadt in Moskau blieb nichts lange verborgen.

»Hat sie dir schon geschrieben?«

Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf. Er besaß nichts von Christine außer einer Zeichnung, die ihre Schwester angefertigt hatte. Sie hatte das schmale Gesicht mit den zart geschwungenen Augenbrauen gut eingefangen und auch das lange goldbraune Haar, das geflochten und in einem Knoten aufgesteckt war. Aber was das Bild für Johannes besonders wertvoll machte, war Christines Lächeln, ihr leicht abwesender, verträumter Blick und das tiefe Blau ihrer Augen. Wenn er nachts wachlag, stellte sich Johannes vor, wie er eines Tages nach Moskau zurückkehren würde – als Schiffszimmermann. Und dann würde er mehr in seiner Tasche haben als ein paar Erinnerungen und ein Papierbild.

»Vielleicht erlaubt ihr Vater ihr nicht, zu schreiben«, sagte Marfa und biss den Faden ab. »Schon als wir noch in Moskau lebten, hatte er ein paar andere Bewerber für sie ausgesucht.«

Die Richtung, die das Gespräch allmählich nahm, behagte ihm ganz und gar nicht, zumal nun Iwan in der Tür erschien und zum Tisch schlurfte. Johannes wusste nicht, wie lange der alte Leibeigene schon im Türschatten lauschte. Ächzend ließ er sich auf die Bank nieder und griff zum Wasserkrug.

»Na, Wanja?«, sagte Marfa. »Da hinten ist Brot.

Nimm dir ein Stück.«

Iwan nickte und murmelte etwas in seinen Bart.

Dann holte er sein Schnitzzeug und arbeitete an einem hölzernen Honigtopf weiter, den er am Tag zuvor begonnen hatte. Marfa beendete ihre Arbeit, warf Johannes einen viel sagenden Blick zu und ging in die Werkstatt. Johannes und Iwan blieben allein am Tisch zurück. Schweigend löffelte Johannes seine kalt gewordene Suppe. Obwohl er vor Müdigkeit schon Traumbilder sah, sobald er nur zwinkerte, würde er gleich wieder in die Werkstatt zurückkehren, um Keilecken für ein Gerüst abzumessen und zu sägen. Das war eine langweilige Arbeit, die dennoch getan werden musste. Und sein Onkel traute nur ihm zu, die Winkel richtig zu stellen.

»Mitja ist wieder beim Haus«, murrte Iwan. »Geh ihm aus dem Weg.«

Überrascht sah Johannes hoch. Soweit er sich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass Iwan von sich aus das Wort an ihn richtete. »Ich versuche es«, erwiderte er. »Es ist nicht so, dass ich seine Gesellschaft suche, er sucht meine!«

Iwan nickte knapp. »Der Narr sieht alles«, sagte er leise. »Es lässt ihm keine Ruhe, dass sie dir im Kopf herumspukt.«

Christine?, dachte Johannes unwillkürlich.

»Die Tote«, fuhr Iwan fort, als hätte Johannes diesen Gedanken laut ausgesprochen. »Sie ist immer noch hier, weil du sie nicht fortlässt.« Hastig bekreuzigte er sich auf orthodoxe Art, holte ein winziges hölzernes Kreuz hervor, das er an einer Kette um den Hals trug, und küsste es.

Johannes legte den Löffel hin und schob den halb leeren Suppenteller von sich weg. Mit einem Mal war ihm der Appetit vergangen. Es schien, als hätte Iwan die Wölfe nun auch ins Haus geladen. »Hör auf, Iwan«, sagte er grob. »Ich halte niemanden fest – und wenn es drei Narren behaupten. Lass mich in Ruhe, ja?« Mit diesen Worten stand er auf und ging in die Werkstatt zurück.