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Etwas kitzelte an seiner Nase und er hob schlaftrunken die Hand, um das Insekt zu vertreiben. Seine Finger griffen in fremdes Haar. Johannes riss die Augen auf und erstarrte. Frühlicht fiel durch das löchrige Dach und legte ein feines Netz aus Lichtfäden auf das staubige Holz. Immer noch kitzelte Jewgenijs Haar seine Wange. Einen verwirrenden Augenblick lang ließ Johannes diese ungewohnte Nähe zu, dann rückte er behutsam von seinem Freund ab.
Jewgenij schlief noch tief, mit einem besorgten, angespannten Gesichtsausdruck, der seltsam liebenswert wirkte. Johannes schluckte und betrachtete seinen Freund. Selbst im Schlaf waren die Hände zu Fäusten geballt. Sein Hemd war hochgerutscht und Johannes sah den knochigen Bogen einer Rippe, die sich mit jedem Atemzug hob und senkte. Aus einer nicht nachvollziehbaren Scham griff Johannes behutsam zur Decke und wollte sie wieder über Jewgenij breiten. Er stutzte. Unter dem Hemd lugten straff um den Körper geschnürte Stoffstreifen hervor. Einen solchen Verband hatte Jewgenij getragen, als er sich die Rippe gebrochen hatte, vor – wie langer Zeit?
Johannes’ Kopf fühlte sich plötzlich an, als würde ein Räderwerk darin mühsam in Gang kommen.
„Wie lange brauchte eine Rippe um zu heilen? Seltsamerweise fiel ihm die Russalka ein. Die fächelnde Bewegung, mit der sie ihr Haar im Wasser bewegte.
Schwarzes Haar, das sich wie ein enges Kleid an ihren Körper legte und ihre Brüste verbarg. »Was wir sehen, bedeutet nichts«, hallte ihre Stimme in seinem Kopf wider. Zögernd sah er Jewgenij an. Er betrachtete ihn sehr genau – die von der Arbeit knochigen und doch schmalen Hände, die feinen Züge, das im Schlaf so weiche Gesicht und die Wimpern, die noch im letzten Traum bebten.
Endlich traf ihn die Erkenntnis wie ein ganzer Eimer voll eiskalten Waschwassers und ließ ihn dumm, frierend und von oben bis unten begossen zurück. Er ballte die Hände zu Fäusten. Verdammt, was für ein Idiot war er gewesen? Blind? Taub? Tausend Augenblicke fielen ihm ein, in denen er es gesehen hatte, gewusst hatte, nur seine eigene Verbohrtheit hatte ihm ein massives Brett vor den Kopf genagelt. Und die Russalka hatte es ihm gesagt, auf ihre Weise zwar, aber deutlich genug. Sein Kopf brannte vor Scham, als ihm einfiel, was er am Newaufer über Christine erzählt hatte. Hatte er sich tatsächlich damit gebrüstet, sie geküsst zu haben? Christine, an die er längst nicht mehr dachte, seit … ja, seit er Jewgenij kennen gelernt hatte. Jewgenij. Die neue Erkenntnis traf ihn nicht mehr ganz so unvorbereitet, eher wie ein sachlicher Schlag mit dem Prügelstock, den man als Verurteilter eben erwartete. Wie mochte der richtige Name lauten?
Johannes hob den Kopf und sah sich das schlafende Gesicht noch einmal genau an, ohne Schreck nun, sehr aufmerksam, und er dachte so lange nach, bis seine Gedanken sich im Kreis drehten. Das Märchen von der schönen Königstochter fiel ihm ein, die bei der Hexe Baba Jaga Knochenbein gefangen war.
Plötzlich musste Johannes lächeln. Katka gab eine gute Hexe ab. Wieder kam er sich vor wie ein Idiot – und war trotzdem unendlich erleichtert. Mit einem Mal war das irritierende Gefühl, das ihn die letzten Tage beunruhigt hatte, verschwunden. Seine Gefühle hatten ihm keinen Streich gespielt. Nun bekam alles einen Sinn. Er beugte sich leise hinunter und stahl seinen Kuss. Es war anders als bei Christina. Um so viel anders, dass das Bild der Kaufmannstochter einfach zu Asche zerfiel und verwehte. Das fremde Mädchen regte sich, blinzelte. Im nächsten Moment zuckte es zurück, als hätte es sich an Johannes verbrannt. Johannes machte sich bereit eine Ohrfeige oder – viel wahrscheinlicher – einen Fausthieb in Empfang zu nehmen, doch das Mädchen, das seinem besten Freund Jewgenij so ähnlich sah, starrte ihn nur an. In Johannes’ Magen sprang etwas hin und her und flatterte bis in seine Kehle hoch. Er war diebisch glücklich. Und wenn sie ihm die Nase dafür brechen sollte, er würde sein ganzes Leben nicht bereuen sie geküsst zu haben.
»Jelena«, sagte er. »So heißt du in Wirklichkeit.«
Sie griff an ihr Hemd, zog es um ihren Körper, als könnte sie jetzt noch etwas verbergen. Diese Geste kannte Johannes an ihr nicht und er betrachtete sie staunend, ein irritierendes Doppelbild seines besten Freundes und eines Mädchens mit langen Wimpern.
»Ich …«, brachte sie hervor, dann brach sie ab und presste die Lippen aufeinander, ganz und gar Enttäuschung. Auf der Stelle tat es Johannes Leid, sie in diese Situation gebracht zu haben. Er hatte erwartet Jewgenij vor sich zu haben – den Jungen mit der scharfen Zunge, aber ohne die Maske des ruppigen Fischers wirkte der Mensch hier in die Enge getrieben wie ein gefangenes Tier. Langsam legte sich die Euphorie und Ernüchterung umspülte ihn. Ihm dämmerte, wie viel sich verändert hatte – in diesem flüchtigen Augenblick. Zum ersten Mal erlebte Johannes seinen Freund sprachlos.
»Der … Verband«, sagte er entschuldigend. »Ich sah ihn und dachte …« Die Stille bekam das Gewicht eines Bleiklotzes, bis Johannes sich räusperte und wieder zu sprechen begann. »Jewgenij …«
»So hieß mein Bruder«, antwortete sie barsch. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn am liebsten geohrfeigt hätte. »Soldaten haben ihn getötet. Wie meine Mutter und meine Schwestern … ich bin er, verstehst du?«
Johannes biss sich auf die Unterlippe. Der Schmerz in ihrer Stimme schnürte ihm die Kehle zu.
Gerne hätte er sie in den Arm genommen, sie beschützt vor ihren Erinnerungen, aber er wagte nicht sich zu rühren. »Wie bist du entkommen?«, fragte er nach einer Weile.
Jelena lachte, aber jetzt klang es nicht so rau und kehlig wie sonst. »Du lernst schnell, auf jeden Baum zu klettern, wenn dich die Soldaten suchen.«
»Zar Peters Soldaten?«
»Russen oder Schweden – was macht es für einen Unterschied? Wenn sie trunken von Blut und Schnaps sind, gleichen sie sich wie ein Ei dem anderen. Als Jewgenij war es einfacher … zu überleben.«
»Warum hast du es mir nicht gesagt? Vertraust du mir nicht?«
»Vertrauen?«, stieß Jelena hervor. Endlich blitzte Jewgenij wieder hervor – Wut funkelte in den braunen Augen. »Brehmow, besteht dein Kopf aus Holz?
Wenn ich jemandem vertraue, dann dir! Aber du siehst doch, es verändert alles.«
»Was verändert es?«, gab Johannes hitzig zurück.
»Du bist derselbe …«
Er stockte und Jelena konnte sich ein spöttisches Lachen nicht verbeißen. »Derselbe. Du hast es genau getroffen.« Sie stand auf und begann damit, sich die Heuhalme vom Hemd zu klopfen. »Für dich bin ich Jewgenij, hörst du? Und im Moment heiße ich ohnehin Alexej Sergejewitsch Palot.« Sie lächelte bitter.
»Unser Weg ist vorgezeichnet. Wenn es uns gelingt, die Stadt zu retten, dann werde ich Fische fangen – an der Newa oder anderswo. Du wirst deine Christinka aus Moskau holen und sie heiraten. Du wirst Zar Peters Schiffe bauen und …«
»Nein«, schrie Johannes. Überrascht hielt Jelena inne. Beide lauschten sie, ob sich Schritte der Hütte näherten, ob ein Hund bellte, aber nichts rührte sich.
Johannes zitterte, doch nicht aus Angst davor, entdeckt zu werden. »Vielleicht hast du Recht«, sagte er verzweifelt. »Es hat sich alles verändert. Ich kann dich Jewgenij nennen, trotzdem bist du Jelena. Ja, ich habe von Christine gesprochen, aber es hat mich verwirrt, dass du mir viel wichtiger warst als sie.«
Hastig suchte er nach den richtigen Worten, doch sie schienen vor ihm zu fliehen wie ein aufgeschreckter Vogelschwarm. »Ich weiß, was ich gesagt habe, aber … ich habe mich immer gefragt, warum ich bei dir … Christine ist verblasst wie ein Traum.«
Jelena zog eine Braue hoch. »So schnell verblasst die Liebe.«
»Es war keine Liebe«, fuhr er sie an. Am liebsten hätte er ihr einen Stoß versetzt wie damals, als sie noch Jewgenij war, aber nun wagte er nicht einmal einen Schritt auf sie zuzugehen.
Sie betrachtete ihn zweifelnd. »Wie du meinst«, erwiderte sie. »Mich geht es nichts an.«
»Wenn es jemanden angeht, dann dich!«, rief er.
Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und trat näher. Um ihm ins Gesicht sehen zu können, musste sie den Kopf heben. Noch nie hatte er sich so bloß und verwundbar gefühlt. Sie konnte ihm das Herz aus der Brust reißen und auf den Boden werfen, begriff er.
Einen Moment standen sie befangen da, dann trat Jelena einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf.
»Nein, Johannes«, sagte sie leise und so nachsichtig, wie die Russalka Mitja den Weg in die Newa verweigerte. Hastig rollte sie die Decke zusammen und wandte sich von Johannes ab, der hilflos dastand, zurückgestoßen, in den Staub getreten und allein.
Die letzten Meilen nach Jesengorod kam sich Johannes so vor, als müsste er auf einem Teppich aus den Scherben ihrer Freundschaft laufen. Dieser eine Moment, der Blick auf ein verborgenes Leinenband, hatte genügt, um die Wirklichkeit vollständig zu verdrehen. Während sie nebeneinanderher gingen und es vermieden, sich anzusehen, rief sich Johannes jeden Augenblick, der ihn mit Jewgenij verband, noch einmal ins Gedächtnis – von der Prügelei über die Begegnung mit der Russalka bis hin zu Jewgenijs Besuch bei Marfa. Grimmig lächelte er. Natürlich hatte auch Marfa es gewusst, warum sonst hätte sie Jelena zum Umkleiden in die andere Kammer geschickt. Die Tatsache, dass er im Nachhinein immer mehr Hinweise fand, ärgerte ihn maßlos. Inzwischen wuchs die unangenehm dichte Stille zwischen ihnen zur Mauer. Etwa alle hundert Schritte fragte er sich, ob es besser gewesen wäre, er hätte Jelenas Geheimnis nie entdeckt.
Die Stadt, die sie nach strenger Prüfung des Sendschreibens betraten, war eine sehr alte Siedlung.
Umgeben war Jesengorod von einer hohen Kremlmauer, die einige Jahrhunderte alt sein mochte. Mitten auf dem größten Platz stand eine prächtige Holzkirche mit drei goldenen Kuppeln. Jede Kuppel trug ein Kreuz. Das Gold glänzte in der Nachmittagssonne. Seltsamerweise fühlte Johannes sich mit jedem Schritt mehr an Moskau erinnert. Er brauchte einige Zeit, bis er darauf kam, woran das lag: Auch viele Moskauer Straßen waren aus Eichenbrettern gefertigt und ruhten auf erhöhten Holzfundamenten. Johannes sah es nicht, aber er wusste, dass unter den Eichenbrettern, über die sie nun schritten, mit Birkenrinde verbundene Holzrohre lagen, die das Tauwasser oder den Regen ableiteten.
Auch die meisten Häuser waren aus Holz, es gab nur wenige Gebäude, die zwei Stockwerke hatten. In der Mitte der Stadt sowie nord– und südwärts ragten hohe Wachtürme auf. Wächter standen darauf, deren Aufgabe es war, Brände zu melden. Johannes kniff die Augen zusammen und erkannte die Flaggen aus schwarzem Leder, die die Feuerwächter schwenken würden, sobald sie einen Brand erspähten. In der Nacht warnten sie dagegen mit Fackeln.
Johannes zuckte zusammen, als Jelena sich an ihn herandrängte. Doch die Hoffnung, es könnte sich um eine Geste der Zuneigung handeln, zerstob, als er sah, wie sie die Gebäude und Straßen musterte. Obwohl sie versuchte ein gleichgültiges Gesicht zu machen, konnte sie nicht verbergen, wie beeindruckt und eingeschüchtert sie war. Im Gegensatz zu ihm war sie noch nie in einer Stadt gewesen – alles, was sie kannte, waren die Sümpfe. Trotzdem genoss er diesen unverhofften Augenblick der Nähe und wich ihr nicht aus. Im Geschäftsviertel saßen Gefangene neben der Straße, die Beine in Schraubstöcke gezwängt, bettelten um Nahrung und erwarteten ihr weiteres Schicksal. Vermutlich würde es sie mit der nächsten Fuhre direkt nach Sankt Petersburg führen, wo sie ihre Strafe abarbeiten mussten.
Johannes entdeckte einen Popen mit langem Bart und einem Kreuz, das er an einer Kette vor der Brust trug. Auf dem Marktplatz wurden Fuhrwerke mit Getreidesäcken beladen und ein Soldat kontrollierte die Fuhre mit Argusaugen. Wahrscheinlich ein neuer Transport nach Sankt Petersburg. Mit Unbehagen bemerkte Johannes auch finstere Blicke, die die beiden Reisenden nach lohnenden Gegenständen absuchten.
»Jetzt müssen wir nur noch ungefähr tausend Leute nach Karpakow fragen«, sagte Jelena mutlos.
Es waren die ersten Worte, die sie seit dem Morgen in der Scheune gesprochen hatten. Johannes räusperte sich.
»Wir sollten in der Amtsstube nachfragen. Neuankömmlinge, die auf dem Weg nach Sankt Petersburg sind, werden dort registriert und können Nachrichten hinterlassen.«
»Und wenn der Beamte mit Derejew gemeinsame Sache macht? Ich wette, die ganze Stadt ist voll von Verschwörern.«
Da musste Johannes ihr Recht geben. Unauffällig zogen sie sich in den Schatten eines Daches zurück.
»Wir müssen unsichtbar werden«, sagte Jelena.
»Vielleicht sollten wir uns trennen und auf die Suche gehen. Ich könnte mich bei der Kirche umsehen.«
»Die Kirche!«, rief Johannes. »Natürlich! Er ist ein Altgläubiger. Er wird den Gottesdienst besuchen.«
Zweifelnd sah Jelena ihn an. »Dich werden sie kaum in die Kirche einlassen, du fällst auf wie ein grünes Schaf. Und ich …« Nachdenklich betrachtete sie ihren Reiserock und schüttelte den Kopf. »Ich brauche andere Kleidung. Komm!«
Schon hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und strebte einer halb versteckten Gasse zu. Als Johannes um die Ecke bog, drückte sie ihm ihren Rock in die Hand. »Warte im Schatten«, flüsterte sie ihm zu.
Dann huschte sie an der Hauswand entlang. Ehe er sichs versah, sprang sie an der Holzwand hoch. Der Atem stockte ihm, als sie sich zum Fenster hochzog und weiter zum nächsten Stock kletterte, immer in Gefahr, einen falschen Griff zu tun und abzustürzen.
Das obere Fenster war geöffnet, ein grobes graues Hemd hing zum Lüften heraus. Johannes drückte sich noch tiefer in den Schatten und blickte sich besorgt um. Noch war niemand im Hinterhof, aber er hörte das Klappern von Schüsseln und eine keifende Stimme, die ein heulendes Kind zurechtwies. Jeden Augenblick konnte jemand auftauchen und Jelena entdecken. Flink erklomm sie gerade den Fenstervorsprung und zog behutsam das Hemd zu sich heran. In einer Sekunde hatte sie es sich über die Schulter geworfen, pendelte sofort wieder ihr Gleichgewicht aus und kletterte hinunter. Kurz über dem ersten Fenster sprang sie und landete mit einem trockenen Schlag auf dem Boden.
»Weg!«, formten ihre Lippen und im nächsten Moment flohen sie aus dem Hinterhof. Kaum hatten sie die Hauptstraße erreicht, erscholl ein Schrei aus dem Hof. Stimmen und Rufe wurden laut. Abrupt blieben Jelena und Johannes stehen. In weniger als einem Augenblick war Jelena wieder in den Reiserock geschlüpft, hatte die Ärmel zurechtgezupft und stopfte rasch das Hemd in ihren Beutel. Leute kamen ihnen entgegen.
»Ein Dieb? Wo ist ein Dieb?«, rief ihnen ein Mann zu und Jelena deutete auf den Hinterhof. Langsam entfernten sie sich und schlugen sich unauffällig in andere Straßen, bis sie weit entfernt vom Tatort waren. Johannes war immer noch blass und zittrig.
»Ich werde in die Kirche gehen«, sagte Jelena. »In diesem Hemd sehe ich aus wie ein ganz gewöhnlicher Arbeiter. Woran erkenne ich Karpakow?«
»Ein Altgläubiger«, erwiderte Johannes. »Ein großer Bojar, mein Onkel glaubte sich daran zu erinnern, dass er eine Narbe hatte. Hier!« Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Nasenwurzel.
Jelena nickte. »Gut, gib mir deinen Gürtel. Und dein Halstuch.«
Johannes gehorchte und packte den Rock sorgfältig in das Gepäckbündel. Zufällig fand er Iwans Madonnenfigur und reichte sie Jelena, die sie nach kurzem Stirnrunzeln annahm. Nicht weit entfernt begannen bereits die kupfernen Kirchenglocken zu läuten. Für die ganze Dauer des Gottesdienstes würde ihr Klang die Stadt umhüllen.
»Wir sehen uns heute Abend – wenn wir uns verfehlen, warte ich an dieser Stelle!«, flüsterte er und Jelena nickte und lief los. Lange sah Johannes ihr mit einem bangen Gefühl nach. Seine Nerven waren immer noch angespannt und er merkte, wie müde er war. Langsamen Schrittes schlenderte er in Richtung Kirchplatz. Hier würden sie keine leer stehende Scheune finden und es war nicht ratsam, die Nacht auf der Straße zu verbringen. Nach dem Gottesdienst würden die Bürger in ihre Häuser gehen und auf den Straßen würde das Treibgut der Stadt zurückbleiben – zwielichtige Händler und Gestalten, denen man besser nicht mit einem vollen Geldsack begegnete.
Verstohlen betrachtete er die Menschen, die sich vor der Kirche versammelten. In einer kleinen Gruppe standen mehrere Männer zusammen. Zwei davon trugen lange Bärte und waren prächtig und reich gekleidet. Silberfäden glänzten im späten Licht. Allerdings wagten auch diese Adligen es offenbar nicht, die langen Bojarenkaftane zu tragen. Ganz nach Zar Peters Anweisung trugen sie kürzere Mäntel, die ihnen nur bis zu den Knien reichten. Unter den Kirchgängern waren Bürger und Leibeigene, die ihre Mützen abnahmen und sie an die Brust pressten, es waren Kinder dabei und Mütter, die keinen Zahn mehr im Mund hatten. Auch eine hübsche Bürgerin entdeckte Johannes. Es war eine junge Frau, die am Arm eines älteren Händlers zur Kirche ging. Sie trug ein orientalisch anmutendes Gewand mit langen bestickten Ärmeln. Als sie den Kopf wandte und Johannes ihr Profil sehen konnte, staunte er über ihr hübsches Gesicht und ihre zarte Haut. Sie hatte lange Wimpern – wie Jelena. Bei Gedanken an Jelenas Augen und ihren federnden Gang wurde die schöne Frau zu einer bemalten Maske. Mehrere bange Momente hatte Johannes Angst, dass Jelena ihn verlassen hatte und nie wiederkehren würde. Natürlich war diese Angst unbegründet. Die Russalka war ein sehr festes Band. Aber was würde geschehen, wenn die Russalkas ins Meer zurückkehrten? Die Mutlosigkeit drohte ihn zu übermannen, er wandte sich von der Kirche ab und trat zu einem Knecht, der gerade dabei war, das Pferd eines Reichen zu einem der Fässer zu führen, die als Tränken aufgestellt waren. »He!«, rief er ihm zu. »Gibt es eine Herberge hier?«
Der Knecht runzelte die unglaublich zerfurchte Stirn. »Da drüben«, brummte er und deutete mit dem Kopf zu den Gassen neben der Kirche. »Bei Kolja.«
Johannes umging die engste Gasse, die in der Sommersonne stank, und fand schließlich ein wuchtiges Holzhaus in einem viel zu kleinen Hof. Ein Stall war auf abenteuerliche Weise zwischen dem Gebäude und dem Nebenhaus eingekeilt. Schnauben und Scharren darin ließen vermuten, dass Gäste in der Herberge waren. Es war ein großes Haus, vielleicht gehörte es einem verarmten Bürger, der sich mit der Vermietung von Räumen etwas dazuverdiente.
Johannes lugte in den Stall und fand tatsächlich vier Pferde und einen Stallknecht, der ihm zwar auf seine Frage nach Kolja nicht antwortete, ihn aber mit einer Geste zum Haus schickte. Die Tür stand offen.
Johannes trat ein und sah sich einem Zahnlosen gegenüber, der am Tisch Kartoffeln schälte. »Bin ich bei Kolja?«, fragte er. »Ich suche eine Unterkunft.«
Der Alte warf das Messer hin und schoss unglaublich behände in die Höhe. »Herein, der Herr!«, lispelte er. »Eine Nacht in meinem Haus? Ich habe viele Gäste heute, aber ein Plätzchen findet sich.«
Das Plätzchen war ein dunkler Verschlag im hinteren Teil des Hauses. Johannes betrachtete das Fenster und schätzte ab, ob es groß genug war, um sich, wenn nötig, hindurchzuzwängen. Immerhin stand eine breite, stümperhaft zusammengenagelte Bettstatt darin und Kolja wurde nicht müde zu grinsen, als Johannes ihm bedeutete, dass er das Zimmer nehmen würde. Kaum hatte Kolja die schartige Tür geschlossen, atmete Johannes auf. Nachdem er die verschlissene Decke vom Bett genommen und seine eigene darübergebreitet hatte, setzte er sich auf den Strohsack, der als Unterlage diente, und stützte den Kopf in die Hände. Blitze leuchteten hinter seinen geschlossenen Lidern auf und die Müdigkeit ergriff von ihm Besitz. Das Schlimmste war das Gefühl der Leere und Verzweiflung in seiner Brust – die Sehnsucht nach Jelena und das Gefühl eines großen Verlustes. Obwohl es paradox erschien, war der Schmerz, sich von Christine zu trennen, ein Nichts gegen die Aussicht, Jelena nie wieder zu küssen, ein lächerliches Staubkorn in einem Strom aus Gefühlen. Er hatte es verdorben und Jelena verloren, bevor er die Möglichkeit gehabt hatte, sie zu gewinnen. Mühsam nahm er sich zusammen und rieb die Augen, bis das Pochen in seinen Schläfen ein wenig nachließ. Die Russalkas, die Stadt und Zar Peter – darum ging es jetzt!
Bevor er sich wieder auf den Weg machte, steckte er Kolja einige Münzen zu, nahm einen Krug mit wässrigem Kwass entgegen und hörte sich ein paar Sätze über die Stadt an, ein paar Gerüchte über Sankt Petersburg und über den Zaren, ein paar Bemerkungen zu den vielen Ausländern, die hier Station machten, bevor sie in Richtung Newa weiterreisten. Nach Karpakow fragte er nicht, es war ohnehin unwahrscheinlich, dass Kolja einen Adligen kannte oder wusste, in welcher Herberge er sich aufhielt. Es würde eine deutlich bessere sein als die hier. Es dämmerte bereits, als er sich wieder zur Kirche aufmachte.
Dutzende von Kirchgängern kamen ihm entgegen.
Er dauerte eine Ewigkeit, bis er endlich Jelena entdeckte. Unauffällig wartete sie am Rand einer Straße und beobachtete vier Adlige, die sich murmelnd unterhielten, während sie zu ihren Pferden zurückkehrten. Johannes ging an Jelena vorbei und spazierte zu einer Gasse weiter, in die er einbog.
Kurz darauf kam Jelena nach. Noch bevor Johannes fragen konnte, schüttelte sie den Kopf. »Kein Bojar mit einer Narbe«, sagte sie leise. Sie sah sich um und zog Johannes aus dem Schatten der Wand.
Ihre Augen funkelten. »Aber ich habe etwas anderes gehört. Komm mit!«
Im nächsten Augenblick waren sie wieder auf der Straße. Jelena kniff die Augen zusammen und schien erleichtert zu sein, als sie die Gruppe der Adligen entdeckte. Bei ihnen stand ein Mann in einem langen schwarzen Mantel. Auf dem Kopf trug er eine Art Haubenbinde. Johannes wusste, es war eine »Skuffia«, das Zeichen, dass der Mann ein Geistlicher war – ein Pope.
»Wir folgen ihm«, flüsterte Jelena. »Er ist nicht aus Jesengorod. Ich habe gehört, wie er sich mit einem Mann aus Moskau unterhalten hat.« Jelenas Stimme wurde noch leiser. Sie beugte sich so weit vor, dass Johannes für einen verwirrenden Augenblick ihr Haar an seiner Wange spürte. »Er sagte auch: ›Was ist das für ein Zar? Von Deutschen erzogen und selbst ein Deutscher zwingt er anständige Bürger sich wie Ketzer zu kleiden.‹«
Johannes wurde kalt. Onkel Michael hatte ihm erzählt, dass ein Pope in Karpakows Haus lebte – und auch der einäugige Arbeiter hatte einen Geistlichen erwähnt, der in Jesengorod davon sprach, dass der Zar mit seiner Stadt untergehen würde. Konnte es sein, dass Karpakow schon länger in Jesengorod weilte? »Gut«, meinte er. »Finden wir heraus, wo die Verschwörer ihr Nest haben.«
Es war nicht einfach, den Mann im Auge zu behalten. Wie eine magere Straßenkatze huschte er von Schatten zu Schatten, lief rasch über Plätze und Gassen und sah sich mehrmals um, ohne dass ihm Johannes und Jelena aufgefallen wären. Bald befanden sie sich in einem prächtigen Viertel der Stadt. Hohe Häuser standen hier, zum Teil aus Stein erbaut, die meisten jedoch aus Holz. Die Dächer waren so steil, dass der Schnee im Winter herabrutschte. Einige Gebäude standen erhöht auf hölzernen Stelzen, überdachte Treppen führten zu den Räumen. An Dachsparren und Firstbalken waren kunstvolle Schnitzereien zu erkennen. Solche »Holzstickereien« hatte Johannes schon oft bewundert. Nicht weniger kunstvoll waren die verzierten Balustraden.
Der Pope huschte über einen kleinen Hof und verschwand durch die Tür ins Innere eines Hauses. Johannes und Jelena blieben stehen und verbargen sich neben der Mauer. Die Dämmerung senkte sich über die Stadt. Das Haus lag am Ende der Straße. Auf wuchtigen Holzwänden ruhte ein ausladendes Dach.
Es war das Haus eines Patriarchen, eines Adligen, der die Tradition liebte. Über der Tür war ein Wappen eingeschnitzt. Ein Fisch mit zwei Vogelschwingen.
»Karpakow lebt also nicht in einer Herberge«, flüsterte Johannes. »Wer weiß, wie lange es her ist, seit er aus Moskau hierher umgezogen ist.«
»Vermutlich, als Zar Peter angefangen hat die neue Stadt zu bauen«, erwiderte Jelena. Unsicher betrachtete sie die Fenster. »Du kennst dich doch aus mit dieser Art von Häusern. Wo lebt der Hausherr?«
»In dem Haus gibt es mindestens acht Zimmer«, murmelte Johannes. »Es könnte das Fenster dort oben sein -links neben dem Stall.«
Düster spähte Jelena zu den Stallungen, die sich rechts vom Hauptgebäude erhoben. »Man könnte über das Stalldach klettern.«
Ihre Stimme klang erschöpft und Johannes wagte es, den Arm auszustrecken und sie zurückzuhalten.
»Lass uns warten, bis es Nacht ist«, sagte er leise.
* * *
In Koljas Gaststube drückten sich einige schäbig aussehende Reisende herum. Johannes ließ sich nicht auf ein Gespräch ein, sondern griff sich den Krug mit Kwass und ein Stück Brot mit Speck, für den Kolja einen unverschämten Preis verlangte, und ging mit Jelena in die muffige Kammer. Dort ruhten sie sich aus und warteten, bis die Geräusche im Haus leiser wurden und schließlich verklangen wie der letzte Schlag einer alten Spieluhr. Eine seltsame Ruhe lag über der Kammer, sie setzten sich zusammen um flüstern zu können und besprachen mögliche Strategien.
Mit dem Finger zeichnete Johannes die Grundrisse der Häuser, wie er sie aus Moskau kannte – alte ehrwürdige Gebäude mit einem großen Raum hinter dem Eingang und mehreren kleinen Räumen darüber.
»In den einstöckigen Häusern sind hier gewöhnlich die Bediensteten untergebracht«, sagte er und zeigte auf ein paar winzige Verschlage. »Der Herr schläft im Zimmer neben oder über dem Empfangszimmer.
Wenn wir Glück haben, hält Karpakow sich daran.«
»Wir werden es herausfinden«, meinte Jelena zuversichtlich. Ihre Wangen glühten vor Eifer. Wieder einmal fragte sich Johannes, wie er sie jemals für einen rüpelhaften Jungen hatte halten können. Die Intensität, die von Jelena ausging, und das Gefühl, dem Ziel zum Greifen nah zu sein, vertrieben seine Müdigkeit. Das letzte Klopfen von Schritten war längst verklungen, als sie sich vor die Tür wagten – und gleich wieder den Rückzug antraten. Kolja schlief am Ende des Gangs in einem Sessel. Er war so in sich zusammengesunken, dass der Kragen seines kurzen Mantels ihm bis über die Ohren gerutscht war. In seiner schlaffen Hand lag eine Pistole. Behutsam schloss Johannes die Tür. Bei jedem Schritt knarrte das Dielenholz erschreckend laut.
»Er bewacht seine Gäste«, sagte er.
»Dann gehen wir über das Fenster«, flüsterte Jelena.
Für Johannes war es schwierig, sich durch die
Öffnung zu zwängen, ohne sich blaue Flecken und eine Beule am Kopf zu holen. Der dicke Hofhund, der das Areal bewachen sollte, sah aus, als wäre er soeben an Altersschwäche verschieden, vermutlich war er zumindest taub oder krank.
Ein großer, heller Mond schmückte den Himmel, der immer noch nicht so dunkelblau war wie im Herbst und nicht so schwarz wie im Winter. Fette Ratten starrten die beiden Wanderer ungehalten an und watschelten dann vor ihnen über die Straßen.
Jelena und Johannes umgingen eine Wache und zwei Gestalten, die murmelnd unter einem Vordach standen. In manchen Häusern blinkte noch Lichtschein in den Ritzen zwischen den Flügeln der Fensterläden.
Sie schafften es, unbehelligt in den schöneren Teil der Stadt zu kommen. Wie ein unheilvoller Wächter erhob sich die Kirche in den Nachthimmel. Auf den Feuertürmen standen die Wächter und dachten sich wohl ihren Teil, wenn sie zu nächtlicher Stunde noch Gestalten über die Straßen huschen sahen.
In Karpakows Haus war kein Licht, aber ein Knecht saß vor dem Stall und schlief im Sitzen an die Wand gelehnt. Johannes vermutete, sein Herr würde ihn durchprügeln lassen, wenn er wüsste, dass er seine Wache verschlief. Pferde scharrten in dem lang gezogenen Stallgebäude. Johannes konnte sie beinahe vor sich sehen – dunkle, wolkige Leiber und glänzende Augen.
»Welches Fenster gehört zu den Herrenzimmern?«, raunte Jelena ihm zu.
Johannes deutete auf ein Fenster, das über dem letzten Teil der Pferdeställe lag. Jelena nickte, dann bedeutete sie ihm zu warten und schlich über den Hof. Mit lautlosen Bewegungen zog sie sich am Stall hoch, kam auf dem Dach an und stellte sich auf die Zehenspitzen. Mit vor Aufregung zusammengebissenen Zähnen verfolgte Johannes, wie sie durch das Fenster lugte. Der Mond warf ihren Schatten an die hölzernen Fensterläden, die sie nun vorsichtig weiter auseinander klappte. Mit zwei Kletterbewegungen und einem Satz hangelte sich Jelena wieder vom Gebäude herunter. Rasch zogen sie sich zurück.
»Das Zimmer ist leer«, flüsterte Jelena. »Soviel ich im Mondlicht erkennen konnte, ist es eine Kammer, in der viele Kisten stehen. Ich glaube, Karpakow bereitet sich auf die Abreise vor. Da waren Stoffe … und Reisekisten.«
»Aber war niemand im Zimmer?«
Sie schüttelte den Kopf. »Eine gute Gelegenheit, dort oben einzusteigen.« Sie griff nach ihrem Gürtel und löste den Beutel, in dem sich die gefärbte Perle befand. »Hier!«
»Was soll ich damit?«
»Die richtige Perle wird in einer verschlossenen Kiste sein. Du kannst sie öffnen – außerdem bist du stärker als ich. Ich werde Wache halten. Sollte etwas schief gehen, werde ich die Pferde aus dem Stall lassen. Wenn die Leute denken, dass der Einbrecher Pferde stiehlt, wird sich niemand mehr darum kümmern, was im Haus vor sich geht. Und schließlich …«, ihr Lächeln blitzte auf, »… kann ich schneller laufen als du und mich vor meinen Verfolgern besser in Sicherheit bringen.«
Johannes stellte sich das Schlimmste vor, was passieren konnte – schwer war das nicht. Dann würde Derejew dafür sorgen, dass er das Ende des Monats nicht mehr erlebte. Seine Hand zitterte ein wenig, als er Jelena das Säckchen mit der Perle abnahm. Ihre Hände berührten sich und er spürte, dass ihre Haut eiskalt war. »Hast du Angst?«, fragte er leise.
»Bin ich aus Holz?«, erwiderte sie. »Natürlich – ich fürchte mich zu Tode, wenn du es genau wissen willst. Vielleicht … ist dieser Abend unser letzter.«
Sie sahen sich einen Moment an, dann beugte sie sich zu seiner Überraschung vor und umarmte ihn lange. »Bitte, gib auf dich Acht, Brehmow«, flüsterte sie. Er erwiderte ihre Umarmung, erleichtert, beinahe glücklich über die Nähe, die plötzlich wieder zwischen ihnen bestand – eine andere Nähe als zu Jewgenij, aber er hätte sie nicht mehr eingetauscht.
Nach einer Weile machte sie sich sanft los und holte etwas unter ihrem Hemd hervor. Es sah aus wie ein schwarzer Lappen. »Ruß! Ich habe die Zeit in der Kirche genutzt. Ruß kann man immer brauchen.« In der Dunkelheit erahnte er ihr Grinsen. »Am besten du ziehst dein Hemd aus. Du leuchtest damit wie ein Banner.«
Es war kalt in der Nacht. Jelena nahm den Lumpen und rieb seine Wangen, seinen Rücken und seinen Oberkörper ein. Dunkle Schlieren wurde zu einer wolkigen dunkelgrauen Fläche. Eine wunderbare Tarnung. Johannes konnte seinen ausgestreckten Arm nur noch schwer vom dunklen Hintergrund unterscheiden.
»So«, meinte Jelena schließlich. »Wir treffen uns wieder an der Kirche – wenn dort nicht, dann in unserem Zimmer.«
»Wie komme ich aufs Dach?«, fragte er heiser.
»Am besten ohne Schuhe«, antwortete sie.
Es war nicht so schwer, wie er gedacht hatte. Der Stall war an einigen Stellen schadhaft und mit Brettern so stümperhaft ausgebessert, dass Johannes guten Halt fand.
Trotzdem wurde ihm übel, als er nach unten sah, wo das blasse Oval von Jelenas Gesicht in der Dunkelheit trieb. Sie winkte ihm ein letztes Mal zu, dann verschwand sie zum vorderen Teil des Hauses. Er tastete sich mit bloßen Füßen und von Holzspänen zerschrammten Fingern weiter. Schon glaubte er sich nah genug am Fenster, als er abrutschte. Mit einem Knacken brach ein morsches Stück Dach. Trappeln und Wiehern erklang aus dem Stall. Mit einem schlaftrunkenen Grunzen fuhr der Knecht hoch. Johannes blieb beinahe das Herz stehen. Gehetzt sah er sich um und überlegte, ob er einfach springen sollte.
Im nächsten Moment hörte er einen dumpfen Schlag, dann war Stille.
Jelena erschien und gebot ihm mit einem aufgeregten Winken weiterzuklettern. In ihrer Hand hatte sie ein Holzscheit. Johannes’ Finger waren taub, so fest klammerte er sich an den Fensterladen, nun tastete er sich zaghaft weiter. Ihm war schwindlig vor Angst, auch wenn er das niemals zugegeben hätte.
Zum Glück machte der Holzladen kein Geräusch, sondern schwang ohne ein einziges Knarren oder Quietschen auf. Da war das Zimmer. Wie Jelena gesagt hatte, standen Kisten darin. Es kostete ihn alle Kraft, sich abzustoßen und an dem hölzernen Sims hochzuziehen. Ächzend wand er sich nach oben, bis er mit dem Bauch auf dem Sims lag. So verharrte er und wartete ab, aber es schien wirklich niemand im Raum zu sein. Flink zog er die Beine nach und glitt in das Zimmer. Es war klein, eine Kammer nur, und Johannes blieb stehen und atmete durch, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Nach und nach konnte er weitere kantige Umrisse ausmachen. Er ging von Kiste zu Kiste und befühlte sie in der Hoffnung, die Intarsien auf dem Deckel zu erta-sten, doch er fand nichts. Ein paar der Truhen waren mit Stoff oder Leder bespannt, die meisten jedoch aus grobem, schlecht eingelassenem Holz gefertigt.
Einige ließen sich öffnen, aber darin fand er nichts außer Stoffe, Pelze und schwere Gegenstände, die in Lederlappen gewickelt waren. Es mochten Kelche oder Kerzenleuchter sein.
Vorsichtig tastete er sich zur Tür weiter und lauschte, bevor er sie behutsam einen Spalt aufzog.
Auch dieser Raum war leer. Es war das Herrenzimmer! Auf einem schmalen, hüfthohen Schrank waren Gegenstände angeordnet wie auf einem Altar. War es die Ikonenecke, die in jedem Haus stand? Nein – auf einer bestickten Decke lag ein einfaches, abgegriffenes Messer. Seine Klinge glänzte im Licht einer Kerze. Sie stak in einem prächtigen, silbernen Kerzenleuchter und war beinahe heruntergebrannt. Johannes überlief es eiskalt. Es sah aus wie ein Schrein -ein Schrein für ein Messer? Links von dem Schrank befanden sich ein Tisch und ein mit Leder bespannter Stuhl. Über der Lehne lagen ein russischer Kaftan und ein prachtvoller Bojarenmantel. Zobelpelz glänzte im Licht einer Kerze, die in einem einfachen Tongefäß flackerte. Es stellte einen Mann mit aufgerissenem Mund dar; Johannes kannte solche altertümlichen »Maulaffen« aus den Erzählungen seines Onkels. Normalerweise dienten sie als Halter für glimmende Kienspäne, die nur wenig Licht gaben. Karpakow schien sich nur für seinen seltsamen Schrein einen schönen Kerzenständer zu leisten.
Erst jetzt kam Johannes der Gedanke, dass der Adlige jeden Augenblick zurückkehren konnte. Ruhig!, befahl er sich. Im Notfall waren es nur zwei Schritte zurück in die Kammer mit den Kisten. Neben dem Maulaffen stand eine irdene Schale. Runde Kupfermünzen und ein viereckiges Medaillon lagen darin.
Auf den Münzen waren je eine Nase und ein Lippenpaar abgebildet. Der Mund war eingerahmt von einem Schnurrbart und einem langen Kinnbart. Die Schrift darüber besagte, dass das Geld eingezogen worden war. Das musste die Quittungsmünze für die bezahlte Bartsteuer sein! Allerdings hielt Karpakow es wohl nicht für nötig, das viereckige Abzeichen an einer Halskette zu tragen, das ihn als Menschen auswies, der den Preis für seinen Bart bezahlt hatte. Der Tisch sah aus wie ein Gemälde – Papier lag darauf und eine Feder, deren Tintenspitze allerdings trocken war. Johannes trat heran und warf einen Blick auf die Schriften. Er brauchte mehrere Augenblicke, um die Tatsache, die ihm ins Gesicht schrie, zu begreifen.
Vor ihm lag eine Liste. In gestochen schöner Schrift waren Namen darauf verzeichnet. »Michael Brehm« stand dort. Und etwas weiter unten: »Johannes Brehm«. Alles Blut schien aus seinen Fingern zu weichen. Er sah tanzende Punkte und musste sich an der Lehne festhalten, bevor er weiterlesen konnte. Es erstaunte ihn nicht, als er weiter unten den Namen Jewgenij Michailowitsch Skasarow las. Karpakows Plan klappte vor ihm auf wie ein Buch. Er und Derejew planten nicht nur den Zaren zu stürzen – sie würden auch die Ausländer bezahlen lassen. Hinrichtungen würden stattfinden. Schauprozesse. Unter Karpakows Papieren lugte eine Skizze hervor, die Johannes bekannt vorkam. Er wischte den Ruß von seinem Daumen und Zeigefinger und zog die Skizze, so behutsam er vermochte, hervor. Es war eine Karte des Newadeltas – sie stammte von Derejew. Ein gekritzelter Doppeladler war eingezeichnet, dazu mehrere Kreuze und Randbemerkungen. Sie hatten die Wege und Gewohnheiten von Zar Peter studiert.
„Wenn alles so lief, wie sie es sich vorstellten, würde er an diesem Morgen in zwei Tagen auf der Petrograder Insel sein – bei seinem Holzhaus. Dort, wo die Flut ihn verschlingen würde. Eine ganze Liste mit Namen und hohen Rubelbeträgen erzählte eine weitere Geschichte. Johannes ballte die Hände zu Fäusten. Auch die Kanalplaner waren bestochen worden. Vermutlich hatte Derejew über Mittelsmänner sogar den Streit zwischen dem Generalarchitekten und Zar Peters Freund Menschikow gezielt so lange geschürt, bis Menschikow befahl die Kanäle in der Tiefe auszuheben, die er für die richtige hielt. So waren sie nicht tief genug, um das Wasser einer Flut aufzufangen. Das ganze klebrige Netz einer zobelgeschmückten Spinne spann sich vor Johannes’ Augen von Moskau bis zu den Russalkas.
Hastig wandte er sich ab und begann fieberhaft zu suchen. Er hatte weniger Zeit, als er dachte. Verzweiflung schnürte ihm die Brust ein und gab ihm das Gefühl, zu ersticken. Er fand keine Truhe in dem Raum, also ging er weiter und zu einem schweren Vorhang. Vorsichtig schob er ihn beiseite. Eine weitere Kammer! Ein mit Schnitzereien verzierter, thronähnlicher Stuhl mit hoher Lehne stand am Fenster, daneben befand sich ein Bett, über dem grüngoldene Tücher einen schimmernden Himmel bildeten. Nicht weit vom Bett stand eine Kommode – und darauf mehrere Heiligenbilder in schweren Holzrahmen. Hier also war die Ikonenecke. Ganz vorne stand ein Bild des heiligen Nikolaus, des Schutzpatrons Russlands. Alle Bildnisse mussten sehr alt sein, denn auch vom Nimbus des heiligen Georg blätterte bereits hauchdünnes Gold ab. Vorwurfsvoll sah eine Madonna den rußschwarzen Störenfried an, der ins Zimmer schlich.
Johannes störte ein seltsamer, unbestimmter Geruch, der das Zimmer durchdrang, aber er konzentrierte sich mit aller Kraft darauf, im Halbdunkel etwas zu erkennen. Jeder Muskel in seinem Körper fühlte sich wie eine zu straff gespannte Geigensaite.
Das Licht der Kerze fiel durch den Vorhangspalt und ließ einen silbernen Fisch mit Flügeln aufleuchten.
Da war sie! Ein wildes Triumphgefühl drängte sich in seine Kehle. Am liebsten hätte er gejubelt. Die Truhe stand direkt neben dem Bett, natürlich. Mit zwei Schritten war Johannes bei ihr und betastete die Scharniere und das Schloss. Seine Finger fanden Rillen, Vertiefungen und einen kantigen Einsatz. Die Truhe war verschlossen. Damit hatte er gerechnet.
Das Stück, in dem das Schloss eingelassen war, bestand nicht aus der glatten schwarzen Mooreiche, sondern war aus etwas weicherem Holz. Voller Eifer griff Johannes zu seinem Gürtel und zückte seinen geheimen Schlüssel mit den Holz– und Eisenzähnen.
Endlich kehrte ein vages Gefühl der Sicherheit zurück. Es klackte, als er den dritten Stift in das Schloss schob. Johannes hielt inne und lauschte, dann versenkte er sich ganz in den Mechanismus.
Mit einem leisen Klicken gab das Schloss nach und öffnete sich. Erleichtert atmete Johannes durch. Mühelos ließ sich der Deckel nun aufklappen. Der Duft von altem eingeöltem Holz umströmte Johannes. Ewigkeiten hatte die Eiche im Moor gelegen. Die Jahre in diesem nassen Grab hatten das Holz schwarz gefärbt und es hart werden lassen. In der Truhe befand sich eine kleinere Kiste aus beinahe weißem Holz. Ihr Deckel war nur aufgesteckt.
Gerade wollte Johannes danach greifen, als er ein Scharren hörte. Ohne nachzudenken schnellte er zurück und rumpelte mit dem Ellenbogen schmerzhaft gegen eine Ikone. Sie schwankte und kippte. Johannes sah sich selbst wie aus weiter Ferne – ein blonder Dieb, dessen Hand nach vorne schoss und die Ikone fing, gerade bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte. Dann war er wieder bei sich – das Blut dröhnte in seinen Ohren, er schwitzte vor Schreck. In der Bewegung erstarrt lauschte er. Kam Karpakow ins Zimmer zurück? Gehetzt sah er sich nach einem Versteck um. Die Vorhänge am Fußende des Bettes dort konnte er sich verbergen. Aber eben, als er den Deckel wieder so leise wie möglich zugeklappt hatte und losschnellen wollte, erkannte er zweierlei: zum Ersten, dass das Geräusch nicht von draußen gekommen war. Zum anderen bewegte sich etwas in dem Lehnstuhl. Eine Hand lag auf der Lehne. Eine alte Hand mit unglaublich vielen Ringen.
»Wer bist du?«, fragte eine heisere, trunkene Stimme. »Ich höre dich.« Die Aussprache war verwaschen und mit einem Mal konnte Johannes auch den seltsamen Geruch im Zimmer zuordnen. Es stank nach schnapsgetränkten Atemzügen. Das kann nicht Karpakow sein, dachte er. Als altehrwürdiger Gläubiger wird er sich nicht betrinken. Oder doch?
In diesem Augenblick verschwand die Hand und ein gewaltiger Schatten löste sich von der Lehne. Im Dämmerlicht des Zimmers leuchtete langes weißes Haar. Der Bojar schwankte und griff nach der Lehne, dann drehte er sich um und trat neben den Stuhl. Ein verwüstetes, rotes Gesicht erschien, aus dem der Stolz noch nicht gewichen war. Der Bart fiel ihm bis auf die Brust. Zwischen seinen Augen klaffte eine waagrechte Scharte, als hätte er dort vor Jahren einen Schwerthieb oder einen Stich erlitten. Ketten schmückten seine breite Brust. Karpakow war ein gebrochener Riese mit stechenden Augen, die nun weit aufgerissen waren. Panik zeichnete sich in dem zerfurchten Gesicht ab. Seine Finger waren weiß, so fest klammerte er sich an die Lehne. Johannes saß in der Falle.
»Du bist es«, flüsterte der Alte. Seine Gesichtsfar-be wechselte von Rot zu einem gespenstischen Weiß.
»Der Teufel!«
Im Spiegel von Karpakows entsetzten Augen sah sich Johannes plötzlich so, wie der alte Mann ihn wahrnehmen musste – eine lauernde Gestalt mit schwarzem Gesicht und hellem Haar, das im Kerzenschein leuchtete. Eine Chance blinkte wie ein Spanfunke in der Dunkelheit auf. Er kam sich vor, als würde er auf einem schmalen Dachvorsprung balancieren. Noch war Karpakow von der Trunkenheit und vom Schlaf benebelt, noch wusste er nicht, was wirklich war und was er nur träumte. Er würde nicht fliehen, beschloss Johannes. Solange Karpakow glaubte, er sei der Teufel, würde er nicht nach seinem Gesinde rufen.
»Du siehst gut, alter Mann«, sagte Johannes leise und übertrieb seinen deutschen Akzent. »Ich bin hier, Karpakow! Wage es nicht, Hilfe zu rufen. Wer mein Antlitz sieht, wird dort verbrennen, wo er steht.«
Der Alte schwankte wie unter einem Hieb, aber nach einer Weile machte er den Mund zu, wischte sich mit müder Hand über die Stirn und nickte. »Ja«, flüsterte er. »Ja, ja. Ich habe auf dich gewartet. So viele Nächte ohne Schlaf. Ich wusste, du würdest kommen, um meine Frage zu beantworten.«
Johannes nickte. »Darum bin ich hier.«
»Warum musste es Sergej sein?«, rief der Alte.
Johannes zuckte zusammen, aber niemand schien den Ruf gehört zu haben – oder die Diener waren es gewohnt, dass ihr Herr betrunken herumschrie. »Warum nicht er?«, erwiderte Johannes geistesgegenwärtig.
Zorn glomm in den alten, erloschenen Augen auf.
»Das passt zu dir«, sagte Karpakow bitter. »Du warst es, der ihn verführt hat, in der Kremlgarde zu dienen.
Und nun verspottest du mich und willst, dass ich mir selbst die Wunden aufreiße und sie mit Salz bestreue.
Nun, das wird dir nicht gelingen. Es kostet mich nicht meine Seele, über Sergej zu reden, längst nicht mehr.«
Johannes schwieg, was Karpakow zu genügen schien. Der Bojar betrachtete abwesend den Boden vor sich und erinnerte in erstaunlicher Weise an Mitja. Karpakow war wahnsinnig, erkannte Johannes.
Oder zumindest so betrunken, dass er dem Wahnsinn nahe war. Trotzdem konnte er nicht anders als den Alten für seinen Mut zu bewundern. Egal wie viel Branntwein in seinen Adern fließen mochte – mit dem Teufel hätte sich nicht jeder angelegt.
»Das Messer«, krächzte er nun. »Dort draußen auf dem Schrank. Das ist alles, was mir von ihm geblieben ist. Er war wie ein Sohn für mich. Nach dem Aufstand haben sie ihn durch die Straßen von Moskau geschleift und nach Bebraschenskoje ins Verlies gebracht. Er wurde ausgepeitscht und gebrannt. Wieder und wieder wurde er gefoltert. Von ihm wollte der Zar hören, wer die anderen Verschwörer waren.«
Er stöhnte auf und sank ächzend in sich zusammen, bis er plötzlich auf dem Boden kniete. »Es war dein Werk – er war nicht schuldig, das weißt du! Was haben wir alles bezahlt, um meinen Neffen zu befreien – um ihm zumindest die Folter zu erleichtern! Aber nichts! Nach der Folterung brachten sie ihn halb tot zum Arzt. Der Zar ließ gut für ihn sorgen – nur um ihn wieder foltern zu können. Schließlich gelang es ihm, an ein Messer zu kommen. Damit wollte er sich im Gefängnis umbringen, aber er war so entkräftet, dass er sich nicht töten konnte. Begreifst du das? Dass ein Christenmensch sich umbringen will, dass er den Tod wählt von eigener Hand?« Er schluchzte auf.
Johannes schluckte. Ihm schauderte, als er an die Waffe dachte, die wie eine Reliquie auf dem Schrein lag. So bekam das Ganze einen Sinn, vor allem sein Wunsch, den Zaren zu vernichten. Karpakow hatte bei dem Strelizenaufstand einen Verwandten verloren. Seinen Neffen, der ihm offensichtlich viel bedeutet hatte.
»Seine Frau hat sich umgebracht, als sie von seinem Tod erfuhr«, fuhr der Alte nun fort. »Marija – wie gut sie war! Wie verzweifelt! Du hast ihr die Hand geführt. Dabei hätte sie leben können. In die Verbannung wäre sie geschickt worden mit ihrem Bruder, der noch ein Kind war.«
»Derejew?«, rutschte es Johannes heraus. Karpakows Blick war Antwort genug.
»Hast du dich an Sergejs Blut gelabt?«, fragte der alte Mann. »Und an Marijas Qualen?«
Johannes schwieg, aber er schloss seine Hand fester um die Ikone, die er instinktiv hinter seinem Rücken verborgen hielt.
»Nun?«, fragte Karpakow. »Hat es dem Teufel die Sprache verschlagen?« Hass sprühte in seinem Blick.
»Du redest genug für uns zwei«, gab Johannes düster zurück.
»Du bist gierig«, zischte der Bojar. »Du denkst, du wirst mich holen heute Nacht?« Das Grinsen, das einer verzerrten Grimasse glich, machte ihn hässlich.
»Nicht heute.«
Johannes erahnte die Bewegung und reagierte lange, bevor Karpakow mit einem Satz aufsprang. Ein gebogener Dolch blitzte auf. Johannes keuchte und warf sich zur Seite. Mit einem Krachen prallte Karpakow gegen das Bett und brüllte auf. Eine heiße Welle von Panik ließ Johannes blitzartig handeln.
Ohne sich zu besinnen schlug er mit der Ikone zu.
Der Rahmen krachte gegen Karpakows Schläfe. Wie ein Sack fiel der Wahnsinnige aufs Bett. Der Dolch, den er immer noch in der Hand hielt, bohrte sich in die prächtige Decke.
Nach Luft ringend sah Johannes auf ihn hinab.
Karpakow atmete, aber aus einer Platzwunde an seinem Kopf sickerte Blut. Stimmen ertönten, ein gellender Ruf erklang, natürlich hatte man unten Karpakows Gebrüll gehört. Jetzt hatte er keine Zeit mehr.
Er konnte nur eins tun – vielleicht hatte er Glück und Karpakow würde glauben einem trunkenen Traum erlegen zu sein. Johannes tippte an das Blut, das aus der Wunde floss, und schmierte es an einen der Bettpfosten. Für einen Diener musste es so aussehen, als wäre Karpakow in einem Wahntraum gefangen gewesen und gestolpert. Die Ikone wischte er an seinem Hosenbein ab und stellte sie an ihren Platz zurück.
»Gosudarj?«, rief eine Stimme aus dem unteren Raum nach dem Herrn. Dann ertönten schwerfällige Schritte auf der Treppe. Johannes wirbelte herum und klappte die Truhe auf. Mit bebenden Fingern öffnete er die helle Kiste und fand ein Samtsäckchen.
Eine Muschel war nicht darin, dafür aber etwas so Grässliches, dass er beinahe aufgeschrien hätte. Eine mumifizierte Affenhand war es, ledrig und verschrumpelt. Ohne nachzudenken bog er die widerspenstigen Finger ein wenig auf. Behutsam schob er seinen Zeigefinger in die Faust und ertastete etwas Glattes. Eine Tür knarrte. Johannes zerrte die Perle der Russalka aus der Affenhand. Die gefärbte falsche Perle, die er aus seinem Beutel hervorholte und gegen die richtige Perle austauschte, war kleiner als das Original. Seine Finger schienen plötzlich zu groß und ungelenk dafür zu sein. Sie entglitt ihm. Es ging schief, es ging alles schief!
Mit einem »Klack!« kam die falsche Perle auf dem Holzboden auf, rollte ein Stück und – verschwand in einem Spalt zwischen zwei Dielen. Beim Versuch, sie aus dem Spalt zu bekommen, kratzte er sich die Finger blutig. Es war zu spät. Verzweifelt stopfte er die leere Affenklaue in den Samtsack zurück, den Sack in die helle Kiste und die Kiste in die Truhe. In diesem Augenblick hörte er Getrappel und Geschrei.
Türen klappten, ein Knecht kreischte aus vollem Hals »Diebe!«. Mit seiner Beute floh Johannes zum Fenster. Aus dem Augenwinkel erblickte er eine wehende Mähne im Hof und eine Gestalt, die davonlief, verfolgt von einer Horde, die nun aus dem Haus stürmte.
»Gosudarj Karpakow!«, ertönte ein entsetzter Schrei aus der Schlafkammer. Durch den Spalt im Vorhang erkannte Johannes den Popen, der zum Glück nicht zum Fenster blickte, sondern sich über seinen Herrn warf. Johannes schwang sich aus dem Fenster, kletterte über das Fensterbrett und sprang.
Rauchgeruch fing sich in seiner Nase. Noch während er durch die Luft segelte, fiel ihm ein, dass er für seine Landung auf dem Dach besser eine andere Stelle gewählt hätte. Noch bevor er weiterdenken konnte, krachten seine Knie beim Aufprall auf dem Dach.
Das morsche Dachbrett, das schon vorhin seinem Gewicht nicht standgehalten hatte, brach nun wie eine dünne Eiskruste – und im nächsten Augenblick sauste Johannes durch das Dach in den Stall. Unsanft landete er auf einem Haufen Stroh. Qualm hüllte ihn ein. Wärme leckte über seinen Nacken. Die Stalltür stand weit offen, Knechte rannten auf die Pferdeboxen zu. Doch als sie Johannes sahen, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen und sie schrien auf. Richtig, fiel Johannes ein – ich bin der Teufel! Dramatisch riss er die Arme hoch und brüllte die Knechte an. Der Effekt war erstaunlich. Vor seinen Augen verwandelten sie sich in die heulenden, schreienden Seelen im Fegefeuer, die Johannes auf alten Kir-chenbildern gesehen hatte. Stolpernd und kreischend stürzten sie davon.
Als Johannes sich umwandte, konnte er sich vorstellen, was sie gesehen hatten: eine schwarze Gestalt, die einem lodernden Feuer entstieg. Der Stall brannte lichterloh. Nun gab es nur einen Ausweg – zu Fuß würde er kaum über den Hof entkommen können. In der Nähe schlugen schwere Hufe gegen Holz. Johannes hatte zu Hause zwar den einen oder anderen Ackergaul geritten, aber jetzt war es nur die Panik, die ihn dazu brachte, auf die Boxenwand zu klettern, den Riegel zurückzuschieben und sich auf den Rücken des riesigen Pferdes zu schwingen, das vor Angst halb verrückt war. Im nächsten Augenblick brach unter ihm ein Vulkan aus. Strähnen von Mähnenhaar schnitten in seine Hände. Ein Ruck ging durch seine Schultern, dann versuchte er nur noch, sich auf einem gewaltigen Wirbelwind im Gleichgewicht zu halten. Hufe donnerten auf den Boden und er duckte sich im letzten Moment unter dem Türstock. Fackeln blendeten ihn, dann traf ihn ein Schwall Wasser. Schreiende Münder klafften neben ihm und da war auch ein Finger, der auf ihn zeigte.
Eine mit Wucht geschleuderte Mistgabel verfehlte ihn nur knapp, ein Pistolenschuss ließ sein Ohr klingeln. In seiner Panik trieb Johannes das Pferd an. Es preschte mitten in die Menge, walzte eine Schneise in die Leiber und raste in gestrecktem Galopp auf die Straße. Vor dem Nachthimmel schwenkten die Türmer wie verrückt ihre Warnfackeln. Fenster wurden aufgerissen, Leute rannten auf die Straße. Verzweifelt versuchte Johannes sich zu orientieren. Es war Zufall, dass das ungezäumte Pferd die Gasse entlang in Richtung Kirche weiterrannte. Hinter ihm waren wieder Pistolenschüsse zu hören – das reichte, um die ganze Stadt zu wecken. Johannes duckte sich über den Hals des Pferdes. Gleich würden Soldaten auftauchen und ihn vom Pferd schießen. Das Pferd galoppierte um die Kirche und rutschte in der Biegung aus. Johannes glitt vom schweißnassen Rücken seines Reittiers und fiel. Einen Augenblick hörte er nur das entsetzte Quieken des Gauls, einen Ruf und Hufschlag, im nächsten Moment drückte ihm der Aufprall alle Luft aus dem Brustkorb. Feuersterne tanzten vor seinen Augen, er glaubte zu ersticken.
Erst langsam setzte sein benebelter Kopf zusammen, dass das Pferd ihn abgeworfen hatte und er flach auf den Rücken auf dem Boden gelandet war – keine Luft in den Lungen und das Gefühl, an Land zu ertrinken. Schritte und Schreie ertönten in der Nähe.
Gleich darauf saß er zitternd in einem halb vollen Fass und konnte sich kaum daran erinnern, in diese Pferdetränke hineingesprungen zu sein. Eine Horde rannte auf der Straße dem Pferd hinterher. Gellende Rufe wurden weitergetragen, Gerüchte und immer fantastischere Geschichten explodierten in einer Woge aufgeregter Stimmen.
»… hat sich aufgelöst …«
»… in einem Feuerball …«
»… sich in ein Pferd verwandelt …«
Johannes zitterte am ganzen Körper. Das Wasser, das nach Holz und nasser Erde roch, schloss ihn bis zur Brust ein und tat zumindest seinen Schürfwunden gut, die er sich beim Sturz durch das Dach zugezogen hatte. Er musste hier weg – nicht lange und die Soldaten würden die Leute von den Straßen treiben und anfangen nach dem Übeltäter zu suchen. Hastig griff er nach dem Beutel mit der Perle und war erleichtert. Sie war noch da! Ganz genau konnte er ihre Form durch das Leder hindurch erspüren. Und Jelena? Hatte sie den Stall in Brand gesteckt? Er konnte es sich nicht vorstellen. Die Rufe wurden leiser, immer noch klang Hufgetrappel in der Ferne. Hastig spritzte sich Johannes Wasser ins Gesicht, wusch den Ruß von der Haut und stieg aus der Tonne. Seine Hose triefte und er wrang sie, so gut es ging, aus.
Dann rannte er im Schatten der Häuser entlang, wich einigen Nachtschwärmern aus, die immer noch in ihrer Nachtkleidung auf der Straße standen und diskutierten, und machte sich auf den Weg zur Herberge. Ob Jelena entkommen war?
Unwillkürlich wurden seine Schritte schneller, bis er keuchend hinter Koljas Haus ankam. Wie er befürchtet hatte, war es hell erleuchtet, aber zum Glück hielten sich alle beim vorderen Eingang auf und diskutierten. Ungesehen konnte Johannes über den schlammigen Hinterhof zum Fenster schlüpfen. Das Fenster war nur angelehnt. Mit letzter Kraft zog er sich hoch. Im nächsten Augenblick fühlte er zu seiner Erleichterung zwei sehr kräftige Hände, die sich um seine Oberarme schlossen und ihn ins Zimmer zogen. »Gott sei Dank!«, sagte er aus tiefster Seele.
»Seht!«, zischte ihm Jelena zu. Schritte erklangen auf dem Flur, dann wurde an die Tür geklopft.
»Herren?«, fragte Koljas unterwürfige Stimme.
»Was!«, rief Jelena ungehalten mit der tieferen Stimme Jewgenijs.
»Ist alles in Ordnung?«
»Hier drinnen ja!«, gab Jelena zur Antwort.
»Wenn ihr draußen Ruhe halten könntet!«
Die Schritte entfernten sich wieder, laut palaverten Gäste in deutscher und in französischer Sprache. Gelächter drang durch die Ritzen. Der Tumult begann sich in ein ausgeschmücktes Schauermärchen zu verwandeln. Johannes hatte das Unmögliche geschafft: Er war schneller gelaufen als ein Gerücht in russischen Straßen.
»Geht es dir gut?«, flüsterte Jelena. Ihre Finger tasteten über seinen Arm. »Du bist nass«, stellte sie fest.
»Ich hatte mich in einem Trog versteckt – und du?«
»Zwei Straßen bin ich fast nur auf den Dächern unterwegs gewesen. Morgen werden sie erzählen, dass der Teufel bei ihnen über das Dach geritten ist.
Aber deine Schuhe habe ich dabei nicht verloren.«
»Hast du Karpakows Stall in Brand gesteckt?«
»Ich?« Sie lachte leise. »Brehmow, hör auf. Der Idiot von Stallbursche ist von dem Tumult im Haus aufgewacht, sah mich und wollte seine Herrschaft alarmieren. Es gab -ein Handgemenge. Im Stall ist eine Lampe umgefallen. Er hat mich ganz schön erwischt. Ich dachte, er würde mir den Arm auskugeln.« Ihre Stimme begann zu zittern und sank zu einem bangen Flüstern. »Hast du …«
»Ja.« Am liebsten hätte er dieses Wort triumphierend herausgeschrien, aber er griff nur nach Jelenas Arm und drückte den Beutel mit der Perle in ihre Hand. »Hier ist sie!«, flüsterte er. »Aber wir müssen weg – es ist mir nicht gelungen, die Perle zu vertauschen.«
»Was?«
»Sie ist mir aus der Hand gefallen. Ich kann nur hoffen, dass Karpakow nicht vor morgen in die Kiste schaut.«
»Hat Karpakow dich gesehen?«
»Viel schlimmer.« Er holte tief Luft und erzählte ihr von Karpakows Schreibtisch, von den Papieren, dem geplanten Haftbefehl – und von dem Namen Jewgenij Michailowitsch Skasarow, den Karpakow auf seiner Liste vermerkt hatte. Sie entfernte sich mit leisen Schritten. Er hörte einen Laut, der seinen ganzen Triumph wegschwemmte. Weinte sie etwa?
»Was machst du?«, fragte er.
»Wir haben die Perle«, flüsterte Jelena in weiter Ferne. Er erkannte, dass der Laut ein unterdrücktes Lachen gewesen war. »Das ist die Hauptsache. Die Russalkas werden leben.«
In diesem Augenblick klappte ein Fensterladen auf. Das Dämmerlicht der Spätnacht fiel herein und ließ Jelena wie einen Schattenriss aus einem Puppentheater aussehen. »Ich will mir die Perle anschauen«, sagte sie. »Komm her!«
Nur zu gern folgte er dieser Aufforderung und war überrascht, als Jelena ihn in der Dunkelheit umarmte.
Es war nicht länger die spröde, beinahe abweisende Umarmung von Jewgenij. »Ich danke dir«, sagte sie leise. Viel zu schnell ließ sie ihn wieder los und setzte sich unter das Fenster. Sie holte den Schatz der Russalka aus dem Beutel und reichte ihn Johannes.
Glatt wie Seide fühlte sich die Perle an. Behutsam ließ er sie in seine Handfläche rollen. Sie war perfekt. Als er sie genauer betrachtete, blieb ihm der Mund offen stehen. Das Rot leuchtete wie Lava und legte einen hellroten Lichthof auf seine Handfläche.
Das Perlmutt glänzte in allen Farben des Blutes und vermengte sich mit dem satten Ton von Abendrot.
Die Perle war schwer von Alter und Kraft, ein Geheimnis ruhte in ihr und vereinte alle Stimmen des Meeres. Johannes sah Bilder von tanzenden Körpern, die von der Strömung getragen wurden – hinaus in die Tiefen, dorthin, wo kein Licht mehr war, nur dieses Pulsieren des letzten Lichtes, rot und ewig. Johannes fühlte, wie alle Angst für einen Moment verschwand und sein Herz sich in einen Schwarm von Schmetterlingen auflöste. Er war so glücklich, als hätte er das ganze Leben lang nur für diesen Augenblick gelebt – hier mit Jelena sitzend, eng aneinander gekauert unter einem Fenster, eine Perle in seiner Hand.
* * *
Kolja sah aus, als hätte er die Nacht damit verbracht, auf die Straße zu starren. Seine Augen waren verquollen und rot, seine Laune dagegen rabenschwarz.
Dennoch versuchte er höflich zu seinen Gästen zu sein, die schon so früh auf den Beinen waren. Die Kascha schmeckte nach Lehm und Wurmmehl, aber Jelena und Johannes löffelten sie ohne eine einzige Bemerkung aus und hörten dem Gemurmel zu, das wie heißer Fettdampf durch die Stube waberte. Von einem Brand war die Rede, der nur mühsam gelöscht werden konnte, von Brandstiftern und Räubern. Die Stadtwache hatte mehrere verdächtige Gestalten verhaftet, die sich in der Nähe von Karpakows Haus herumgetrieben hatten. Die Wirtin, Koljas Frau, bekreuzigte sich mehrfach und murmelte etwas vom Teufel, und Johannes musste Jelena unter dem Tisch einen leichten Tritt gegen das Schienbein geben, weil sie sich ein Lachen nicht verkneifen konnte. Viel sagend sah sie ihn an, zog die Augenbraue hoch und nickte. »Lasst dieses Geschwätz von Teufeln nicht den Zaren hören«, brummte Kolja mit einem Blick auf Johannes. Johannes tat so, als habe er den Wink an die Frau nicht verstanden, aber er befand, dass es an der Zeit war, aufzubrechen. Hastig schlangen sie den Rest des Frühstücks hinunter und holten ihre Habseligkeiten.
Die Straßen schliefen noch, die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen und das diesige Morgenlicht breitete über die Straßen, in denen vor wenigen Stunden noch ein Aufstand getobt hatte, einen stillen Schleier.
»So früh unterwegs?«, wollte der Wächter am Stadttor wissen. Er musterte die beiden Reisenden von Kopf bis Fuß. Johannes war unbehaglich zumute, aber er beschloss sich nicht einschüchtern zu lassen. Wenige Schritt weiter war der Weg – wenn sie es bis zum Waldrand schafften, waren sie frei.
»Der Arzt des Zaren wartet nicht«, erwiderte er mit selbstbewusster Stimme. Ohne eine weitere Erklärung zückte er das Sendschreiben mit dem zarischen Wappen und dem Apothekersiegel. Es war klar, dass der Wachsoldat die Buchstaben nicht lesen konnte, aber das Wappen mit dem doppelköpfigen, gekrönten Adler beeindruckte ihn sichtlich.
»In die neue Stadt zieht ihr, ja?«, fragte er.
Johannes nickte gewichtig. »Wie Ihr hier gelesen habt, sollen wir uns ohne Verzögerung wieder zur Apotheke in der Peter-und-Paul-Festung begeben.«
Er beugte sich vertraulich vor. »Ein Oberst ist erkrankt, hier …«, er klopfte auf sein Bündel, »… sind die Zutaten aus Moskau für seine Medizin.«
Der Soldat betrachtete das Bündel, schließlich winkte er sie durch. »Dann steht nicht rum«, bellte er. »Der Zar wartet nicht!«
Erleichtert, dass er kein Bestechungsgeld gefordert hatte, nahmen sie ihn beim Wort und entfernten sich mit raschen Schritten. Johannes spürte den Blick des Soldaten im Rücken wie einen fragend tippenden Finger. »Nicht umschauen«, flüsterte Jelena ihm zu.
Hufgetrappel erklang in der Ferne. Wie schon unzählige Male an diesem Morgen griff Johannes nach dem Beutel, der wieder an seinem Gürtel hing, und vergewisserte sich, dass die Perle noch da war. Die Reiter auf dem Weg wurden größer, vor dem morgenhellen Himmel erhoben sich ihre Silhouetten.
Etwas an diesem Bild störte Johannes und auch Jelena ging plötzlich langsamer, bis sie schließlich stehen blieb. »Soldaten?«, murmelte sie.
Ein angstvolles Klopfen machte sich in Johannes’ Brust bemerkbar. Jetzt erkannte er auch die Uniformen. Vier Dragoner mit Gewehren waren es und zwei Grenadiere in blauen Uniformröcken. Sie galoppierten auf die Stadt zu, als hätten sie einen wichtigen Auftrag.
»Warum habe ich das Gefühl, dass wir laufen sollten?«, murmelte Jelena.
»Weil du Recht hast«, erwiderte Johannes. Im nächsten Moment sprangen sie vom Weg ab, duckten sich und flohen hinter ein paar armselige Büsche. Im Morgenlicht wirkten die Gesichter der Soldaten wächsern. Zwei davon kannte Johannes nur zu gut.
»Derejews Leute«, flüsterte er. Jelena wurde blass.
»Suchen sie uns?«
»Wenn nicht, dann werden sie es bald tun«, antwortete Johannes. »Sie werden zu Karpakow reiten.
Wahrscheinlich sind sie seine Eskorte nach Sankt Petersburg.«
Jelena nickte unmerklich. »Mit den Pferden sind sie uns einen Tag voraus, wenn nicht sogar mehr.«
Die Reiter wurden kleiner und verloren sich vor der Stadt. »Wir könnten Glück haben«, meinte Johannes. »Wenn Karpakow nicht entdeckt, dass die Perle fehlt, haben wir eine Chance. Wir dürfen nur keine Zeit verlieren.«