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Jewgenij fühlte sich sichtlich unwohl in der Kammer.
Auf dem Tisch lag ein unglaublich großer Haufen von neuen, noch glänzenden Kopeken. Sie waren nicht rund, sondern oval, die eine Seite zeigte den heiligen Georg mit der Lanze, auf der anderen waren Zar Peters Name und das Jahr der Prägung verzeichnet. 1705, las Johannes auf einer Münze. Zehn davon ergaben eine Griffne, fünfzig ein Poltin und hundert einen Rubel.
Und hier auf dem Tisch lagen einige Rubel. Johannes musste sich noch daran gewöhnen, dass dieses Geld ihm gehörte – die Bezahlung, die er von Carsten Sund für das Modell der Sankt Paul bekommen hatte. Obwohl er das Schiffsmodell für die Russalka verkauft hatte, war es Johannes so schwer gefallen, dass er das viele Geld nur mit Unbehagen betrachten konnte. Marfa hatte tiefe Schatten unter den Augen. Es war schwierig gewesen, Michael unter einem Vorwand aus dem Haus zu schicken. Insgeheim war Johannes erleichtert, dass Iwan Michael begleitete. Immer noch traute er dem alten Leibeigenen nicht über den Weg.
Die Begrüßung von Jewgenij war nicht gerade herzlich ausgefallen. Marfa hatte den Jungen kühl gemustert und ihm dann höflich die Hand gereicht.
Wie jedem Gast hatte sie ihm Kwass, Brot und Fleisch hingestellt, aber Johannes hatte das Gefühl, dass Marfa eine Katze war und Jewgenij ein Hund.
Sie würden keine Freunde sein.
Unter dem strengen Blick von Marfa wusste Jewgenij offensichtlich auch jetzt nicht, wie er sich benehmen sollte. Zusammengesunken saß er auf dem Stuhl und spielte nervös mit einem Zipfel seines lumpigen Hemds.
»So kannst du nicht reisen«, sagte Marfa. »Jeder wird denken, du bist ein Läufling.« Ohne ein Widerwort zu dulden stand sie auf und holte aus einer Truhe Johannes’ altes Hemd hervor – dasselbe Hemd, das er während der Prügelei mit Jewgenij zerrissen hatte. Marfa hatte es ausgebessert. Nun setzte sie sich hin, zückte ihre Nadel und begann die Ärmel umzuschlagen. »Johannes, geh in unsere Kammer und hol deinem Freund den grünen Reiserock, der dir nicht mehr passt«, befahl sie. Jewgenij wurde knallrot im Gesicht, aber er widersprach nicht. Auf eine faszinierende Weise übte Marfa eine Autorität auf den Jungen aus, die Johannes nicht nachvollziehen konnte. So gefügig und höflich hatte er seinen ruppigen Freund noch nie erlebt. »Und – rechts neben dem Bett in der Truhe liegt noch etwas, das ihr mitnehmen müsst.«
Johannes stand auf und schob den Wollvorhang beiseite. Es kam ihm seltsam vor, die Kammer von Onkel Michael und Marfa zu betreten. Sie war erstaunlich heimelig. Auf dem Bett, das Onkel Michael mit großer Sorgfalt gezimmert hatte, lag eine bestickte Decke. Goldfäden glitzerten im Mittagslicht, das durch das halb offene Fenster fiel. Ein Zeichen alter, verblasster Pracht aus einer anderen Zeit, als Marfas Familie noch wohlhabend gewesen war. Der runde Spiegel, der ansonsten bei der Tür hing, lag auf dem Bett. In der Truhe fand Johannes einen Brief. Ein Apothekersiegel knisterte unter Johannes’ Fingern.
Er verließ die Kammer rasch wieder und setzte sich zu Marfa an den Tisch.
»Mach den Brief auf«, befahl sie.
Johannes gehorchte und erkannte die Schrift von Thomas Rosentrost. »Ein Sendschreiben? Von Rosentrost?«, sagte er verblüfft. »Warum?«
Marfa lächelte. »Weil ich ihn darum gebeten habe.
Wenn jemand fragt, warum du nicht in der Werkstatt bist, ist Thomas Rosentrosts Auftrag der glaubwürdigste Grund.
Thomas wird bestätigen, dass er eine Fuhre ätherischer Öle aus den Moskauer Apothekergärten erwartet und einen Boten schicken wollte, der sie in Jesengorod persönlich abholen soll. Da sein Bote krank geworden ist, hat er dich gebeten einzuspringen. Und einen Apothekergesellen, den Alchimisten da …« –
sie deutete mit einem Wink auf Jewgenij – »…
nimmst du mit.« Jewgenij sah verunsichert auf das Schriftstück.
»Danke, Marfa!«, sagte Johannes.
»Hier«, wandte Marfa sich an Jewgenij und biss den Faden ab. »Zieh das Hemd an. Geh in die Kammer und bringe dein Haar in Ordnung. Ich habe den Spiegel auf das Bett gelegt. Versuche auszusehen wie jemand, der sich nicht verstecken muss.«
Jewgenij schnappte sich das Hemd und den Reiserock und verschwand gehorsam in der Kammer. Johannes beugte sich noch einmal über das Sendschreiben und studierte es eingehend. Sein Name war genannt, aber anstelle von Jewgenijs Namen stand dort Alexej Sergejewitsch Palot. »Was ist das für ein Name?«, fragte er.
»Das ist der neue Apothekengehilfe, der erst demnächst aus Moskau eintreffen wird. Für die nächsten Tage wird Jewgenij sich seinen Namen leihen.«
»Was werde ich mir leihen?«, fragte Jewgenij. Er stand wieder im Raum, sein Haar hatte er glatt gestrichen, das saubere Hemd und der Rock ließen ihn wie einen anständigen Reisenden aussehen. In einem anderen Gewand, so erkannte Johannes verblüfft, hätte sein Freund ohne Mühe als Bürger oder sogar Adliger gelten können. Dass er so ernst war, ließ sein Gesicht nur noch ebenmäßiger aussehen. Er war wirklich ein gut aussehender Junge. Johannes starrte ihn an, bis Jewgenij grinsen musste.
»Du wirst Alexej Sergejewitsch Palot heißen«, erklärte Marfa. »Merk dir den Namen gut.«
Jewgenijs Grinsen verschwand. »Ich habe einen Namen«, sagte er trotzig. »Er lautet Jewgenij.«
Marfa zog ironisch einen Mundwinkel hoch.
»Manchmal muss man lügen«, erwiderte sie und warf Jewgenij einen scharfen Blick zu. Zu Johannes’ Überraschung machte Jewgenij den Mund wieder zu und gab Marfa keine Antwort.
Als Erster brach Johannes auf. Marfa verabschiedete sich schnell von ihm. »Fünf Tage«, sagte sie, als sie ihn kurz umarmte. »Fünf Tage, ich warte!«
Stumpfe Gesichter trieben an ihm vorbei, als er sich ohne Jewgenij auf den Weg über das sumpfige Gelände machte. Er schlitterte über glitschige Bretter, die einen Weg ersetzten. Verstohlen hielt er dabei Ausschau nach Derejew oder seinen Verbündeten, aber heute schien ihm niemand zu folgen. Kurz glaubte er Mitja zu entdecken, aber so schnell, wie er aufgetaucht war, verschwand der Gottesnarr wieder.
Im Stillen schickte Johannes ein Stoßgebet zum Himmel, dass keiner von Zar Peters Leuten die Russalka fand, während sie blind für alle Gefahren mit dem Gottesnarren ihre seltsamen Gespräche führte.
Fast hatte Johannes schon den Rand des Lagers erreicht, da hörte er plötzlich Schritte hinter sich. Ohne nachzudenken schob er die Hand unter sein Hemd und zog das Sendschreiben hervor. Sein Atem wurde schnell, während er sich zwang sich nicht ertappt zu fühlen. Er hatte schließlich einen Auftrag von Thomas Rosentrost. Als hätte er jetzt erst den Schritt bemerkt, blieb er stehen und wandte sich um. Seine Knie wurden weich. Beinahe hätte er laut geflucht.
Iwan keuchte vom schnellen Lauf. Sein Bart war zerzaust und seine Lunge rasselte bei jedem Atemzug wie ein Sack voll Ketten. Johannes presste die Lippen zusammen und sah sich unruhig um. Gleich würden die Verschwörer hinter den Birken hervorkommen und ihn umzingeln. Ohne ein Wort zu sagen stürzte Iwan die letzten paar Schritte zu ihm und blieb stehen. Hastig nahm er Johannes’ Hand und drückte einen harten Gegenstand hinein. Wässrig blaue Augen blickten Johannes vorwurfsvoll an, dann trat der alte Mann den Rückweg an, ohne sich noch einmal umzusehen. Verblüfft hielt Johannes den kleinen Gegenstand fest. Erst nach einer Weile öffnete er die Hand und betrachtete Iwans Geschenk.
Es war eine winzige geschnitzte Madonna.
* * *
Zu seinem Erstaunen war Jewgenij bereits beim verabredeten Ort hinter den Birken. Allerdings konnte er schlecht verbergen, dass er außer Atem war. Trotzdem – er musste eine Abkürzung kennen und wie der Teufel gelaufen sein. Selbstbewusst und mit einem breiten Grinsen lehnte er an einem Baumstamm. »Na endlich, Brehmow! Wollte die Russalka noch einen Abschiedskuss?«
»Red nicht, Russe«, gab Johannes zurück. »Wo geht es lang?«
Jewgenij deutete nach Süden und sie machten sich auf den Weg. Zügig liefen sie durch den allmählich dichter werdenden Wald, keine Diebe und Geheimniskrämer mehr, sondern zwei junge Männer mit dem Auftrag eines Arztes, mit Brief und Siegel, unterwegs nach Jesengorod. Je weiter sie sich von dem sumpfigen Flussgebiet entfernten, umso grüner wurde der Wald. Laubbäume spannten ihr Dach über ihren Köpfen auf, Farne und Beerensträucher wuchsen auf dem Weg. Obwohl sie ihre Schuhe damit nicht schonten, gingen Johannes und Jewgenij ein gutes Stück neben dem ohnehin nur schlecht gerichteten Weg. Weit genug um sich im Wald zu verbergen – nah genug um keinen Reisenden, der ihnen auf dem Weg entgegenkam, zu verpassen. Der alte Kompass, den Johannes noch in Moskau gegen eine Zimmermannsarbeit eingetauscht hatte, leistete ihnen gute Dienste, denn ab und zu waren sie nicht mehr sicher, wo sich der Weg befand. Bald wurde der Marsch anstrengend, das Hochgefühl verflog. Schweigend liefen sie nebeneinanderher und rasteten nur kurz um etwas zu essen. Lange würden die Vorräte nicht reichen, aber Jewgenij musterte schon seit geraumer Zeit das Buschwerk und hielt nach Rebhühnern Ausschau. Am Spätnachmittag verschwand die diesige Sonne ganz hinter Wolken und sie mussten sich unter einen Baum mit tief hängenden Ästen zurückziehen um zu vermeiden, dass alle Vorräte im Regen nass wurden. Im Zwielicht des Gewitters, das über ihnen niederging, funkelte der Wald wie eine Schatztruhe, gefüllt mit Kristalltropfen und grünen Juwelen. Wie sehr hatte Johannes der frische Duft von Moos und lebendem Holz gefehlt! Schulter an Schulter warteten Jewgenij und er, bis das Gewitter vorbei war.
In der Dämmerung begannen sich die Geräusche zu verändern, das Knacken im Geäst bekam einen Hall. Weit entfernt im Unterholz erblickte Johannes einen gewaltigen Schatten. Wie mächtige Schiffe trieben Geweihschaufeln eines Elchs zwischen Laub und Ästen. Beinahe ohne zu atmen beobachteten Johannes und Jewgenij, wie das riesige Tier gemächlich an ihnen vorüberzog.
Der Abend legte seinen dunklen Mantel über die Bäume, Augen begannen zu leuchten. Die Augustnacht trug nur noch eine leise Erinnerung an die weißen Nächte mit sich. Für das Nachtlager rollte Johannes die Wolldecke aus, die Marfa ihm mitgegeben hatte. Die Reiseröcke hängten sie an die Zweige eines Baumes, damit sie nicht zerknitterten, und rückten eng zusammen. Es war angenehm, Jewgenijs Wärme zu spüren, und Johannes war wieder einmal irritiert, wie nahe er sich seinem Freund fühlte.
»Siehst du das?«, flüsterte Jewgenij und deutete auf einen Schatten. »Ist das ein Bär?«
Johannes schauderte und rückte unwillkürlich noch näher an seinen Freund heran. »Es gibt hier doch keine Bären, oder?«
»Was fragst du mich?«, gab Jewgenij mit leiser Stimme zurück. »Wenn du wissen willst, ob das ein Gurkenfisch ist, dann kann ich es dir sagen, aber für Tiere, die zwischen Bäumen leben, bist du zuständig.«
»Hier gibt es keine Bären«, log Johannes. Lange lauschten sie in die Nacht, bis schließlich doch die Müdigkeit siegte. Am Morgen waren sie zerschlagen und machten sich mit schmerzenden Beinen auf den Weg.
Eine Weile wanderten sie an einem Weg entlang, in den sich tiefe Räderspuren eingegraben hatten. Sie liefen über Wiesen und legten, so schätzte Johannes, etwa zwölf Meilen zurück. Von weitem sahen sie berittene Soldaten und einen Transport, der auf schweren Rädern in Richtung Sankt Petersburg rollte. Es mochte eine neue Ladung von Nahrungsmitteln und Werkzeug sein. Beunruhigt beobachteten sie die Menschen, aber Derejews Leute waren nicht dabei und auch kein Bojar in langen Gewändern. Hin und wieder sahen sie weitere Transportgruppen, die sich ebenfalls in Richtung des Newadeltas bewegten, Pferdegespanne und Fußkolonnen mit neuen Arbeitern.
Tannenduft umwehte sie und ließ sie in dieser Nacht von Holzfeuern und Wintern träumen. Einmal weckte Jewgenij Johannes und deutete auf eine nebelweiße vierbeinige Gestalt mit leuchtenden Augen.
»Ein Wolf«, flüsterte er. »Ein weißer Wolf – siehst du ihn?«
Die Gestalt verschwand, bis Johannes erwacht war, und er fragte sich noch lange, ob er das Tier nur gemeinsam mit Jewgenij geträumt oder es wirklich gesehen hatte. Am zweiten Tag ihrer Wanderung kam eine Ansammlung von Hütten in Sicht. Weit verstreut lagen sie in der Ebene, kleinere Gehöfte, geschützt durch hohe Holzzäune. Johannes rechnete nach und kam zu dem Ergebnis, dass die Stadt nur noch etwa zehn Meilen entfernt sein musste. Die Nacht dämmerte heran. Für Johannes war die Aussicht, zumindest wieder unter einem Dach zu schlafen, mehr als verlockend. »Ich werde bei einem der Bauern nachfragen, ob wir übernachten können. Für ein paar Kopeken werden sie uns eine Unterkunft geben.«
»Bist du verrückt?«, fragte Jewgenij. »Willst du, dass man uns beraubt?«
»Als wir aus Moskau an die Newa gereist sind, haben wir oft in Gutshöfen übernachtet.«
»Da hattet ihr mehrere Gehilfen dabei«, gab Jewgenij zurück. »Wir finden einen anderen Platz, Brehmow.«
Johannes sah seinen Freund von der Seite an. »Du traust den Menschen wirklich nicht«, stellte er fest.
»Wir können uns kein Vertrauen leisten«, erwiderte Jewgenij ungerührt. »Stell dir vor, wir werden aufgehalten und finden Karpakow nicht. Dann ist die Stadt verloren. Hast du Werkzeug dabei?«
»Was?«
»Na, einen Hammer oder eine Zange – irgendetwas, womit man ein Brett lockern oder einen Riegel aufbrechen kann.«
»Ja«, sagte Johannes. »Aber wir werden noch viel mehr Zeit verlieren, wenn man uns dabei fasst, wie wir in ein Haus einbrechen.«
»Niemand wird uns erwischen. Siehst du die Scheune da hinten?«
Johannes spähte an den Rand der Siedlung und entdeckte ein stabiles Gebäude, das eingezäunt war.
Vielleicht standen die Pferde am Tage auf der Weide.
»Ein Pferdestall ist gut bewacht«, gab er zu bedenken. »Für gewöhnlich sind Hunde in der Nähe.« Er fragte sich, wieso er sich in Jewgenijs Gegenwart immer ein wenig wie ein ängstlicher alter Mann fühlte.
Jewgenij lächelte. »Ich habe keinen Hund gesehen.
Gib mir dein Werkzeug.«
Zögernd holte Johannes einen kleinen Spitzhammer mit einem gespaltenen Eisenkopf hervor. Noch nie in seinem Leben hatte er einen Menschen gekannt, dem er sein Zimmermannswerkzeug anvertraut hätte. Aber das hier war Jewgenij.
Wenig später umrundeten sie das Dorf am Waldrand und schlichen im Baumschatten an die Rückseite der Scheune heran. Tatsächlich war kein Wachhund zu sehen, und als Johannes die Häuser genauer betrachtete, konnte er sich vorstellen warum. Nur wenige sahen so aus, als würde jemand darin wohnen, einige zeigten schon die ersten Anzeichen des Zerfalls. Lediglich zwei Häuser waren so gut verschlossen, dass ein Eindringling alle Mühe gehabt hätte, in das Innere zu gelangen. Wie viele Menschen mochten darin hausen? Zehn? Zwölf? Vielleicht taten die Bauern längst Dienst in Sankt Petersburg und nur die Alten und die Kinder waren noch hier.
Jewgenij reichte Johannes sein Gepäck und lief flink wie ein Fuchs über die Wiese. An der Rückwand der Scheune angekommen kletterte er an der Wand hinauf. Johannes hielt die Luft an, als er seinen Freund bei dieser halsbrecherischen Kletterpartie beobachtete. Er konnte nicht anders als Jewgenij zu bewundern. Mit offenem Mund beobachtete er, wie der Fischerjunge am Giebel ankam, den Hammer zückte und etwas hochhebelte. Einen Augenblick später war er verschwunden. Besorgt blickte Johannes sich um. Nach einer Ewigkeit tauchte Jewgenijs Gestalt neben der Scheune auf und winkte. Johannes nahm seinen Mut zusammen und lief los. Beim Eingang zur Scheune erkannte er, dass Jewgenijs gefährliches Kunststück nicht nötig gewesen wäre. Das Tor war nur notdürftig verschlossen, mit etwas Mühe hätte es sich auch von außen öffnen lassen. Jewgenij strahlte und winkte ihn hinein. Es waren keine Pferde im Stall, so viel sah er auch im Dunkeln; in dem Raum befanden sich nur ein paar alte Leitern und der Geruch nach schimmligem Stroh. Die Bewohner hatten alles, was gestohlen werden konnte, in ihre Häuser gebracht.
»Da ist ein bisschen Heu«, erklärte Jewgenij und deutete auf den Boden. Erleichtert ließen sie sich wenig später nebeneinander nieder. Es tat gut, die schmerzenden Beine auszustrecken.
»Morgen sind wir in der Stadt«, sagte Johannes leise.
»Zehn Meilen zu Karpakow«, murmelte Jewgenij.
»Ob wir ihn finden?« Die Furcht in seiner Stimme berührte Johannes.
»Wir müssen.« Während er diese Worte sagte, ertappte er sich dabei, nach Jewgenijs Hand greifen zu wollen, und hielt erschrocken in der Bewegung inne.
Hastig zog er die Hand zurück und war froh um die Dunkelheit, die seine brennenden Wangen verbarg.
Sankt Petersburg macht mich verrückt, sagte er sich.
Ich weiß nicht mehr, wer ich bin und was ich will. Er bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. »Hast du die Perle noch?«
Ein Scharren zeigte ihm, dass Jewgenij nach dem kleinen Lederbeutel suchte. Kalte Finger streiften über seinen Unterarm.
»Hier«, sagte Jewgenij, und Johannes griff nach dem Beutel und war beruhigt die Perle durch das Leder hindurch zu fühlen. »Womit hast du sie gefärbt?«
»Das willst du nicht wissen, glaube mir. Aber sie ist so rot, dass ein Blutstropfen dagegen aussieht wie Spucke.«
Johannes lachte auf, bis abrupt eine neue Sorge wie eine mahnende Hand an seinen Hinterkopf pochte. Er musste sich räuspern, um die Frage so beiläufig wie möglich herauszubringen. »Was wirst du tun, wenn die Russalkas ins Meer zurückkehren? Bleibst du in Sankt Petersburg?«
Jewgenij zog scharf die Luft ein. Eine Pause entstand, in der Johannes plötzlich elend zumute war.
»Ich weiß es nicht«, sagte Jewgenij zögernd.
»Darüber werde ich nachdenken, wenn es so weit ist.
Lass uns schlafen, Brehmow. Wir haben morgen ganz andere Probleme zu lösen.«
Er rückte näher an Johannes heran und zog einen Zipfel von Marfas Decke über seine Schultern. Lange lagen sie schweigend nebeneinander. Johannes lauschte auf die Atemzüge seines Freundes, verfolgte, wie sie immer tiefer wurden, bis er endlich ebenfalls einschlief. Im Traum küsste ihn die Russalka.
Es war ein warmer, schuppiger Kuss, der Johannes das Gefühl gab, von einem Fluss aus Wärme davongetragen zu werden. Zar Peter zertrümmerte die Perle mit einem Hammer. Ein magerer weißer Wolf erschien – er hatte Jewgenijs Lächeln.