172573.fb2 Der Kuss der Russalka - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

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Mitja

Trezzini war ein ungeduldiger Auftraggeber. Oft saß Carsten Sund am Holztisch und raufte sich über dem Papierstapel mit unzähligen Skizzen die spärlichen Haare. Johannes’ Arm heilte schnell. Bald konnte er wieder in der Werkstatt mithelfen, auch wenn der Muskel noch steif war und bei bestimmten Bewegungen schmerzte. Wenn Marfa etwas von Johannes’ nächtlichen Ausflügen bemerkte, verlor sie kein Wort mehr darüber, allerdings nahm sie sehr wohl zur Kenntnis, dass er nicht mehr so viel Zeit für seine Modellschiffe hatte. Den alten Iwan ertappte Johannes mehr als einmal dabei, wie er ihn über den Rand seiner Suppenschüssel düster musterte. Vielleicht lag die Unruhe aber auch an der allgemein gereizten Stimmung und an Mitja, der wieder um die Werkstatt herumstrich. Seit Johannes um die Russalkas wusste, kam es ihm so vor, als würde über der alten Welt eine neue erstehen. Wie ein von der Blindheit Genesener, der den Geräuschen endlich wieder Bilder zuordnen konnte, entdeckte er in den Gesichtern der Leibeigenen ein seltsames Übereinkommen. Die Gerüchte rauschten lauter als trockene Blätter, die der Wind umtrieb. Spuren der Russalkas entdeckte er plötzlich überall und mit solcher Deutlichkeit, dass er sich wunderte, warum niemand sonst sie zu bemerken schien. Hier brach ein Brückengerüst zusammen, was die Konstrukteure dazu veranlasste, auf die un-terirdischen Strömungen zu schimpfen. Dort verschwand Material vom Ufer, das dringend benötigt wurde, um neue Pfähle in den Uferschlamm zu treiben. Flöße aus zusammengebundenen Baumstämmen lösten sich aus unerfindlichen Gründen auf und die Baumstämme zerstreuten sich und wurden von seltsamen Strömungen weit in die Ostsee getragen. Boote liefen voll Wasser, andere kenterten aufgrund von unerklärlich hohen Wellen, die aus dem Nichts zu kommen schienen. Von Sabotage war die Rede und mehrere Fronarbeiter wurden ausgepeitscht, weil man in ihnen die Übeltäter vermutete. In diesen Tagen, in denen die Luft vor Anspannung zu vibrieren schien, wurde auch ein russischer Geselle ausgepeitscht, der Zar Peter verächtlich als »verdammten Deutschen« bezeichnet hatte. Derejew bekam Johannes nicht zu sehen. Er bemühte sich unauffällig seine Arbeit zu machen, um in den weißen Nächten ungestört am Ufer umherstreifen zu können.

Erst in der dritten Nacht entdeckte er Jewgenij.

Diesmal war das Boot besser verborgen, es war schwer von Fischen, die Jewgenij gerade in den Weidenkorb lud. Jewgenij tat so, als sei ihm das Wiedersehen völlig gleichgültig, aber Johannes ließ sich nicht abschrecken, packte einige Werkzeuge aus, die er mitgenommen hatte, und machte sich ohne viel Aufhebens daran, das Leck im Ruderboot abzudichten.

Trotz seiner Unfreundlichkeit, die Jewgenij gerne an den Tag legte, fühlte Johannes sich bald nicht mehr verhöhnt und vor den Kopf gestoßen. Im Gegenteil. Seit er Jewgenij kannte, schien es ihm, als habe ein neues Leben begonnen, als sei er ein Gefangener gewesen, der einsam in seiner Zelle gelegen hatte, um nun endlich wieder ein wenig Sonnenlicht zu finden. Nie hatte er bemerkt, wie sehr ihm ein Freund gefehlt hatte. Jewgenij schien es ähnlich zu gehen, obwohl er abweisend blieb. Gemeinsam streiften sie am Ufer entlang oder fingen im Wald Rebhühner, die Marfa mit einem kritischen Blick, aber schweigend entgegennahm. In diesen Wochen erfuhr Johannes alles, was ein Mensch über Gurkenfische wissen konnte, die Jewgenij »Korjuschka« nannte und die im Frühjahr aus der Ostsee kamen und zu ihren Laichplätzen newaaufwärts schwammen. Er dagegen erzählte Jewgenij von seinem Leben im Dorf, seinen Brüdern und dem kleinen Gehöft, das nicht ausgereicht hatte, um sie alle zu ernähren. Er verschwieg auch nicht, wie enttäuscht er gewesen war, als sie unter Brüdern ausgelost hatten, wer von ihnen nach Russland gehen musste und wer nach Holland zu einem weiteren Onkel gehen durfte, um Drechsler zu werden. Nun, Johannes hatte das kürzere Stöckchen gezogen. Jewgenij hörte ihm zu und stellte Fragen zu seinem Bruder Simon, der ertrunken war, zu seiner Reise nach Moskau, die ihn über die Ostsee um das Nordkap bis zum Hafen nach Archangelsk geführt hatte. Am liebsten aber lauschte er den Geschichten aus Moskau. Zum ersten Mal hatte Johannes das Gefühl, mehr über das Land zu wissen, in dem er nun lebte, und er musste zugeben, dass es ein gutes Gefühl war. Er beschrieb die bunt bemalten Pferdekutschen, die mit kunstvollen Schnitzereien verziert waren – die Droschken und die großen Troikas, die von drei Pferden gezogen wurden. Für Jewgenij ließ er die Maskenumzüge lebendig werden, die Eisbahnen und Schlittenfahrten, die geschmückten Frauen und die Wintermärkte, auf denen Händler tiefgefrorene Köstlichkeiten feilboten, die von den Käufern auf Handschlitten nach Hause gezogen wurden. »Vor dem Kreml dürfen keine Märkte errichtet werden, deshalb tragen die Händler ihre Waren auf dem Rücken«, erzählte er. »Für jede Ware gibt es einen Verkaufsplatz – für den Verkauf von Seide, von Tuch, Leinenzeug und Bildern. Auf einem Platz verkaufen nur Kürschner ihre Ware, anderswo sind nur Schuster oder Goldschmiede. Und dann gibt es noch den Lausemarkt. Er wird so genannt, weil dort viele Barbiere ihre Läden haben. In einem Haus, das einfach der ›Gasthof‹ genannt wird, stellen Perser, Armenier und andere Völker ihre Waren aus.«

Schließlich erging er sich in der Beschreibung der Kirchen und der unzähligen Glocken, deren Klänge die Stadt wie ein ewiges Wiegenlied umflossen. Er vergaß auch nicht, den Kolomenskojepalast bei Moskau zu erwähnen, der ohne einen einzigen Nagel erbaut war, zweihundertfünfzig Wohnungen barg und insgesamt dreitausend Fenster hatte, in deren Scheiben sich das Sonnenlicht brach wie in einem gewaltigen Kristall.

Als die Nächte wieder dunkler wurden und die Schiffsmodelle verstaubten, weil keine Hand sie mehr berührte, begannen Johannes und Jewgenij, Fische über einem kleinen Feuer zu rösten. Schnell hatte Johannes herausgefunden, dass sein Freund kein gewöhnlicher Fischer war – die Russalkas trieben ihm die Beute ins Netz, sodass er sie nur noch aus den Wellen zu ziehen brauchte. Die Soldaten zahlten gut dafür.

»Ist es weit bis zu deinem Haus?«, fragte Johannes eines Nachts, als sie am Ufer saßen. Jewgenij schüttelte stumm den Kopf. Die unausgesprochene Frage wälzte sich schwer zwischen sie und Johannes ärgerte sich bereits, sie überhaupt gestellt zu haben. Dennoch ließ ihn die Neugier nicht los. Ein Halbmond stand am Himmel, ab und zu ließ eine Welle das Boot schaukeln. Johannes wusste, dass die Russalka in der Nähe umherstreifte, obwohl sie sich ihm noch nie gezeigt hatte. Sosehr sich Johannes bemühte – mehr als ein Glitzern oder eine Hand, die flüchtig im Wasser auftauchte, bekam er von ihr und den anderen Russalkas nicht zu sehen. »Du willst wissen, wer ich bin«, stellte Jewgenij fest. »Dann frage mich doch einfach. Dieses Geschleiche um den Futtertopf kann ich nicht leiden.«

»Gut«, sagte Johannes. »Wer bist du? Wo lebst du, wer ist deine Familie?« Und wie um sich zu rechtfertigen setzte er hinzu: »Ich meine, du weißt so viel von mir, ich habe dir von meinen Brüdern erzählt, von Moskau … von dir weiß ich nur, dass du Fische fängst und mit Russalkas sprechen kannst.«

Jewgenij lächelte kryptisch. »Ich wohne auf der anderen Seite der Newa. Von dort drüben geht es ostwärts weiter. Es ist eine Kate aus Kiefernholz. Sie

… hat meinem Großvater gehört.«

»Sie gehörte ihm? Also war er kein Leibeigener?«

Jewgenijs trockenes Lachen störte eine Flussratte auf, die sich raschelnd durch die Uferböschung davonmachte. »Denkst du immer nur wie ein Grundbesitzer?«, fragte er spöttisch. »Hier die Herren, dort die Sklaven?« Er verbiss sich ein verschmitztes Lächeln. »Uns gibt es gar nicht, verstehst du? Wir sind weiße Wölfe – man sagt, sie existieren, aber die, die einen gesehen haben, können es selten beweisen.

Manche halten uns für Finnen, manche für Russen, der Zählung durch die Kuriere der Zaren haben wir uns seit jeher entzogen.«

»Aber dann bist du in Gefahr! Wenn jemand herausfindet, dass ihr keine Papiere habt …«

»Hör auf, Brehmow«, unterbrach ihn Jewgenij unwirsch. »Wenn der Fischer zu gierig ist, rutschen die Fische ihm durchs Netz. Auch Soldaten lassen sich bestechen. Und meine Großmutter zahlt gut.«

»Du lebst mit deiner Großmutter in eurem Haus?«

Musste er jede Antwort aus seinem Freund herauspressen? Es schien Jewgenij viel zu kosten, ihm eine Antwort zu geben. »Ja. Aber sie ist krank.«

»Krank?«, rief Johannes aus. »Warum hast du das nicht früher gesagt? Ich kann dir helfen – ich kenne den besten aller Ärzte!«

Unvermittelt fuhr Jewgenij hoch. Erstaunt sah Johannes ihn an. Wütend klopfte sich der Fischer Grashalme von der schäbigen Jacke. »Du verstehst es nicht, was?«, fuhr er ihn barsch an. »Ich will eure Ärzte nicht! Wir brauchen keine Almosen. Ihr seid die Eindringlinge hier – ohne euch gäbe es keine Krankheiten hier, keinen Krieg, keine Toten. Ohne euch hätte ich noch eine Familie, wenn du es wissen willst!«

Johannes war, als hätte ihm Jewgenij einen Schwall eisigen Wassers über den Kopf geschüttet.

Seine anfängliche Empörung wich einem bangen Gefühl des Bedauerns. Jewgenij stand vor ihm, die Hände zu Fäusten geballt. Unwillkürlich schämte sich Johannes für etwas, was er nicht getan hatte.

»So habe ich es nicht gemeint, Jewgenij«, sagte er leise. »Entschuldige – ich wusste nicht, dass deine Familie … gestorben ist.«

»Gestorben? Das klingt, als hätten sie die Augen zugemacht und wären eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Aber so einfach war es nicht. Ermordet wurden sie! Meine Mutter, mein kleiner Bruder und

… meine Schwester. Was glaubst du, was Soldaten im Blutrausch mit Menschen machen?« Johannes schluckte krampfhaft. Plötzlich fror er. »Mein Bruder war noch so klein, dass er nicht einmal weglaufen konnte, als …« Jewgenij räusperte sich und wandte den Kopf ab. Aber Johannes hatte das verräterische Glänzen in seinen Augen längst bemerkt. Er kämpfte den seltsamen Impuls nieder, seinen Freund in den Arm zu nehmen. Krampfhaft atmete Jewgenij durch und setzte sich wieder. Mit unergründlichem Gesicht starrte er auf das Flusswasser.

»Nicht einmal die Russalkas konnten sie retten«, sagte er bitter. »Jetzt sind wir allein – nur noch Katka und ich.«

»Das tut mir Leid«, sagte Johannes. »Glaubst du wirklich, ich sei mit schuld daran?«

Jewgenij zuckte trotzig die Schultern, aber Johannes sah, wie seine Fäuste sich langsam wieder öffneten. »Nicht du, Brehmow. Aber die Deutschen, dieser Zar und seine Soldaten – eure Ärzte …«

»Warum seid ihr nicht geflohen?«, fragte Johannes.

Jewgenij sah ihn an, als hätte er ihn gefragt, warum sie sich nicht in den Fluss gestürzt hatten. »Und die Russalkas zurücklassen?«, fragte er. »Niemals!

Seit Generationen sind wir ihre Hüter!«

Nun war Johannes verblüfft. »Das heißt, ihr könnt das Newadelta nicht verlassen?«

»Wozu?«, fragte Jewgenij. » Ich will auch nicht fort, solange es hier noch Russalkas gibt. Nun, bald werden wir frei sein zu gehen, wohin es uns beliebt.«

»Warum fliehen die Russalkas nicht? Können sie nicht im Meer leben?«

»O doch«, gab Jewgenij zurück und betrachtete seine Hände. Sie waren nicht mehr zu Fäusten geballt und auch seine Stimme klang plötzlich weich und leise, wie Johannes sie nicht kannte. »Die Russalkas sind das einzig Schöne im Leben. Sie sind würdevoll und friedlich – Schönes muss man bewahren. Schon als Kind habe ich den Frühling erwartet.

Sobald das Eis auf der Newa brach und die Gurkenfische zu ihren Laichplätzen schwammen, wartete ich auf meine Russalka. Jedes Jahr begrüßt sie mich. Eines Morgens ist sie da, wie ein Kind mit verschlafenen Augen. Im Winter ruhen sie auf dem Grund des Flusses. Nun werden sie keine Ruhe mehr finden.«

Er senkte den Kopf. »Sie würden gerne fliehen, Brehmow. Sie sind ein altes Volk, das müde ist vom Warten. Längst haben sich die anderen im tiefen Herzen des Meeres gefunden, sich zurückgezogen von den Gefilden der Menschen. Meine Russalka erzählt oft davon wie von einem fernen Paradies.

Aber sie dürfen nicht.«

»Warum nicht?«

Jewgenij lächelte. »Ich wäre ein schlechter Hüter, wenn ich es dir verraten würde, nicht wahr? Vergiss nicht, du bist mein Feind.«

»Dann frage ich die Russalka!«

Sein Freund lachte auf. »Es könnte sein, dass du schneller, als du schauen kannst, auf dem Grund der Newa liegst.«

»Das müsste dir doch sehr recht sein«, gab Johannes zurück.

Jewgenijs Grinsen wurde breit und verschmitzt.

»Ein toter Deutscher in der Newa – o ja, das würde uns jetzt gerade noch fehlen!«

* * *

Die ganze Stadt war auf den Beinen, als im Hafen ein holländisches Handelsschiff einlief und Salz und Wein ausgeladen wurden. Die Leibeigenen wurden nicht müde die fremdländischen Gäste anzustarren.

Zar Peter ließ die Mannschaft fürstlich bewirten und feierte die Ankunft des Schiffes mit einem großen Fest. In diesen Tagen bekam Johannes einen Eindruck davon, wie Sankt Petersburg einst sein würde: ein riesiger Handelshafen, wo Waren aus aller Welt umgeschlagen wurden. An Bord des Schiffes war erstaunlicherweise auch eine Frau – ihre seidenen Röcke bauschten sich im Wind, während sie von der Reling ihren Blick über die riesenhafte Baustelle schweifen ließ und das Treiben auf der Hafenmole beobachtete. Nach europäischer Mode war sie in ein enges Mieder geschnürt. Für Johannes war das inzwischen ein ungewohnter Anblick, umso faszinierter betrachtete er die Frau mit dem ernsten Gesichtsausdruck, die ihn an seine Christine erinnerte.

Just als das Schiff wieder ablegte und Kurs auf die Ostsee nahm, kamen aus Moskau die nächsten großen Transporte an. Sie brachten Gurken, Wachs, Honig und Getreide, außerdem die neuesten Berichte, die gierig aufgesogen wurden.

Mit besorgtem Gesicht lauschte Onkel Michael den Berichten von den Kosakenaufständen am oberen Don. Unter den Kosaken waren auch viele entflohene Leibeigene. Ihre Besitzer, die berechtigt waren, nach ihren Bauern im ganzen Land zu fahnden, sie einzufangen und wieder zurückzuschleppen, warteten darauf, dass der Zar etwas unternahm. Dramatisch fuchtelte der Fuhrmann mit den Händen in der Luft herum, während er die Kämpfe schilderte und den Anführer der Kosaken, Ataman Kondratij Bulawin, nachahmte, wie er seine Forderungen stellte. In manchen der Gesichter glaubte Johannes so etwas wie düstere Bewunderung für die Aufständischen zu entdecken.

Das Wichtigste, was der Transport jedoch brachte, war ein Sack voller Zeitungen und Briefe aus der Deutschen Vorstadt – Johannes schien es wie eine Ewigkeit, bis er auf einem der Schreiben endlich Christines geschwungene, etwas kindliche Schrift erkannte. Das Papier war fleckig und wellig, wahrscheinlich war es unterwegs nass geworden und wieder getrocknet, aber die Buchstaben waren noch gut zu erkennen. Ein Kribbeln durchfuhr Johannes’ Hand, als er das spröde Papier berührte, dann rannte er mit seiner Beute schnurstracks in die Werkstatt und verkroch sich hinter die Hobelbank. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen wurde ihm bewusst, wie selten er in den vergangenen Tagen an Christine gedacht hatte. Begierig las er die ersten Zeilen. Die Enttäuschung schlich sich heran, mit jedem Wort einen weiteren Schritt, bis sie schließlich neben ihm aufragte, groß und unüberwindbar. Kein einziges Liebeswort stand in dem Brief, stattdessen quoll das Schreiben vor wohl erzogenen Phrasen geradezu über. Christine erkundigte sich nach seinem Befinden um dann zu berichten, was es in der Vorstadt Neues gab. Der Sekretär der britischen Botschaft war krank. Ihr Vater hatte sich jetzt auf den Verkauf von Zobelpelzen verlegt, die er über Sibirien aus China bezog. »Der Händler hat uns auch Teekraut geschickt, außerdem gesternten Anis und chinesischen Tabak«, schrieb sie weiter. Ihre Schwester Helene würde im August heiraten – einen Wollhändler, der inzwischen auch gute Geschäfte mit Seide machte. Ansonsten wünschte sie ihm gute Gesundheit und hoffte, er fühle sich in der neuen Stadt wohl.

Hektisch drehte Johannes das Blatt um, stöberte nach einer verborgenen Nachricht, aber da war nichts, kein persönliches Wort. Christine und er hätten flüchtige Bekannte sein können, um sich solche Briefe zu schreiben. Wütend faltete er das Papier zusammen und stopfte es in seine Hosentasche. Das Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein, wurde übermächtig. Plötzlich wünschte er sich nichts sehnlicher als Christine zu sehen. Er war so in Gedanken versunken, dass er kaum bemerkte, wie Iwan den Raum betrat. Erst als der alte Mann etwas Unverständliches murmelte und sich abrupt wieder zum Gehen wandte, fiel Johannes auf, dass er nicht allein war. Missmutig klopfte er sich die Sägespäne von der Hose und stapfte zum Haus hinüber.

Ein Trappeln ließ ihn zurückblicken. Der Geruch von alter, modriger Kleidung schlug ihm entgegen.

Mitjas Fratze tauchte neben ihm auf. Noch nie war ihm der Gottesnarr so nahe gekommen. Wahnsinn verzerrte seinen Mund zu einem zähnefletschenden Grinsen. Schnell wie eine Viper schnappte er nach Johannes’ Arm. Normalerweise wäre ihm das nicht gelungen, aber Johannes wagte nicht sich zu wehren und versuchte nur sich der Reichweite des Rasenden zu entziehen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass einige der Gehilfen ihre Arbeit liegen ließen und mit offenen Mündern die Szene beobachteten.

»Lass los!«, zischte er Mitja zu, aber der Narr riss an seiner Kleidung, sprang um Johannes herum wie ein tollwütiger Hund, der sich nicht abschütteln ließ.

Johannes hätte ihn niederringen können, aber er traute sich nicht. Endlich ließ Mitja von Johannes ab und rannte ein paar Schritte davon. Triumphierend hielt er ein Stück Papier in die Höhe. Christines Brief! Johannes’ Blut wurde zu Lava, seine Hände zu Klauen, bereit diesem Verrückten jeden einzelnen Finger zu brechen.

»Gib ihn her!«, brüllte er. Drohend erhoben sich ein paar der Leibeigenen und bildeten hinter Mitja einen Halbkreis. Wenn er dem Narren den Brief aus der Hand schlug, würde er es mit mehreren Gegnern zu tun bekommen. Mitja grinste siegesgewiss und stopfte sich das Papier in den Mund.

»Du Dreckskerl!«, schrie Johannes und stürzte sich auf ihn. Und wenn er sich mit der ganzen Meute prügeln sollte – es war ihm egal. Mitjas Augen wurden groß wie Holzteller, er gab einen erstickten Laut von sich und floh. Die Leibeigenen stoben auseinander. Ein Stock, den jemand geworfen hatte, traf Johannes am Knie und ließ ihn stolpern. Er fiel, rappelte sich auf und jagte den Gottesnarren über den Platz.

Mitja war erstaunlich schnell. Wie eine Lumpenpuppe auf der Flucht flitzte er auf einen Holzstapel zu.

Beinahe hatte ihn Johannes erreicht, als der Gottesnarr strauchelte. Das Getöse, mit dem er in dem Holzstapel landete, war ohrenbetäubend. Johannes konnte gerade noch einem Scheit ausweichen, das ihm vor die Füße fiel, dann lag der Narr schon da und starrte seine Hände an. Blut floss ihm aus der Nase, Brocken von halb zerkautem Papier fielen aus seinem Mund. Verächtlich spuckte er den Rest aus.

Schmerz schien er nicht zu fühlen, er starrte völlig fasziniert das Blut an, das auf seine riesigen, groben Hände tropfte. Rote Perlen bildeten sich auf der Haut und verwandelten sich in kleine Flüsse. Einen der runden Tropfen balancierte der Narr auf einer Fingerkuppe, die er nun Johannes entgegenhob.

»Erlösung oder Knechtschaft!«, erklärte er ernsthaft. »Der Schatz leuchtet an der Krone des Himmels. Der Fisch, der Wolken küsst, verschlingt sie.«

»Was?«, sagte Johannes. Offensichtlich hatte Mitja den Brief schon längst wieder vergessen. Selten hatte er sich hilfloser gefühlt.

»Holz und Essig«, fuhr Mitja fort. »Wenn die Sonne kommt, schmilzt der Berg und die Schädel wimmern in der Küche. Ich habe Wein getrunken, aber das war in Archangelsk.«

»Lass ihn in Ruhe!«, ertönte eine heisere Stimme hinter Johannes. Er wandte sich um und erschrak.

Die Front war aufgerückt, düstere bärtige Gesichter starrten ihn an, Fäuste schlossen sich um Holzscheite.

»Lasst ihr mich in Ruhe«, rief Johannes. »Kommt auch nur in meine Nähe und ich sorge dafür, dass ihr in den Sumpf zurückgeschickt werdet, wo ihr hergekommen seid. Ihr wisst, welche Strafen der Zar für Prügeleien vorsieht.«

Einer der Leibeigenen, der nur ein Auge und einen nebelgrauen Bart hatte, spuckte aus. »Dein Zar lästert Gott. Er lässt Kirchenglocken einschmelzen und Kanonen daraus gießen«, knurrte er. »Aber bald wird er absaufen. Mit seiner ganzen verfluchten Stadt.«

Die Stille, die sich auf den Platz legte, erinnerte an die Ruhe einer Gruft. Die Knechte hatten aufgehört zu atmen, sie starrten den Einäugigen an und rückten von ihm ab. Er wurde blass und senkte den Kopf.

»Wer hat das gesagt?«, fragte Johannes. Die Art, wie die anderen Leibeigenen die Augen niederschlugen, beunruhigte ihn. Nur der Einäugige hielt seinem Blick immer noch stand. »Ein Pope hat es gesagt«, murmelte er. »Als sie uns auf den Marktplatz getrieben haben. Um uns hierher zu bringen.«

»Wo kommst du her?«, fragte Johannes. Der Mann wurde noch bleicher. »Ich will dich nicht anklagen«, beeilte sich Johannes zu sagen. »Ich will nur wissen, woher du kommst.«

Der Einäugige räusperte sich. »Aus Jesengorod.«

An diese Stadt erinnerte sich Johannes. Auf der Reise von Moskau hierher, hatten sie in der Nähe Halt gemacht. Die Mehlfuhren kamen von dort, es war ein altertümliches Städtchen, etwa dreißig Meilen von der Newamündung in Richtung Moskau.

»Geschwätz war es, nichts weiter, Herr«, sagte ein Bauer mit rotem Haar. Er lächelte unterwürfig und hob die Schultern. »Nehmt es nicht ernst und verzeiht uns, Herr. Der Hunger treibt uns zuweilen Flüche auf die Lippen.«

Furcht leuchtete in den Gesichtern der anderen auf. Johannes schob seine Fäuste in die Hosentaschen. Zehn Augenpaare verfolgten jede seiner Bewegungen, als er mitten durch die Front hindurchschritt und ins Haus ging.

* * *

Er kam erst zur Ruhe, als es Nacht wurde. Iwan schlief heute nicht in der Stube, sondern hatte sein Lager bei den Gehilfen in der Werkstatt aufgeschlagen. Inzwischen war es schon Ende Juli und die Nächte wurden düsterer. Leise holte Johannes einen Kerzenstummel hervor, den er seit seiner Reise nach Russland in einem Kästchen aufhob, und zündete den geschwärzten Docht an. Die kleine Flamme trieb im Dämmerlicht wie ein Irrlicht im Moor. Nebenan redete Onkel Michael im Schlaf und warf sich auf seinem Lager herum.

Johannes rutschte zur Wand, lehnte sich gegen das Holz und vergrub das Gesicht in den Händen. Endlich konnte er sich eingestehen, dass er Angst hatte.

Warum hatte Mitja den Brief zerstört? Auch wenn nichts Wichtiges darin geschrieben stand, fühlte es sich an, als hätte der Narr die sanfte Kaufmannstochter vor Johannes’ Augen geohrfeigt.

Nach einer Weile stand Johannes auf und hob behutsam den Deckel von der Bank, auf der er sein Lager aufgeschlagen hatte. Der schmale Fußteil diente auch als Truhe, in der er seine wenigen Habseligkeiten verstaut hatte. Ganz unten, unter den Winterstiefeln und der Pelzmütze, die ihm Marfa für seinen ersten Winter in Moskau hatte anfertigen lassen, lag eine Holzkiste. Sorgfältig hatte Johannes sie in einen Wollschal gewickelt. Nun holte er das Kästchen hervor und öffnete es behutsam. Im blinzelnden Kerzenlicht erkannte er die wohl vertrauten Kanten abgegriffener Briefe. Viele waren es nicht, lediglich ein halbes Dutzend, aber sie in die Hand zu nehmen war so, als würde er seine Familie wieder umarmen können.

Die ungelenke Schrift seines Bruders prangte auf gelblichem Grund. Eine grobe Feder hatte an einigen Stellen Fasern und Fetzen aus dem Papier geschabt.

Simon hatte harte Hände gehabt und nie richtig schreiben gelernt. Allerdings war er zu stolz gewesen einen Schreiber anzuheuern. Der letzte Brief von ihm war aus Hamburg gekommen. Simon erzählte darin von den Arbeiten auf dem Schiff und einem Fass mit verdorbenem Wasser, das stank wie eine Kloake. Der Brief kam gleichzeitig mit der Nachricht, dass das Schiff während eines Sturms gesunken war. Johannes strich mit der Hand das Papier behutsam glatt.

Der alte Kummer begann in seiner Brust zu pochen. Simon, sein Bruder! Ein anderer Brief war von seinem Vater und ein alter, sehr abgegriffener von Onkel Michael. Vor vielen Jahren hatte Michael ihn an Johannes’ Vater geschrieben. Eng beschrieben war er, fehlerhaft und mit so vielen russischen Ausdrücken durchsetzt, dass er Johannes erschienen war wie der Brief eines fremden, exotischen Wesens. Lächelnd betrachtete Johannes die Zeichnung eines Perückenstocks, den Michael für einen deutschen Gesandten angefertigt hatte. Damals arbeitete Michael noch im Dienst eines Tischlers und Kistenmachers.

Die besten Kisten stellte jedoch Michael her. Unter der Schrift war ein quadratisches Kästchen abgebildet. Akkurat ausgeführt war die Zeichnung eines ungewöhnlichen Wappens. Ein Adliger hatte dieses Meisterstück in Auftrag gegeben. Die Intarsien zu schnitzen musste viel Arbeit gewesen sein.

Ganz hinten, gut versteckt zwischen zwei Blatt Papier befand sich Christines Bildnis. Geheimnisvoll und sanft lächelte sie ihm zu, aber selbst die Russalka erschien ihm wirklicher als das Mädchen, um das er sich in Moskau so sehr bemüht hatte.

* * *

Die Müdigkeit machte ihm zu schaffen, trotzdem schlug er schon in der nächsten Nacht den Weg zum Newaufer ein. An der Weide fand er Jewgenij nicht, also lief er weiter stromaufwärts. Weit hinter sich hörte er die Stimmen der Stadt. Der Wind stand so günstig, dass die fernen Rufe der Arbeiter, die ihre Nachtschicht hinter sich brachten, bis zu ihm getragen wurden. Schläfrig schaukelte ein kleineres Transportboot in Richtung Haseninsel. Die Nacht war bereits so düster, dass Johannes mehrmals stolperte. Schon glaubte er, dass er Jewgenij heute nicht treffen würde, als er am Ufersaum etwas Helles aufblitzen sah. Buschwerk versperrte ihm die Sicht, aber als er näher heranging, sah er, wie sich etwas hinter den Zweigen bewegte. Beinahe hätte Johannes nach Jewgenij gerufen, doch eine vertraute Stimme ließ ihn verdutzt innehalten.

»Webwerk ist Tagwerk«, sagte Mitja leise.

Eine Frau lachte leise auf. »Tagwerk ist Nachtgarn und der Mond rollt durch Adern voll Glut.« Ihre Stimme klang angenehm und melodiös, dabei aber tonlos wie das Rauschen der Newa an einem windigen Tag.

»Ja!«, beteuerte der Narr. »Aber weil Senja kein Stroh frisst, gibt sie den Faden an Kalamow. Kalamow aber verschluckt das Kreuz.«

»Unsinn«, erwiderte die Fremde. »Kalamow hat nie ein Kreuz getragen.«

»Aber eine Kette aus Schädeln …«

»… und Fingerknochen um seinen Hals«, ergänzte sie. »Heimlich nagt er sie ab, wenn der Kater nicht hinschaut!« Mitja kicherte, als hätte er einen gelungenen Scherz gehört.

Johannes hielt die Luft an. Hier unterhielten sich zwei Verrückte. Vorsichtig schlich er näher heran.

Immer noch sah er nichts, deshalb lehnte er sich gegen einen dickeren Ast und beugte sich so weit vor, bis er beinahe das Gleichgewicht verlor. Der Anblick der Szene raubte ihm fast den Atem. Die marmorschöne Gestalt der Russalka trieb zwischen den Weidenzweigen. Ihre rechte Schulter ragte aus dem Fluss. Unter Wasser leuchteten ihre Brüste wie zwei Monde. Ein Abglanz ihrer Schönheit verklärte das Gesicht des Narren, der am Ufer kniete. In diesem Moment hätte er ein junger Soldat sein können, der seine Geliebte traf. Angst fuhr in Johannes’ Magen – was, wenn Mitja die Russalka an Derejew oder jemand anderen verriet?

»Gott lebt im Wasser«, sagte Mitja mit tiefem Ernst.

»Die Kater heulen in der Nacht, das Wasser wartet, aber es wartet nicht lange genug. Eine Heuschrecke frisst meine Hand und sie wächst wieder nach!«

Er streckte seine Hand aus und die Russalka ergriff sie ohne zu zögern. Staunen ließ das Gesicht des Narren beinahe schön aussehen. Niemand verstand, was er gesagt hatte, aber die Nixe sah ihn an, als hätte er sie etwas gefragt, über das sie nun konzentriert nachdachte. »Nein«, sagte sie schließlich sanft, aber sehr bestimmt. »Nein, Mitja!«

In diesem Moment brach der Buschast. Dornen kratzten über Johannes’ Arme, das Geräusch von reißendem Stoff zerstörte die Stille. Er war völlig perplex, als ihn ein Schwall Wasser traf und von Kopf bis Fuß durchnässte. Ertappt sprang er auf und strich sich die Haare aus der Stirn. Mitjas Soldatenrock bauschte sich auf der Wasseroberfläche und verschwand. Im Schock stand Johannes da. Seine Gedanken überschlugen sich – die Russalka hatte den Narren in die Tiefe gezogen! Im nächsten Moment sah er sich einem tropfenden Mitja gegenüber, der ans Ufer geworfen war wie ein Stück Treibholz. Der Narr hustete und spuckte mindestens einen Krug voll Brackwasser aus.

»Du hast mich erschreckt«, sagte die Stimme der Russalka. Ärgerlich tauchte sie unter und kam unmittelbar vor Johannes wieder aus dem Wasser. Zum ersten Mal konnte er ihre farblosen Lippen betrachten und die verwirrenden Augen, pupillenlos und so schwarz wie Kohlestücke. Der Kontrast zwischen ihrer Haut und dem schwarzen Haar war stechend.

Unter Wasser glänzten Schuppen.

»Habe ich dich dabei gestört, den Gottesnarren zu ertränken?«, brachte Johannes hervor. Beim Klang von Johannes’ Stimme rappelte sich Mitja auf. Sein Gesicht verzerrte sich zu der wütenden Fratze, die Johannes nur allzu gut kannte.

»Nicht«, sagte die Nixe. Johannes wurde Zeuge, wie dieses einfache Wort einen Wahnsinnigen, der ihm ohne zu zögern an die Kehle gegangen wäre, im Zeitraum eines Fingerschnippens in einen sanftmütigen Menschen verwandelte. Ein letztes Mal musterte der Narr Johannes, dann rang er die Hände, wandte sich um und ging fluchend auf den Wald zu. Die Russalka sah ihm mit sanften Augen nach.

»Was wird er tun?«, flüsterte Johannes.

»Nachdenken«, erwiderte sie. »Er denkt viel über diese Stadt nach – über den Zaren, den Fluss und die Zeit, auch über dich.«

Der Schreck, der sich für eine Weile mit sich selbst beschäftigt hatte, wurde aufmerksam und trabte wieder herbei. »Er wird dich verraten«, rief Johannes. »Er ist ein Narr! Wie kannst du mit ihm sprechen?«

Mit einer energischen Bewegung stieß sie sich vom Ufer ab und ließ sich ein Stück in das dunkelgrüne Wasser treiben. Weiße Knie erschienen an der Wasseroberfläche wie neugierige Fischmäuler. Für einen Moment war Johannes irritiert keinen Fischschwanz zu sehen. »Er ist der Einzige, mit dem man vernünftig reden kann!«, erwiderte sie in tiefem Ernst. »Mitja und ich teilen unsere Träume.«

»Du verstehst, was er sagt?«

»Wie kann man Mitja nicht verstehen?«

»Nun, er ist verrückt!«

Erstaunt sah sie ihn an. »Er ist der Vernünftigste von allen! Er weiß lediglich nicht, was Traum und was Wirklichkeit ist.«

Dazu fiel Johannes nichts ein. Er blickte sich um und betrachtete die Gestalt in dem nassen Soldatenmantel, die sich stapfend immer weiter von ihnen entfernte. »Was wollte er von dir?«, fragte er die Russalka.

Sie seufzte. »Ins Wasser möchte er kommen. Aber wenn ich ihn mitnehme, ist er nicht mehr Mitja.«

»Verwandelt er sich in einen von euch?«

Ihr Lachen war spöttisch. »Nein, nur in einen Leichnam«, erwiderte sie trocken. »Seine Seele flüsterte im Wasser und ich könnte mit ihm sprechen, aber er würde nie wieder Gras sehen oder den Himmel, nie wieder würde er den Wald sehen, den er so liebt.«

Mitja liebt also den Wald, dachte Johannes staunend. Und am allermeisten scheint er die Russalka zu lieben.

»Wenn du Jewgenij suchst – er ist nicht hier«, fuhr die Russalka fort. »Er hat mir gesagt, dass du mich für ein Monster hältst.« Leise ließ sie sich in die Tiefe sinken. Mit einer Schlängelbewegung pflügte ein glitzernder Aalleib durch das Wasser und schlug wie ein zappelnder Fisch nach Johannes’ Fuß. Die Nixe warf sich herum und tauchte ab – Zeit genug für Johannes, ihren Rücken zu bewundern. Eine wellenförmige Flosse teilte ihn, die auf Hüfthöhe in den Aalleib überging. Silberschuppen glänzten auf und verschwanden. Johannes erahnte unter den Wellen ein ausdrucksloses Fischgesicht mit kräftigen Kiefern und gefährlich aussehenden Zähnen. Lauernd sah ihn der Raubfisch an. Johannes stolperte ein paar Schritte zurück. Das bedrohliche Wesen durchstieß die Oberfläche und vor ihm stand wieder die Russalka im Wasser. Plötzlich brach sie in ein Lachen aus, das wie eine übermütige Welle über ihn hinwegschwappte. »Du solltest dich sehen, was für ein Gesicht du machst.«

»Hör auf«, sagte Johannes barsch. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass diese Nixe bis auf den Grund seiner Gedanken sehen konnte.

»Wo willst du hin?«, rief sie.

»Du … du warst ein Raubfisch. Und Jewgenij sagte …« Er kam sich töricht vor.

Die Russalka lächelte katzengleich. Ihre Arme lagen wie bleiche Adern unter der glänzenden Haut des Flusses. »Ich bin Fisch, Fleisch, Teufelswerk oder Engelsgesicht. Blut kann köstlich sein.« Sein schockiertes Gesicht ließ ihr Lächeln noch breiter werden.

Er war sich nicht sicher, ob sie scherzte oder die Wahrheit sprach. Sein Schaudern sagte ihm, dass die Wasserfrau etwas viel Älteres und Gefährlicheres war, als sich sein Zimmermannsschädel je vorstellen konnte.

»Aber du bist … Jewgenijs Freund, und das genügt mir, um dir niemals etwa zuleide zu tun.« Gegen seinen Willen musste Johannes sich eingestehen, wie sehr es ihn freute, dass Jewgenij ihn als Freund bezeichnete. »Du machst dir gerne Bilder, Johannes, nicht wahr?«

»Ich glaube an das, was ich sehe. Zumindest war es bisher so.«

Sie beobachtete, wie er sich verlegen eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, und bewegte die Arme im Wasser. Es sah aus, als würde sich ein träger Fisch mit den Flossen im Gleichgewicht halten. Die Wasserströmung spielte mit dem langen Haar, trieb es in anmutigen Wellen gegen die Haut.

Johannes wurde sich bewusst, dass er sie anstarrte.

Offensichtlich verstand sie seinen Blick als Einladung, denn sie erhob sich und watete mit wenigen Schritten ans Ufer. Der Aalschwanz war verschwunden, stattdessen kamen zwei lange Beine zum Vorschein. Wasser umhüllte die Russalka wie ein glänzender Mantel, als sie ans Ufer kletterte und sich aufrichtete. Johannes blinzelte irritiert, wollte wegschauen, konnte aber den Blick nicht abwenden. Er hatte nackte Frauen gesehen – nicht weit von Moskau entfernt badeten die Leute im Flüsschen Jausa, selbst die russischen Mädchen schämten sich nicht, sich dabei auszuziehen. Aber dieses Mädchen hier war anders. Im Licht der weißen Nacht leuchtete ihr Körper wie poliertes Elfenbein. Sie hatte den Blick eines Raubtiers, das sich mit geschmeidigen Schritten seinem Opfer nähert.

»Bist du verrückt?«, rief er. »Man kann dich sehen!«

Mit einer neckischen Geste strich sie sich das Haar über die Schulter, sodass es ihren Körper verbarg.

»Was wir sehen, bedeutet nichts. Gar nichts! Erinnerst du dich? Du hast eine Tote erwartet und eine Tote gesehen. Für die Arbeiter da drüben bin ich ein Nebelschweif.«

»Die Bauern haben die Russalnaja-Zeremonie abgehalten, um dich in den Fluss zu bannen«, bemerkte er, um die Peinlichkeit der Situation zu überspielen.

Das weiße Mädchen blieb stehen. Der schwarzgrüne Schimmer ihres Haars verlockte ihn, die Hand danach auszustrecken. In diesem Moment überfiel ihn die Sehnsucht, brannte sich in seine Brust wie das Messer eines Wegelagerers. An jedem anderen Tag hätte er gedacht, es sei die Sehnsucht nach Christine, nun aber schämte sich ein Teil von ihm zuzugeben, dass es einfach die Sehnsucht war, diese Frau hier zu umarmen. Nicht Christine, nein, diese Fremde, deren Lächeln wie Honig war. Ein anderer Teil seines Verstands ließ ihn zögern. Erst jetzt bemerkte Johannes, dass kein Tier in der Nähe war.

Nicht einmal ein Blatt raschelte.

»Diese albernen Zeremonien werden uns niemals davon abhalten, dorthin zu gehen, wo wir wollen«, sagte sie.

Sie war so weit herangekommen, dass Johannes den schwachen Tanggeruch ihrer Haare wahrnahm.

Die klare Schönheit ihres Gesichtes hielt ihn gefangen. »Wir dürfen nicht sein«, flüsterte sie. Die Melodie ihrer Stimme war eine schmeichelnde Welle, die seine Bedenken einfach davontrug. Dennoch ließ ein letzter Zweifel ihn zögern. Etwas wie Mordlust irrlichterte in ihren schwarzen Augen. »Sieh sie dir an«, erwiderte das weiße Mädchen und streckte die rechte Schulter nach vorne, auf der sich eine Narbe abzeichnete. »Diese Wunde hat deine Stadt mir geschlagen. Ich wurde nur verwundet, andere werden zerstückelt durch die Spitzen eurer Pfähle oder sterben durch eure Waffen. Der Grund der Newa gleicht einem Schlachtfeld, Eisen tötet uns.«

Ihr böses Lachen rieselte über seine Haut und be-wirkte, dass sich jedes Härchen in seinem Nacken aufstellte. Ihm schien, als würde Ärger ihre Augen noch dunkler färben, mit einem Mal konnte er sich vorstellen, wie der geschwungene Mund, der an den Bogen zweier Schwalbenflügel erinnerte, Fische fing und zerfetzte. Und nicht nur Fische.

Er fühlte sich benommen wie im Fieber, ein Teil seines Verstandes sagte ihm, dass er verloren war, aber zu seiner Überraschung zischte das Mädchen leise und trat einen Schritt zurück. Die Betäubung fiel von ihm ab wie ein zu schwerer Mantel. Er blinzelte. »Weißt du, was Zar Peter mit dir tun wird, wenn er dich findet?«

Schlagartig wurde sie ernst. »Kennst du ihn – den Zaren?«

»Manchmal bin ich ihm begegnet – in Moskau, wenn er in die Vorstadt kam. Und von weitem sehe ich ihn oft, wenn er bei der Werft ist.«

»Wer ist er?«

»Na, der Großherr und Großfürst, Selbstherrscher von Groß-, Weiß– und Kleinrussland!«

»Das meine ich nicht. Ich will wissen, was für ein Mensch er ist.«

Johannes runzelte die Stirn und suchte nach Worten. Noch nie hatte ihn jemand nach einer solchen Einschätzung gefragt.

»Nun«, meinte er schließlich. »Er ist sehr wissbegierig -und er ist nicht nur der Zar, sondern auch Drechsler und Schiffszimmermann, Feuerwerker und Kupferstecher. Sogar Zähne ziehen hat er gelernt.«

Er räusperte sich. »Er ist ein sehr eifriger Zahnarzt, und alle, die in seiner Nähe sind, versuchen es zu verbergen, wenn sie Zahnschmerzen haben, aus Angst, dass er ihnen den Zahn sofort herausbricht.«

»Also ist er nicht sehr rücksichtsvoll.«

»Aufbrausend ist er – so wie viele Herrscher. Vor ihm darf man keine Schwäche zeigen.«

»Was heißt das?«

»Nun, einmal zum Beispiel war der Bojar Golowin bei ihm zu Gast. Er lehnte einen Salat ab, weil er keinen Essig verträgt. Da ließ Zar Peter ihn festhalten und stopfte ihm Essigsalat in die Nase, bis er Nasenbluten bekam. Der Zar ist groß und ungeduldig.

Er ist grausam, aber auch sehr klug.«

»Ist es klug von ihm, diese Stadt zu bauen?«, spottete sie.

»Ihr werdet es nicht verhindern«, antwortete er.

»Wie viele gibt es von euch – fünfzig? Hundert?«

»Ein Schwarm hat keine Zahl«, sagte sie leise.

»Früher waren wir so viele mehr, aber wir sterben.

Eure Gegenwart vergiftet uns. Wenn wir uns in diesem Winter in den Newaschlamm legen, um bis zur Schneeschmelze zu schlafen, werden wir nicht mehr erwachen.«

»Jewgenij sagte mir, ihr könnt das Newadelta nicht verlassen.«

Sie seufzte. »Wie gerne würden wir fliehen. Es wird Zeit, dass wir in die Tiefe zurückkehren. Ins Herz der See zu den anderen. Aber wir sind gebunden durch ein Versprechen, das wir vor langer Zeit gegeben haben. Unsere Leben gegen ein Menschenleben. Ein Leben schulden wir unserem Retter. Solange diese Schuld nicht beglichen ist, müssen wir hier warten.«

»Wem habt ihr das Versprechen gegeben?«

»Es ist so lange her, dass der Name sich in den Wellen verloren hat.«

»Ihr wisst nicht einmal mehr, wem ihr das Versprechen schuldet? Was ist, wenn er längst tot ist?

Wie lange ist es her?«

Unsicherheit huschte über das weiße Gesicht.

»Dreihundert Sommer?«

»Was?« Johannes war entsetzt. »Dann ist er längst tot!«

Die Nixe schüttelte den Kopf. »Ich höre sein Blut rauschen in der Nacht. Immer näher kommt es der Stadt. Der Pakt bindet uns, in die Zeit gewoben ist das Versprechen. Er trägt … das Pfand mit sich. Wir träumen davon.«

»Was ist das für ein Pfand?«

Abwesend glitt ihr Blick über Johannes’ Hände, die von der Arbeit am Holz kräftig und sehnig waren.

»Ein Schatz, den ich nicht benennen darf. Das Wort hütet sich selbst, es ist Teil des Paktes. Es ist ein Schatz, der älter ist als wir. Nur sieben gibt es davon.

Sechs sind zurückgekehrt an den tiefsten Ort im Meer. Nur wir harren hier aus. Ohne den Schatz sind wir Verstoßene. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, verstoßen zu sein?«

Johannes seufzte. Ihm fiel ein, wie flüchtig sein Vater ihn verabschiedete hatte. Hier war er ein Ketzer, in der Deutschen Vorstadt ein nicht standesgemäßer Bewerber um Christine.

»Ich träume von einem Mann, der uns befiehlt«, wisperte die Russalka. Ihr Mund verzog sich vor Verachtung. »Wir müssen ihm gehorchen, um das Unterpfand zu bekommen. Früher, als unser Volk noch stark war, da formten wir das Wasser zu Bergen und stürzten ganze Länder in den Schlund des Meeres. Heute sind wir schwach, ein sterbendes Volk, das nur noch den Wunsch hat, sich zurückzuziehen.«