172573.fb2 Der Kuss der Russalka - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

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Dr. Rosentrosts Monster

Tief in der Nacht, als er wieder wachlag, dämmerte Johannes, wie Recht Iwan hatte. Er hielt die Tote fest -weil er nicht wusste, was mit ihr geschehen war.

Warum bemäntelte Derejew ihr Verschwinden mit einer Lügengeschichte? Johannes setzte sich auf und rieb sich die Augen. Es musste längst nach Mitternacht sein. Er hatte das Gefühl, zu ersticken. Er musste hinaus – an die Luft! Ohne besonders darauf zu achten, leise zu sein, nahm er seine Lederweste und ging zur Tür. Draußen atmete er tief durch. Mitja war weit und breit nicht zu sehen.

Die Unruhe, die ihn im Haus erfasst hatte, trieb ihn an der Werkstatt vorbei in nordöstlicher Richtung zum Ufer der Newa. Die weißen Nächte hatten ihren Höhepunkt erreicht, die diffuse Helligkeit eines Sommerabends hüllte ihn ein. Gespenstisch war das Licht in Anbetracht der Stille, die ihn umgab. In den Baracken der Leibeigenen, an denen er vorbeiging, glaubte er das tiefe Atmen der Schlafenden zu hören.

Rechts von ihm, in Richtung der großen Morastflächen, sah er in der Ferne gebückte Gestalten, die sich abmühten Eichenpflöcke in den sumpfigen Boden zu schlagen. Sankt Petersburg war keine Stadt, die schlief. Hier wurde in Schichten gearbeitet. In der ersten Schicht waren es etwa achttausend Mann, in der zweiten um die dreitausend. Natürlich veränderte sich die Zahl ständig, nicht nur durch die Toten, sondern vor allem dadurch, dass viele Arbeiter einfach davonliefen. Verdenken konnte Johannes es den armseligen Gestalten nicht. Ständig strömten neue Fronarbeiter aus allen Teilen des Zarenreiches herbei. Männer und Frauen, meistens Bauern, manchmal auch Soldaten und Sträflinge. Meist waren sie schon von der langen Reise erschöpft und am Rande ihrer Kräfte. Johannes ertappte sich dabei, wie er den Blick von den Arbeitern abwandte. Noch ein, zwei Meilen am Newaufer entlang und er würde die Baracken und Baustellen für eine Weile hinter sich lassen können.

Ganz ungefährlich war es nicht, allein in der Nacht herumzulaufen, aber er liebte nicht nur die Ruhe und diese Zeit, die ihm nun ganz allein gehörte, sondern auch den Anflug von Gefahr und die Wachsamkeit, die ihm jede Faser seines Körpers bewusst werden ließ. Seit die Winterstürme aufgehört hatten, war er nachts ab und zu der Arbeit entflohen und hatte sich auf seinen nächtlichen Spaziergängen zum Wasser ein wenig Zeit gestohlen – meist um ungestört an Christine zu denken. Heute führten ihn seine Schritte an den Rand der Siedlung und noch weiter zum glänzenden Band der Newa, die sich wie eine träge Schöne in ihrem Flussbett räkelte und ihre Arme um die Inseln schlang. Am anderen Ufer erhob sich der Schatten einer russischen Korvette. Sie war leichter als die schweren Linienschiffe, die bis zu hundertzwanzig Kanonen trugen. Diese Fregatte hier lag jedoch tief im Wasser. Fasziniert betrachtete Johannes die halb gerefften, rechteckigen Rahsegel. Das Schiff schien zu schlafen, aber die Wachen auf dem Schiff hatten ihn vermutlich längst erspäht – eine einsame Gestalt, die sehnsüchtig zu ihnen herüberstarrte. Er ging so nah an den Fluss heran, dass er beinahe nasse Füße bekam, und wanderte dann ostwärts weiter in Richtung der schwedischen Festungsruine. Ein dünner Nebelschleier wehte über die Wasseroberfläche und fing sich im Schilf am Ufer. Verkrüppeltes Buschwerk schien sich im nebelverhangenen Spiegel der Wasseroberfläche zu betrachten. Und weiter vorne, etwa eine Viertelmeile entfernt, wie Johannes schätzte, stand ein Baum, der aussah wie das verzerrte und in die Breite gezogene Spiegelbild einer Eiche. Johannes wunderte sich, dass sie noch unversehrt am Ufer stand und nicht längst zerhackt und verwertet worden war. Jemand hatte eine Scharte in den Stamm geschlagen. Darin eingeklemmt war das Bildnis der Gottesmutter. Ihr goldener Heiligenschein glänzte im geisterhaften Licht. Die kleine Ikone erklärte vielleicht, warum der Baum noch unberührt war. Johannes entfernte sich vom Ufer, um die heilige Eiche von der anderen Seite zu betrachten.

Der Stamm war gerade gewachsen – er würde sich hervorragend dazu eignen, einen Mast daraus anzufertigen. In Gedanken begann Johannes damit, sein Schiff zu bauen – eine schlanke, in niederländischem Stil gefertigte Jacht, die die Wellen schnitt wie eine Sense das Gras. Mit diesem einmastigen Küstenschiff könnte er nach Dänemark segeln oder sogar viel weiter, als er es sich je erträumt hatte – über das Tyrrhenische Meer nach Korsika vielleicht oder über das Adriatische Meer bis vor die Küsten des Osmanischen Reiches.

Direkt vor ihm schreckte ein Vogel hoch und flog kreischend auf. Johannes schnappte nach Luft und lächelte. Bald würde der Tag die diffuse Helligkeit der Nacht vertreiben. Gegen den glänzenden Fluss und die Nebel hob sich der Ikonenbaum ab wie ein knorriges Ungeheuer. Unter seinen Ästen regte sich etwas, ein Zweig begann zu wippen. Vielleicht ein weiterer Vogel, der im Astwerk Zuflucht gesucht hatte. Dann ertönte ein Platschen auf der anderen Seite. Johannes fuhr herum. Flussratten, dachte er. Er beugte sich zu den Ästen und spähte in das Wasser.

Eine Bewegung unter der Wasseroberfläche ließ ihn zusammenzucken. Ein schuppiger aalgleicher Körper schnitt für einen Augenblick die Oberfläche und verschwand wieder im Dunkel. Was für ein großer Fisch! Dann sah er etwas Helles im Wasser treiben.

Wie die Ahnung eines Bildes erkannte er ein bleiches Gesicht, das unter der Oberfläche trieb, die Augen geöffnet, der Mund blutleer. Schwarzes Haar trieb wie Tang um die weißen Schultern. Unter der Wasseroberfläche schwebte eine Leiche! Ihre Arme sahen aus wie blasse Äste, an deren Enden fünfblättrige Wasserblüten wuchsen. Eine Hand war so nah unter der Oberfläche, dass es aussah, als würde sie nach Johannes greifen wollen. Er kannte diese Hand.

Weiß wie ihr Körper war sie, mit Fingernägeln, so rund und transparent wie dünne Muschelschalen. Als hätte ein Schwall Eiswasser ihn aus einer Trunkenheit geholt, waren seine Gedanken plötzlich blitzklar.

Hastig überschlug er, wie lange es her war, seit die Tote in der Werkstatt gelegen hatte. Es war unmöglich – sie hätte aufgeschwemmt und verzerrt aussehen müssen. Im Wasser jedoch wirkte sie unverändert, schwarze Augen schienen ihn anzustarren. Als ihr Körper sich bewegte, schrie Johannes auf und sprang zurück. Das Gesicht wurde noch unwirklicher, je tiefer es ruckartig in die Tiefe hinabgezogen wurde. Im nächsten Augenblick kam Johannes sich lächerlich vor. Seine Vernunft gewann die Oberhand.

Etwas hatte an der Leiche gezogen, vielleicht, so dachte er mit einem Schaudern, das schuppige Ungetüm. Hatte der Mörder die Tote mit Absicht in der Newa versenkt, damit die Fische sie fraßen? Aber welcher Mörder wäre so dumm, einen Körper so nah am Ufer zu verstecken? Johannes überwand seinen Ekel und beugte sich wieder über das Wasser. Er konnte nicht zusehen, wie ein Aal oder was immer sich da gütlich tat. Nein, diesen Festschmaus würde er dem Ungeheuer verderben. Obwohl ihm Angst und Unbehagen die Kehle zuschnürten, stützte er sich an einem Ast ab, lehnte sich über das Wasser und hangelte nach der weißen Hand.

Im nächsten Augenblick hörte er ein Knacken.

Wasser spritzte ihm ins Gesicht, etwas fiel auf ihn herunter und riss ihn so heftig zurück, dass sein Kragen ihn würgte. Jetzt erst kam der Schmerz. Bevor er nach Luft schnappen konnte, traf ihn bereits ein weiterer Schlag gegen die Schulter, der ihn vom Ufer wegtaumeln ließ.

»Verschwinde!«, zischte ihm jemand zu, ein dritter Hieb gegen seine Rippen folgte, den Johannes vor Überraschung einfach ohne Gegenwehr einsteckte.

Dann wurde ihm endlich klar, dass er angegriffen wurde. Der Angreifer musste direkt über ihm im Baum gesessen haben. Johannes ballte die Hand zur Faust und schlug zu. Mit einem erstickten Laut ging sein Angreifer zu Boden, rappelte sich aber sofort wieder auf.

»Was willst du?«, stieß Johannes hervor.

»Von einem deutschen Bastard wie dir? Nur dass du verschwindest!«, blaffte der Fremde ihn an. Jetzt erst nahm Johannes das schmale Gesicht mit den lodernden dunklen Augen richtig wahr. Struppiges schwarzes Haar umrahmte eine hohe Stirn. Der Junge war nicht älter als Johannes, aber er schien die Ausländer nicht minder zu hassen als die meisten anderen Russen.

»Du wirst mir nicht befehlen, wann ich zu verschwinden habe«, zischte Johannes.

»Ich kann es dir auch einprügeln«, sagte der Fremde mit erstaunlicher Furchtlosigkeit. Johannes konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen.

»Leg dich nicht mit mir an, du Sperling!«

Er machte einen Schritt auf das Ufer zu, aber der Russe sprang an ihm vorbei und stellte sich ihm in den Weg. Mit seinen geballten Fäusten und den glü-

henden Augen sah er aus wie ein zähnefletschender Straßenhund.

»Geh aus dem Weg!«, drohte Johannes.

»Schaff mich aus dem Weg, wenn du kannst, Deutschenfresse!«, zischte der Junge.

Das war zu viel! »Drecksrusse!«, knurrte Johannes und stürzte sich auf ihn.

Wie eine Katze sprang der Junge ihn an. Im nächsten Moment rollten sie über den steinigen Boden.

Irgendwo hinter sich glaubte Johannes ein Platschen zu hören, doch als er einen Blick auf das Ufer erhaschte, war dort nichts zu sehen. Diese Sekunde der Unaufmerksamkeit kostete ihn beinahe einen Zahn.

Er schrie vor Wut auf, als die knochige Faust ihn am Mund traf, und schleuderte den Jungen von sich. Er sah, wie sein Gegner hart stürzte und aufkeuchte, aber schon einen Moment später kam er wieder taumelnd auf die Beine. Es war der Kampf eines Wolfes gegen einen Luchs. Johannes war viel stärker, seine Hiebe trafen härter, aber der Russe schien wendiger. Seine Hiebe prasselten so schnell und unvermutet auf Johannes ein, dass er Mühe hatte, die Oberhand zu behalten. Einmal stolperte er und ging zu Boden. Schon im nächsten Augenblick war der Junge über ihm. Eine Faust schoss auf sein Gesicht zu. Im Reflex zog Johannes das Knie an die Brust und trat mit voller Wucht zu. Mit Genugtuung sah er, wie sein Gegner durch die Luft flog und hart auf dem Boden aufkam.

Blut rann ihm aus einer Platzwunde am Kopf, seine armselige lumpige Jacke, die er trug, klappte auf. Ein zerrissenes Hemd kam zum Vorschein und darunter Stoffstreifen, die wie ein Verband aussahen. Der Russe stöhnte und krümmte sich vor Schmerz, bis seine Knie fast sein Kinn berührten. Einen Augenblick blieb Johannes schwankend stehen, ungewiss, ob er weglaufen oder zu seinem Gegner gehen sollte.

Schließlich atmete er tief durch und trat näher. Sein Knie und seine Schulter schmerzten, als hätte ihm jemand ein Eichenbrett dagegen geschlagen. »Was ist?«, fragte er grob. »Hab ich dich zu hart erwischt?«

Der Junge rang immer noch nach Luft, sein Gesicht war knallrot, aber er schüttelte trotzig den Kopf.

»Gebrochene Rippe«, flüsterte er nur.

Johannes verstand – der Verband hielt die Rippe in ihrer Position – zumindest hatte er es bis zu Johannes’ Tritt getan. Das musste weitaus schlimmer schmerzen als ein Hieb mit einem Eichenbrett. Auf der Stelle verpufften seine Wut und seine Kampflust.

Betroffen starrte er den Jungen an, der immer noch nach Luft schnappte. »Du prügelst dich wohl öfter?«, sagte er. »Lass mal sehen!«

Der Junge stieß einen Fluch aus, den Johannes nicht verstand, und fauchte ihn an: »Lass deine Finger bei dir oder ich breche sie dir.«

Besorgt betrachtete Johannes den Mund des Jungen, der vor Schmerzen verzerrt war, und stellte erleichtert fest, dass kein Blut zwischen den Lippen oder aus der Nase hervorquoll. Zumindest hatte sich die Rippe durch den Tritt offensichtlich nicht in die Lunge gebohrt.

»Was willst du eigentlich von mir?«, fragte Johannes. »Du hast mich angegriffen – und wenn du das Maul nicht aufmachst, kann ich nicht wissen, dass du verletzt bist. Meinst du, ich prügle mich mit einem Verletzten?«

Der Junge schwieg und warf ihm nur einen hasserfüllten Blick zu.

»Ach stimmt, ich bin einer der ketzerischen Ausländer«, sagte Johannes bitter. »Uns traut ihr ja anscheinend alles zu, was?«

»Ihr uns etwa nicht?«, gab der Junge zurück. Mühsam kam er auf die Beine.

Beim Angriff war er Johannes viel größer erschienen, nun aber sah er, dass der Junge ihm nicht einmal bis zur Schulter reichte. Plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen, sich auf den Kampf eingelassen zu haben. Als er an sich hinunterblickte, bemerkte er, dass auch sein Hemd einen Riss bekommen hatte und schmutzverschmiert war. »Also, was willst du von mir?«, wandte er sich wieder an den Fremden. »Oder wolltest du nur verhindern, dass ich das tote Mädchen da im Wasser sehe …«

»Davon weiß ich nichts«, sagte der Junge eine Spur zu schnell.

Johannes stutzte. Wie ein Hund, der eine Spur witterte, sah er plötzlich jedes Detail ganz klar, nahm jedes Geräusch, jede Bewegung mit größter Schärfe wahr. Der Junge wusste etwas! »Warum hast du dann versucht mich mit aller Gewalt vom Wasser wegzuprügeln?« Noch während er sprach, kam Johannes ein Verdacht. Misstrauisch musterte er die armselige Gestalt. »Du weißt, wer der Mörder ist, oder? Bist du es? Oder dein Vater? Dein Bruder?«

Zu seiner Überraschung lachte der Junge auf und spuckte voller Verachtung aus. »Da ist keine Tote«, erwiderte er und diesmal klang seine Stimme aufrichtig. »Ich saß über dir im Baum – es war mein Gesicht, das du im Wasser gesehen hast.«

»Lüg nicht, es war ein Mädchen mit langen Haaren, das im Wasser lag! Es hatte weiße Hände und nicht solche … Schmutzpfoten wie du!«

Der Junge zuckte die Schultern. »Na, dann such sie doch«, erwiderte er lässig und deutete auf die Eiche.

Zögernd ging Johannes näher heran. Das Wasser war klar, das konnte er von hier aus erkennen. Die Fische mussten die Leiche weggezerrt haben oder eine Strömung hatte sie in die Tiefe gezogen. »Hör mal«, sagte er. »Ich mag ein deutscher Bastard sein, aber man würde mir glauben, und zwar mehr als dir, wenn ich erzähle, was ich im Wasser gesehen habe.

Also, sag mir die Wahrheit! Wer ist das Mädchen?«

Der Junge trat einen Schritt zurück und verschränkte grinsend die Arme. »Ein Geist oder ein Traum, was sonst? Geh heim und erzähle, du hast ein Gespenst gesehen – die Bauern werden dir glauben, der Zar wird dir im besten Fall ein paar Batokken verpassen lassen. Du wirst ja wohl wissen, was er von Aberglauben hält.«

Mit einem Satz war Johannes bei ihm und packte ihn am Kragen. Diesmal wehrte der Junge sich nicht.

»Halt mich nicht zum Narren!«, fauchte Johannes.

»Der Zar würde mir zuhören – aber noch wichtiger ist, dass sich ein gewisser Oberst Derejew sehr für den Aufenthaltsort der Leiche interessieren würde.«

Endlich huschte Furcht über das Gesicht des Jungen. Heftig machte er sich los und sprang zurück.

Johannes fühlte seine Abneigung wie einen kalten Nebel, der sich um ihn legte und ihm die Luft raubte.

»Was auch immer du im Wasser gesehen hast«, meinte der Junge schließlich leise. »Wenn dir dein Leben lieb ist, dann schweigst du darüber.«

»Wer droht mir, du?« Johannes lachte. »Wie wäre es, wenn du mir einfach die Wahrheit sagst? Wer ist die Tote?«

Die dunklen Augen schienen zu glühen. »Was denkst du?«, sagte der Junge ohne eine Spur von Ironie.

Johannes wurde ernst. Die ganze Situation erschien ihm verrückt wie ein Traum und ebenso irreal.

»Sie ist die Tote aus der Newa, die angeblich Natascha Neglowna Toraschkina heißt. Sie war in unserer Werkstatt aufgebahrt …«

Er hielt mitten im Satz inne. Die Spur wurde deutlicher, sie bekam Farben und Formen und nahm die Gestalt eines geheimnisvollen Gastes an. Beinahe spürte er wieder die Anwesenheit des Eindringlings, der ihm das Leichentuch über den Kopf geworfen hatte und dann durch den schmalen Spalt entwischt war. Mit offenem Mund starrte er den Jungen an.

»Du warst das in der Werkstatt«, stellte er fest.

Der Junge schwieg. »Ihr wolltet die Leiche verschwinden lassen – warum?«

Ein spöttisches Lächeln glitt über das Gesicht des Jungen. Er klopfte sich den Schmutz von den Ärmeln, was ein vergebliches Unterfangen war. »Hör auf, nach einer Toten zu suchen.«

»Ich glaube dir kein Wort«, entgegnete Johannes.

»Kein einziges. Wer bist du?«

»Geh heim«, sagte der Junge leise. »Und erzähle, was du willst.«

»Das werde ich tun. Und sie werden mir glauben.«

»Wie sehr du dich irrst«, sagte der Russe spöttisch und deutete an Johannes’ Schulter vorbei auf etwas, das hinter ihm war. »Sie werden Mitja glauben.«

Johannes fuhr herum. Etwa fünfzig Fuß von ihm entfernt stand der Gottesnarr und starrte ihn an. Als er sah, dass Johannes ihn beobachtete, stieß er einen erschreckten Laut aus und floh.

»Und Mitja wird nur zu gerne erzählen, dass du es warst, der die Leiche wieder in die Newa geworfen hat.«

Johannes fluchte. Mit einem Mal war er in eine gefährliche Sache verwickelt. Noch mehr als die Ungewissheit hasste er die Ohnmacht, die er nun verspürte.

»Also höre auf meinen Rat«, schloss der Junge düster. »Geh heim und vergiss deinen Ausflug hierher.

Am besten vergiss auch mich.«

Er drehte sich um und ging an der Newa entlang davon. Johannes hielt ihn nicht auf. Sobald der Junge hinter der Biegung verschwunden war, ging Johannes mit weichen Knien zur Eiche zurück und spähte in die Tiefe. Nur das Spiegelbild seines eigenen Gesichts blickte ihn aus dem Wasser an.

* * *

Zu seinem Entsetzen erwartete ihn Marfa in der Kammer. Obwohl der Morgen noch auf sich warten ließ, war sie angekleidet und wärmte sich die Hände an einem Becher mit Brühe. Iwan schlief auf der Bank, aus der Kammer nebenan floss Onkel Michaels schwerer Atem. Johannes blieb an der Tür stehen und senkte den Kopf. Er konnte beinahe spüren, wie Marfas Blick zu dem Riss in seinem Hemd glitt.

»Setz dich, Johannes«, sagte sie leise. Die Missbilligung in ihrem Tonfall war wie ein Messerschnitt.

Marfa stand auf und ging in die Schlafkammer. Als sie wieder erschien, hielt sie ein älteres Hemd von Onkel Michael in der Hand, das sie Johannes nun zuwarf. »Zieh das an und lass dich von Michael nie dabei erwischen, dass du nachts herumziehst. Wir leben nicht mehr in Moskau in der Nemezkaja Sloboda!« Sie betonte den russischen Ausdruck für die Deutsche Vorstadt, als würde sie ihn daran erinnern wollen, dass er nun keine Freiheiten mehr hatte.

»Ich war nur an der Newa«, rechtfertigte er sich.

»Ist mir gleichgültig, wo du warst«, wies sie ihn zurecht. »Ich will nicht erleben, wie man dich erschlagen oder erstochen mit den Füßen voran in die Werkstatt trägt. Ich will nicht, dass du Ärger bekommst. Hörst du denn nicht, was die Bauern und Knechte tuscheln? Willst du als Mörder verdächtigt werden? Wir sind anständige Leute, vergiss das nicht.«

»Ich habe nichts getan«, erboste er sich. »Du kennst mich!«

»Eben«, bemerkte sie trocken. »Du bist ein gutmütiger Hund – und das da draußen sind Wölfe.«

Wie Recht sie hat, dachte Johannes bitter. Eine Sekunde lang war er in Versuchung, ihr zu erzählen, was er gesehen hatte, aber der Gedanke verschwand so schnell, wie er gekommen war. Sie brauchte nicht alles zu wissen, entschied er. »Marfa«, sagte er ernst.

»Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst. Aber ich lasse mir nicht befehlen, wohin ich gehen darf und wohin nicht.« Nach diesen Worten atmete er tief durch. Noch nie hatte er ihr widersprochen. Fast rechnete er damit, für diese Unverschämtheit eine Ohrfeige einzustecken.

Mit zusammengekniffenen Lippen sah sie ihn an.

Wieder einmal überraschte sie ihn. »Wie du meinst«, sagte sie. »Du hast den Schaden, nicht ich.« Ihre Stimme wurde leiser, als sie sich zu ihm über den Tisch beugte. »Aber denk wenigstens an deinen Onkel. Er hat in seinem Leben schon genug verloren.

Ich will nicht, dass ihm noch ein Unglück das Herz bricht.«

Ihre Stimme bekam bei diesen Worten einen weichen Klang, den er noch nie bei ihr gehört hatte. Als er in ihr Gesicht schaute, wurde ihm zum ersten Mal klar, dass die harsche Marfa ihren mürrischen alten Mann liebte. Diese Erkenntnis berührte ihn und machte ihn verlegen. Ihm war, als hätte er soeben ein Geheimnis entdeckt, das nicht für seine Augen bestimmt war. Schnell schaute er weg und entfaltete das grob gewebte Hemd, das seinem Onkel zu schmal geworden war. Es fühlte sich fremd an.

»Jetzt schläft er«, fuhr Marfa fort. »Aber nachts quälen ihn Albträume. Es soll nicht auch noch von deinem Blut träumen müssen.«

* * *

Mitja ließ sich den ganzen nächsten Tag nicht blicken, aber Johannes war dennoch nervös. Bisher war es ihm gelungen, seine Unruhe und seine Übermüdung zu verbergen, aber seinem Onkel fiel auf, wie unkonzentriert er arbeitete. Zweimal hatte er sich bereits auf die Finger geschlagen und selbst Iwan, den nichts aus der Ruhe brachte, sah ihn mehrmals verwundert an.

»Hast du den Veitstanz?«, fuhr ihn Onkel Michael an, als er zum dritten Mal einen Nagel schief einschlug. Verstohlen beobachtete Johannes den kräftigen alten Mann, der so sehr seinem Vater ähnelte und vom Charakter doch so anders war. Erstmals fielen ihm die tiefen Sorgenfalten auf Michaels Stirn richtig auf und die verhärteten Mundwinkel, denen man ansah, wie selten er lachte. Und auch Johannes verspürte keine große Lust, fröhlich zu sein. Die Bürde der Ungewissheit, die seit gestern noch schwerer auf seine Schultern drückte, machte ihm zu schaffen. Er musste herausfinden, wer dieser Junge war.

Offensichtlich hatte er Verbindungen zu Mitja – Mitja, der Johannes seit Tagen beobachtete. Mehr denn je hatte Johannes das Gefühl, dass sich ein Henkersseil um seine Kehle zusammenzog, bereit ihm bei der kleinsten falschen Bewegung mit einem Ruck das Genick zu brechen.

Am Nachmittag kam eine neue Fuhre mit Holz an.

Harzduft überlagerte für eine Weile den brackigen Geruch nach Erde und Schweiß. Den Pferden, die die Fuhre zogen, klebte der Schlamm an Brust und Beinen und sie schnaubten vor Erschöpfung. Mit Unbehagen erkannte Johannes, dass einer von Derejews Leuten den Zug begleitete. Es war ein Dragoner. Er trug keinen Mützenhelm wie die Grenadiere, sondern einen Dreimaster, unter dem eine helle, kurze Perücke hervorschaute, und war mit einem Säbel und einem Gewehr bewaffnet. Sein Kinn war glatt rasiert, allerdings trug er einen Schnurrbart ähnlich dem von Derejew. Gemeinsam mit den anderen sprang Johannes herbei und half das Holz abzuladen. Dabei wurde er das Gefühl nicht los, dass der Dragoner ihn düster betrachtete.

»Pass auf!«, brüllte sein Onkel einem Gehilfen zu.

Mit einem Schnappen riss ein Riemen, Holz kam ins Rutschen, verkantete sich an den falschen Stellen.

Ein Pferd scheute und zerrte am Geschirr. Eine Kante schabte schmerzhaft über Johannes’ Unterarm, ein Gewicht riss an seinem Arm. Stechender Schmerz durchzuckte seine Schulter. Gerade noch gelang es ihm, einen Satz zu machen und seine Beine in Sicherheit zu bringen, dann spritzte Schlamm auf. Mit einem mörderisch dumpfen Schlag kam der nur grob zurechtgehauene Baumstamm direkt vor seinen Füßen auf. Johannes’ gezerrter Arm pochte. Vorsichtig versuchte er ihn zu bewegen, aber ein Reißen ließ ihn zusammenzucken. Mit vor Schreck blassen Gesichtern starrten die Gehilfen ihn an. Nur im Gesicht des Dragoners glaubte er ein spöttisches Lächeln aufblitzen zu sehen.

»Geh rein zu Marfa!«, rief Onkel Michael ihm zu.

»Seht nach, ob was gebrochen ist.« Der Dragoner grinste ihn nun offen an. Als Johannes wütend kehrtmachte und zum Haus ging, hörte er die gezischten Worte eines Leibeigenen: »Lass die Arbeit lieber einen Russen machen, dann geht nichts zu Bruch.« Empört drehte sich Johannes um. Sein Onkel hatte die Bemerkung nicht gehört. Dafür zeigten ihm zwei der Arbeiter ein hämisches Wolfslächeln.

Zweifellos hatte Derejews Dragoner die Bemerkung vernommen, aber er machte keine Anstalten, dagegen vorzugehen. Ein kalter Schauer kroch über Johannes’ Genick. Schürten auch Zar Peters Soldaten heimlich den Hass gegen die Ausländer? Das unsichtbare Henkersseil zog sich noch ein wenig mehr zu.

Kurz darauf befand sich Johannes mit einem notdürftig verbundenen Arm auf dem Weg zu den Lastkähnen, die den ganzen Tag über vom Südufer aus zur Haseninsel übersetzten. In der Tasche hatte er eine Liste von Kräutern, die Marfa benötigte, um den Husten und das Fieber des kranken Gehilfen zu lindern. In jedem Gesicht, das ihm entgegenblickte, glaubte Johannes Feindseligkeit zu erkennen. Doch meist war es nur stumpfe Neugier, einen jungen blonden Zimmermann mit einem verbundenen Arm zu sehen.

Mehrere Ruderboote und ein großer Lastkahn legten gerade am Südufer an, als Johannes dort ankam.

Eine Gruppe von Kanalbauern stand bereits an der Anlegestelle und wartete ebenfalls darauf, übergesetzt zu werden. Brücken fehlten zum größten Teil noch, sodass Johannes und sein Onkel sich oft mit Transportkähnen oder auch nur mit kleineren Ruderbooten zwischen den Inseln und Ufern bewegten.

Johannes störte es nicht – im Gegenteil, er freute sich über jede Minute, die er auf dem Wasser verbringen konnte. Wenn er die Augen schloss und dem Knarzen von Tauen lauschte, stellte er sich vor, auf den Planken seiner Jacht zu stehen. Und heute war er besonders froh, sich von der Werkstatt entfernen zu können. Es war ein Glück, dass Doktor Rosentrost ein Freund von Onkel Michael war. Sein Quartier hatte er derzeit in der Apotheke in der Menschikow-Bastion aufgeschlagen.

Tief lag der Kahn im Wasser, nachdem alle darauf Platz gefunden hatten. Johannes machte es nichts aus, ganz an den Rand gedrängt zu werden, wo er das Gefühl hatte, unmittelbar auf dem Wasser zu schweben. Die Sonne war hervorgekommen, es war heiß und weniger schwül als während der vergangenen Regentage. Das Flusswasser verwandelte sich in einen glitzernden Teppich aus kristallgrünen Wellen, die gegen die Kahnwände schlugen. Das Geräusch schläferte Johannes ein. Auf gewisse Weise fühlte er sich getröstet und beruhigt. Tief atmete er durch und genoss das Gefühl, auf dem Wasser zu sein. Er blendete die Kanalbauer aus, die sich auf Holländisch unterhielten und laut lachten, und kümmerte sich nicht um die Leibeigenen, von denen manche das Wasser so sehr fürchteten, dass sie sich an die Heiligenbilder und Holzkreuze klammerten, die sie um den Hals trugen. Völlig in sich gekehrt starrte er stattdessen in die Tiefen der Newa. Irgendwo in diesem Wasser trieben die Körper von Menschen. Irgendwann würde der Fluss seine Beute an Land tragen und der Friedhof am Waldrand würde die Opfer des Wassers aufnehmen. Manche von ihnen würden nie gefunden werden – die Newa trug sie hinaus in den Finnischen Meerbusen und in die Ostsee.

Einmal hatte Johannes in einem Buch die Zeichnungen von Walfängern gesehen. Die gewaltigen Meeresriesen faszinierten ihn beinahe ebenso wie die Schiffe der Walfänger – holländische Fleuten mit bauchigen Rümpfen und hochgezogenen Bordwänden. Johannes stellte sich vor, wie die Wasserleichen unter dem Kiel eines solchen Schiffes trieben, an Riesenwalen und Tintenfischen vorbeischwebten, ewig staunend, ewig blind. Eines dieser Gesichter schien ihn in den Wellen anzublicken, aber es war wohl eine Täuschung des Sonnenlichtes, das auf den Wellen spielte. Johannes rieb sich die Augen. Das Glitzern war immer noch da und tief im Wasser leuchtete eine helle Fläche mit zwei dunklen Flecken wie Augen. Vor Schreck krampfte Johannes seine Finger in den Lederbeutel, den er festhielt. Der Schmerz in seinem Arm brachte ihn wieder zur Besinnung. Ein silbriger Fischleib strich an der Wasseroberfläche entlang, ein gewaltiger und erstaunlicherweise schuppiger Aalschwanz schlug auf das Wasser und breitete einen funkelnden Vorhang aus Wassertropfen über den Himmel. Die Fronarbeiter hörten auf zu beten und wurden starr vor Angst. Im nächsten Moment riefen die Kanalarbeiter durcheinander, trappelten über den Kahn und beugten sich über den Rand. Bedenklich neigte sich der Kahn.

»Zurück!«, befahl der Fährmann und fluchte. Zögernd nahmen die Arbeiter wieder ihre Plätze ein, aber sie reckten die Hälse und deuteten auf das Wasser. Scherzworte flogen hin und her, Johannes verstand genug Holländisch um herauszuhören, dass sie sich überlegten, wie viele Leute von so einem Ungeheuer satt werden könnten.

Hoch türmten sich die Erdwälle der Peter-Paul-Festung vor dem Boot auf, das nun am Newator anlegte. Die Festung war das eigentliche »Sankt Piter Burch«, ein Bollwerk, das Zar Peter nach seinem Namenspatron benannt hatte, dem heiligen Petrus, und das nun der neuen Stadt ihren Namen gab. Ehrfurchtsvoll schritt Johannes durch das Festungstor, das von Soldaten bewacht wurde. Er zeigte das Auftragsschreiben mit dem Handwerkssiegel vor und wurde durchgelassen. Von diesem Eingang aus ging es zum Kommandantenpier. Offiziere und Soldaten waren vor den großen Holzgebäuden zu sehen, die im Gegensatz zu den Werkstätten und Hütten am Südufer wie Paläste wirkten. Innerhalb der Festungswälle konnte man schon erahnen, wie die Anlage bald aussehen würde. An einigen Stellen wuchsen bereits solide Mauern in die Höhe. Steinmetze klopften das Baumaterial auf die richtige Größe zurecht, begradigten Kanten und meißelten Rillen in die Quader. Von fern glaubte Johannes inmitten von heftig debattierenden Baumeistern den Architekten Trezzini zu erkennen, aber er war so vertieft darin, seinen Untergebenen Anweisungen zu geben, dass er Johannes nicht bemerkte. In der Mitte der Festung ragte die hölzerne Kathedrale empor. Johannes schluckte seine Ehrfurcht hinunter, ging am Bootshaus und an der Münzschlägerei vorbei und machte dann einen Bogen zur Menschikow-Bastion, die in nordöstlicher Richtung lag. Erst vor zwei Jahren, im Jahr 1704, war hier die erste staatliche Apotheke eingerichtet worden. Im Augenblick diente das Haus auch als Quartier für die wenigen Wundärzte, die Zar Peter für die Werftarbeiter abgestellt hatte. Ohnehin machten die Russen keinen großen Unterschied zwischen Ärzten und Apothekern. Da so viele Ärzte Deutsche waren, sagten die Worte Deutscher und Arzt für viele das Gleiche aus.

Nun, auf Thomas Rosentrost, der in einem abgeteilten Teil der Apotheke seine Arbeitsräume hatte, trafen alle drei Begriffe zu. Er kam aus Mühlhausen, war Feldarzt und Knochenflicker gewesen, hatte in Leyden und Paris studiert und sich auch Apothekerwissen angeeignet. Er war »Okulist, Stein– und Bruchschneider«, einer der besten Chirurgen im ganzen Zarenreich. Dr. Thomas Rosentrost war niemand Geringerer als der Hofmedicus des Zaren. Streng genommen durfte er nur mit einer Genehmigung andere Patienten behandeln, aber für Thomas Rosentrost waren solche Verordnungen dafür da, dass man sie ebenso geschickt wie gefahrlos umging. Trotzdem würden die Behandlung und die Medikamente Onkel Michael einiges kosten.

Johannes grüßte einen blassen Apothekenhelfer, durchquerte den Raum, der mit Töpfen, Tiegeln und Standgläsern vollgestellt war, und betrat durch eine Seitentür Rosentrosts Reich. Ein polierter Tisch stand in der Mitte, zwei erstaunlich rohe Holzstühle daneben. Auf dem Tisch lagen neben einem Besteck für den Aderlass wild übereinander geworfene Papiere. Rosentrost erledigte für den Zaren die Korrespondenz mit dem Ausland, außerdem bestellte er Medikamente aus England und Holland sowie ätherische Öle aus Moskau. Johannes ging näher heran und entdeckte eine Liste von Pflanzen, die für den zukünftigen Apothekergarten in Sankt Petersburg benötigt wurden. Eine weitere Liste war mit dem Titel »Naturaliensammlung« überschrieben.

Ein solides Regal, das Onkel Michael gezimmert hatte, füllte die ganze Wand aus. Johannes konnte nicht umhin, mit dem Blick eines Zimmermanns zu überprüfen, ob die Winkel richtig saßen und das Holz gerade war. Das Regal musste einer großen Belastung standhalten, denn bis unter die Decke stapelten sich Gefäße und Kisten. Ein ganzes Regal war für Glasbehälter mit getrockneten Kräutern und Heilpflanzen reserviert. Und ganz rechts, in einem schattigen Teil des Zimmers, entdeckte Johannes mit einem Schaudern mehrere große Gläser, in denen zusammengedrückte, faltige Ungeheuer in einer Flüssigkeit dümpelten. Das mussten einige Exemplare der Naturaliensammlung sein, die Thomas Rosentrost verwaltete und katalogisierte. Gerade wollte Johannes näher herangehen, als der Medicus das Zimmer betrat. Das heißt, er betrat niemals ein Zimmer, er brach in ein Zimmer ein – unvermittelt wie eine Naturgewalt. Absätze klackten über die Dielen, dann flog schon die Tür zum angrenzenden Zimmer auf. Die Zornesfalte auf Rosentrosts Stirn war noch tiefer geworden, seine schwarzen Augenbrauen bildeten einen seltsamen Kontrast zur weißen gelockten Allongeperücke, die der Arzt stets mit akkurater Würde trug. Wie immer war er auch heute in einen langen scharlachroten Rock gekleidet und trug ein weißes Plastron um den Hals – eine eng geschnürte Halsbinde.

»Ah, der Brehmer!«, bellte er und grinste. »Setz dich, setz dich. Der Arm, was? Zieh das Hemd aus!«

»Ich habe keine Verletzung«, widersprach Johannes.

»Nicht?« Die schwarzen Brauen zuckten in die Höhe. »Umso besser. Komm her!«

Gehorsam setzte sich Johannes auf einen der abgewetzten Stühle und hielt es aus, dass der Arzt seinen Arm bewegte, ihn streckte und die Muskeln abtastete. Dafür dass sie schon Knochen zersägt hatten und mit dem Trepanierbohrer Löcher in Schädeldecken machen konnten, waren die Hände des Arztes erstaunlich glatt und weich, beinahe wie die einer Frau. Es kam Johannes seltsam vor, sich von ihnen anfassen zu lassen. Als hätte der Arzt gespürt, dass Johannes sich den Schmerz verbiss, ertastete er plötzlich eine Stelle in der Nähe des Ellenbogens und drückte zu. Johannes stöhnte auf.

»Aha«, bemerkte Rosentrost. »Ein Loch im Muskel -gerissen. In der nächsten Zeit wirst du mit dieser Hand keinen Hammer heben.«

Johannes musste blass geworden sein, denn Rosentrost zückte ein scharf riechendes Fläschchen und hielt es ihm unter die Nase. »Wird schon wieder.

Besser, als ein zertrümmerter Knochen. Ich schmiere dir ein Pflaster. Braucht Marfa noch etwas?«

Johannes nickte und hielt ihm den Zettel hin, den der Arzt mit gerunzelter Stirn studierte. »Fieber«, murmelte er.

Mit großen Schritten durchmaß er den Raum und suchte die Pulver aus den Regalen heraus. Jeder andere Arzt hatte einen ganzen Bienenschwarm von Dienern und Helfern um sich, Rosentrost dagegen bestand darauf, alles selbst zu machen. Johannes betrachtete das Chirurgenbesteck, das halb unter den Papieren verborgen lag – Zangen und Rippenheber konnte er erkennen, außerdem Brenneisen zum Stillen von Blutungen. Dann schweifte sein Blick wieder zu den eingelegten Tieren. Eines davon fesselte seine Aufmerksamkeit besonders – wenn er nicht gewusst hätte, dass es Drachen nicht gab, er hätte geschworen einen vor sich zu haben.

»Wie geht es Michael?«, fragte der Arzt ohne sich umzuwenden.

»Gut«, antwortete Johannes. »Wir haben viel Arbeit.«

»Und neuerdings eine Leichenhalle für Nixen, wie ich höre?«

Johannes zuckte zusammen. »Wer sagt das?«

Rosentrost lachte. »Die abergläubischen Bauern, sollte man meinen. Aber gestern war ein Soldat hier, der geschworen hat Fische mit Menschengesichtern gesehen zu haben. Oder war es umgekehrt? Gerüchte sind schlimmer als die Pest – hat einer sie, springt sie sofort zum Nächsten.«

»Es war ein ertrunkenes Mädchen«, sagte Johannes leise.

Der Arzt fuhr herum. Seine flinken Augen blitzten belustigt auf. »Natürlich! Was sonst?« Sorgfältig maß er zwei bauchige Holzlöffel eines grauen Pulvers ab und füllte es in eine Dose aus Buchenholz.

»Wenn eines Tages doch noch ein Meermädchen bei euch an Land geschwemmt wird, bring sie zu mir.

Dann teilen wir uns die Prämie, die der Zar zahlt.

Hand drauf!«

»Der Zar glaubt an Nixen?«

Thomas Rosentrost brach in schallendes Gelächter aus. »Meine Güte, Brehm, bist du auch schon so abergläubisch wie die russischen Weiber? Natürlich nicht! Aber er sammelt Monstrositäten. Sag bloß, du bist der Einzige, dem die Missgeburten noch nicht aufgefallen sind?« Mit einer nachlässigen Kopfbewegung deutete er zu den Gläsern.

Johannes stand auf und ging hinüber. Ihm war unbehaglich zumute, aber er bemühte sich, es zu verbergen. Der Drache erwies sich als kleines Tier, aus dessen Leib zwei deformierte Köpfe wuchsen.

»Das Lamm mit den zwei Köpfen!«, rief Rosentrost. »Aus Vyborg! Und dahinten siehst du einen Säugling mit drei Beinen – aus Tobolsk. Zusammengewachsene Zwillinge haben wir auch, aus Ufa, glaube ich.«

Mit einem Schaudern wich Johannes zurück. So genau wollte er Zar Peters Kuriositäten nun doch nicht betrachten. »Wieso begräbt man die Säuglinge nicht?«, flüsterte er. »Das sind doch Menschen!«

»Wer eine solche Kuriosität verheimlicht oder begräbt, macht sich strafbar«, erwiderte Rosentrost mitleidlos. »Zar Peter hat angeordnet, dass die Hebam-men unter Androhung der Todesstrafe missgebildete Neugeborene nicht töten, sondern dem Gemeindepopen melden sollen. Alle Missgebildeten sind beim Kommandanten abzuliefern. Für ein totes Monster vom Menschen gibt es zehn Rubel, vom Vieh, von Tieren und Vögeln drei. Für lebende Monster von Vieh und Tieren fünfzehn Rubel, für Vögel sieben und – halte dich fest – für lebende Monster vom Menschen hundert!«

Johannes klappte der Mund auf. Von Michael wusste er, dass Thomas Rosentrost im Jahr achthundert Silberrubel verdiente. Im Verhältnis zu dem Geld, das Onkel Michaels Werkstatt einbrachte, waren jedoch auch schon hundert Rubel ein Vermögen.

Rosentrost grinste in Johannes’ blasses Gesicht.

»Wenn ihr also ein menschliches Nixenmonster habt, dann bring es her – ich schätze, dafür legt der Zar noch ein paar Rubel drauf.«

Johannes machte den Mund wieder zu und schüttelte den Kopf.

»Es ist erstaunlich, was sich die Leute einfallen lassen, um einen Lohn einzustreichen«, fuhr Rosentrost fort. »Gestern brachte mir ein Soldat einen Vogel mit zwei Köpfen zum Konservieren. Einer war so stümperhaft angenäht, dass ich ihm den Kadaver am liebsten um die Ohren gehauen hätte.

»Wie … konserviert man sie?«

»Noch in Spiritus wie diese hier. Aber just dieser Tage erwarte ich ein Paket aus Holland von dem A-natomen Ruysch. Ich habe bei ihm ein paar seiner Injektionspräparate bestellt. Damit lassen sich Körper weitaus besser präparieren.«

»Warum lässt der Zar die Monstren präparieren?«

Rosentrost hob die Schultern. »Er sammelt alles, was außergewöhnlich ist. Außerdem soll alle Welt die Monstren sehen und lernen, dass sie kein Teufelswerk, sondern nur eine verirrte Laune der Natur sind. Er hasst den Aberglauben ebenso sehr wie die Bärte der Altgläubigen und das Gefasel von Zauberei. Und Recht hat er! Weißt du, was er sagte, als er vor einigen Tagen bei mir war?« Johannes horchte auf.

»In diesem Jahr soll es eine Sonnenfinsternis geben. Man sollte es den Leuten vorher sagen, damit sie darin nicht ein Wunder sehen. Wenn die Menschen darum wussten, sei es nämlich kein Wunder mehr. Übrigens haben auch die Nixen eine natürliche Ursache. Siehst du das Glas da hinten?«

»Das längliche?«

Der Arzt nickte eifrig. »Zieh es raus. Na los, die Monstren beißen nicht.«

Johannes ignorierte das unbehagliche Kribbeln in seiner Hand, als er das Glas behutsam nach vorne rückte. Es verschlug ihm den Atem. Ein Tier mit scharfen Zähnen sah ihn an – es mochte ein junger Hund sein. Hilflos ragten seine Pfoten in die Flüssigkeit, in der er gefangen war. Was Johannes jedoch viel mehr entsetzte, waren die zusammengewachsenen Hinterläufe.

»Das …«, sagte Thomas Rosentrost im Ton eines Hauslehrers, »… findest du auch bei Menschen. Die armen Wichte leben nicht lange und erinnern durch die verwachsenen Gliedmaßen tatsächlich an Nixenwesen. Aber sie sind es nicht.«

»Und wenn es eine gäbe, dann würde sie mit aufgeschnittenem Bauch in einem der Gläser schwimmen.«

Der Arzt kratzte sich am Kopf, was seine Perücke etwas zur Seite rutschen ließ. »Vermutlich nicht. Dafür ist das Glas zu klein. Aber Zar Peter würde sie auf jeden Fall ausstopfen und ihre Organe einzeln präparieren lassen.«

Johannes hatte den Anblick der Tiere ertragen und das Stechen in seinem Arm. Bei der Vorstellung eines ausgestopften Wesens mit menschlichem Gesicht allerdings drohte sich ihm der Magen umzudrehen.

Er dachte an die Gestalt, die er im Wasser gesehen hatte. Und zum ersten Mal hatte er eine Ahnung, dass seine Welt nicht alles war, was er kannte. Nun bekam sein Erlebnis an der Newa einen Sinn. Das Mädchen war solch ein Monstrum mit zusammengewachsenen Beinen gewesen – vielleicht lebte es sogar am Wasser. Nicht umsonst hatte man sie mit dem Tuch abgedeckt. Vermutlich hatte Oberst Derejew die vermeintliche Nixe beiseite schaffen lassen, um die Belohnung zu kassieren. Jemand anders allerdings hatte ihren Leichnam gestohlen. Vielleicht war der Junge, den Johannes am Newaufer gesehen hatte, ihr Bruder oder sonst ein Verwandter. Unwillkürlich bewunderte ihn Johannes für seinen Mut, die Todesstrafe zu riskieren. Möglicherweise, so kam ihm ein neuer Gedanke, war sie auch gar nicht tot, sondern nur scheintot gewesen. Hin und wieder kam es vor, dass ein Totgeglaubter wieder zum Leben erwachte. Und eine so tiefe und große Wunde an der Schulter wäre eine logische Erklärung für eine sehr tiefe Bewusstlosigkeit. In diesem Augenblick fasste Johannes einen Entschluss. Er würde Marfa nicht gefallen.

* * *

Onkel Michael war alles andere als erfreut, dass Johannes nicht mit anfassen konnte. Zwar machte sich Johannes ohne zu murren daran, Holzstücke abzuschleifen, Bretter zu tragen und Werkzeuge zu reparieren, aber eine große Hilfe war er als einhändige Arbeitskraft nicht. Das mit Salbe bestrichene Pflaster, das ihm Thomas Rosentrost umgebunden hatte, brannte auf der Haut wie Feuer, bald allerdings breitete sich eine wohltuende Wärme in seinem Arm aus.

In den nächsten Tagen beobachtete Johannes seine Umgebung noch genauer als bisher. Und es kam ihm vor, als wäre er vorher mit geschlossenen Augen durch Sankt Petersburg gegangen. Trotz Derejews Warnung waren die Gerüchte nie verstummt – im Gegenteil, sie schienen lauter zu werden, als würde sie jemand gezielt schüren. Selbst Johannes bekam hin und wieder einen Zipfel der abenteuerlichen Geschichten zu fassen, die um die Häuserecken flatterten. Hartnäckig hielt sich der Verdacht, dass Michael Brehm den Mörder des Mädchens kannte und ihm geholfen hatte die Leiche verschwinden zu lassen.

Selbst unter den Bojaren, die Zar Peter unterstanden, kursierten derartige Parolen. Darüber hinaus hörte Johannes hier und da ein getuscheltes »Russalka«.

Als am Nordufer der Newa zwei Arbeiter ertranken, schwor eine Bauersfrau gesehen zu haben, wie ein Fischmensch die Männer ins Wasser gezogen habe.

Für diese Aussage, die er »Lüge« nannte, ließ Derejew die Frau öffentlich durchprügeln. Johannes schauderte vor der Entschlossenheit des Obersts, die Geschichten zum Verstummen zu bringen. Handelte er im Auftrag des Zaren? Hasste der Zar den Aberglauben so sehr, dass er Derejew beauftragt hatte ihn aus den Menschen herauszuprügeln? Das Schicksal der Bäuerin war ihm eine Warnung und er beschloss seine Suche nach dem geheimnisvollen Jungen aufzuschieben, bis sich der Tumult gelegt hätte. Einmal jedoch, als er in Richtung der Admiralität ging, entdeckte er in der Menge einen dunklen Haarschopf und ein schmales Gesicht. Der Junge trug einen Korb mit Fischen und steckte für einen davon ein paar Münzen ein. Unauffällig schob sich Johannes näher heran und folgte dem Jungen. Das war nicht einfach, denn er bewegte sich flink durch die Menge, nutzte jede Lücke und entzog sich schon bald Johannes’ Blick. Kurz wog er ab, ob er seiner Angst oder seiner Neugier folgen sollte, dann machte Johannes entschlossen kehrt und ging mit großen Schritten zu dem Mann, der dem Jungen ein paar Fische abgekauft hatte. Der Mann hatte ein von Pockennarben verwüstetes Gesicht, sah aber recht gutmütig aus.

»He, du!«, sagte Johannes zu ihm. »Der Junge, dem du gerade die Fische abgekauft hast – wer ist das?«

Der Mann runzelte die Stirn und musterte Johannes. Er schien zu überlegen, ob er dem großen Zimmermann Rede und Antwort stehen sollte, doch als Johannes eine Kopeke zückte und sie ihm in die Hand drückte, breitete sich ein Grinsen über das Gesicht. »Ein Fischer«, sagte er. »Kommt alle paar Tage hier zum Platz und verkauft seinen Fang.«

»Wo lebt er?«, fragte Johannes.

Der Mann zuckte die mächtigen Schultern und deutete nach Osten. »Irgendwo da.«

»Und wie heißt er?«

»Frag ihn selbst – ich kaufe Fisch bei ihm, sonst nichts.«

»Du weißt nicht, wer er ist?«

»Nein, woher?«

Johannes war nicht sicher, ob der Mann die Wahrheit sagte, aber er gab sich fürs Erste mit der Auskunft zufrieden. Im Osten also – das klang logisch, in Richtung Osten war der Fischer nach ihrem Zusammentreffen davongegangen. Also gehörte er nicht in die Stadt. Er spürte einen Blick und wandte den Kopf. Erwartet hatte er, irgendwo die flackernden Augen des Gottesnarren zu sehen, die aus der Menge der stumpfen Gesichter herausstachen, stattdessen sah er Derejew. Der Oberst beobachtete ihn mit dem lauernden Blick einer Katze. Länger als nötig sah er Johannes in die Augen, bis der Blick zu einer deutlichen Drohung wurde, dann trieb er sein Pferd an und galoppierte so dicht an Johannes vorbei, dass dieser sich nur mit einem raschen Satz in Sicherheit bringen konnte. Um ihn herum lachten einige der Arbeiter auf. Plötzlich konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ganz alleine inmitten einer Meute gegen ihn verschworener Angreifer stand. Aber gehörte Derejew zu ihnen? Mit klopfendem Herzen und düsterer Miene beeilte er sich, seinen Weg zu den Bauplätzen fortzusetzen.

* * *

Mit etwas Mühe gelang es ihm, in der Nacht aus dem Haus zu kommen. Aus Onkel Michaels Kammer drang ersticktes Gemurmel. Johannes wusste, dass sein Onkel wieder Albträume hatte. Wie ein Nebelstreif glitt er an der Hauswand entlang, duckte sich unter dem Fenster und schlug den Weg zur Newa ein. Die Verletzung an seinem Arm hatte zu heilen begonnen, aber prügeln würde er sich heute nicht können. Unruhig sah er sich um und stellte erleichtert fest, dass Mitja nicht in der Nähe war. Heute Nacht war er frei!

Bald war er so weit gewandert, dass die letzten Baracken ihm nur noch wie eine ferne Erinnerung erschienen. Waldland erstreckte sich rechts von ihm, aus sumpfigem Boden ragten Erdinseln, auf denen Zwergweiden und vom Wind zerzauste Birken wuchsen. Längst hatte er die Newabiegung erreicht.

Noch etwa zwei Meilen, dann würde er auf der anderen Seite die Ruine der schwedischen Festung sehen.

Doch eine Fischersiedlung oder etwas Ähnliches entdeckte er nicht. Aufmerksam beobachtete er im Gehen das gegenüberliegende Ufer, aber auch dort war nur Ödnis unter einem hellen Himmel. Ein ovaler Mond stand am Firmament und tauchte die Nebel auf dem Wasser in geisterhaftes Licht. Eine Welle spritzte auf, irgendwo in der Mitte des Flusses. Es mochte ein Fisch sein, der sich seine vielbeinige Mahlzeit von der Wasseroberfläche pflückte. Ein Strudel glättete sich, dann war der Fluss wieder glänzender Seidenstoff. Johannes dachte an die Monstren in der Apotheke und konnte ein Frösteln nicht unterdrücken. In den struppigen Büschen knackte es, als würde jemand oder etwas ihm hinterherschleichen, und immer wenn er den Blick abwandte, hörte er wieder ein Platschen. Noch nie war ihm eine Landschaft so gespenstisch vorgekommen. Im Zwielicht der weißen Nächte erlaubte er seinen Gedanken zu schweifen und sich für einen Augenblick auszumalen, dass es doch so etwas wie eine Russalka gab.

Kein Monstrum, sondern eine richtige Nixe mit magischen Kräften, wie sie in den Seefahrerliedern besungen wurde. Die Tote hatte ausgesehen wie eine der Galionsfiguren, die an so manchem Schiffsbug ihren Körper der Sonne entgegenreckten.

Eine größere Weide kam in Sicht. Als Johannes näher herantrat, erkannte er, dass ihre Äste dicht über dem Wasserspiegel einen Hohlraum bildeten, der wie die Kuppel einer kleinen Kathedrale anmutete. Einige der Äste hingen so tief, dass sie das Wasser berührten. Zwischen ihnen ragte ein Stück Holz hervor.

Es sah aus wie der Bug eines Ruderbootes. Johannes begann zu rennen. Eine Eule erhob sich aus den Zweigen und glitt mit lautlosem Flügelschlag davon.

Johannes verschwendete keinen Gedanken mehr an die Nebel und watete ins Wasser. Mit einem Klacken stießen die Zweige aneinander, als er sie wie einen Vorhang beiseite schob. Da lag das Ruderboot – mehrfach geflickt war es, trotzdem schwappte im undichten Bootsrumpf eine brackige Lache. Was für ein erbärmliches Boot, dachte Johannes. Ich würde mich nicht einmal trauen eine Pfütze damit zu überqueren. Vorsichtig zog er es aus seinem Weidenversteck hervor und betrachtete es. Auch wenn es eher einem Wrack glich, wurde es offenbar noch benutzt.

Die Griffe der Ruder waren blank gerieben und im hinteren Teil des Bootes befand sich ein Korb aus Weidenzweigen. Der Fisch, der darin lag, war so frisch, dass die Augen noch nicht eingefallen waren und die Kiemen aussahen, als würden sie jeden Augenblick anfangen zu zucken.

Johannes sah sich um. Da war keiner. Auch in die Weide über ihm hatte sich niemand geflüchtet. Dafür ertönte nun hinter ihm ein Knacken, ein Vogel rief keckernd und erhob sich in die Luft. Johannes atmete durch, um seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, und watete, so leise er konnte, aus dem Wasser. Vorsichtig ging er näher an eine Gebüschwand heran, die etwa vierzig Schritte von ihm entfernt war. Zweige regten sich, aber er sah nichts. Wer auch immer im Unterholz saß, er war deutlich im Vorteil.

»He, Russe!«, rief Johannes. Nichts rührte sich, nur die Zweige der Weide klapperten hinter ihm in der Strömung. Johannes wurde ärgerlich. »Ich kann warten. Du brauchst dein Boot und dafür musst du an mir vorbei. Ich will nur mit dir reden!«

Er kam sich unglaublich lächerlich vor und hatte den Verdacht, dass er mit einem Hasen redete, der im Unterholz saß und erstaunt den vor sich hin plappernden Menschen betrachtete.

»Komm da raus!«, rief er, diesmal lauter. Wassertropfen regneten auf ihn herab, als sei hinter ihm ein riesiger Fisch aus dem Wasser gesprungen. Johannes fuhr herum. Er kniff die Augen zusammen und spähte zu dem Boot. Eine Hand lag darauf, die sich rasch zurückzog, dann schwappte eine Welle ans Ufer.

»Lass ihn«, sagte eine vertraute Stimme. Wie aus dem Boden gewachsen war der Fischerjunge neben Johannes aufgetaucht. »He, Deutscher«, sagte er zur Begrüßung. Seine Stimme hatte einen resignierten Klang, so als hätte er es soeben aufgegeben, Johannes von einem unglaublich dummen Fehler abhalten zu wollen. Wellen drückten das Boot gegen die Weidenzweige.

»Heute kann ich mich nicht mit dir prügeln«, er-klärte Johannes mit heiserer Stimme. Seine Gedanken flohen wie ein Fischschwarm vor einem ins Wasser geworfenen Stein, schwammen im Zickzack und fanden sich doch in derselben Richtung wieder zusammen. Jemand war im Wasser -das verwachsene Monstrum? Der Fischerjunge ging schweigend zu seinem Boot und begann die brackige Lache herauszuschöpfen.

»Ich weiß von der Russalka«, sagte Johannes. Zufrieden bemerkte er, wie die Hand des Jungen einfror. Einige Augenblicke verharrten sie beide ohne ein Wort.

Der Fischer richtete sich auf und verschränkte feindselig die Arme. »Ach ja?«, fragte er verächtlich.

»Ein neues Märchen? Dann lass mal hören.«

»Kein Märchen, wie du sehr genau weißt. Es ist ein Mensch mit verwachsenen Gliedmaßen oder vielleicht auch ein menschenähnliches Wesen, das in der Newa lebt, stimmt’s? Ich glaube, Derejew wäre mehr als dankbar diese Kreatur zu fangen. Du schützt sie, habe ich Recht? Und du weißt, dass Zar Peter sie töten lassen würde. Sie … war nur scheintot, als sie in der Werkstatt aufgebahrt war.« Er konnte sich ein siegesgewisses Grinsen nicht verkneifen, denn der Junge war aschfahl geworden. »Ich verrate dich nicht«, beeilte er sich zu sagen. »Und auch … das Monster nicht. Ich will nur wissen, was es damit auf sich hat. Das ist alles.«

»Das Monster«, wiederholte der Junge leise. Er sah aus, als würde er das Wort zum ersten Mal in Zu-sammenhang mit dem Russalka-Wesen hören und sich wundern, dass solch ein Ausdruck dafür existierte.

Johannes bohrte weiter. »Du warst es doch, der sie aus der Werkstatt befreit hat. Wie konntest du hineinkommen?«

»Wasser findet jeden Weg«, erwiderte der Junge trocken.

»Wie konnte Derejew denken, sie sei tot?«

»Russalkas haben keinen Herzschlag«, sagte der Junge ruhig. »Es ist leicht, sie für tot zu halten. Und noch einfacher, ihnen Gesellschaft zu leisten.«

»Ihnen? Das heißt, es gibt mehr von diesen Russalka-Monstren?«

»Mehr, als dir lieb sein kann, aber lange nicht genug um alle, die ihnen schaden, zu ertränken.«

»Heißt das, sie hassen uns?«

»Dich«, berichtigte der Junge. »Dich und die anderen, die diese Stadt bauen.«

Johannes brauchte einige Augenblicke, um diese Worte zu verdauen.

»Ihr tötet sie«, fuhr der Junge fort. »Ihr spießt sie mit den Pfählen auf, scheucht sie aus ihrer Ruhe, ihr wühlt den Schlamm auf und werdet sie ersticken mit euren Häusern, euren Menschen, dem Geschützfeuer und den Schiffen.«

Johannes staunte über die Leidenschaft, mit der der junge Russe plötzlich sprach. Betroffen hörte er zu.

»Und der Schlimmste von allen ist der Zar. Wozu holt er Handwerker aus fremden Ländern hierher und verschleppt seine Bauern zur Fronarbeit in die Sümpfe, während ihre Kinder in den Dörfern verhungern?

Warum will er hier in der Einsamkeit eine Stadt bauen?«

»Vor Zar Peter waren die Schweden hier«, wandte Johannes lahm ein. »Es war nicht einsam.«

Bitter lachte der Junge auf. »Weit ruhiger als jetzt, glaube mir. Die Russalkas konnten leben. Nun sind sie dazu verdammt, elend zugrunde zu gehen.«

Oder mit aufgeschnittenem Bauch als Monstrositäten präsentiert zu werden, setzte Johannes in Gedanken hinzu. Er erschrak beinahe, als er merkte, dass er dabei war, sich die Sache dieses Fischers zu Eigen zu machen. Beinahe schämte er sich dafür, zuzugeben, dass er ebenfalls die Stadt im Sumpf nicht mochte.

Dass er sich brennend zurücksehnte – nach Moskau vielleicht, in die Deutsche Vorstadt, oder manchmal sogar in sein Heimatdorf, wo das Leben, das ihm so mühsam erschienen war, immer noch so viel leichter gewesen war als hier. Dennoch: Hier lag seine Zukunft. Nur hier hatte er die Möglichkeit, eines Tages in die Werft zu kommen. Misstrauisch sah er den Jungen an. »Du warst schon hier, als die Schweden noch in ihrer Schanze saßen? Du bist doch nicht etwa einer der Läuflinge?«

»Ein entflohener Leibeigener?« Der Junge lachte.

»Wir gehören doch alle dem Zaren, oder nicht? Nein, noch bin ich frei.«

»Wo lebst du?«

Der Junge verschränkte wieder die Arme in einer ablehnenden Geste, aber immerhin blieb er stehen und sah Johannes mit einer Mischung aus Interesse und Verachtung an. Eine Weile schwiegen sie sich an, bis Johannes begriff, dass es an ihm lag, die Unterhaltung zu beenden. Der Junge war nur noch hier, weil Johannes mit seinem Wissen etwas gegen ihn in der Hand hatte – er ahnte, wie er auf den Fischer wirken musste: ein widerwärtiger Schnüffler, der seinem Geheimnis auf die Spur gekommen war. Nie zuvor war Johannes ein Bild, das andere sich von ihm machten, so abstoßend erschienen.

»Hör mal«, sagte er missmutig. »Ich schweige – auch wenn du es mir vielleicht nicht glauben wirst.

Du hast mein Ehrenwort. Ich will auch nicht, dass diese – Wesen gefangen oder getötet werden.«

Der Junge schien immer noch unentschlossen. Er zog die Brauen zusammen, aber seine Haltung entspannte sich kaum merklich. »Schön«, sagte er schließlich. »Dann können wir ja wieder unserer Wege gehen.«

Johannes zögerte. Der Gedanke gefiel ihm nicht.

Natürlich konnte er sich umdrehen und gehen, sich um seine Schiffe kümmern und die Russalkas vergessen. Oder er konnte hier bleiben und diesem seltsamen Jungen die Hand geben. Einem russischen Fischer, der ihn hasste. Das war auch nicht verrückter als die Erkenntnis, dass es Monster gab, die wie Meerjungfrauen aussahen und nichts lieber getan hätten als ihn zu ertränken. Alles schien besser zu sein als die Einsamkeit, die ihn wieder überwältigen würde wie ein erstickendes Tuch.

»Ich heiße Johannes«, sagte er. »Johannes Brehm.

Ich … gehe bei meinem Onkel in die Lehre. Er ist Tischler und auch Zimmermann. Und ich würde viel lieber in Moskau sein als diese Stadt aus dem Sumpf zu stampfen, das kannst du mir glauben.«

Der Junge sah ihn mit offenem Mund an. »Der Deutsche steigt von seinem hohen Ross, sieh an«, meinte er dann ironisch.

Johannes unterdrückte einen Anflug von Wut und zwang sich zu lächeln. »Im Gegensatz zu dem Russen, der wohl beschlossen hat ewig dort oben sitzen zu bleiben.« Mit heimlicher Freude sah er, wie der Junge rot wurde. Er hat seinen Stolz, stellte er fest.

Mehr Stolz, als für einen Fischer gut sein kann.

»Jewgenij«, sagte der Junge endlich und reckte das Kinn in die Höhe. »Jewgenij Michailowitsch Skasarow.« Es klang nicht nach einer Lüge. Entschlossen streckte er die Hand aus, die Johannes ohne zu zögern ergriff. Sie fühlte sich knochig und sehr kräftig an.

»Du solltest nach Hause gehen, Johannes Brehm«, sagte Jewgenij schroff und wandte sich seinem Boot zu. Flink versetzte er dem Rumpf einen Stoß und sprang hinein.

»Warte!«, rief Johannes. »Bist du öfter hier?«

Jewgenijs Augen loderten unter seinen schwarzen Haaren, die ihm in die Stirn fielen. Während das Boot vom Ufer wegtrieb, betrachtete er Johannes so prüfend, als würde er eine Münze begutachten, von der er nicht wusste, ob sie ihm Gewinn oder Verlust einbringen würde. Staunend bemerkte Johannes, wie das Boot schneller wurde, ohne dass Jewgenij die Ruder berührt hätte. Wirbel bildeten sich um das Heck, Fischhaut glitzerte. Eine Bugwelle türmte sich vor dem Boot auf, das sich ächzend in Bewegung setzte, ein morscher Schlitten, gezogen von schuppigen Leibern. Der Nebel nahm das Boot in Empfang, um es in seiner Umarmung zu verbergen. Fast hörte Johannes den Ruf nicht, der durch die Nebel seinen Weg zu ihm fand und ihm erstaunlicherweise einen warmen Freudenschauer in den Magen schickte.

»Vielleicht«, rief Jewgenij, als er schon zu einem Schemen wurde.