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Erster TeilLAURA

Geliebt zu werden macht stark; selbst zu lieben macht mutig.

LAO-TSE

Eine Kerze im Wind

1

In der Nacht, in der Laura Shane geboren wurde, wütete ein Schneesturm, und das Wetter war überhaupt so eigenartig, daß die Menschen sich noch jahrelang daran erinnerten.

Der 12. Januar 1955, ein Mittwoch, war grau, düster und eisig. In der Abenddämmerung wirbelten aus der tiefhängenden Wolkendecke große, weiche Flocken herab, und die Einwohner von Denver machten sich auf einen Blizzard aus den Rocky Mountains gefaßt. Etwa ab 22 Uhr blies ein eiskalter Sturm von Westen her, heulte von den Gebirgspässen herunter und tobte über die zerklüfteten, bewaldeten Bergflanken. Die Schneeflocken wurden kleiner, bis sie fein waren wie Sandkörner - und es klang wie das Reiben von Schmirgelkörnern, als der Wind sie gegen die Fenster von Dr. Paul Markwells mit Bücherregalen verstellten Arbeitszimmer trieb.

Markwell hockte zusammengesunken in seinem Schreibtischsessel und trank Scotch, um sich warm zu halten. Das beständige Frösteln, das ihm zusetzte, war jedoch nicht auf das Winterwetter, sondern auf eine innerliche Erkaltung von Herz und Verstand zurückzuführen.

Seitdem Lenny, sein einziges Kind, vor vier Jahren an Kinderlähmung gestorben war, war Markwell immer mehr dem Alkohol verfallen. Und obwohl er Bereitschaftsdienst für Notfälle im Country Medical Center hatte, griff er jetzt nach der Flasche und schenkte sich noch einen Chivas Regal ein.

In diesem aufgeklärten Jahr 1955 wurden die Kinder mit Dr. Jonas Salks Impfstoff gegen Kinderlähmung geimpft, und der Tag war nahe, an dem kein Kind mehr durch Poliomyelitis Lähmungen oder gar den Tod erleiden würde. Aber Lenny war 1951 - ein Jahr vor der Erprobung von Salks Impfstoff - an Kinderlähmung erkrankt. Auch die Atemmuskeln des Jungen waren von der Lähmung erfaßt worden, und eine Entzündung der Bronchien hatte den Fall zusätzlich kompliziert. Lenny hatte keine Überlebenschance gehabt.

Von den Bergen im Westen hallte ein dumpfes Grollen durch die Winternacht, aber Markwell achtete zunächst nicht darauf. Er war so sehr in seiner eigenen unablässigen, abgrundtiefen Trauer befangen, daß er Ereignisse, die sich um ihn herum abspielten, mitunter nur im Unterbewußtsein wahrnahm.

Auf Markwells Schreibtisch stand ein gerahmtes Photo Len-nys. Selbst nach vier Jahren quälte ihn das lächelnde Gesicht seines Sohnes noch immer. Er hätte das Photo wegräumen sollen, ließ es jedoch sichtbar stehen, weil unaufhörliche Selbstzerfleischung die Methode war, mit der er für seine Schuld zu büßen versuchte.

Keiner von Paul Markwells Kollegen ahnte etwas von seinem Alkoholproblem. Er wirkte niemals betrunken. Seine Fehler bei der Behandlung einiger Patienten hatten zu Komplikationen geführt, die auch auf natürliche Weise hätten entstehen können und nicht als ärztliche Kunstfehler erkannt worden waren. Er wußte, daß er gepfuscht hatte, und die Selbstverachtung trieb ihn nur noch mehr dazu, sich dem Alkohol zu ergeben.

Das Grollen wiederholte sich. Diesmal erkannte er es als Donner, aber er wunderte sich noch immer nicht darüber.

Das Telefon klingelte. Der Scotch hatte ihn stumpf und träge gemacht, so daß er erst nach dem dritten Klingeln den Hörer abnahm. »Hallo?«

»Dr. Markwell? Henry Yamatta.« Die Stimme Yamattas, eines Assistenzarztes im County Medical Center, klang nervös. »Eine unserer Patientinnen, Janet Shane, ist eben von ihrem Mann eingeliefert worden. Ihre Wehen haben eingesetzt. Tatsächlich sind die Shanes durch den Schneesturm so lange aufgehalten worden, daß es schon ziemlich weit ist bei ihr.«

Markwell trank Scotch, während er zuhörte. Er konstatierte zufrieden, daß seine Stimme nicht undeutlich klang, als er fragte: »Ist sie noch in der ersten Phase?«

»Ja, aber ihre Wehen sind für dieses Stadium sehr stark und halten ungewöhnlich lange an. Aus der Scheide tritt mit Blut vermischter Schleim aus, der ...«

»Das ist normal.«

»Nein, nein!« widersprach Yamatta ungeduldig. »Das hat nichts mit dem Zervixpfropfen zu tun.«

Das Ausgestoßenwerden dieses Schleimpfropfens, der den Gebärmutterhals verschloß, war ein sicheres Anzeichen für das Einsetzen der Wehen. Yamatta jedoch berichtete, Mrs. Shane habe bereits starke Wehen. Markwells Hinweis, die Sache sei durchaus normal, war also ein falscher Schluß gewesen.

»Eine innere Blutung scheint nicht vorzuliegen«, fuhr Yamatta fort, »aber irgend etwas ist nicht in Ordnung. Gebärmutterträgheit, Steißlage des Kindes, anlagebedingte Komplikationen .«

»Physiologische Unregelmäßigkeiten, die eine Schwangerschaft hätten gefährden können, wären mir aufgefallen«, unterbrach Markwell ihn scharf. Aber er wußte, daß er sie möglicherweise nicht bemerkt hatte, weil er betrunken gewesen war. »Dr. Carlson hat heute Nachtdienst. Falls Mrs. Shanes Zustand sich verschlechtert, bevor ich da bin, soll er ...«

»Bei uns sind eben vier Unfallopfer eingeliefert worden, zwei davon in sehr schlechter Verfassung. Carlson hat alle Hände voll zu tun. Wir brauchen Sie, Dr. Markwell.«

»Ich komme sofort. Zwanzig Minuten.«

Markwell legte auf, trank seinen Scotch aus und holte eine Pfefferminzpastille aus seiner Jackentasche. Seitdem er zum Alkoholiker geworden war, trug er stets solche Bonbons bei sich. Während er die Pastille auswickelte und sie sich in den Mund steckte, verließ er sein Arbeitszimmer und ging den Flur entlang zum Garderobenschrank in der Diele.

Er war betrunken und würde als Geburtshelfer fungieren, und er würde die Entbindung vielleicht verpfuschen, was das Ende seiner beruflichen Laufbahn und seines guten Rufes bedeuten konnte, aber das alles kümmerte ihn nicht. Tatsächlich wünschte er sich diese Katastrophe mit geradezu perverser Sehnsucht herbei.

Als er seinen Wintermantel anzog, erschütterte ein Donnerschlag die Nacht. Das ganze Haus erbebte davon.

Markwell runzelte die Stirn und starrte das Fenster neben der Haustür an. Feiner, trockener Schnee wirbelte gegen das Glas, blieb für kurze Zeit ruhig schweben, wenn der Wind Atem schöpfte, und wirbelte dann weiter. Im Laufe der Jahre hatte er einige Male bei Schneestürmen Donnergrollen erlebt - allerdings stets nur zu Beginn und immer gedämpft und weit entfernt, nie so bedrohlich wie diesmal.

Ein Blitz zuckte herab, dann noch einer. Im unsteten Licht flackerten die Schneekristalle seltsam auf, das Fenster verwandelte sich vorübergehend in einen Spiegel, in dem Markwell sein gequältes Gesicht sah. Der nun folgende Donnerschlag war lauter als alle bisherigen.

Er öffnete die Haustür und blickte neugierig in die sturmgepeitschte Nacht hinaus. Der heulende Wind trieb den Schnee unters Vordach und gegen die Fassade des Hauses. Auf dem Rasen lag eine sechs bis acht Zentimeter hohe Neuschneedek-ke, die dem Wind zugekehrten Zweige der großen Tannen waren ebenfalls weiß bestäubt.

Wieder ein Blitz - diesmal gleißend hell, so daß Markwell geblendet wurde. Der Donner war gewaltig, schien nicht nur vom Himmel, sondern auch aus der Erde zu kommen, als spalteten sich Himmel und Erde, um das Nahen des Jüngsten Gerichts anzukündigen. Zwei lange, grelle, sich überlagernde Blitzstrahlen zerrissen das Dunkel. In allen Himmelsrichtungen sprangen, zuckten und pulsierten unheimliche Silhouetten. Die Schatten von Verandageländern, Brüstungen, Bäumen, kahlen Sträuchern und Straßenlaternen wurden durch jeden Blitz so schaurig entstellt, daß Markwells vertraute Umgebung die Züge eines surrealistischen Gemäldes annahm: Das unirdische Licht erhellte gewöhnliche Gegenstände so eigentümlich, daß sie wie beunruhigende Mutationen ihrer selbst wirkten.

Der von Blitzen zerrissene Himmel, die krachenden Donnerschläge, der heulende Sturm und das wirbelnde Schneetreiben nahmen Markwell die Orientierung, abrupt fühlte er sich erstmals in dieser Nacht betrunken. Er fragte sich, wie viele dieser bizarren Phänomene real waren - und wie viele auf alkoholbedingte Halluzinationen zurückgingen. Er tastete sich über die rutschigen Steinplatten unter dem Vordach zu den auf den schneebedeckten Gehsteig hinabführenden Stufen vor, lehnte sich an eine der das Dach tragenden Säulen und verrenkte sich fast den Hals, um zu dem von Blitzen erhellten Nachthimmel aufsehen zu können.

Eine ganze Kette von Blitzen tauchte den Vorgartenrasen und die Straße immer wieder in flackerndes Licht, so daß die Szene an einen in einem defekten Projektor ruckweise weiterlaufenden Kinofilm erinnerte. Alle Farben waren aus der Nacht herausgebrannt; zurück blieben lediglich die gleißende Helligkeit der Blitze, das Dunkel des sternenlosen Himmels, das blendende Weiß des Schnees und das tiefe Schwarz der bebenden Schatten.

Während er diese kuriosen Himmelserscheinungen staunend und ängstlich beobachtete, spaltete ein weiterer Blitzstrahl das Himmelsgewölbe. Seine die Erde suchende Spitze fuhr in eine nur zwanzig Meter entfernte gußeiserne Straßenlaterne, und Markwell schrie unwillkürlich erschrocken auf. Im Augenblick des Kontakts wurde die Nacht weißglühend, die Glasscheiben der Laterne explodierten förmlich. Der gleichzeitige Donner vibrierte in Markwells Zähnen und ließ den Boden unter seinen Füßen erbeben. Die kalte Nachtluft stank im selben Augenblick nach Ozon und heißem Eisen.

Stille und Dunkelheit kehrten zurück.

Markwell hatte seine Pfefferminzpastille verschluckt.

Entlang der Straße tauchten verdutzte Nachbarn vor ihren Haustüren auf. Oder vielleicht hatten sie schon während des gesamten Aufruhrs dort gestanden, und er nahm sie erst jetzt wahr, da die verhältnismäßige Ruhe eines gewöhnlichen Schneesturms wieder eingekehrt war. Einige wenige stapften durch den Schnee, um die beschädigte Straßenlaterne, deren Leuchtkörper halb geschmolzen zu sein schien, aus der Nähe zu begutachten. Sie sprachen laut miteinander, riefen auch etwas zu Markwell herüber, der jedoch keine Antwort gab.

Die schrecklichen Himmelserscheinungen hatten ihn keineswegs nüchtern gemacht. Da er fürchtete, die Nachbarn könnten merken, daß er betrunken war, wandte er sich ab und trat ins Haus zurück.

Außerdem hatte er keine Zeit, übers Wetter zu schwatzen. Er mußte eine Schwangere behandeln, bei einer Entbindung als Geburtshelfer fungieren.

Markwell bemühte sich, seine Bewegungen unter Kontrolle zu bekommen, während er einen Wollschal aus dem Garderobenschrank holte, ihn sich um den Hals schlang und die Enden vor der Brust übereinanderschlug. Seine Hände zitterten, seine Finger waren etwas steif, aber es gelang ihm, seinen Mantel zuzuknöpfen. Als er sich bückte, um seine Galoschen überzuziehen, hatte er gegen einen Schwindelanfall anzukämpfen.

Er war davon überzeugt, die ungewöhnlichen Blitze seien von irgendeiner speziellen Bedeutung für ihn. Ein Zeichen, ein Omen. Unsinn! Daran war nur der Whisky schuld, der ihn benebelte. Trotzdem wurde er dieses Gefühl nicht los, während er in die Garage ging, das Tor öffnete und seinen Wagen rückwärts in die Einfahrt hinausrollen ließ, wobei die Ketten an den Winterreifen leise im Schnee knirschten.

Als Markwell den Hebel des Automatikgetriebes in Stellung P brachte, um aussteigen und das Garagentor schließen zu können, klopfte jemand kräftig an die Scheibe. Er drehte verblüfft den Kopf zur Seite und sah einen Mann, der sich bückte und ihn durchs Glas hindurch anstarrte.

Der Unbekannte war schätzungsweise Mitte Dreißig, hatte ein energisches, gutgeschnittenes Gesicht und wirkte selbst durch die teilweise beschlagene Scheibe hindurch imposant. Er trug eine halblange Seemannsjacke mit hochgeschlagenem Kragen. In der eisigen Winterluft dampften seine Nasenlöcher, und als er sprach, waren seine Worte von fahlen Atemwolken begleitet. »Doktor Markwell?«

Markwell kurbelte sein Fenster herunter. »Ja?«

»Doktor Paul Markwell?«

»Ja, ja, sag’ ich doch! Aber ich habe nachts keine Sprechstunde und muß ins Krankenhaus zu einer Patientin.«

Der Fremde hatte außergewöhnlich blaue Augen, die Markwell an einen klaren Winterhimmel erinnerten, der sich im millimeterdicken Eis eines eben zugefrorenen Tümpels spiegelte. Sie hatten etwas Anziehendes an sich, waren eigentlich sogar schön zu nennen, aber er wußte sofort, daß dies auch die Augen eines gefährlichen Mannes waren.

Bevor Markwell auf die Straße zurückstoßen konnte, wo Hilfe zu finden gewesen wäre, steckte der Mann in der Seemannsjacke eine Pistole durchs offene Autofenster. »Machen Sie keine Dummheiten.«

Als die Mündung sich ins weiche Fleisch unter seinem Kinn drückte, konstatierte der Arzt einigermaßen überrascht, daß er nicht sterben wollte. Er hatte lange die Vorstellung gehegt, er sei bereit, den Tod mit offenen Armen zu empfangen. Anstatt nun jedoch die Erkenntnis zu begrüßen, daß er durchaus noch Lebenswillen besaß, hatte er jetzt ein schlechtes Gewissen. Weiterleben zu wollen erschien ihm wie Verrat an seinem Sohn, mit dem er nur im Tode vereint sein konnte.

»Scheinwerfer aus, Doktor. Gut. Jetzt stellen Sie den Motor ab.«

Markwell zog den Zündschlüssel ab. »Wer sind Sie?«

»Das ist unwichtig.«

»Für mich nicht. Was wollen Sie? Was haben Sie mit mir vor?«

»Tun Sie, was ich Ihnen sage, dann haben Sie nichts zu befürchten. Sollten Sie aber abhauen wollen, blase ich Ihnen das Hirn aus dem Schädel und verwende den Rest des Magazins nur so zum Spaß dazu, Ihre Leiche zu durchlöchern.« Seine Stimme war leise, klang paradoxerweise angenehm, aber nur zu überzeugend. »Geben Sie mir die Schlüssel.«

Markwell reichte sie ihm durchs offene Fenster.

»Kommen Sie jetzt raus.«

Markwell, der allmählich nüchtern wurde, stieg langsam aus. Der eisige Wind stach sein Gesicht wie mit Nadeln. Er mußte die Augen zusammenkneifen, um sie vor dem eisigen Schnee zu schützen.

»Drehen Sie das Fenster rauf, bevor Sie die Tür schließen.« Der Unbekannte stand dicht neben ihm und verhinderte so jeglichen Fluchtversuch. »Okay, sehr gut. Jetzt gehen wir miteinander in die Garage, Doktor.«

»Das ist doch verrückt! Was ...«

»Los!«

Der Unbekannte blieb an Markwells Seite und hielt ihn am linken Arm fest. Selbst wenn sie aus einem Nachbarhaus oder von der Straße aus beobachtet worden wären, hätte man im schwachen Licht und wegen des Schneefalls die Pistole nicht sehen können.

In der Garage schloß Markwell auf Anweisung des Unbekannten das große Tor. Die kalten, ungeölten Angeln quietschten.

»Wenn Sie Geld wollen ...«

»Maul halten und ins Haus gehen.«

»Hören Sie, eine meiner Patientinnen liegt mit Wehen im Krankenhaus und .«

»Wenn Sie jetzt nicht die Klappe halten, schlage ich Ihnen mit dem Pistolengriff sämtliche Zähne ein - dann können Sie nicht mehr reden.«

Markwell glaubte ihm. Obwohl der andere mit gut einsachtzig Größe und etwa 80 Kilogramm Gewicht nicht größer und wohl sogar leichter war als Markwell, hatte er Angst vor ihm. Sein blondes Haar war mit abtauendem Schnee bedeckt, und als die Wassertropfen ihm jetzt über Stirn und Wangen liefen, strahlte er so wenig menschliche Wärme aus wie eine Eisstatue beim Winterkarneval. Markwell zweifelte nicht daran, daß der Unbekannte in der Seemannsjacke bei einer tätlichen Auseinandersetzung die meisten Gegner mühelos besiegen würde -und erst recht einen untrainierten, angetrunkenen Arzt mittleren Alters.

In dem für werdende Väter reservierten, viel zu kleinen Wartezimmer der Gynäkologischen Abteilung litt Bob Shane fast an Platzangst. Der Raum hatte eine niedrige Decke aus Schalldämmplatten, mattgrüne Wände und ein einziges Fenster, dessen Rahmen außen Eis angesetzt hatte. Die Luft war zu warm. Die sechs Stühle und zwei niedrigen Tische waren zuviel Mobiliar für den winzigen Raum. Bob kämpfte gegen den Drang an, die beiden Flügel der Schwingtür aufzustoßen, hinaus auf den Korridor zu stürmen, quer durchs Krankenhaus zu rennen und am anderen Ende in die Winternacht hinauszustürzen, wo es weder nach Desinfektionsmitteln noch nach Krankheiten stank.

Trotzdem blieb er im Wartezimmer der Gynäkologischen Abteilung, um in Janets Nähe zu sein, falls sie ihn brauchte. Irgendwas stimmte nicht mit ihr. Gewiß, Wehen waren schmerzhaft - aber nicht so gräßlich wie die brutalen, endlosen Krämpfe, unter denen Janet nun schon so lange litt. Die Ärzte wollten nicht zugeben, daß ernste Komplikationen aufgetreten waren, aber ihre Besorgnis war unverkennbar.

Bob verstand die Ursache seiner Platzangst. Er fürchtete nicht wirklich, die Wände würden immer näher zusammenrük-ken. Was er fürchtete, war das Nahen des Todes, vielleicht der seiner Frau oder seines noch ungeborenen Kindes - oder beider.

Die Schwingtür ging nach innen auf und Dr. Yamatta kam herein.

Als Bob aufsprang, stieß er einen der niedrigen Tische an und verstreute ein halbes Dutzend Illustrierte über den Fußboden. »Wie geht’s ihr, Doc?«

»Nicht schlechter.« Yamatta war ein kleiner, schlanker Mann mit freundlichem Gesicht und großen, traurigen Augen. »Doktor Markwell ist hierher unterwegs.«

»Sie warten doch nicht etwa mit ihrer Behandlung, bis er da ist?«

»Nein, nein, natürlich nicht. Sie wird gut versorgt. Ich habe nur gedacht, es würde Sie erleichtern, wenn Sie hören, daß Ihr eigener Arzt kommt.«

»Oh. Nun, ja ... danke. Hören Sie, darf ich zu ihr, Doc?«

»Noch nicht«, sagte Yamatta.

»Wann?«

»Wenn sie ... weniger Schmerzen hat.«

»Was für ‘ne Antwort soll das sein? Wann hat sie weniger Schmerzen? Wann wird ihr endlich geholfen, verdammt noch mal?« Er bedauerte seinen Ausbruch sofort. »Ich ... Entschuldigen Sie, Doc. Ich hab’ nur ... schreckliche Angst.«

»Ich weiß, ich weiß.«

Eine Verbindungstür führte von der Garage ins Haus. Sie gingen durch die Küche, folgten dem Erdgeschoßflur und machten unterwegs überall Licht. Von ihren Stiefeln fielen tauende Schneeklumpen.

Der Mann mit der Pistole begutachtete Eßzimmer, Wohnzimmer, Arbeitszimmer, Sprechzimmer und Wartezimmer. »Nach oben«, entschied er dann.

Im Elternschlafzimmer schaltete der Unbekannte eine Nachttischlampe ein. Er holte den Stuhl mit dem Sitzpolster in Petitpoint-Stickerei vom Toilettentisch und stellte ihn mitten ins Zimmer.

»Doktor, legen Sie bitte Handschuhe, Mantel und Schal ab.«

Markwell gehorchte, ließ die Kleidungsstücke zu Boden fallen und setzte sich auf Anweisung des Bewaffneten auf den Stuhl.

Der Unbekannte legte seine Pistole auf die Kommode und zog aus einer Jackentasche ein zusammengerolltes Seil. Dann griff er hinten unter die Jacke und brachte ein kurzes Messer mit breiter Klinge zum Vorschein, das er offenbar in einer Messerscheide am Gürtel trug. Er zerschnitt das Seil in mehrere Stücke, mit denen er zweifellos vorhatte, Markwell an den Stuhl zu fesseln.

Der Arzt starrte die Pistole auf der Kommode an und überlegte, wie seine Chancen standen, an die Waffe heranzukommen, bevor der Unbekannte sie erreichen konnte. Dann begeg-nete er dem Blick der eisblauen Augen des anderen und merkte, daß sein Gegner seine Absicht so klar durchschaute, wie ein Erwachsener eine einfache Kinderlist erkannte.

Der Blonde lächelte, als wollte er sagen: Los, versuch’s doch!

Paul Markwell wollte weiterleben. Er blieb stumm und gefügig, während der Eindringling ihm Hände und Füße an den Stuhl fesselte.

Der Unbekannte, der die Knoten straff, aber nicht schmerzhaft anzog, schien um sein Opfer eigenartig besorgt zu sein. »Ich will Sie nicht knebeln müssen. Sie sind betrunken, und wenn ich Ihnen ein Tuch in den Mund stopfe, könnten Sie sich übergeben müssen und daran ersticken. Deshalb werde ich Ihnen bis zu einem gewissen Punkt vertrauen. Sollten Sie aber um Hilfe rufen, erschieße ich Sie auf der Stelle. Haben Sie verstanden?«

»Ja.«

Sobald der Bewaffnete mehr als nur ein paar Worte sprach, machte sich ein vager, sehr schwacher Akzent bemerkbar, den Markwell nicht einordnen konnte. Er neigte dazu, die Endungen mancher Wörter zu verschlucken, und hatte eine nur leicht merkbare kehlige Aussprache.

Der Unbekannte setzte sich auf die Bettkante und legte eine Hand auf den Telefonhörer. »Welche Nummer hat das County Medical Center?«

Markwell blinzelte mehrmals. »Weshalb?«

»Ich habe Sie nach der Nummer gefragt, verdammt noch mal! Wenn Sie sie mir nicht geben wollen, prügele ich sie lieber aus Ihnen heraus, als sie im Telefonbuch nachzuschlagen.«

Markwell gab ihm eingeschüchtert die Nummer an.

»Wer hat dort heute Nachtdienst?«

»Doktor Carlson, Herb Carlson.«

»Ein brauchbarer Arzt?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ist er ein besserer Arzt als Sie - oder auch ein Trinker?«

»Ich bin kein Trinker. Ich habe ...«

»Sie sind ein verantwortungsloser, von Selbstmitleid triefender Säufer, das wissen Sie recht gut! Beantworten Sie meine Frage, Doktor. Ist Carlson zuverlässig?«

Markwells plötzliche Übelkeit war nur zum Teil auf den vielen Scotch zurückzuführen, den er getrunken hatte; die zweite Ursache war sein Ekel vor der Wahrheit, die der Eindringling ausgesprochen hatte. »Ja, Herb Carlson taugt was. Er ist ein sehr guter Arzt.«

»Welche Oberschwester hat heute nacht Dienst?«

Markwell mußte kurz überlegen. »Ella Hanlow, glaube ich. Aber ich bin nicht sicher. Sonst ist’s Virginia Keene.«

Der Unbekannte rief das Krankenhaus an, gab vor, in Dr. Paul Markwells Auftrag zu sprechen, und verlangte Ella Hanlow.

Ein heftiger Windstoß traf das Haus, pfiff um den Giebel, ließ ein nicht ganz dicht schließendes Fenster klappern und brachte Markwell wieder den Sturm in Erinnerung. Während er durchs Fenster die rasch fallenden Schneeflocken beobachtete, fühlte er sich für kurze Zeit erneut desorientiert. Diese Nacht war so ereignisreich - wegen der Blitze, wegen des geheimnisvollen Eindringlings -, daß sie ihm plötzlich unwirklich vorkam. Er zerrte an den Stricken, die ihn an den Stuhl fesselten, erwartete, daß sie, als Produkt eines Whiskytraums, sogleich wie Spinnweben zerreißen würden. Aber sie hielten, und die Anstrengung machte ihn wieder schwindlig.

»Oberschwester Hanlow?« fragte der Unbekannte am Telefon. »Doktor Markwell kann heute nacht nicht ins Krankenhaus kommen. Eine seiner Patientinnen - Janet Shane - steht dort vor einer schwierigen Entbindung. Hmmmm? Ja, natürlich. Er möchte, daß Doktor Carlson ihn vertritt. Nein, nein, ich fürchte, daß er unmöglich kommen kann. Nein, nicht wegen des Wetters. Er ist betrunken. Ganz recht. Er wäre eine Gefahr für die Patientin. Nein ... er ist so betrunken, daß es zwecklos wäre, ihn an den Apparat zu holen. Tut mir leid. Er hat in letzter Zeit ziemlich viel getrunken und es zu vertuschen versucht, aber heute abend geht’s ihm schlechter als sonst. Hmmm? Ich bin ein Nachbar. Okay. Besten Dank, Oberschwester. Gute Nacht.«

Markwell war wütend, aber seltsamerweise auch erleichtert darüber, daß sein Geheimnis preisgegeben worden war. »Sie haben mich ruiniert, Sie Schweinehund!«

»Nein, Doktor, Sie haben sich selbst ruiniert. Selbsthaß zerstört Ihre Karriere. Und er hat Ihre Frau dazu gebracht, Sie zu verlassen. Natürlich hatte es in Ihrer Ehe schon zuvor gekriselt, aber sie hätte sich vielleicht retten lassen, wenn Lenny überlebt hätte. Vielleicht sogar auch noch nach seinem Tod, wenn Sie sich nicht völlig in sich selbst zurückgezogen hätten.«

Markwell starrte ihn verblüfft an. »Verdammt noch mal, woher wissen Sie, wie’s mit Anna und mir gewesen ist? Und woher wissen Sie über Lenny Bescheid? Ich sehe Sie heute zum ersten Mal. Wie können Sie irgend etwas über mich wissen?«

Der Unbekannte ignorierte alle Fragen, stellte zwei Kissen ans gepolsterte Kopfende des Betts, legte seine nassen, schmutzigen Stiefel auf die Tagesdecke und streckte sich behaglich aus. »Auch wenn Sie sich wegen Lennys Tod Vorwürfe machen, sind Sie nicht daran schuld. Sie sind bloß Arzt -kein Wunderheiler. Aber daß Sie Anna verloren haben, ist Ihre Schuld. Und was Sie seither geworden sind - eine akute Gefahr für Ihre Patienten -, ist ebenfalls Ihre Schuld.«

Markwell schien widersprechen zu wollen; dann seufzte er jedoch und ließ den Kopf nach vorn sinken, bis sein Kinn die Brust berührte.

»Wissen Sie, wo’s bei Ihnen fehlt, Doktor?«

»Das erzählen Sie mir bestimmt gleich.«

»Ihr Manko ist, daß Sie niemals um etwas haben kämpfen, sich niemals haben durchbeißen müssen. Sie haben einen wohlhabenden Vater gehabt und deshalb alles bekommen, was Sie wollten: Privatschule, erstklassige Universität, einen guten Beruf. Und obwohl Sie beruflich erfolgreich waren, brauchten Sie das verdiente Geld nie - Sie hatten schließlich Ihre Erbschaft. Als Lenny dann an Kinderlähmung erkrankte, konnten Sie diesen Schicksalsschlag nicht verwinden, weil Sie keine Übung darin hatten. Ihnen hat die Schutzimpfung gefehlt; Sie hatten keine Widerstandskraft und sind deshalb einem akuten Anfall von Verzweiflung erlegen.«

Markwell hob den Kopf und blinzelte, bis er wieder klar sehen konnte. »Das verstehe ich nicht«, sagte er.

»Durch Ihr Leiden haben Sie etwas dazugelernt, Markwell, und wenn Sie lange genug nüchtern bleiben, um darüber nachzudenken, kommen Sie vielleicht wieder ins Gleis. Sie haben noch immer eine minimale Chance, Ihrem Leben eine Wende zu geben.«

»Vielleicht will ich ihm keine Wende geben.«

»Das könnte stimmen, fürchte ich. Ich glaube, daß Sie Angst vor dem Sterben haben, aber ich weiß nicht, ob Sie den Mut zum Weiterleben haben.«

Der Arzt merkte, daß sein Atem nach Pfefferminz und abgestandenem Whisky roch. Seine Kehle war wie ausgedörrt, seine Zunge schien geschwollen zu sein. Er sehnte sich nach einem Drink.

Markwell ruckte halbherzig an den Stricken, die seine Hände an den Stuhl fesselten. Er ärgerte sich darüber, wie jämmerlich winselnd seine Stimme klang, war jedoch außerstande, seine Würde zurückzugewinnen, als er jetzt fragte: »Was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Ich will verhindern, daß Sie heute nacht ins Krankenhaus fahren. Ich will dafür sorgen, daß nicht Sie Janet Shane von ihrem Baby entbinden. Sie sind zu einem Pfuscher, einem potentiellen Killer geworden, dem diesmal das Handwerk gelegt werden muß.«

Markwell fuhr sich mit der Zungenspitze über seine trockenen Lippen. »Ich weiß noch immer nicht, wer Sie sind.«

»Und Sie werden’s auch nie erfahren, Doktor!«

Bob Shane hatte noch nie solche Angst gehabt. Aber er hielt seine Tränen aus dem abergläubischen Gefühl zurück, dieses offenkundige Eingeständnis seiner Angst könnte das Schicksal herausfordern und Janet und dem Baby den sicheren Tod bringen.

Er beugte sich auf dem Wartezimmerstuhl vor, senkte den Kopf und betete stumm: »Lieber Gott Janet hätte einen Besseren als mich verdient. Sie ist so hübsch, und ich bin ganz und gar durchschnittlich. Ich bin nur ein kleiner Geschäftsmann, und mein Lebensmittelladen an der Ecke wird niemals größere Gewinne abwerfen, aber sie liebt mich. Lieber Gott, sie ist gut, ehrlich, bescheiden ... sie hat’s nicht verdient, schon zu sterben. Vielleicht willst du sie zu dir holen, weil sie schon gut genug fürs Paradies ist. Aber ich bin noch längst nicht gut genug, und ich brauche ihre Hilfe, um ein besserer Mann werden zu können.«

Die Tür des Wartezimmers wurde geöffnet.

Bob hob den Kopf.

Dr. Carlson und Dr. Yamatta kamen in ihren grünen Arztkitteln herein.

Ihr Anblick erschreckte Bob, der jetzt langsam aufstand. Yamattas Blick war trauriger als je zuvor.

Carlson war ein großer, stattlicher Mann, dem es gelang, sogar in schlechtsitzender Krankenhauskleidung würdevoll zu wirken. »Mr. Shane ... ich bedauere, ich bedauere es sehr, aber Ihre Frau ist bei der Entbindung gestorben ...«

Bob stand wie versteinert da, als habe die Schreckensnachricht ihn zur Salzsäule erstarren lassen. Er bekam nur Teile der Ausführungen Carlsons mit.

». starke Gebärmutterverengung ... ein seltener Fall von anlagebedingter Gebärunfähigkeit. Sie hätte eigentlich nie schwanger werden dürfen. Tut mir schrecklich leid ... alles getan, was wir konnten ... starke Blutungen ... aber das Baby .«

Das Wort »Baby« ließ Bob aus seiner Erstarrung erwachen. Er trat zögernd einen Schritt auf Carlson zu. »Was haben Sie über das Baby gesagt?«

»Es ist ein Mädchen«, antwortete Carlson. »Ein gesundes Mädchen.«

Bob hatte befürchtet, alles sei verloren. Jetzt starrte er Carl-son an und wagte vorsichtig zu hoffen, daß ein Teil Janets nicht gestorben und er somit doch nicht ganz allein auf der Welt zurückgeblieben war. »Wirklich? Ein Mädchen?«

»Richtig«, bestätigte Carlos. »Ein außergewöhnlich hübsches Baby mit auffallend vollem dunkelbraunem Haar.«

Bob starrte Yamatta an, flüsterte: »Mein Baby lebt!«

»Ja«, sagte Yamatta. Ein wehmütiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Und dafür können Sie sich bei Doktor Carlson bedanken. Ihre Frau hat nie eine Chance gehabt, fürchte ich. Unter weniger erfahrenen Händen wäre vielleicht auch das Baby nicht durchgekommen.«

Bob wagte noch immer nicht recht, die gute Nachricht zu glauben, als er sich jetzt an Carlson wandte. »Meine ... meine Tochter lebt, und dafür muß man schon dankbar sein, nicht wahr?«

Die beiden Ärzte standen verlegen schweigend vor ihm. Dann legte Yamatta, der zu spüren schien, daß dieser Kontakt ihn trösten würde, Bob Shane eine Hand auf die Schulter.

Obwohl Bob zehn Zentimeter größer und 15 Kilogramm schwerer war als der zierliche Arzt, lehnte er sich gegen Yamatta. Er begann zu schluchzen, und Yamatta hielt ihn an sich gedrückt.

Der Unbekannte blieb noch eine Stunde bei Markwell, schwieg aber hartnäckig und beantwortete keine von Markwells Fragen. Er lag auf dem Bett, starrte die Zimmerdecke an, war offenbar so sehr in Gedanken vertieft, daß er sich kaum bewegte.

Als der Arzt wieder nüchtern wurde, begannen ihn bohrende Kopfschmerzen zu quälen. Wie gewöhnlich verstärkte sein Kater das Selbstmitleid, das ihn zum Trinker gemacht hatte.

Schließlich schaute der Eindringling auf seine Uhr. »Viertel vor zwölf. Ich muß weiter.« Er stand vom Bett auf, kam an den Stuhl und zog erneut sein Messer unter der Jacke hervor.

Markwell beobachtete ihn nervös.

»Ich schneide Ihre Fesseln jetzt halb durch, Doktor. Zwanzig, dreißig Minuten Anstrengung müßten Ihnen genügen, um sich zu befreien. Das läßt mir Zeit genug, um zu verschwinden.«

Als der Mann hinter den Stuhl trat und sich an die Arbeit machte, rechnete Markwell damit, im nächsten Augenblick das Messer zwischen die Rippen zu bekommen.

Aber der Unbekannte steckte sein Messer nach weniger als einer Sekunde weg und ging zur Schlafzimmertür. »Sie haben wirklich eine Chance, Ihrem Leben eine Wende zu geben, Doktor. Ich halte Sie für zu schwach dafür, aber ich hoffe, daß ich mich täusche.«

Er verließ den Raum.

Während Markwell sich zu befreien versuchte, hörte er etwa zehn Minuten lang rätselhafte Geräusche aus dem Erdgeschoß. Offenbar suchte der Eindringling nach Wertgegenständen. Obwohl er den Geheimnisvollen gespielt hatte, war er vielleicht doch nur ein Einbrecher mit äußerst merkwürdiger Arbeitsweise.

Als Markwell endlich seine Fesseln abstreifte, war es bereits 0.25 Uhr. Seine Handgelenke waren aufgeschürft und bluteten.

Obwohl seit einer halben Stunde keine Geräusche mehr aus dem Erdgeschoß zu hören waren, nahm er seine Pistole aus der Nachttischschublade und stieg vorsichtig die Treppe hinunter. Als erstes ging er ins Sprechzimmer, weil er damit rechnete, daß der Drogenschrank aufgebrochen sein würde. Aber die beiden weißen Hängeschränke mit Medikamenten waren unangetastet.

Markwell hastete in sein Arbeitszimmer, wo bestimmt der nicht sonderlich massive Wandsafe geknackt worden war. Auch dieser war unversehrt.

Als er sich verwirrt abwandte, fiel sein Blick auf leere Gin-, Whisky-, Wodka- und Tequilaflaschen, die sich im Ausguß der Hausbar türmten. Der Eindringling hatte sich lediglich noch die Zeit genommen, seine Alkoholvorräte zu suchen und wegzuschütten.

Am Spiegel hinter der Bar hing ein Zettel. Der Unbekannte hatte eine Nachricht in sauberer Druckschrift hinterlassen:

Wenn Sie nicht zu trinken aufhören, wenn Sie nicht lernen, Lennys Tod zu akzeptieren, nehmen Sie binnen Jahresfrist eine Pistole in den Mund und setzen so Ihrem Leben ein Ende. Das ist keine Voraussage, sondern eine Tatsache.

Markwell, der Zettel und Pistole umklammert hielt, sah sich in dem leeren Raum um, als wäre der Unbekannte noch immer da, unsichtbar, ein Gespenst, das nach Belieben zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wählen könne. »Wer bist du?« fragte er heiser. » Verdammt noch mal, wer bist du?«

Die einzige Antwort gab der ums Haus heulende Sturm, dessen klagenden Lauten Markwell jedoch keine Bedeutung zu entnehmen vermochte.

Nach einer sehr früh am Morgen erledigten Vorsprache bei einem Bestattungsunternehmen wegen Janets Beisetzung kam Bob Shane am nächsten Vormittag um 11 Uhr ins Krankenhaus, um seine neugeborene Tochter zu sehen. Nachdem er einen Baumwollkittel angezogen, eine Kappe aufgesetzt, eine Gesichtsmaske angelegt und sich unter Aufsicht einer Krankenschwester die Hände geschrubbt hatte, durfte er die Säuglingsstation betreten, wo er Laura behutsam aus ihrem Bettchen hob.

Sie lag in dem Raum mit neun anderen Neugeborenen. Alle Babys waren irgendwie hübsch, und Bob glaubte, von väterlicher Voreingenommenheit frei zu sein, wenn er Laura Jean dennoch für die hübscheste von allen hielt. Obwohl man sich Engel normalerweise blond und blauäugig vorstellte, wirkte Laura trotz ihrer braunen Augen und ihres braunen Haares engelhaft. In den zehn Minuten, die er sie auf dem Arm hielt, weinte sie keine Sekunde lang; sie blinzelte, bewegte die Augen, gähnte, sah auch nachdenklich drein - ganz, als wäre sie sich bewußt, eine Halbwaise zu sein, wisse, daß ihr Vater und sie in einer erbarmungslosen, gefährlichen Welt nun aufeinander angewiesen sein würden.

In eine Wand war ein großes Fenster eingelassen, durch das Verwandte die Neugeborenen betrachten konnten. Dahinter standen fünf Personen. Vier von ihnen lächelten, zeigten auf die Babys und schnitten Grimassen, um sie zu unterhalten.

Der fünfte Besucher war ein blonder Mann, der eine lange Seemannsjacke trug, in deren Taschen er seine Hände vergraben hatte. Er lächelte nicht, zeigte auf kein Neugeborenes und schnitt keine Grimassen. Er starrte Laura an.

Als der Unbekannte die Kleine auch nach einigen Minuten nicht aus den Augen ließ, begann Bob sich Sorgen zu machen. Der Kerl sah gut und vertrauenerweckend aus, aber da waren auch harte Linien in seinem Gesicht, und irgend etwas an ihm erweckte in Bob den Verdacht, dies sei ein Mann, der schon schreckliche Dinge erlebt und getan habe.

Bob erinnerte sich an sensationell aufgemachte Zeitungsmeldungen über Kindesentführer, die Babys stahlen, um sie auf dem Schwarzen Mark zu verkaufen. Dann warf er sich vor, unter Verfolgungswahn zu leiden und Gefahren zu sehen, wo keine waren, weil er nach Janets Tod nun fürchtete, auch seine Tochter zu verlieren. Aber je länger der blonde Mann Laura betrachtete, desto unbehaglicher wurde es Bob zumute.

Der Mann blickte auf, als spüre er dieses Unbehagen. Die beiden starrten sich an. Die blauen Augen des Fremden waren ungewöhnlich leuchtend und durchdringend. Bobs Angst verstärkte sich. Er hielt seine Tochter an sich gepreßt, als könnte der Unbekannte die Scheibe einschlagen und sie ihm entreißen. Er überlegte, ob er eine der Säuglingsschwestern rufen solle, damit sie mit dem Mann rede und ihn frage, was er hier zu suchen habe.

Dann lächelte der Unbekannte. Es war ein breites, warmes, ehrliches Lächeln, das sein Gesicht verwandelte. In dieser Sekunde wirkte er nicht mehr bedrohlich, sondern aufrichtig freundlich. Er blinzelte Bob zu und sagte hinter der dicken Fensterscheibe mit übertrieben deutlichen Lippenbewegungen nur ein Wort: »Wunderhübsch.«

Bob lächelte erleichtert, dann fiel ihm ein, daß man sein Lächeln wegen der Gesichtsmaske nicht sehen konnte, und er nickte dankend.

Der Unbekannte betrachtete Laura erneut, blinzelte Bob nochmals zu und verließ seinen Platz am Fenster.

Später, als Bob Shane heimgefahren war, trat ein großer Mann in dunkler Kleidung ans Besucherfenster der Säuglingsstation. Er hieß Kokoschka. Er betrachtete die Babys, dann verschob sich sein Blickfeld, und er nahm sein farbloses Spiegelbild in der blankgeputzten Scheibe wahr.

Er hatte ein breites, flaches Gesicht mit scharfen Zügen und so schmalen, harten Lippen, daß sie aus Horn hätten sein können. Auf seiner linken Backe saß ein fünf Zentimeter langer Schmiß. Seine dunklen Augen besaßen keine Tiefe, als wären die Pupillen auf Porzellankugeln aufgemalt; sie glichen den kalten Augen eines die düsteren Meerestiefen durchstreifenden Hais. Die Erkenntnis, wie sehr sein Gesicht sich von den unschuldigen Gesichtern der Säuglinge in den Bettchen hinter dem Fenster unterschied, belustigte ihn. Er lächelte, was er nur selten tat, aber da war keine Wärme, nur noch mehr Bedrohlichkeit in seinem Gesicht.

Er betrachtete sein Spiegelbild erneut. Es war ihm nicht schwergefallen, Laura Shane inmitten der übrigen Wickelkinder zu identifizieren, denn der Nachnahme jedes Kindes stand auf einem Namensschild über seinem Bettchen.

Weshalb gilt dir soviel Interesse, Laura? fragte er sich. Weshalb ist dein Leben so wichtig? Weshalb dieser ganze Aufwand, damit du sicher auf diese Welt gelangst? Soll ich dich jetzt umbringen und so die Pläne des Verräters durchkreuzen?

Ihre Ermordung hätte ihm keine Gewissensbisse bereitet. Er hatte schon früher Kinder umgebracht, allerdings noch nie so kleine. Kein Verbrechen war zu schrecklich, wenn es der Sache diente, der er sein Leben geweiht hatte.

Die Kleine schlief. Ab und zu bewegte sie die Lippen und verzog ihr winziges Gesicht, als träume sie sehnsüchtig und wehmütig von ihrer Zeit im Mutterleib.

Zuletzt beschloß er, sie nicht umzubringen. Noch nicht. »Liquidieren kann ich dich auch später, Kleine«, murmelte er. »Ich will erst wissen, welche Rolle du in den Plänen des Verräters spielst - dann kann ich dich beseitigen.«

Kokoschka verließ seinen Platz am Fenster. Er wußte, daß er das Mädchen über acht Jahre lang nicht wiedersehen würde.

2

In Südkalifornien regnet es im Frühjahr, Sommer und Herbst nur selten. Die eigentliche Regenzeit beginnt im Dezember und endet im März. Aber am 2. April 1963, einem Dienstag, war der Himmel bedeckt und die Luftfeuchtigkeit hoch. Bob Shane, der an der Eingangstür seines kleinen Lebensmittelgeschäfts in Santa Ana stand, rechnete ziemlich sicher damit, daß der letzte große Regenguß dieser Saison bevorstand.

Der Feigenbaum im Vorgarten des Hauses gegenüber und die Dattelpalme an der Straßenecke standen bei windstiller Luft unbewegt und schienen ihre Zweige unter dem Gewicht des aufziehenden Sturms hängen zu lassen.

Das Radio neben der Registrierkasse war nur halblaut angestellt. Die Beach Boys sangen ihren neuesten Hit »Surfin’ U.S.A.« Zu diesem Wetter paßte es so gut wie »White Christmas« im Juli.

Bob schaute auf seine Armbanduhr: 15.10 Uhr.

Spätestens um halb vier regnet’s, dachte er, und das kräftig!

Am Vormittag war das Geschäft gut gegangen, um jedoch am Nachmittag ziemlich abzuflauen. Im Augenblick waren keine Kunden im Laden.

Als kleiner Einzelhändler hatte er jetzt mit der neuen, gefährlichen Konkurrenz großer Ladenketten wie »7-Eleven« zu kämpfen. Bob hatte vor, in Zukunft Spezialitäten und mehr frische Ware anzubieten, aber er schob die Umstellung so lange wie möglich hinaus, weil ein Laden dieser Art wesentlich arbeitsaufwendiger war.

Falls das heraufziehende Gewitter wirklich schlimm wurde, würden heute nur noch wenige Kunden kommen. Da konnte er ebensogut zumachen und mit Laura ins Kino gehen.

»Hol lieber das Boot, Schatz«, sagte Bob, als er sich von der Tür abwandte.

Laura kniete in ihre Arbeit vertieft am Ende des ersten Ganges gegenüber der Registrierkasse. Bob hatte vier Kartons mit Dosensuppen aus dem Lagerraum geholt und Laura den Rest der Arbeit überlassen. Sie war erst acht, aber sehr zuverlässig und half gern im Geschäft mit. Nachdem sie den richtigen Preis aufgestempelt hatte, ordnete sie die Dosen ein, wobei sie darauf achtete, die alte Ware nach vorn zu rücken und die neue dahinter aufzustellen.

Jetzt sah sie widerstrebend auf. »Boot? Welches Boot?«

»Oben in der Wohnung. Das Boot im Schrank. Wie der Himmel aussieht, werden wir’s später brauchen, um uns draußen fortzubewegen.«

»Unsinn«, sagte Laura. »Wir haben kein Boot im Schrank.«

Bob trat hinter die Kasse. »Ein hübsches, kleines, blaues Boot.«

»Ach ja? In einem Schrank? In welchem denn?«

Er begann, in Plastik eingeschweißte Slim Jims neben die Snack Pack Crackers ins Metallregal zu hängen. »Natürlich im Schrank in der Bibliothek.«

»Wir haben keine Bibliothek.«

»Wir haben keine? Oh ... Hmmm, da fällt mir ein, daß das Boot nicht in der Bibliothek ist. Es ist im Schrank im Zimmer des Kröterichs.«

Sie kicherte. »Welches Kröterichs?«

»He, willst du etwa behaupten, du wüßtest nichts von dem Kröterich?«

Laura schüttelte grinsend den Kopf.

»Seit heute vermieten wir ein Zimmer an einen ehrbaren Kröterich aus England. An einen Gentleman-Kröterich, der im Auftrag der Königin geschäftlich hier ist.«

Blitze zuckten, Donnergrollen erschütterte den Aprilhimmel. Im Radio mischten sich atmosphärische Störungen in den Schlager »Rhythm of the Rain«, den The Cascades sangen.

Laura achtete nicht auf das heraufziehende Gewitter. Sie fürchtete sich nicht vor den Dingen, die vielen anderen Kindern Angst machten. Mit ihren acht Jahren war Laura so selbständig und selbstsicher, daß sie manchmal wie eine als Kind verkleidete alte Dame wirkte. »Weshalb hat die Königin einem Kröterich einen geschäftlichen Auftrag erteilt?«

»Kröteriche sind ausgezeichnete Geschäftsleute«, behauptete Bob, riß einen der Slim Jims auf und biß davon ab. Seit Janets Tod, seitdem er nach Kalifornien gegangen war, um einen neuen Anfang zu wagen, hatte er zwanzig Kilo zugenommen. Er war nie besonders ansehnlich gewesen. Als 38jähriger war er jetzt angenehm rundlich und hatte kaum Aussichten, einer Frau den Kopf zu verdrehen. Er war auch nicht gerade erfolgreich; mit einem kleinen Lebensmittelgeschäft waren keine Reichtümer zu ernten. Aber das machte ihm nichts aus. Er hatte Laura: Er war ihr ein guter Vater, und sie liebte ihn von ganzem Herzen. Alles andere war doch wohl egal. »Ja, Kröteriche sind wirklich ausgezeichnete Geschäftsleute. Und die Familie dieses Kröterichs steht seit Jahrhunderten im Dienst des englischen Königshauses. Er ist sogar geadelt worden - Sir Keith Kröterich.«

Blitze zuckten heller als zuvor. Auch der Donner war lauter geworden.

Laura, die mit den Dosen fertig war, stand auf und wischte sich die Hände an der weißen Schürze ab, die sie über T-Shirt und Jeans trug. Sie war ein sehr hübsches Mädchen; mit ihren braunen Locken und den großen braunen Augen sah sie ihrer Mutter sehr ähnlich. »Und wieviel Miete zahlt Sir Keith Kröterich?«

»Sechs Pence die Woche.«

»Hat er das Zimmer neben meinem?«

»Ja, das mit dem Boot im Schrank.«

Sie kicherte erneut. »Na, dann schnarcht er hoffentlich nicht!«

»Das hat er auch von dir gesagt.«

Ein rostiger, verbeulter Buick hielt vor dem Laden, und als die Fahrertür geöffnet wurde, spaltete ein weiterer Blitz den sich verdunkelnden Himmel. Der Tag füllte sich mit geschmolzenem Licht, das über die Straße zu fließen und sich lavaartig über den geparkten Buick und die vorbeifahrenden Autos zu ergießen schien. Der gleichzeitige Donner erschütterte das Haus in seinen Grundfesten, als ob der Blitz ein Erdbeben ausgelöst habe.

»Wow!« sagte Laura und bewegte sich furchtlos in Richtung Schaufenster.

Obwohl es noch keinen Tropfen geregnet hatte, kam plötzlich stürmischer Westwind auf, der Laub und Abfälle vor sich hertrieb.

Der Mann, der aus dem klapprigen blauen Buick stieg, sah erstaunt zum Himmel auf.

Blitz nach Blitz spaltete die Wolken, zuckte weißglühend herab und spiegelte sich in Autochrom und Fensterscheiben, während der ihn begleitende Donner die Erde wie unter den Faustschlägen einer Gottheit erzittern ließ.

Die Blitze jagten Bob Angst ein. Als er »Geh vom Fenster weg, Schatz!« rief, kam sie gleich zu ihm gelaufen und schlang ihre Arme um ihn - allerdings wahrscheinlich mehr, um ihren Vater zu beruhigen als sich selbst.

Der Mann aus dem Buick kam in den Laden gehastet. Er schaute nach draußen, wo der Himmel sich noch mehr verfinstert hatte, und fragte: »Haben Sie das gesehen, Mann? Puh!«

Das Donnergrollen verhallte; nun herrschte wieder Stille.

Es begann zu regnen. Zuerst klatschten nur einzelne dicke Tropfen an die Fenster, dann goß es in Strömen, und der Regen wurde zu einem Wasservorhang, hinter dem die Außenwelt verschwand.

Der Kunde drehte sich um und grinste. »Tolle Show, was?«

Bob wollte antworten, schwieg aber, als er sich den Mann genauer ansah und spürte, daß es Unannehmlichkeiten geben würde - wie ein Stück Wild die Nähe eines Wolfs spürt. Der Kerl trug ausgelatschte Springerstiefel, schmutzige Jeans und eine fleckige Windjacke, unter der ein schmuddeliges weißes T-Shirt zu sehen war. Sein vom Wind zerzaustes Haar war fettig, und er hatte einen Dreitagebart. Seine blutunterlaufenen Augen glänzten fiebrig. Ein Junkie, ein Süchtiger! Bob war nicht überrascht, als der Mann einen Revolver aus seiner Windjacke zog, während er auf die Registrierkasse zutrat.

»Her mit dem Geld aus der Kasse, Arschloch!«

»Klar.«

»Aber schnell!«

»Immer mit der Ruhe, ja?«

Der Junkie fuhr sich mit der Zungenspitze über die blutleeren, aufgesprungenen Lippen.

»Okay, okay, klar. Sie kriegen alles«, sagte Bob und versuchte. Laura mit einer Hand hinter sich zu schieben.

»Laß die Kleine da, wo ich sie sehen kann! Ich will sie sehen. Los, los, hervor mit ihr, du Scheißkerl!«

»Okay, nur keine Aufregung.«

Das Gesicht des Kerls war zu einer Grimasse erstarrt, sein ganzer Körper zitterte deutlich sichtbar. »Nach vorn, wo ich sie sehen kann. Und du machst bloß die Kasse auf, verstanden? Laß dir ja nicht einfallen, nach ‘m Revolver zu greifen, sonst kriegst du ‘n Loch in dein’ Scheißkopf!«

»Ich habe keinen Revolver«, versicherte Bob ihm. Er schaute zu den Fenstern hinüber und hoffte, daß keine Kunden hereinkommen würden, solange dieser Raubüberfall andauerte. Der Junkie wirkte so labil, daß er möglicherweise jeden, der jetzt hereinkam, niederschoß.

Laura versuchte, unauffällig hinter ihrem Vater Schutz zu suchen, aber der Junkie sagte sofort: »He, stehenbleiben!«

»Sie ist erst acht ...«, wandte Bob ein.

»Sie ist ‘ne Schlampe, alle sind sie verdammte Schlampen, egal wie alt sie sind.« Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Angst, was Bob am meisten erschreckte.

Obwohl er sich auf den Junkie und dessen Revolver konzentrierte, nahm er im Unterbewußtsein die verrückte Tatsache wahr, daß Skeeter Davis im Radio »The End of the World« sang - es hörte sich geradezu unbehaglich prophetisch an. Mit dem entschuldbaren Aberglauben des Mannes, der mit einer Waffe bedroht wird, wünschte er sich sehnlichst, der Song möge enden, bevor er auf magische Weise das Ende seiner und Lauras Welt herbeibeschwor.

»Hier ist das Geld, alles Geld, bedienen Sie sich.«

Der Mann raffte die Scheine von der Ablagefläche neben der Kasse und stopfte sie in eine Tasche seiner schmuddeligen Windjacke. »Gibt’s hinten noch ‘nen Lagerraum?« erkundigte er sich dann.

»Warum?«

Der Junkie fegte mit der freien Hand wütend Slim Jims, Life Savers, Drackers und Kaugummi von dem Ständer neben der Kasse. Er versetzte Bob mit dem Lauf des Revolvers einen Stoß. »Du hast ‘nen Lagerraum, Arschloch. Ich weiß, daß du einen hast. Wir gehen jetzt zusammen ins Lager.«

Bobs Kehle war plötzlich wie ausgedörrt. »Hören Sie, nehmen Sie das Geld und gehen Sie. Sie haben, was Sie wollen. Gehen Sie bloß. Bitte!«

Seitdem der Junkie das Geld hatte, wirkte er selbstbewußter, und Bobs Angst machte ihn kühner, obwohl er noch immer sichtbar zitterte. »Keine Sorge«, sagte er grinsend, »ich bring’ keinen um. Ich bin ein Feinspitz, kein Killer. Ich werd’ bloß die Kleine vernaschen, dann verschwind’ ich.«

Bob verfluchte sich dafür, daß er keine Schußwaffe hatte. Laura klammerte sich an ihn, sie vertraute auf ihn, aber er konnte nichts tun, um sie zu retten. Auf dem Weg in den Lagerraum würde er sich auf den Junkie stürzen und versuchen, ihm den Revolver zu entreißen. Aber er war übergewichtig, nicht in Form. Da er sich nicht rasch genug bewegen konnte, würde er mit einem Bauchschuß sterbend auf dem Fußboden liegend zurückbleiben, während der Dreckskerl Laura ins Lager zerrte und dort vergewaltigte.

»Bewegt euch!« verlangte der Junkie ungeduldig. »Dalli!«

Dann fiel ein Schuß. Laura kreischte, Bob zog sie an sich, um sie mit seinem Körper zu decken, aber der Schuß hatte den Junkie getroffen. Die Kugel durchschlug seine linke Schläfe und riß einen Teil des Schädels weg, so daß der Mann auf den Slim Jims, Crackers und Kaugummipackungen zusammenbrach, die er zuvor von dem Ständer gefegt hatte. Er war so augenblicklich tot, daß er nicht einmal mehr reflexartig den Abzug seines Revolvers betätigen konnte.

Bob blickte benommen nach rechts und sah einen großen blonden Mann mit einer Pistole in der Hand. Er mußte das Gebäude durch den Hintereingang betreten und sich durch den Lagerraum in den Laden geschlichen haben. Dort hatte er den Junkie ohne Warnung erschossen. Er starrte den Toten kühl und leidenschaftslos an, als gehöre das Vollstrecken von Todesurteilen zu seinem Geschäft.

»Gott sei Dank!« sagte Bob. »Polizei.«

»Ich bin kein Polizist.« Der Mann trug eine graue Hose, ein weißes Hemd und eine graue Jacke, unter der ein Schulterhalfter sichtbar war.

Bob fragte sich verwirrt, ob ihr Retter etwa noch ein Gangster war, der dort weitermachen wollte, wo der Junkie so gewaltsam unterbrochen worden war.

Der Unbekannte blickte von dem Toten auf. Der Blick seiner leuchtendblauen Augen war forschend und durchdringend.

Bob wußte bestimmt, daß er diesen Mann schon einmal gesehen hatte, aber er konnte sich nicht erinnern, wo und wann das gewesen war.

Der Unbekannte starrte Laura prüfend an. »Alles in Ordnung, sweetheart?«

»Ja«, sagte sie. Aber sie klammerte sich weiter an ihren Vater.

Von dem Toten stieg beißender Uringestank auf, weil er im Moment, als er starb, die Kontrolle über seine Blase verloren hatte.

Der Unbekannte durchquerte den Raum, wobei er einen Bogen um die Leiche machte, ließ das Sicherheitsschloß der Ladentür einschnappen und zog das Türrollo herab. Dann schaute er besorgt zu den großen Ladenfenstern, über die wahre Sturzbäche flossen, die einen die Straße draußen nur verzerrt sehen ließen. »Die lassen sich nicht abdecken, schätze ich. Wir müssen einfach hoffen, daß niemand vorbeikommt und einen Blick herein wirft.«

»Was haben Sie mit uns vor?« fragte Bob.

»Ich? Nichts. Ich bin nicht wie dieser Schweinehund. Ich will nichts von Ihnen. Die Tür hab ich bloß versperrt, damit wir uns die Story zurechtlegen können, die Sie der Polizei erzählen müssen. Die muß sitzen, bevor jemand reinkommt und die Leiche entdeckt.«

»Wozu brauche ich eine Story?«

Der Unbekannte beugte sich über den Toten, holte die Autoschlüssel und das geraubte Geld aus den Taschen der blutbefleckten Windjacke und richtete sich wieder auf. »Okay, Sie müssen aussagen, Sie wären von zwei Gangstern überfallen worden. Der hier hatte es auf Laura abgesehen, aber der andere fand die Idee, ein kleines Mädchen zu vergewaltigen, widerwärtig und wollte bloß abhauen. Deshalb hat’s Streit zwischen den beiden gegeben, und der zweite Mann hat den Kerl hier erschossen und ist mit der Beute geflüchtet. Trauen Sie sich zu, das glaubwürdig vorzubringen?«

Bob konnte noch immer nicht recht glauben, daß Laura und er noch einmal davongekommen sein sollten. »Ich . das verstehe ich nicht. Sie sind nicht wirklich sein Komplice gewesen. Niemand kann Ihnen was anhaben, weil Sie ihn erschossen haben - schließlich hat er uns bedroht. Weshalb sagen wir dann nicht einfach die Wahrheit?«

Der Mann trat an die Kasse und gab Bob das Geld zurück. »Und was ist die Wahrheit?«

»Nun, Sie sind zufällig vorbeigekommen und Zeuge des Raubüberfalls geworden .«

»Ich bin aber nicht zufällig vorbeigekommen, Bob. Ich habe über Laura und Sie gewacht.« Während der Mann seine Pistole ins Schulterhalfter zurücksteckte, blickte er auf Laura hinab. Sie starrte ihn mit großen Augen an. Er lächelte ihr zu und flüsterte: »Schutzengel.«

»Über uns gewacht?« fragte Bob, der nicht an Schutzengel glaubte. »Von wo aus, wie lange schon, weshalb?«

»Darf ich Ihnen nicht sagen«, antwortete der Blonde ungeduldig und mit einem vagen Akzent, den Bob jetzt erstmals wahrnahm. Er schaute zu den Ladenfenstern hinüber, gegen die der Regen prasselte. »Und ich kann’s mir nicht leisten, von der Polizei vernommen zu werden. Deshalb muß die Story sitzen.«

»Woher kenne ich Sie?« fragte Bob.

»Sie kennen mich nicht.«

»Aber ich weiß bestimmt, daß ich Sie schon mal gesehen habe.«

»Sie haben mich nicht gesehen. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Verstecken Sie jetzt um Gottes willen das Geld und lassen Sie die Kasse leer; es würde komisch aussehen, wenn der zweite Mann die Beute im Stich gelassen hätte. Ich nehme seinen Buick und lasse ihn ein paar Straßen weiter stehen, damit Sie ihn den Cops beschreiben können. Beschreiben Sie auch mich - das spielt keine Rolle.«

Draußen grollte der Donner, aber leiser und entfernter, anders als die Donnerschläge, mit denen das Gewitter begonnen hatte.

Die feuchte Luft schien sich zu verdicken, als der langsam aufsteigende Kupfergeruch des Blutes sich mit dem Uringestank mischte.

Bob wurde leicht übel; er lehnte am Ladentisch, ohne jedoch Laura loszulassen. »Weshalb kann ich nicht einfach erzählen, wie Sie während des Überfalls reingekommen sind, den Kerl erschossen haben und dann verschwunden sind, weil Sie keine Publicity wollten?«

Der Fremde erhob ungeduldig die Stimme. »Ein bewaffneter Mann kommt zufällig vorbei, während hier ein Raubüberfall stattfindet, und beschließt, den Helden zu spielen. Eine so schiefe Story nehmen die Cops Ihnen niemals ab!«

»So ist’s aber gewesen ...«

»Aber es nimmt Ihnen keiner ab! Die Cops glauben dann eher, Sie hätten den Junkie erschossen. Da Sie keine Waffe besitzen - zumindest keine amtlich registrierte -, werden sie sich fragen, ob Sie den Kerl mit einer illegalen Waffe erschossen und die Waffe dann weggeworfen haben, bevor Sie sich diese verrückte Story von dem geheimnisvollen Rächer ausdachten, der reingekommen sein und Sie gerettet haben soll.«

»Ich habe einen guten Ruf als Geschäftsmann.«

In den Blick des Unbekannten trat ein seltsam trauriger, fast gequälter Ausdruck. »Bob, Sie sind ein netter Kerl - aber manchmal ein bißchen naiv.«

»Was wollen Sie damit ...?«

Der Blonde hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Wenn’s zum Schwur kommt, ist ein guter Ruf immer weniger wert, als man denkt. Die meisten Menschen sind gutherzig und bereit, im Zweifelsfall für den Angeklagten zu entscheiden, aber einige Böse legen es darauf an, andere zu ruinieren.« Seine Stimme war zu einem Flüstern geworden, und obwohl er Bob weiter ansah, schienen vor seinem inneren Auge andere Orte, andere Menschen zu stehen. »Aus Neid, Bob. Der Neid frißt sie auf. Wären Sie reich, würden sie Ihnen Ihr Geld neiden. Aber da Sie keines haben, neiden sie Ihnen Ihre hübsche, intelligente, liebenswerte Tochter. Sie sind auf Sie neidisch, nur weil Sie glücklich sind. Sie sind neidisch auf Sie, weil Sie auf niemanden neidisch sind. Zu den größten Tragödien der menschlichen Existenz gehört die Tatsache, daß manche Menschen ihr Glück nur im Elend anderer finden.«

Den Vorwurf der Naivität konnte Bob nicht zurückweisen, und er wußte, daß der Unbekannte die Wahrheit sagte. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken.

Nach kurzem Schweigen wurde der gequälte Blick des Mannes wieder drängend. »Und wenn die Cops denken, daß Ihre Story von dem Einzelgänger, der Sie gerettet haben soll, ein Lügenmärchen ist, werden Sie sich fragen, ob der Junkie vielleicht gar keinen Raubüberfall verüben wollte, sondern Sie ihn vielleicht gekannt und Streit mit ihm gehabt haben und daraufhin vielleicht einen Mord planten und als Raubüberfall zu tarnen versuchten. So denken die Cops, Bob! Selbst wenn sie Ihnen nichts nachweisen können, werden sie’s so hartnäckig versuchen, daß sie Ihr ganzes Leben damit ruinieren. Wollen Sie Laura das antun?«

»Nein.«

»Dann halten Sie sich an meine Story.«

Bob nickte zögernd. »Gut, ich halte mich daran. Aber wer sind Sie, verdammt noch mal?«

»Das spielt keine Rolle. Für Erklärungen ist ohnehin keine Zeit.« Er trat hinter die Ladentheke und beugte sich zu Laura hinunter. »Hast du verstanden, was ich deinem Vater erzählt habe? Wenn die Polizei dich fragt ...«

»Sie sind mit diesem Mann zusammen gewesen«, sagte Laura und nickte zu dem Toten hinüber.

»Richtig!«

»Sie sind sein Freund gewesen«, fuhr sie fort, »aber dann haben Sie sich meinetwegen mit ihm gestritten. Ich weiß aber nicht, warum, weil ich nichts getan hatte ...«

»Der Grund spielt keine Rolle, Schatz«, versicherte der Unbekannte ihr.

Laura nickte. »Und dann haben Sie ihn erschossen und sind mit unserem ganzen Geld rausgelaufen und mit dem Auto weggefahren, und ich hab’ große Angst gehabt.«

Der Mann sah zu Bob auf. »Acht Jahre alt, was?«

»Sie ist ein kluges Mädchen.«

»Trotzdem wär’s am besten, wenn die Cops sie nicht allzu eingehend vernehmen würden.«

»Das lasse ich nicht zu.«

»Falls sie’s doch tun«, warf Laura ein, »weine und weine ich, bis sie aufhören.«

Der Unbekannte lächelte Laura so liebevoll an, daß Bob unbehaglich dabei wurde. Aber er benahm sich ganz anders als der Kerl, der sie in den Lagerraum hatte schleppen wollen. Aus seinem Gesichtsausdruck sprach zärtliche Zuneigung. Und als er jetzt ihre Wange berührte, schimmerten überraschenderweise Tränen in seinen Augen. Er richtete sich blinzelnd auf. »Stecken Sie das Geld weg, Bob. Denken Sie daran, daß ich damit geflüchtet bin.«

Bob merkte erst jetzt, daß er das Bündel Geldscheine noch immer in der Hand hielt. Er stopfte es in die Hosentasche, und seine lose Schürze verdeckte die Ausbuchtung.

Der Unbekannte schloß die Ladentür auf und ließ das Rollo nach oben gleiten. »Passen Sie gut auf sie auf, Bob. Sie ist was Besonderes.« Dann lief er in den Regen hinaus, ohne die Tür hinter sich zu schließen, und stieg in den Buick. Die Reifen quietschten, als er anfuhr.

Das Radio war noch immer eingeschaltet, und Bob nahm es zum ersten Mal wieder wahr, seit »The End of the World« erklungen und der Junkie erschossen worden war. Jetzt sang Shelley Fabares »Johnny Angel«.

Plötzlich hörte er auch den Regen wieder - nicht nur als dumpf brausendes Hintergrundgeräusch, sondern wie er gegen die Schaufenster und auf das Dach der Wohnung über dem Laden trommelte. Trotz des durch die offene Tür kommenden Schwalls frischer Luft war der Blut- und Uringestank plötzlich viel schlimmer als noch im Augenblick zuvor, und Bob wurde ebenso plötzlich klar - als sei er aus einer Trance des Schrek-kens wieder zu vollem Bewußtsein erwacht -, in welcher schrecklichen Gefahr seine kostbare Laura geschwebt hatte. Er schloß sie in die Arme, hob sie hoch, wiederholte ihren Namen und strich ihr übers Haar. Er vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter, roch den süßen Duft ihrer Haut, spürte den Puls an ihrem Hals und dankte Gott dafür, daß sie noch lebte.

»Ich liebe dich, Laura.«

»Ich liebe dich auch, Daddy. Ich liebe dich wegen Sir Keith Kröterich und wegen einer Million anderer Gründe. Aber wir müssen jetzt die Polizei anrufen.«

»Ja, natürlich«, sagte er und setzte sie widerstrebend ab. Seine Augen standen voller Tränen. Er war so entnervt, daß er nicht mehr wußte, wo das Telefon stand.

Laura hatte bereits den Hörer abgenommen. Sie hielt ihn ihrem Vater hin. »Ich kann sie auch anrufen, Daddy. Die Nummer steht hier auf der Wählscheibe. Soll ich sie anrufen?«

»Nein, das mach’ ich selbst, Baby.« Er wischte sich die Tränen aus den Augen und setzte sich auf den alten Holzhocker hinter der Registrierkasse.

Laura legte ihm eine Hand auf den Arm, als wisse sie, daß er ihre Nähe brauchte.

Janet war innerlich sehr stark gewesen. Aber Lauras Kraft und Selbstbeherrschung waren für ihr Alter ungewöhnlich, und Bob Shane wußte nicht recht, woher sie diese Kräfte hatte. Vielleicht war sie als Halbwaise selbständiger als andere in ihrem Alter .

»Daddy?« Laura tippte mit einem Finger aufs Telefon. »Vergiß die Polizei nicht!«

»Ja, richtig«, sagte Bob. Er bemühte sich, den Todesgestank zu ignorieren, der den Laden erfüllte, und wählte die Notrufnummer der Polizei.

Kokoschka saß gegenüber von Bob Shanes kleinem Laden in einem Auto und betastete nachdenklich den Schmiß auf seiner Backe.

Es regnete nicht mehr. Die Polizei war wieder weggefahren. Mit Einbruch der Dunkelheit waren Neonreklamen und Straßenlampen aufgeflammt, aber der Asphalt glänzte trotz dieser Beleuchtung schwarz, als sauge er das Licht auf, anstatt es zu reflektieren.

Kokoschka war zugleich mit Stefan, dem blonden, blauäugigen Verräter, in dieser Straße angekommen. Er hatte den Schuß gehört, Stefan mit dem Auto des Toten flüchten gesehen, sich beim Eintreffen der Polizei unter die Neugierigen gemischt und so ziemlich alles erfahren, was im Laden passiert war.

Er ließ sich natürlich nicht von Bob Shanes lächerlicher Story täuschen, die Stefan als zweiten Räuber hinstellte. Stefan war kein Gangster, sondern ein selbsternannter Beschützer, der natürlich Interesse daran hatte, daß seine wahre Identität geheim blieb.

Laura war erneut gerettet worden.

Aber weshalb?

Kokoschka versuchte sich vorzustellen, welche Rolle das Mädchen in den Plänen des Verräters spielen könnte, aber er kam zu keinem Ergebnis. Er wußte, es wäre zwecklos, die Kleine zu verhören, denn sie war zu jung, als daß es Sinn gehabt hätte, sie einzuweihen. Der Grund für ihre Rettung war ihr wohl ebenso rätselhaft wie Kokoschka.

Auch ihr Vater wußte bestimmt nicht mehr. Stefan interessierte sich offenbar nur für das Mädchen, nicht für den Vater, so daß er wohl auch Bob Shane nicht über seine Herkunft oder Absichten informiert hatte.

Kokoschka fuhr schließlich einige Straßen weiter zu einem Restaurant, aß zu Abend und kehrte später zu dem Laden zurück. Er parkte in einer Seitenstraße unter den weit ausladenden Wedeln einer Dattelpalme. Im Laden war es dunkel, aber in der Wohnung im ersten Stock brannte Licht.

Aus der tiefen Tasche seines Regenmantels zog er einen Revolver: einen kurzläufigen Colt Agent Kaliber 38 - klein und handlich, aber wirkungsvoll. Kokoschka bewunderte präzise konstruierte und gefertigte Waffen; vor allem diese gab ihm das Gefühl, den Tod in Stahl gefangen in der Hand zu halten.

Kokoschka konnte die Telefonleitung der Shanes kappen, sich heimlich Zutritt zu der Wohnung verschaffen, Vater und Tochter erschießen und verschwinden, bevor die von Nachbarn alarmierte Polizei eintraf. Nach seinen Talenten und Neigungen war er für einen Job dieser Art qualifiziert.

Ermordete er sie jedoch, ohne zu wissen, warum er sie erschoß, und ohne zu verstehen, welche Rolle sie in Stefans Plänen spielten, könnte sich später vielleicht herausstellen, daß es ein Fehler gewesen war, sie zu liquidieren. Bevor er handelte, mußte er Stefans Absichten kennen.

Kokoschka steckte den Revolver widerstrebend ein.

3

In der windstillen Nacht fielen die Regentropfen senkrecht auf die Großstadt herab, als wäre jeder einzelne unnatürlich schwer. Sie prasselten lärmend auf Dach und Windschutzscheibe des kleinen Autos.

Um ein Uhr morgens in dieser Dienstagnacht Ende März waren auf den nassen, an einigen Kreuzungen vom Regenwasser überfluteten Straßen nur vereinzelte Militärfahrzeuge unterwegs. Auf der Fahrt zum Institut machte Stefan Umwege, um bekannten Kontrollstellen auszuweichen, fürchtete aber, auf einen zusätzlich errichteten Kontrollpunkt zu treffen. Seine Papiere waren in Ordnung, sein Dienstausweis befreite ihn von der neuen Ausgangssperre. Trotzdem legte er keinen Wert darauf, kontrolliert zu werden. Er durfte nicht riskieren, daß sein Wagen durchsucht wurde, denn der Koffer auf dem Rücksitz enthielt Kupferdraht, Zündkapseln und Plastiksprengstoff, den er nicht legal in seinem Besitz haben durfte.

Weil die Windschutzscheibe von seinem Atem beschlagen war, der Regen die unheimlich dunkle Stadt noch dunkler machte, die Scheibenwischer abgenützt waren und die Tarnscheinwerfer sein Blickfeld einengten, hätte er die enge Gasse zum Hintereingang des Instituts beinahe verfehlt. Er bremste und riß das Lenkrad herum. Auf den nassen Pflastersteinen brach das Heck des PKWs leicht aus, als er mit quietschenden Reifen polternd die Kurve nahm.

Er parkte im Dunkel in der Nähe des Hintereingangs, stieg aus und nahm den Koffer vom Rücksitz. Das Institut war ein schmuckloser dreistöckiger Klinkerbau mit massiv vergitterten Fenstern. Das Gebäude wirkte bedrohlich, aber nicht wie eines, das Geheimnisse enthielt, die den Lauf der Weltgeschichte verändern sollten. Die schwarze Stahltür hatte verdeckte Angeln und ließ sich nur von innen öffnen. Er drückte auf den Knopf, hörte den Summer ertönen und wartete nervös darauf, daß ihm geöffnet würde.

Er trug Gummiüberschuhe und einen Trenchcoat mit hochgeklapptem Kragen, aber er hatte weder Hut noch Schirm. Der kalte Regen ließ seine Haare am Schädel kleben und lief ihm hinten ins Genick.

Vor Kälte zitternd betrachtete er den Fensterschlitz neben der Tür: 15 Zentimeter breit, einen halben Meter hoch und mit einer nur von innen durchsichtigen Scheibe aus außenverspiegeltem Panzerglas.

Über der Tür flammte eine Lampe auf. Der konische Schirm bündelte ihr gelbliches Licht und richtete es genau auf den im Regen Wartenden.

Stefan lächelte dem verspiegelten Sehschlitz zu, hinter dem der Wachmann stand, den er nicht sehen konnte.

Das Licht erlosch, die Stahlriegel wurden klappernd zurückgezogen, und die Tür ging nach innen auf. Er kannte den Wachmann: Viktor Soundso, ein stämmiger Mittfünfziger mit Nickelbrille und kurzgeschorenem grauen Haar, der keineswegs so grimmig war, wie er aussah, sondern sich im Gegenteil gluckenhaft Sorgen um die Gesundheit von Freunden und Bekannten machte.

»Mensch, was tun Sie um diese Zeit hier - bei diesem Scheißwetter?«

»Ich hab’ nicht schlafen können.«

»Verdammter Regen. Kommen Sie rein! Sie werden sich noch erkälten.«

»Mir ist Arbeit liegengeblieben. Das hat mir keine Ruhe gelassen, deshalb habe ich beschlossen, herzukommen und sie zu erledigen.«

»Das ist der Weg zu einem frühen Grab, wetten?«

Während Stefan den Vorraum betrat und zusah, wie der Wachmann die Stahltür schloß, versuchte er sich an irgendeine Kleinigkeit aus Viktors Privatleben zu erinnern. »Wie Sie aussehen, Viktor, macht Ihre Frau noch immer die fabelhaften Nudelaufläufe, von denen Sie mir erzählt haben?«

Viktor wandte sich von der Tür ab, lachte leise und tätschelte seinen Schmerbauch. »Ich könnte schwören, daß der Teufel sich mit ihr verbündet hat, um mich zur Sünde der Völlerei zu verführen. Was haben Sie da für einen Koffer? Ziehen Sie bei uns ein?«

Stefan wischte sich mit der freien Hand über sein regennasses Gesicht. »Unterlagen«, antwortete er knapp. »Ich habe sie zu Hause durchgearbeitet.«

»Haben Sie denn gar kein Privatleben?«

»O ja. Jeden zweiten Dienstag zwanzig Minuten.«

Viktor schüttelte mißbilligend den Kopf. Er trat an den Schreibtisch, der ein Drittel des kleinen Vorraums einnahm, griff nach dem Telefonhörer und rief den zweiten Wachmann an, der seinen Posten am Haupteingang des Institutsgebäudes in einem ähnlichen Raum hatte. Würde jemand nach Dienst eingelassen, verständigte der jeweilige Wachmann seinen Kollegen am anderen Ende, damit kein falscher Alarm gegeben und nicht etwa ein harmloser Besucher versehentlich erschossen wurde.

Stefan, von dessen Trenchcoat Wasser auf den abgetretenen Teppich tropfte, trat an die innere Tür und holte seinen Schlüssel aus der Manteltasche. Auch diese Tür bestand aus Stahl und hatte verdeckte Angeln. Sie ließ sich jedoch nur öffnen, wenn zwei Schlüssel gleichzeitig gedreht wurden - der eines Institutsmitarbeiters und der des jeweiligen Wachmanns. Die Forschungsprojekte, an denen hier gearbeitet wurde, waren so geheim, daß selbst das Wachpersonal keinen Zugang zu den Labors und Archiven hatte.

Viktor legte den Hörer auf. »Wie lange bleiben Sie?«

»Ein paar Stunden. Arbeitet heute nacht sonst noch jemand?«

»Nein. Sie sind der einzige Märtyrer. Und Märtyrer mag keiner. Eines Tages arbeiten Sie sich zu Tode - und wofür? Das Vaterland wird’s Ihnen auch nicht danken.«

»Heilige und Märtyrer herrschen aus dem Grab, hat ein Dichter geschrieben.«

»Heilige und Märtyrer herrschen aus dem Grab? Klingt nicht nach einem Dichter. Eher nach staatsfeindlicher Parole.« Viktor lachte. Offenbar amüsierte ihn die Vorstellung, sein fleißiger Kollege könnte ein Verräter sein.

Sie sperrten gemeinsam die innere Tür auf.

Stefan wuchtete den Sprengstoffkoffer in den Erdgeschoßkorridor des Instituts und machte dort Licht.

»Wenn Sie sich die Nachtarbeit zur Gewohnheit machen wollen«, sagte Viktor, »bringe ich Ihnen das nächste Mal einen Kuchen meiner Frau mit, damit Sie bei Kräften bleiben.«

»Danke, Viktor, aber ich hoffe, daß es nicht zur Gewohnheit wird.«

Der Wachmann schloß die Stahltür, deren Riegel automatisch einschnappten.

Als Stefan im Korridor allein war, überlegte er nicht zum ersten Mal, daß er mit seinem Aussehen Glück hatte: blond, blauäugig, energische Gesichtszüge. Seine Erscheinung trug mit dazu bei, daß er ganz frech Sprengstoff ins Institut schaffen konnte, ohne mit einer Durchsuchung seines Gepäcks rechnen zu müssen. Es war nichts Finsteres, Verschlagenes oder Verdächtiges an ihm, er entsprach dem gängigen Ideal. Seine Loyalität stand für Männer wie Viktor außer Zweifel - Männer, deren blinde Staatstreue und bierseliger, sentimentaler Patriotismus sie daran hinderte, über alle möglichen Dinge nachzudenken. Und es gab genug Dinge, über die man hätte nachdenken können.

Er fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock und ging sofort in sein Büro, wo er eine Messinglampe mit Scherengelenkarm anknipste. Nachdem er Trenchcoat und Überschuhe abgelegt hatte, holte er mehrere Schnellhefter aus dem Aktenschrank und legte sie aufge schlagen auf seinen Schreibtisch, um die Illusion zu erzeugen, hier werde gearbeitet. Für den unwahrscheinlichen Fall, daß einer seiner Kollegen mitten in der Nacht ins Institut kam, mußte alles getan werden, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.

Danach stieg Stefan mit seinem Koffer und einer mitgebrachten Taschenlampe in den dritten Stock und weiter zum Dachboden hinauf. Das Licht der Taschenlampe zeigte ihm mächtige Balken, aus denen da und dort schlecht eingeschlagene Nägel ragten. Obwohl der Raum unter dem Dach einen Fußboden aus gehobelten Dielen hatte, wurde er nicht als Speicher benützt und war leer bis auf etliche Spinnweben und eine alles bedeckende graue Staubschicht. Der Dachstuhl war in der Mitte so hoch, daß Stefan aufrecht stehen konnte; an den Seiten wurde die Konstruktion jedoch so niedrig, daß man sich nur mehr auf allen vieren fortbewegen konnte.

So dicht unter dem Ziegeldach erinnerte das stete Trommeln des Regens an das gleichmäßige Gebrumm endloser Bomberformationen, die die Stadt überflogen. Dieser Vergleich drängte sich Stefan vielleicht deswegen auf, weil er der festen Überzeugung war, es sei das unvermeidliche Schicksal dieser Stadt, dem Erdboden gleichgemacht zu werden.

Er klappte den Koffer auf. Mit den flinken, geschickten Fingern des Sprengmeisters brachte er die ziegelförmigen Ladungen Plastiksprengstoff so an, daß sie bei der Zündung nach innen und unten wirken würden. Die Detonation durfte nicht nur das Dach absprengen, sondern mußte auch das oberste Geschoß zum Einsturz bringen, damit die Masse aus Balken, Dachziegeln und Mauertrümmern weitere Schäden anrichtete. Stefan brachte die Ladungen in den hintersten Winkeln des Dachstuhls an und stemmte sogar einige Bodenbretter hoch, um darunter Sprengstoff zu verstecken.

Draußen ließ das Gewitter kurz nach. Aber wenig später grollte der Donner noch böser durch die Nacht, und es regnete heftiger als zuvor. Auch der bisher nicht aufgetretene Wind setzte nun ein und wurde bald zum Sturm, der um die Giebel heulte und die Stadt mit seltsam hohler Stimme gleichzeitig zu bedrohen und zu betrauern schien.

Die Kälte auf dem ungeheizten Dachboden setzte Stefan so zu, daß seine Hände bei der heiklen Arbeit immer mehr zitterten. Obwohl er fror, stand ihm der Schweiß auf der Stirn.

Er versah jede Sprengladung mit einer Zündkapsel, deren Zuleitungen in die Nordwestecke des Dachbodens führten. Dort flocht er die Litzen zu einem Kabel zusammen, das er in einen Lüftungsschacht hinabließ, der bis in den Keller hinunterreichte.

Die Sprengladungen und ihre Zündleitungen waren so unauffällig wie möglich angebracht und würden nicht bemerkt werden, wenn jemand die Dachbodentür bloß öffnete, um sich hier oben rasch umzusehen. Bei genauerer Untersuchung oder wenn man den Dachboden als Speicher benutzte, würden die Drähte und der Plastiksprengstoff jedoch sicher entdeckt werden.

In den folgenden 24 Stunden durfte niemand hier heraufkommen. Angesichts der Tatsache, daß Stefan in den letzten Monaten der einzige gewesen war, der den Dachboden betreten hatte, war das nicht zuviel verlangt.

Morgen würde er mit einem weiteren Koffer kommen und die Sprengladungen im Keller anbringen. Gleichzeitige Detonationen oben und unten waren das einzig sichere Mittel, das Institutsgebäude - und alles, was es enthielt - in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Die Sprengung und der dadurch entstehende Brand durften keine Unterlagen übriglassen, die eine Fortsetzung des hier betriebenen gefährlichen Forschungsprojekts erlaubten.

Obwohl die Sprengladungen genau berechnet und sorgfältig plaziert worden waren, würden auch die umliegenden Gebäude in Mitleidenschaft gezogen werden, und es war zu befürchten, daß auch schuldlose Unbeteiligte ums Leben kamen. Aber das ließ sich nicht vermeiden. Er wagte nicht, weniger Sprengstoff zu verwenden, denn falls nicht sämtliche Unterlagen des Instituts vernichtet wurden, konnte die Arbeit am Projekt rasch wiederaufgenommen werden. Und dieses Projekt mußte schnellstens gestoppt werden, weil davon das Heil der Menschheit abhing. Sollten dabei auch Unbeteiligte umkommen, würde er mit dieser Schuld leben müssen.

Nach zwei Stunden, wenige Minuten nach drei Uhr, war er mit seiner Arbeit auf dem Dachboden fertig.

Er kehrte in sein Büro im zweiten Stock zurück und blieb eine Weile hinter dem Schreibtisch sitzen. Er wollte nicht gehen, bevor sein schweißnasses Haar wieder trocken war und er nicht mehr zitterte. Viktor durfte nichts merken.

Stefan schloß die Augen und rief sich Lauras Gesicht ins Gedächtnis zurück. Der Gedanke an sie beruhigte ihn stets. Allein die Tatsache ihrer Existenz verlieh ihm Mut und inneren Frieden.

4

Bob Shanes Freunde wollten ursprünglich nicht, daß Laura an der Beerdigung ihres Vaters teilnähme. Sie fanden, einer Zwölfjährigen solle dieses traumatische Erlebnis erspart bleiben. Laura bestand jedoch darauf, und wenn sie etwas so unbedingt wollte, konnte niemand sie davon abbringen.

Dieser Montag, der 24. Juli 1967, war der schlimmste Tag ihres Lebens - noch schmerzlicher als der vorangegangene Montag, an dem ihr Vater gestorben war. Der erste Schock mit seiner betäubenden Wirkung war zum Teil abgeklungen, Laura fühlte sich nicht mehr so stumpf und benommen. Ihre Gefühle lagen näher an der Oberfläche und waren weniger leicht zu beherrschen. Sie begann allmählich zu begreifen, was sie verloren hatte.

Da sie kein schwarzes Kleid hatte, entschied sie sich für ihr dunkelblaues. Dazu trug sie schwarze Schuhe und blaue Sok-ken. Die Socken machten ihr Kopfzerbrechen, weil sie ihr kindlich, fast frivol vorkamen. Da sie jedoch noch nie Nylonstrümpfe getragen hatte, hielt sie es für unpassend, damit anläßlich einer Beerdigung anzufangen. Sie rechnete damit, daß ihr Vater während des Gottesdienstes aus dem Himmel herabschauen würde, und wollte so aussehen, wie er sie in Erinnerung hatte. Hätte er sie in Nylonstrümpfen gesehen - als kleines Mädchen, das krampfhaft erwachsen wirken wollte -, hätte er sich ihrer vielleicht geschämt.

In der Einsegnungshalle saß Laura in der ersten Reihe zwischen Cora Lance, der Besitzerin eines Frisiersalons in der Nähe von Shanes Laden, und Anita Passadopolis, die in der St. Andrew’s Presbyterian Church als Sozialarbeiterin mit Bob zusammengearbeitet hatte. Beide Frauen waren Mitte Fünfzig: großmütterliche Erscheinungen, die Laura beruhigend tätschelten und sie besorgt im Auge behielten.

Um Laura hätten sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Sie dachte nicht daran, hemmungslos zu weinen, hysterisch zu werden oder sich die Haare zu raufen. Sie begriff, daß der Tod unvermeidlich war. Jeder mußte irgendwann sterben. Menschen starben, Hunde starben, Katzen starben, Vögel starben, Blumen starben. Sogar die uralten Sequoien starben früher oder später, obwohl sie zwanzig- oder dreißigmal länger lebten als ein Mensch, was eigentlich unfair war. Andererseits war es bestimmt viel langweiliger, ein Jahrtausend lang als Baum zu leben, als nur 42 Jahre als glücklicher Mensch zu existieren. Mit 42 Jahren war ihr Vater noch viel zu jung gewesen, als sein Herz plötzlich versagt hatte. Aber das war eben der Lauf der Welt, der sich auch durch Tränen nicht ändern ließ. Laura war stolz darauf, wie vernünftig sie alles sah.

Außerdem bedeutete der Tod nicht das Ende eines Menschen. In Wirklichkeit war der Tod ein Anfang, denn mit ihm begann ein neues, besseres Leben. Sie wußte, daß das so war, denn ihr Vater hatte es ihr erzählt, und ihr Vater hatte nie gelogen. Ihr Vater war grundehrlich und freundlich und liebevoll gewesen.

Als der Geistliche ans Rednerpult links neben dem Sarg trat, beugte Cora Lance sich zu Laura hinüber und flüsterte: »Alles in Ordnung, Schätzchen?«

»Ja, natürlich«, antwortete sie, ohne Cora jedoch anzusehen. Da sie nicht wagte, die Blicke anderer zu erwidern, studierte sie ihre unbelebte Umgebung mit großen Interesse.

Dies war die erste Einsegnungshalle, in der Laura je gewesen war, und sie gefiel ihr nicht. Der burgunderrote Teppich war lächerlich hochflorig. Auch die Vorhänge und Polstersessel waren burgunderrot mit schmalen Goldrändern, und die Lampen hatten burgunderrote Schirme, als wäre der Raum von einem Innenarchitekten mit einem krankhaften Hang für Burgunderrot ausgestattet worden.

»Hang« war ein neues Wort für Laura. Sie gebrauchte es viel zu oft, was ihr bei neuen Wörtern unweigerlich passierte, aber in diesem Fall paßte es wirklich. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater sie manchmal mit ihrer Leidenschaft für neue Wörter aufgezogen hatte. Er hatte Spaß daran gehabt, sie zum Lachen zu bringen - zum Beispiel mit seinen Geschichten über Sir Keith Kröterich, das britische Amphibium, das er erfunden hatte, als Laura acht gewesen war, und dessen komische Biographie er fast tagtäglich weiter ausgeschmückt hatte. In mancher Beziehung war ihr Vater kindlicher gewesen als sie, und sie hatte ihn dafür geliebt.

Lauras Unterlippe zitterte. Sie biß fest darauf. Tränen hätten bedeutet, daß sie bezweifelte, was ihr Vater ihr immer wieder über das nächste, das bessere Leben erzählt hatte. Durch ihr Weinen hätte sie ihn endgültig für tot erklärt - für immer und ewig tot, finito.

Sie sehnte sich danach, sich in ihrem Zimmer über dem Laden im Bett verkriechen und die Decke über den Kopf ziehen zu können. Der Gedanke erschien ihr so reizvoll, daß sie fürchtete, er könnte sich für sie zu einem Hang entwickeln.

Von der Einsegnungshalle begaben sie sich zum Friedhof.

Dort gab es keine Grabsteine. Die Gräber waren durch Bronzeplaketten auf eben in den Boden eingelassenen Marmorplatten gekennzeichnet. Die sanft gewellten grünen Rasenflächen im Schatten riesiger Lorbeerbäume und kleinerer Magnolien hätten ein Park sein können, in dem man rennen und toben und spielen und lachen konnte - wenn das offene Grab nicht gewesen wäre, über dem Bob Shanes Sarg hing.

Letzte Nacht war sie zweimal durch fernen Donner aufgewacht, und im Halbschlaf hatte sie Blitze zu sehen geglaubt. Aber falls es nachts ein für diese Jahreszeit unübliches Gewitter gegeben haben sollte, war davon nichts mehr zu sehen. Der Himmel war wolkenlos blau.

Laura stand zwischen Cora und Anita, die sie an den Händen hielten und ihr Trost zuflüsterten, aber nichts, was sie sagten oder taten, konnte sie wirklich trösten. Ihre innere Kälte nahm mit jedem Wort des Abschiedsgebets des Geistlichen zu, bis sie das Gefühl hatte, nackt einem Polarwinter ausgesetzt zu sein, statt an einem heißen, windstillen Julimorgen im Schatten eines Baums zu stehen.

Der Totengräber schaltete die Elektrowinde ein, an deren Drahtseil der Sarg hing. Bob Shanes Leichnam wurde in die Erde gesenkt.

Laura, die das langsame Versinken des Sarges nicht mit ansehen konnte und der plötzlich das Atmen schwerfiel, wandte sich ab, entzog sich den liebevollen Händen ihrer beiden Wahlgroßmütter und entfernte sich einige Schritte weit. Sie war kalt wie Marmor; sie konnte den Schatten nicht länger ertragen. Sie blieb stehen, sobald sie in die Sonne trat, die sich auf ihrer Haut warm anfühlte, ohne jedoch gegen ihre innerlichen Schauder zu helfen.

Sie starrte etwa eine Minute lang den sanft abfallenden Hügel hinunter, bevor ihr der Mann auffiel, der am anderen Ende des Friedhofs vor einem Wäldchen aus großen Lorbeerbäumen stand. Er trug ein weißes Hemd und eine hellbeige Sommerhose, die vor dem schattigen Hintergrund schwach zu leuchten schienen, als wäre er ein Gespenst, das seine gewohnte nächtliche Umgebung mit dem Tageslicht vertauscht hatte. Er beobachtete sie und die übrige Trauergemeinde um Bob Shanes Grab, das fast auf dem Rücken des Hügels lag. Aus dieser Entfernung konnte Laura sein Gesicht nicht erkennen, aber sie sah, daß er groß und stark und blond war - und beunruhigend vertraut.

Der Beobachter faszinierte sie, ohne daß sie einen Grund dafür hätte nennen können. Sie ging wie unter einem Zauberbaum zwischen den Grabstätten und über Gräber hinweg hügelab-wärts. Je näher sie dem Blonden kam, desto vertrauter erschien er ihr. Anfangs reagierte er nicht auf ihre Annäherung, aber sie wußte, daß er sie aufmerksam beobachtete, und glaubte seinen Blick auf sich zu spüren.

Cora und Anita riefen ihren Namen, aber Laura ignorierte die beiden. Von unerklärlicher Erregung erfaßt, ging sie rascher, bis sie nur noch etwa dreißig Meter von dem Unbekannten entfernt war.

Der Mann zog sich ins Zwielicht unter den Bäumen zurück.

Aus Angst, er werde fort sein, bevor sie ihn richtig gesehen hatte - und ohne eigentlich zu wissen, weshalb das so wichtig sein sollte -, begann Laura zu rennen. Aber die Sohlen ihrer neuen schwarzen Schuhe waren noch glatt, so daß sie mehrmals beinahe hingefallen wäre. Wo der Mann gestanden hatte, war das Gras niedergetreten: Er war also kein Geist gewesen.

Laura nahm eine schemenhafte Bewegung zwischen den Bäumen wahr - das geisterhafte Weiß seines Hemdes. Sie hastete hinter ihm her. Im Schatten unter den Lorbeerbäumen wuchs nur blasses, spärliches Gras, aber dafür gab es überall aus dem Boden ragende Wurzeln und trügerische Schatten. Sie stolperte, hielt sich an einem Baum fest, um nicht zu fallen, gewann ihr Gleichgewicht zurück, sah auf - und mußte feststellen, daß der Mann verschwunden war.

stellen, daß der Mann verschwunden war.

Das Wäldchen bestand aus etwa hundert Bäumen, deren Zweige ein dichtes Blätterdach bildeten, durch das nur einzelne goldene Sonnenstrahlen drangen. Laura hastete durchs Halbdunkel weiter. Sie glaubte mehrmals, den Mann zu sehen, aber die vermeintliche Gestalt erwies sich stets als Phantombewegung, als ein Spiel aus Licht und Schatten oder ein Produkt ihrer Phantasie. Als leichter Wind aufkam, glaubte sie seine verstohlenen Schritte im alles überdeckenden Rauschen der Blätter zu hören, aber als sie diesem deutlichen Geräusch nachging, war es plötzlich nicht mehr zu hören.

Nach einigen Minuten hatte Laura das Wäldchen durchquert und erreichte eine Straße, die einen anderen Teil des weitläufigen Friedhofs erschloß. Am Straßenrand parkten Autos, deren Chrom im Sonnenschein glitzerte, und gut hundert Meter entfernt umstanden Trauernde ein weiteres Grab.

Laura blieb schwer atmend am Straßenrand stehen und fragte sich, wohin der Mann in dem weißen Hemd verschwunden sein mochte - und weshalb sie ihn unbedingt ganz aus der Nähe hatte sehen wollen.

Der pralle Sonnenschein, das Ausbleiben der kurzlebigen Brise und die wieder über dem Friedhof liegende völlige Stille bewirkten, daß Laura unbehaglich zumute wurde. Das Sonnenlicht schien durch sie hindurchzugehen, als wäre sie körperlos, sie fühlte sich seltsam leicht und zugleich etwas schwindlig -als schwebe sie im Traum eine Handbreit über dem Erdboden.

Gleich werde ich ohnmächtig, dachte sie.

Laura stützte sich mit einer Hand auf den vorderen Kotflügel eines geparkten Wagens und biß die Zähre zusammen, während sie sich bemühte, bei Bewußtsein zu bleiben.

Obwohl sie erst zwölf war, dachte und handelte sie nicht oft kindlich und fühlte sich auch nie als Kind - doch jetzt, in diesem Augenblick auf dem Friedhof, kam sie sich plötzlich sehr klein, schwach und hilflos vor.

Ein beiger Ford rollte im Schrittempo die Straße entlang und wurde noch langsamer, als er sich Laura näherte. Sein Fahrer war der Blonde mit dem weißen Hemd.

Sobald Laura ihn sah, wußte sie, weshalb er ihr vertraut vorgekommen war. Der Raubüberfall vor vier Jahren! Ihr Schutzengel ... Obwohl sie damals erst acht gewesen war, würde sie sein Gesicht nie vergessen.

Er brachte den Ford fast zum Stehen, rollte sehr langsam an ihr vorbei und betrachtete sie dabei prüfend. Sie waren keine drei Meter voneinander entfernt.

Durchs offene Autofenster konnte Laura jede Einzelheit seines einnehmenden Gesichts so deutlich erkennen wie an jenem schrecklichen Tag, an dem sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Seine Augen waren so leuchtend blau und durchdringend, wie Laura sie in Erinnerung hatte. Als ihre Blicke sich trafen, durchfuhr sie ein Schauder.

Der Mann betrachtete sie schweigend und ohne zu lächeln, als versuche er, sich Lauras Aussehen in allen Einzelheiten einzuprägen. Er starrte sie an, wie ein erschöpfter Wüstenwanderer ein großes Glas quellfrisches Wasser angestarrt haben würde. Sein Schweigen und sein beharrlicher Blick ängstigten Laura, aber sie vermittelten ihr zugleich ein unerklärliches Gefühl der Geborgenheit.

Das Auto rollte an ihr vorbei. »Halt, warten Sie!« rief Laura.

Sie stieß sich mit beiden Händen von dem Wagen ab, an dem sie gelehnt hatte, und rannte hinter dem beigen Ford her. Aber der Blonde gab Gas, fuhr rasch davon und ließ sie allein in der Sonne stehen, bis sie einen Augenblick später eine Männerstimme hinter sich hörte: »Laura?«

Als sie sich umdrehte, sah sie den Mann nicht gleich. Erst als er nochmals halblaut ihren Namen rief, erblickte sie ihn nur zehn Meter von sich entfernt unter den ersten Bäumen des Wäldchens, aus dem sie gekommen war. Er trug ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose und schien irgendwie nicht in diesen Sommertag zu passen.

Laura, die sich fragte, ob dieser Mann irgend etwas mit ihrem Schutzengel zu tun habe, trat neugierig und verwirrt auf ihn zu. Sie war bis auf wenige Schritte an den neuen Unbekannten herangekommen, als sie merkte, daß die Disharmonie zwischen ihm und dem hellen, warmen Sommertag nicht nur auf seine schwarze Kleidung zurückzuführen war. Winterliche Düsterkeit schien zu seinen Eigenschaften zu gehören: Er strahlte Kälte aus, als wäre er dafür geboren, in Polarregionen zu hausen.

Sie blieb eineinhalb Meter vor ihm stehen.

Er sagte weiter nichts, sondern starrte sie nur forschend an. Sein durchdringender Blick drückte vor allem Frage und Verwirrung aus.

Sie sah die Narbe auf seiner linken Backe.

»Weshalb du?« fragte der winterliche Mann, trat einen Schritt vor und wollte nach ihr greifen.

Laura stolperte rückwärts und konnte vor Angst nicht einmal schreien.

Aus der Mitte des Wäldchens rief Cora Lance: »Laura? Wo bist du, Laura?«

Der Unbekannte reagierte auf die Nähe von Coras Stimme, indem er sich abwandte und zwischen den Lorbeerbäumen verschwand. Seine schwarze Gestalt verschmolz so rasch mit den Schatten, als wäre er kein Mensch, sondern nur ein zu kurzem Leben erwachtes Stück Dunkelheit gewesen.

Fünf Tage nach der Beerdigung - am Samstag, dem 29. Juli -war Laura zum ersten Mal seit einer Woche wieder in ihrem Zimmer über dem Lebensmittelgeschäft. Sie packte und nahm Abschied von der Umgebung, die ihr Heim gewesen war, solange sie zurückdenken konnte.

Sie unterbrach ihre Arbeit, setzte sich auf die Kante ihres ungemachten Betts und versuchte sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie glücklich und geborgen sie noch vor wenigen Tagen in diesem Raum gewesen war. Über hundert Taschenbücher, vor allem Hunde- und Pferdegeschichten, standen in einem Eckregal. Vier Dutzend Hunde- und Katzenminiaturen - aus Glas, Messing, Zinn und Porzellan - drängten sich auf zwei Regalbrettern über dem oberen Bettende.

Laura hatte kein Haustier, denn in Wohnungen über Lebensmittelgeschäften durften keine Tiere gehalten werden. Aber sie hoffte, eines Tages einen Hund zu bekommen, vielleicht sogar ein Pferd. Noch wichtiger war, daß sie vielleicht Tierärztin werden würde, wenn sie groß war - eine Heilerin kranker und verletzter Tiere.

Ihr Vater hatte gesagt, sie könne alles werden: Tierärztin, Rechtsanwältin, Filmstar, einfach alles. »Wenn du Lust hast, kannst du Rentierhirtin oder eine Ballerina auf Stelzen werden. Du läßt dich von nichts abhalten.«

Laura mußte lächeln, als sie daran dachte, wie ihr Vater die Ballerina nachgemacht hatte. Aber dabei fiel ihr auch ein, daß er sie verlassen hatte, und sie spürte, wie sich eine schreckliche Leere in ihr öffnete.

Sie räumte den Kleiderschrank aus, legte ihre Sachen sorgsam zusammen und packte sie in zwei große Koffer. Sie hatte auch einen Überseekoffer, in den sie ihre Lieblingsbücher, ein paar Spiele und einen Teddybären legte. Cora und Tom Lance machten eine Inventarliste der übrigen Räume der kleinen Wohnung und des Lebensmittelgeschäfts im Erdgeschoß. Laura sollte zu ihnen ziehen, wobei ihr noch nicht recht klar war, ob dies eine Dauerlösung oder lediglich eine Übergangslösung sein würde.

Durch Gedanken an ihre ungewisse Zukunft nervös und unruhig gemacht, wandte Laura sich wieder dem Packen zu. Sie zog die Schublade des zweiten Nachttischs auf und erstarrte beim Anblick der winzigen Stiefel, des kleinen Regenschirms und des zehn Zentimeter langen Schals, die ihr Vater als Beweis dafür besorgt hatte, daß Sir Keith Kröterich tatsächlich in Untermiete bei ihnen wohnte.

Er hatte einen seiner Freunde, einen geschickten Schuhmacher, dazu überredet, diese winzigen Stiefel anzufertigen, die vorn besonders breit waren, damit Zehen mit Schwimmhäuten darin Platz hätten. Der Schirm stammte aus einem Laden, und den grünkarierten Wollschal hatte er selbst genäht und mühsam mit Fransen versehen. Als Laura an ihrem neunten Geburtstag von der Schule heimgekommen war, hatten Schirm und Stiefel in der Diele gestanden und der kleine Schal am Kleiderhaken darüber gehangen. »Pssst!« hatte ihr Vater theatralisch geflüstert. »Sir Keith ist eben von einer anstrengenden Reise zurückgekommen, die er im Auftrag der Königin von Ecuador gemacht hat - sie besitzt dort eine Diamantenfarm, weißt du -, und ist ganz erschöpft. Er schläft bestimmt tagelang. Aber er hat mich gebeten, dir alles Gute zum Geburtstag zu wünschen, und hat ein Geschenk mitgebracht, das im Hof steht.« Das Geschenk war ein neues Fahrrad gewesen.

Als Laura jetzt diese winzigen Gegenstände in der Nachttischschublade anstarrte, wurde ihr klar, daß nicht nur ihr Vater gestorben war. Mit ihm waren Sir Keith Kröterich und die vielen anderen von ihm erfundenen Gestalten und die kindischen, aber wundervollen Geschichten fort, mit denen er sie unterhalten hatte. Die breiten Stiefel, der winzige Regenschirm und der kleine Schal sahen so süß und mitleiderregend aus, daß man beinahe glauben konnte, Sir Keith habe tatsächlich existiert und sei jetzt in eine bessere Krötenwelt heimgekehrt. Ein leises, schmerzliches Stöhnen entrang sich Laura. Sie ließ sich aufs Bett fallen, vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen, damit niemand sie schluchzen hörte, und ließ sich erstmals seit dem Tod ihres Vaters von ihrem Schmerz überwältigen.

Sie wollte nicht ohne ihn leben - und mußte nicht nur leben, sondern auch gedeihen, weil jeder Tag ihres Lebens Zeugnis für ihn ablegen sollte. Obwohl Laura erst zwölf war, begriff sie bereits, daß ihr Vater in gewisser Weise durch sie weiter existieren würde, wenn sie anständig lebte und ein guter Mensch zu werden versuchte.

Aber es würde nicht leicht sein, der Zukunft optimistisch entgegenzutreten und glücklich zu werden. Sie wußte jetzt, daß das Leben erschreckend tragischen Wechselfällen unterworfen war: daß es heiter und warm und im nächsten Augenblick kalt und stürmisch sein konnte, so daß man nie wußte, wann ein Blitzstrahl einen geliebten Menschen treffen würde. Nichts hatte ewig Bestand. Das Leben war eine Kerze im Wind. Es war eine harte Lektion für ein Mädchen in ihrem Alter, und Laura kam sich alt, sehr alt, uralt vor.

Als der heiße Tränenstrom versiegte, beeilte sie sich, ihre Fassung zurückzugewinnen, damit das Ehepaar Lance nicht merkte, daß sie geweint hatte. Wenn die Welt hart, grausam und unbarmherzig war, dann konnte es nicht klug sein, sich auch nur die geringste Schwäche anmerken zu lassen.

Laura wickelte die kleinen Stiefel, den Regenschirm und den Wollschal sorgfältig in Kosmetiktücher und verstaute sie in dem Überseekoffer.

Als beide Nachttische ausgeräumt waren, machte sie sich an ihren Schreibtisch und entdeckte auf der Schreibunterlage aus grünem Filz einen zusammengefalteten Briefbogen, auf dem in klarer, eleganter, wie gestochen wirkender Handschrift eine Mitteilung für sie stand.

Liebe Laura,

manche Ereignisse sind vorausbestimmt, und niemand kann sie verhindern. Nicht einmal Dein spezieller Beschützer. Tröste Dich mit der Gewißheit, daß Du von Deinem Vater von ganzem Herzen und auf eine Weise geliebt worden bist, wie nur wenige Glückliche jemals geliebt werden. Wenn Du jetzt auch glaubst, niemals wieder glücklich sein zu können, täuschst Du Dich. Im Laufe der Zeit wirst Du wieder glücklich werden. Das ist kein leeres Versprechen. Das ist eine Tatsache.

Der Brief war nicht unterschrieben, aber sie wußte, von wem er stammen mußte: von dem Mann, der auf dem Friedhof gewesen war, sie aus dem vorbeifahrenden Auto beobachtet hatte und ihrem Vater und ihr vor Jahren das Leben gerettet hatte. Kein anderer konnte sich als ihr »spezieller Beschützer« bezeichnen. Ein Zittern durchlief ihren Körper - nicht vor Angst, sondern weil das Unerklärliche und Geheimnisvolle an ihrem Beschützer sie mit Neugier und Verwunderung erfüllten.

Laura trat rasch ans Fenster ihres Zimmers und schob die dünnen Netzstores zwischen den Vorhängen beiseite, weil sie fest annahm, er werde unten auf der Straße stehen und den Laden beobachten. Aber er war nicht da.

Auch der Mann in Schwarz war nicht da. Ihn hatte sie nicht zu sehen erwartet. Sie hatte sich inzwischen eingeredet, der zweite Unbekannte habe nichts mit ihrem Beschützer zu tun und sei aus irgendeinem anderen Grund auf dem Friedhof gewesen. Er hatte ihren Namen gewußt. Aber vielleicht hatte er ihn zuvor gehört, als Cora sie vom Hügel aus rief. Es gelang ihr, ihn aus ihren Gedanken zu verdrängen, weil sie nicht wollte, daß er ein Bestandteil ihres Lebens war, während sie sich andererseits nichts sehnlicher wünschte als einen speziellen Beschützer.

Sie las den Brief nochmals.

Obwohl Laura nicht begriff, wer der blonde Mann war oder weshalb er sich für sie interessierte, fand sie seine Mitteilung tröstlich. Man brauchte nicht alles zu verstehen, solange man es nur glaubte.

5

Nachdem Stefan auf dem Dachboden des Instituts die Sprengladungen angebracht hatte, kam er in der nächsten Nacht mit seinem Koffer zurück und behauptete neuerlich, keinen Schlaf gefunden zu haben. Viktor, der diesen Besuch vorausgesehen hatte, hatte ihm die Hälfte des von seiner Frau gebackenen Kuchens mitgebracht.

Stefan biß zwischendurch immer wieder von dem Kuchen ab, während er die Sprengladungen anbrachte. Der riesige Keller war in zwei Räume unterteilt, in denen sich im Gegensatz zum Dachboden jeden Tag Mitarbeiter des Instituts aufhielten. Deshalb mußten hier unten die Ladungen und ihre Zündleitungen unsichtbar bleiben.

Der erste Raum enthielt das Forschungsarchiv und zwei lange Arbeitstische aus massiver Eiche. Die zwei Meter hohen Aktenschränke standen in Gruppen zusammengefaßt an den Wänden. Er brauchte die Sprengladungen nur oben auf die Schränke zu legen und ganz nach hinten an die Wand zu schieben, so daß selbst der größte Institutsangestellte sie nicht mehr sehen konnte.

Die Zündleitungen konnte er hinter den Schränken verlegen, aber er mußte ein kleines Loch in die Trennwand zwischen den Kellerräumen bohren, um die Leitungen weiterführen zu können. Es gelang ihm, das Loch an einer unauffälligen Stelle zu bohren, wo die Drähte auf beiden Seiten der Trennwand nur wenige Zentimeter weit sichtbar waren.

Der zweite Raum diente als Lagerraum für Büro- und Labormaterial und zur Unterbringung der etwa zwanzig Tiere -mehrere Hamster, einige weiße Ratten, zwei Hunde und ein lebhafter Affe in einem großen Käfig mit drei Schaukelstangen -, die zu frühen Versuchsreihen des Instituts gedient - und sie überlebt - hatten. Obwohl die Tiere nicht mehr gebraucht wurden, blieben sie für den Fall, daß ihr einzigartiges Abenteuer unvorhergesehene medizinische Spätfolgen haben sollte, weiter in Beobachtung.

Stefan brachte starke Sprengladungen in den Hohlräumen hinter den Materialstapeln an und führte alle Zündleitungen zu dem vergitterten Luftschacht weiter, durch den er in der Nacht zuvor das Kabel vom Dachboden herabgelassen hatte. Während er arbeitete, spürte er, daß die Tiere ihn ungewöhnlich aufmerksam zu beobachten schienen, als wüßten sie, daß sie keine 24 Stunden mehr zu leben hatten. Was sie betraf, plagte ihn ein schlechtes Gewissen, obwohl er seltsamerweise keine Gewissensbisse hatte, wenn er an den Tod der Mitarbeiter des Instituts dachte - vielleicht weil die Tiere schuldlos waren, was man von den Männern nicht behaupten konnte.

Kurz vor vier Uhr war Stefan mit der Arbeit im Keller und in seinem Büro im zweiten Stock fertig. Bevor er das Institut verließ, ging er ins Hauptlabor im Erdgeschoß und starrte eine Minute lang das Tor an.

Das Tor.

Die vielen Dutzend Skalen, Instrumente und Anzeigegeräte der Apparaturen des Tors leuchteten gedämpft orange, gelb oder grün, denn seine Stromversorgung wurde nie unterbrochen. Das Ding war zylindrisch, vier Meter lang, zweieinhalb Meter im Durchmesser und bei trüber Beleuchtung kaum richtig zu erkennen; auf seiner Edel stahlverkleidung spiegelten sich schwache Lichtreflexe der Aggregate, die drei Seiten des saalartigen Raums einnahmen.

Obwohl er das Tor schon Dutzende von Malen passiert hatte, fand er es noch immer furchteinflößend - nicht so sehr, weil es einen staunenswerten wissenschaftlichen Durchbruch verkörperte, sondern weil sein Potential für Böses unbegrenzt war. Es war kein Tor zur Hölle, aber in den Händen der falschen Männer konnte es genau das sein. Und es befand sich in den Händen der falschen Männer.

Nachdem Stefan sich bei Viktor für den halben Kuchen bedankt und behauptet hatte, er habe ihn aufgegessen - in Wirklichkeit hatte er den größten Teil an die Tiere verfüttert -, fuhr er in seine Wohnung zurück.

Auch diese Nacht war stürmisch. Der Nordwestwind trieb Regenschauer vor sich her. Wasser schäumte aus den Fallrohren der Dachrinnen, gurgelte in Rinnsteinen, rieselte von Dächern, bildete Pfützen auf den Straßen und ließ verstopfte Abflüsse überquellen, und da die Stadt fast völlig dunkel war, schienen die Tümpel und Wasserläufe eher aus Öl zu bestehen. Auf den Straßen waren nur einige wenige Uniformierte unterwegs, die alle dunkle Gummimäntel trugen, in denen sie wie Gestalten aus einem Gruselroman aussahen.

Stefan fuhr auf dem kürzesten Weg nach Hause, ohne zu versuchen, den bekannten Kontrollstellen auszuweichen. Seine Papiere waren in Ordnung, sein Sonderausweis, der ihn von der Ausgangssperre ausnahm, galt bis Jahresende, und er transportierte keinen illegal beschafften Sprengstoff mehr.

Daheim stellte er seinen großen Wecker und schlief fast augenblicklich ein. Er brauchte diesen Schlaf dringend, denn am Nachmittag standen ihm zwei anstrengende Reisen und mehrere Liquidationen bevor. Wenn er dabei nicht hellwach war, konnte er leicht vom Jäger zum Gejagten werden.

Er träumte von Laura, was er für ein gutes Omen hielt.

Die stete Flamme

1

Von ihrem zwölften bis zu ihrem 17. Lebensjahr trieb Laura Shane haltlos durch ihr Leben, als wäre sie vom Wind über die kalifornischen Wüsten geblasenes Steppengras: in windstillen Augenblik-ken da und dort für kurze Zeit zur Ruhe kommend, um dann vom nächsten Windstoß wieder weitergetrieben zu werden.

Sie hatte keine Verwandten und konnte auch nicht bei den besten Freunden ihres Vaters - dem Ehepaar Lance - bleiben. Tom war 62, Cora 57, und obwohl die beiden seit 35 Jahren verheiratet waren, hatten sie keine Kinder. Die Vorstellung, eine Zwölfjährige auf- und erziehen zu müssen, war für sie beängstigend.

Laura hatte Verständnis dafür und nahm ihnen nichts übel. An jenem Augusttag, an dem sie ihr Haus in Begleitung einer Mitarbeiterin der Orange County Child Welfare Agency verließ, küßte sie Cora und Tom zum Abschied und versicherte ihnen, sie werde schon zurechtkommen. Noch vom Auto der Sozialarbeiterin aus winkte sie den beiden fröhlich zu und hoffte, sie würden sich als Absolvierte fühlen.

Absolviert. Dieses Wort kannte sie erst seit kurzer Zeit. Absolvieren: die Absolution erteilen; von einer Aufgabe, Verpflichtung oder Verantwortung entbinden oder befreien. Sie wünschte sich, sie könnte sich selbst Absolution von der Verpflichtung erteilen, sich ohne Anleitung durch einen liebevollen Vater in der Welt zurechtzufinden, weiterzuleben und die Erinnerung an ihn wachzuhalten.

Vom Haus des Ehepaars Lance wurde Laura ins Kinderheim McIllroy Home gebracht: ein altes, weitläufiges viktorianisches Herrenhaus mit 27 Zimmern, das sich ein Magnat in der Zeit der landwirtschaftlichen Hochblüte des Orange County hatte erbauen lassen. Später war es in ein Heim umgewandelt worden, das zur vorläufigen Unterbringung von der staatlichen Fürsorge anvertrauten Kindern diente, für die neue Pflegeeltern gefunden werden mußten.

Diese Einrichtung war mit nichts zu vergleichen, was Laura aus Büchern kannte. Vor allem fehlten hier freundliche Nonnen in wallenden schwarzen Gewändern.

Dafür gab es hier Willy Sheener.

Laura wurde gleich nach ihrer Ankunft auf ihn aufmerksam, als Mrs. Bowmaine, eine Sozialarbeiterin, sie in das Zimmer führte, das sie sich mit den Ackerson-Zwillingen und einem Mädchen namens Tammy teilen würde. Sheener war damit beschäftigt, einen der gefliesten Korridore zu kehren.

Er war kräftig, drahtig, blaß, sommersprossig und Anfang 30; er hatte grüne Augen und Haare, die kupferrot waren wie ein neuer Penny. Bei der Arbeit grinste er und pfiff halblaut vor sich hin. »Wie geht’s Ihnen heute morgen, Mrs. Bowmaine?«

»Wie immer bestens, Willy.« Sie hatte offenbar viel für Sheener übrig. »Das hier ist Laura Shane, eine Neue. Laura, das ist Mr. Sheener.«

Sheener starrte Laura an, und die Intensität seines Blickes war Laura unheimlich. Als er seine Stimme wiederfand, klang sie gepreßt.

»Ähhh ... willkommen im McIllroy.«

Während Laura der Sozialarbeiterin folgte, sah sie sich nach Sheener um. Mit einer Bewegung, die nur sie sehen sollte, ließ er die rechte Hand sinken und massierte sich träge zwischen den Beinen.

Laura wandte sich erschrocken ab.

Als sie später ihre wenigen Habseligkeiten auspackte und ihr Viertel des Schlafzimmers im zweiten Stock etwas wohnlicher zu machen versuchte, drehte sie sich um und sah Sheener an der Tür stehen. Laura war allein, die übrigen Kinder spielten auf dem Hof oder im Spielzimmer. Sein Lächeln war jetzt ganz anders als das, mit dem er sich bei Mrs. Bowmaine eingeschmeichelt hatte; kalt und raubgierig. In dem durch eines der kleinen Fenster einfallenden schrägen Licht wirkten seine Augen nicht grün, sondern silbern wie die durch Grauen Star getrübten Augen eines Blinden.

Laura versuchte zu sprechen, aber sie brachte kein Wort heraus. Sie wich vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand neben ihrem Bett stand.

Er stand mit herabhängenden Armen und zu Fäusten geballten Händen bewegungslos da.

Das McIllroy Home besaß keine Klimaanlage. Obwohl alle Schlafzimmerfenster offenstanden, war es in dem Raum tropisch heiß. Trotzdem hatte Laura nicht geschwitzt. Doch jetzt, nachdem sie sich umgedreht und Sheener gesehen hatte, war ihr T-Shirt feucht.

Draußen lachten und lärmten spielende Kinder. Sie waren ganz in der Nähe, aber ihr Stimmen klangen wie aus weiter Ferne.

Das kratzende, rhythmische Geräusch von Sheeners Atemzügen schien immer lauter zu werden und die Kinderstimmen allmählich zu übertönen.

Lange standen sie beide wortlos und ohne Bewegung da. Dann wandte Sheener sich plötzlich ab und ging.

Laura wankte mit weichen Knien und in Schweiß gebadet zu ihrem Bett und setzte sich auf die Kante. Die durchgelegene Matratze gab nach, die Sprungfedern quietschten.

Während ihr jagender Puls sich verlangsamte, betrachtete sie den graugestrichenen Raum und wollte verzweifeln. In den vier Ecken standen schmale Eisenbetten mit zerschlissenen Chenille-Tagesdecken und unförmigen Federkissen. Zu jedem Bett gehörte ein reichlich abgenutzter Nachttisch mit Kunstharzplatte, auf dem eine Metallampe stand. Die zerkratzte Kommode hatte acht Schubladen, von denen zwei ihr gehörten. Außerdem gab es zwei Einbaukleiderschränke, und sie hatte einen halben zugewiesen bekommen. Die uralten Vorhänge hingen labberig und fettig an vom Rost befallenen Vorhangstangen. Das ganze Haus war moderig und gespenstisch, es roch irgendwie unangenehm, und Willy Sheener streifte durch Zimmer und Korridore, als wäre er ein böser Geist und warte auf den Vollmond mit seinen blutigen Spielen.

An diesem Abend nach dem Essen schlossen die Ackerson-Zwillinge die Zimmertür und forderten Laura auf, sich zu ihnen auf den abgetretenen braunen Teppich zu setzen und mit ihnen Geheimnisse auszutauschen.

Die andere Mitbewohnerin, eine seltsam stille, schmächtige Blondine namens Tally, hatte kein Interesse, sich daran zu beteiligen. Sie saß mit zwei Kissen im Rücken in ihrem Bett, las ein Buch und kaute dabei unaufhörlich mauseartig an ihren Fingernägeln.

Laura hatte Thelma und Ruth Ackerson sofort gern. Die beiden waren eben zwölf geworden, also nur wenige Monate jünger als Laura, und für ihr Alter schon sehr erfahren. Sie waren mit neun Jahren Waisen geworden und lebten seit fast drei Jahren im McIllroy Home. Es war schwierig, für Kinder in ihrem Alter Adoptiveltern zu finden - vor allem für Zwillingsschwestern, die unbedingt zusammenbleiben wollten.

Beide waren nicht hübsch und in ihrer Unscheinbarkeit erstaunlich identisch: glanzloses braunes Haar, kurzsichtige braune Augen, breites Gesicht, breiter Mund, starkes Kinn. Aber was ihnen an gutem Aussehen fehlte, machten sie durch Intelligenz, Lebhaftigkeit und Freundlichkeit mehr als wett.

Ruth trug blaue Pantoffeln und einen blauen Schlafanzug mit dunkelgrünen Biesen an Kragen und Manschetten und hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Thelma trug flauschige gelbe Pantoffeln mit je zwei aufgenähten Knöpfen, die Augen darstellen sollten, und einen himbeerroten Schlafanzug; ihr Haar hing lose herab.

Bei Einbruch der Dunkelheit war die unerträgliche Hitze abgeflaut. Sie waren keine 15 Kilometer vom Pazifik entfernt, so daß die Nachtbrise behaglichen Schlaf ermöglichte. Da die Fenster offenstanden, strömte milde Luft herein, brachte die schmuddeligen alten Vorhänge in leichte Bewegung und verteilte sich im ganzen Zimmer.

»Der Sommer ist hier langweilig«, erklärte Ruth der zwischen ihnen auf dem Boden sitzenden Laura. »Wir dürfen das Grundstück nicht verlassen, und es ist einfach nicht groß genug. Außerdem sind im Sommer alle kinderfreundlichen Leute so mit ihren Badeausflügen und ihren Urlaubsreisen beschäftigt, daß sie uns vergessen.«

»Aber Weihnachten ist großartig,« sagte Thelma.

»Der ganze November und Dezember sind großartig«, stellte Ruth fest.

»Richtig«, bestätigte Thelma. »Feiertage sind großartig, weil dann die Leute ein schlechtes Gewissen kriegen, wo sie doch alles haben, während wir armen, verlassenen, heimatlosen Waisenkinder Papierkleider und Schuhe aus Pappe tragen und die Grütze vom vorigen Jahr essen müssen. Deshalb schicken sie uns Freßkörbe, gehen groß mit uns einkaufen und laden uns ins Kino ein - allerdings nie in gute Filme.«

»Oh, mir gefallen manche ganz gut«, sagte Ruth.

»Lauter Filme, in denen nie, nie jemand in die Luft gesprengt wird. Und nie welche mit Sauereien. Wir kriegen nie einen Film zu sehen, in dem ein Kerl einem Mädchen an die Titten greift. Ja, Familienstorys. Öde, nichts als öde.«

»Du mußt meiner Schwester verzeihen«, sagte Ruth zu Laura. »Sie bildet sich ein, schon in der Pubertät zu sein, und ...«

»Ich stehe am Rand der Pubertät! Ich spüre, wie meine Säfte steigen!« rief Thelma aus und reckte einen ihrer dünnen Arme hoch in die Luft.

»Der Mangel an elterlicher Führung hat ihr doch geschadet, fürchte ich«, behauptete Ruth. »Sie hat sich dem Waisendasein nicht gut angepaßt.«

»Du mußt meine Schwester entschuldigen«, warf Thelma ein. »Sie hat beschlossen, die Pubertät zu überspringen und von der Kindheit direkt zur Senilität überzugehen.«

»Was ist mit Willy Sheener?« fragte Laura.

Die Ackerson-Zwillinge tauschten einen wissenden Blick und redeten dann abwechselnd so rasch, daß keine Sekunde zwischen ihren Aussagen ungenutzt blieb. »Ach, ein Gestörter«, sagte Ruth, und Thelma sagte: »Ein Dreckskerl«, und Ruth sagte: »Er braucht eine Therapie«, und Thelma sagte: »Nein, dem müßte man einen Baseballschläger ein, vielleicht zwei dutzendmal über den Kopf schlagen und ihn dann für den Rest seines Lebens einsperren.«

Laura berichtete, wie Sheener plötzlich auf der Schwelle ihres Zimmers gestanden hatte.

»Er hat also nichts gesagt?« fragte Ruth. »Das ist merkwürdig. Normalerweise sagt er >Du bist ein sehr hübsches kleines Mädchen< oder ...«

». er bietet einem Süßigkeiten an.« Thelma verzog das Gesicht. »Kannst du dir das vorstellen? Süßigkeiten! Wie einfallslos! Man könnte meinen, er habe sich seine Dreckskerlmanieren aus den Heftchen angeeignet, die die Polizei verteilt, um Kinder vor Sexualverbrechern zu warnen.«

»Keine Süßigkeiten«, sagte Laura und erschauderte, als sie an Sheeners in der Sonne silbrig glänzende Augen und an sein schweres, rhythmisches Atmen dachte.

Thelma beugte sich vor und senkte ihre Stimme zu einem lauten Flüstern wie auf der Bühne. »Anscheinend hat’s dem Weißen Aal die Sprache verschlagen, und er war so geil, daß ihm seine üblichen Sprüche gar nicht eingefallen sind. Vielleicht ist er besonders scharf auf dich, Laura.«

»Weißer Aal?«

»Das ist Sheener«, erklärte Ruth ihr. »Oder einfach nur der Aal.«

»Bleich und glitschig, wie er ist«, sagte Thema, »ist das der passende Spitzname. Ich möchte wetten, daß der Aal besonders scharf auf dich ist. Ich meine, Kleine, du bist ein Hammer.«

»Ich doch nicht!« wehrte Laura ab.

»Machst du Witze?« sagte Ruth. »Mit deinem dunklen Haar und den großen Augen .«

Laura wurde rot und wollte widersprechen, aber Thelma kam ihr zuvor. »Hör zu, Shane, das Ackerson-Duo - Ruth et moi -kann falsche Bescheidenheit ebensowenig vertragen wie Angeberei. Wir halten nichts von Süßholzgeraspel. Wir kennen unsere Stärken und sind stolz auf sie. Gott weiß, daß wir’s nie zur Miss America bringen werden, aber wir sind intelligent und genieren uns nicht, das zu sagen. Und du bist bildhübsch, deshalb hör auf, die spröde Schüchterne zu spielen!«

»Meine Schwester drückt sich manchmal zu direkt und drastisch aus«, entschuldigte sich Ruth.

»Und meine Schwester«, erklärte Thelma der Neuen, »probt für die Rolle der Melanie in Vom Winde verweht.« Sie imitierte einen breiten Südstaatenakzent und sprach mit übertriebenem Pathos: »Oh, Scarlett hat’s nicht so gemeint. Scarlett ist ein liebes Mädchen, das ist sie wirklich. Auch Rhett ist in seinem Innersten so lieb, und selbst die Yankees sind lieb, sogar diejenigen, die Tara ausgeplündert, unsere Äcker verbrannt und die Haut unserer Babys zu Stiefeln verarbeitet haben.«

Laura begann zu kichern, lange bevor Thelmas Vorführung zu Ende war.

»Also spiel nicht länger die Schüchterne, Shane! Du bist bildhübsch.«

»Okay, okay. Ich weiß, daß ich ... hübsch bin.«

»Also, Kleine, als der Weiße Aal dich gesehen hat, ist bei ihm ‘ne Sicherung durchgebrannt.«

»Richtig«, bestätigte Ruth, »du hast ihn verwirrt. Deshalb hat er nicht mal daran gedacht, die Süßigkeiten rauszuholen, die er immer in der Tasche hat.«

»Süßigkeiten!« sagte Thelma. »Kleine Säckchen M&Ms, Tootsie Rolls!«

»Laura, sei bloß vorsichtig«, warnte Ruth leise. »Er ist krank .«

»Er ist ein Widerling!« stellte Thelma fest. »Eine Kanalratte!«

Aus der entferntesten Ecke des Raums kam Tammys sanfte Stimme: »Er ist nicht so schlecht, wie ihr behauptet.«

Das blonde Mädchen war so still, so schmächtig und farblos, so geschickt darin, sich im Hintergrund zu verlieren, daß Laura nicht mehr an sie gedacht hatte. Jetzt sah sie, daß Tammy ihr Buch weggelegt und sich im Bett aufgesetzt hatte; sie hatte ihre knochigen Knie bis zur Brust hochgezogen und umschlang sie mit beiden Armen. Sie war zehn, um zwei Jahre jünger als ihre Zimmergenossinnen, und klein für ihr Alter. In ihrem weißen Nachthemd und mit den weißen Socken sah Tammy eher wie ein Gespenst aus als wie ein richtiger Mensch.

»Er würde niemandem was antun«, sagte Tammy zögernd, mit leicht bebender Stimme, als komme eine Meinungsäußerung über Sheener - über irgend etwas, irgend jemand - einem Drahtseilakt ohne Netz gleich.

»Er würde jemandem was antun, wenn er nicht Angst hätte, erwischt zu werden«, widersprach Ruth.

»Er ist bloß ...« Tammy biß sich auf die Unterlippe. »Er ist ... einsam.«

»Nein, Schätzchen«, sagte Thelma, »er ist nicht einsam. Er liebt sich selbst so sehr, daß er nie einsam sein wird.«

Tammy wich ihrem Blick aus. Sie stand auf, schlüpfte in abgetretene Hausschuhe und murmelte: »Allmählich Zeit zum Schlafengehen.« Sie nahm ihren Toilettenbeutel vom Nachttisch, schlurfte hinaus, schloß die Tür hinter sich und machte sich auf den Weg zu einem der Bäder am Ende des Flurs.

»Sie nimmt seine Süßigkeiten«, erläuterte Ruth Laura.

Abscheu durchflutete Laura wie eine eisige Wolke. »Nein!«

»Doch«, sagte Thelma, »aber nicht, weil sie Süßigkeiten mag. Sie ist ... verkorkst. Sie braucht die Anerkennung des Aals.«

»Aber warum nur?« fragte Laura.

Ruth und Thelma wechselten einen weiteren ihrer Blicke, durch die sie strittige Punkte wortlos zu diskutieren und binnen weniger Sekunden eine Entscheidung zu fällen schienen. »Nun, weißt du«, antwortete Ruth seufzend, »Thelma mag diese Art Anerkennung, weil ... weil ihr Vater ihr beigebracht hat, sie zu mögen.«

Laura war entsetzt. »Ihr eigener Vater?«

»Nicht alle Kinder im McIllroy Home sind Waisen«, erklärte Thelma. »Manche sind hier, weil ihre Eltern Straftaten verübt haben und im Gefängnis sitzen. Und andere sind von Angehörigen mißhandelt oder ... sexuell mißbraucht worden.«

Die durch die offenen Fenster hereinströmende Nachtluft war vielleicht ein, zwei Grad kühler als vorhin, als die drei Mädchen sich auf den Teppich gesetzt hatten, aber sie erschien Laura wie ein kalter Herbstwind, der auf rätselhafte Weise Raum und Zeit überwunden hatte und in diese Augustnacht vorgestoßen war.

»Aber Tammy mag das doch nicht wirklich?« fragte Laura.

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Ruth. »Aber für sie ist das .«

». zwanghaft«, warf Thelma ein. »Sie kann nicht anders. Mit einem Wort: verkorkst.«

Die drei schwiegen und dachten das Undenkbare, bis Laura schließlich sagte: »Seltsam und ... so traurig. Können wir nichts dagegen unternehmen? Könnten wir nicht Mrs. Bowmaine oder eine der anderen Sozialarbeiterinnen über Sheener aufklären?«

»Das wäre zwecklos«, wehrte Thelma ab. »Der Aal würde alles leugnen, und Tammy würde es ebenfalls abstreiten. Und wir haben keinerlei Beweise.«

»Aber wenn sie nicht das einzige Mädchen ist, das er mißbraucht hat, könnte doch eine der anderen .«

Ruth schüttelte den Kopf. »Die meisten leben inzwischen bei Pflege- oder Adoptiveltern oder sind wieder zu Hause. Die zwei oder drei, die noch da sind ... nun, die sind entweder wie Tammy, oder sie haben schreckliche Angst vor dem Aal -zuviel Angst, um ihn zu verpetzen.«

»Außerdem«, sagte Thelma, »wollen die Erwachsenen nichts davon wissen, wollen sich nicht damit befassen müssen. Das Heim könnte in die Schlagzeilen geraten. Sie müßten sich fragen lassen, wie das alles vor ihrer Nase passieren konnte. Und seit wann kann man außerdem Kindern glauben?« Thelma imitierte Mrs. Bowmaine und traf ihren heuchlerischen Tonfall so genau, daß Laura sofort wußte, wer gemeint war. »Oh, meine Liebe, diese abscheulichen, lügenhaften kleinen Bestien! Aufsässige, boshafte, lästige kleine Teufel, die imstande wären, Mr. Sheeners ausgezeichneten Ruf nur so aus Spaß zu ruinieren. Wenn man sie nur ruhigstellen, an Wandhaken hängen und intravenös ernähren könnte, dann wäre unser System weit effektiver, meine Liebe - und für sie selbst wär’s auch viel besser.«

»Dann würde der Aal von allen Vorwürfen reingewaschen«, stellte Ruth fest. »Er käme hierher zurück und würde Mittel und Wege finden, sich an uns zu rächen, weil wir ihn verpetzt haben. So ähnlich ist’ s bei dem anderen Schwein gewesen, das früher hier gearbeitet hat - ein Kerl, den wir Frettchen Fogel genannt haben. Der arme Denny Jenkins ...«

»Denny Jenkins hat Frettchen Fogel verpetzt: Er beschwerte sich bei Bowmaine, Fogel habe ihn und zwei andere Jungen belästigt. Das Frettchen ist suspendiert worden. Aber die beiden anderen bestätigten Dennys Aussage nicht. Sie hatten Angst vor Fogel . waren auch von seiner perversen Anerkennung abhängig. Als Bowmaine und ihr Mitarbeiter Denny verhörten .«

»Sie haben ihn in die Mangel genommen!« unterbrach Ruth sie aufgebracht. »Sie haben ihm Fangfragen gestellt, um ihn reinzulegen. Er ist so durcheinander gewesen, daß er sich in Widersprüche verwickelt hat - daraufhin haben sie behauptet, er habe sich alles nur ausgedacht.«

»Und Fogel ist ins Heim zurückgekommen«, sagte Thelma.

»Der hat auf seine Chance gewartet«, fuhr Ruth fort, »und Denny dann das Leben zur Hölle gemacht. Er hat den Jungen erbarmungslos gequält, bis ... Denny eines Tages zu kreischen begonnen hat und nicht wieder aufhören konnte. Der Arzt hat ihm eine Spritze geben müssen, und Denny ist abtransportiert worden. Emotional gestört, haben sie gesagt.« Ruth war nahe daran, in Tränen auszubrechen. »Wir haben ihn nie wiedergesehen.«

Thelma legte ihrer Schwester eine Hand auf die Schulter. »Ruth hat Denny gern gehabt«, erklärte sie Laura. »Er ist ein netter Junge gewesen. Klein, schüchtern, lieb ... und völlig chancenlos. Deshalb darfst du dem Weißen Aal nichts durchgehen lassen. Er darf nicht merken, daß du dich vor ihm fürchtest. Sobald er aufdringlich wird, kreischt du. Und trittst ihm in die Eier.«

Tammy kam aus dem Bad zurück. Sie sah die anderen Mädchen nicht an, sondern streifte ihre Hausschuhe ab und schlüpfte wortlos unter die Bettdecke.

Obwohl die Vorstellung, Tammy gebe sich Sheener hin, Lauras Abscheu erregte, betrachtete sie die schmächtige Blondine eher mit Mitleid als mit Verachtung. Nichts verdiente mehr Erbarmen als dieses kleine, einsame, niedergeschlagene Mädchen in seinem schmalen Bett mit der durchgelegenen Matratze.

In dieser Nacht träumte Laura von Sheener. Er hatte einen Menschenkopf, aber den Körper eines Aals, und wohin Laura auch rannte, Sheener glitt hinter ihr her, wobei er sich unter geschlossenen Türen hindurchschlängelte und auch jedes andere Hindernis überwand.

2

Entsetzt von dem eben Gesehenen, war Stefan aus dem Hauptlabor des Instituts in sein Büro im zweiten Stock zurückgekehrt. Er saß an seinem Schreibtisch, stützte den Kopf in beide Hände und zitterte vor Angst, Wut und Abscheu.

Willy Sheener, dieser rothaarige Schweinehund, würde Laura wiederholt vergewaltigen, halb totschlagen und seelisch in einem Zustand zurücklassen, von dem sie sich nie mehr erholen würde. Das war nicht nur eine mögliche Entwicklung; sie würde ganz sicher eintreten, wenn Stefan nichts dagegen unternahm. Er hatte die Folgen gesehen: Lauras verschwollenes Gesicht, ihre aufgeplatzten Lippen und ausgeschlagenen Zähne. Das schlimmste waren ihre Augen gewesen, so trübe und ausdruckslos - die Augen eines Kindes, für das es weder Freude noch Hoffnung mehr gab.

Kalter Regen trommelte gegen die Bürofenster, und dieser Laut schien in ihm widerzuhallen, als hätten die entsetzlichen Dinge, die er gesehen hatte, ihn ausgehöhlt, als leere Hülle zurückgelassen.

Er hatte Laura im Lebensmittelgeschäft ihres Vaters vor dem Junkie gerettet, und nun trat schon der nächste Kinderschreck auf! Zu den Erfahrungen, die Stefan bei den Experimenten des Instituts gemacht hatte, gehörte auch, daß das Schicksal sich nicht so leicht ummodeln ließ. Es bemühte sich, den ursprünglich vorgesehenen Ablauf zu nehmen. Vielleicht war es Laura unabänderbar vorausbestimmt, vergewaltigt und psychisch kaputtgemacht zu werden. Möglicherweise konnte er gar nicht verhindern, daß das früher oder später eintrat. Vielleicht konnte er sie nicht vor Willy Sheener retten - oder, wenn er es tat, vielleicht erschien dann ein weiterer Vergewaltiger auf der Bildfläche. Aber er mußte es versuchen.

Diese toten, freudlosen Kinderaugen .

3

Im McIllroy Home waren 76 Kinder untergebracht, alle zwölf Jahre oder jünger, denn die 13jährigen wurden ins Jugendheim Caswell Hall in Anaheim überwiesen. Da der eichengetäfelte Speisesaal nur Platz für 40 Kinder bot, wurden die Mahlzeiten in zwei Schichten serviert. Laura gehörte ebenso wie die Ak-kerson-Zwillinge zur zweiten Schicht.

Als Laura an ihrem ersten Morgen im Heim zwischen Thelma und Ruth in der Cafeteria anstand, sah sie, daß Willy Sheener einer der vier war, die bei der Essensausgabe hinter der Theke standen. Er sorgte dafür, daß genügend Milch da war und gab mit einer Kuchenzange Cremeschnitten aus.

Während Laura in der Schlange vorrückte, konzentrierte der Aal sich mehr auf sie als auf die Kinder, die er zu bedienen hatte.

»Laß dich nicht von ihm einschüchtern!« flüsterte Thelma ihr zu.

Laura versuchte, Sheeners Blick - und seiner Herausforderung - kühn zu begegnen. Aber diese Blickduelle wurden jedesmal von ihr abgebrochen.

»Guten Morgen, Laura,« sagte er, als sie vor ihm stand, und legte ihr eine eigens für sie aufgehobene Cremeschnitte auf den Teller. Sie war fast doppelt so groß wie die anderen - mit mehr Maraschinokirschen und Zuckerguß darauf.

Am Donnerstag, ihrem dritten Tag im Heim, mußte Laura in Mrs. Bowmaines Büro im Erdgeschoß ein Wie-haben-wir-uns-denn-eingewöhnt-Gespräch mit der Sozialarbeiterin über sich ergehen lassen. Etta Bowmaine war korpulent und trug unvorteilhafte Kleider mit Blütendessins. Mit der schwatzhaften Unaufrichtigkeit, die Thelma so perfekt imitiert hatte, schwelgte sie in Gemeinplätzen und Platitüden und stellte eine Menge Fragen, die sie in Wirklichkeit gar nicht ehrlich beantwortet haben wollte. Laura schwindelte ihr vor, wie glücklich sie im McIllroy sei, und Mrs. Bowmaine freute sich sehr über ihre Lügen.

Auf dem Rückweg in ihr Zimmer im zweiten Stock begegne-te Laura auf der Nordtreppe dem Aal. Als sie um den zweiten Treppenabsatz bog, stand er auf den Stufen über ihr und polierte den Eichenholzhandlauf mit einem Lappen. Neben sich hatte er eine ungeöffnete Flasche Möbelpolitur stehen.

Laura erstarrte, ihr Herz begann zu jagen, weil sie wußte, daß er ihr hier aufgelauert hatte. Er mußte gewußt haben, daß Mrs. Bowmaine sie in ihr Büro bestellt hatte, und damit gerechnet haben, daß sie die nächste Treppe benützen würde, um in ihr Zimmer zurückzugehen.

Sie waren allein. Andere Kinder oder im Haus Beschäftigte konnten jederzeit vorbeikommen, aber im Augenblick waren sie allein.

Lauras erster Gedanke war, den Rückzug anzutreten und die Südtreppe zu benützen, aber sie erinnerte sich daran, daß Thelma ihr geraten hatte, sich von dem Aal nicht einschüchtern zu lassen, weil Kerle dieses Typs es nur auf Schwächere abgesehen hätten. Sie sagte sich, es sei bestimmt am besten, wortlos an ihm vorbeizugehen, aber ihre Füße waren wie festgenagelt; sie konnte sich nicht bewegen.

Der Aal, der eine halbe Treppe über ihr stand, lächelte jetzt. Es war ein gräßliches Lächeln. Seine Haut war weiß, seine Lippen waren farblos, aber seine schiefen Zähne waren gelb und hatten braune Flecken wie die Schale einer überreifen Banane. Das Gesicht unter dem kupferroten Haarschopf erin-nerte an einen Clown - nicht an einen Zirkusclown, sondern an einen Maskierten, der zu Halloween mit einer Kettensäge statt mit einer Spritzwasserflasche herumlief.

»Du bist ein sehr hübsches Mädchen, Laura.«

Sie wollte ihn auffordern, sich zum Teufel zu scheren. Sie brachte kein Wort heraus.

»Ich wäre gern dein Freund«, sagte er.

Irgendwie brachte sie die Kraft auf, weiter die Treppe hinaufzusteigen.

Er grinste noch breiter, weil er vielleicht glaubte, sie reagiere auf sein Freundschaftsangebot. Er griff in eine Tasche seiner Khakihose und zog ein paar Tootsie Rolls heraus.

Als Laura sich an Thelmas komische Kommentare zu den dümmlichen Annäherungsversuchen des Aals erinnerte, wirkte er plötzlich nicht mehr so angsteinflößend. Lüstern grinsend und mit Tootsie Rolls in der ausgestreckten Hand war Sheener eine lächerliche Figur, eine Karikatur des Bösen, und sie hätte ihn ausgelacht, wenn sie nicht gewußt hätte, was er Tammy und anderen Mädchen angetan hatte. Obwohl sie nicht lachen konnte, gaben die lachhafte Erscheinung des Aals und sein Verhalten ihr den Mut, an ihm vorbeizuschlüpfen.

Als er merkte, daß Laura weder die Süßigkeiten noch sein Freundschaftsangebot annehmen wollte, legte er ihr eine Hand auf die Schulter, um sie festzuhalten.

Sie griff aufgebracht danach und stieß die Hand weg. »Rühren Sie mich ja nicht an, Sie Widerling!«

Sie stieg die Treppe schneller hinauf und kämpfte gegen den Drang an zu rennen. Wenn sie rannte, würde er wissen, daß ihre Angst vor ihm nicht völlig gebannt war. Er durfte sie bei keiner Schwäche ertappen, Schwäche würde ihn ermutigen, sie weiter zu belästigen.

Als sie nur mehr zwei Schritte bis zum nächsten Treppenabsatz hatte, wagte sie zu hoffen, sie habe gesiegt und ihre Kom-promißlosigkeit habe ihn beeindruckt. Dann hörte sie das un-verkennbare Geräusch eines Reißverschlusses. »He, Laura, sieh dir das an!« flüsterte er laut hinter ihr. »Sieh dir an, was ich für dich hab’.« Seine Stimme klang irr, haßerfüllt. »Sieh nur, sieh nur, was ich jetzt in der Hand hab’, Laura.«

Sie sah sich nicht um.

Sie erreichte den Absatz, nahm die nächste Treppe in Angriff und dachte dabei: Du brauchst nicht zu rennen; wage ja nicht zu rennen; nicht rennen, nur nicht rennen.

»Sieh dir die große Tootsie Roll an, die ich jetzt in der Hand hab’, Laura«, sagte der Aal auf der Treppe unter ihr. »Sie ist viel größer als die anderen.«

Im zweiten Stock lief Laura sofort ins Bad, wo sie sich gründlich die Hände schrubbte. Sie kam sich beschmutzt vor, weil sie Sheeners Hand angefaßt hatte, um sie von ihrer Schulter zu entfernen.

Als sie dann später mit den Ackerson-Zwillingen beim allabendlichen Palaver auf dem Fußboden ihres Zimmers hocke, grölte Thelma vor Lachen über die Aufforderung des Aals, Laura sollte sich seine »große Tootsie Roll« ansehen. »Der Junge ist unbezahlbar, was? Wo hat er bloß diese Sprüche her? Ob sie bei Doubleday >klassische Aufreißer für Perverse< oder dergleichen rausgebracht haben?«

»Entscheidend ist aber«, meinte Ruth besorgt, »daß Lauras bestimmtes Auftreten ihn nicht entmutigt hat. Ich bezweifle, daß er in ihrem Fall so rasch aufgeben wird wie bei den anderen Mädchen, die ihn abgewiesen haben.«

In dieser Nacht schlief Laura schlecht. Sie dachte an ihren speziellen Beschützer und fragte sich, ob er auch diesmal wie durch ein Wunder auftauchen und sie vor Willy Sheener retten würde. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dieses Mal nicht auf ihn zählen zu können.

In den nächsten zwei Wochen bis über Mitte August hinaus beschattete der Aal Laura so zuverlässig, wie der Mond der Erde folgt. Ging sie mit den Ackerson-Zwillingen ins Spielzimmer, um Karten oder Monopoly zu spielen, war Sheener zehn Minuten später ebenfalls da und putzte Fenster, polierte Möbel oder reparierte eine Vorhangstange, obwohl er in Wirklichkeit nur Augen für Laura hatte. Flüchteten die Mädchen sich in eine Ecke des Spielplatzes hinter dem Haus, um zu plaudern oder selbsterfundene Spiele zu spielen, tauchte er wenig später auf, weil er plötzlich entdeckt hatte, daß dort Stauden gedüngt oder gestutzt werden mußten. Und obwohl der zweite Stock den Mädchen vorbehalten war, durften Mitarbeiter ihn werktags von 10 bis 16 Uhr zu Wartungsarbeiten betreten, so daß Laura sich in dieser Zeit nie ungefährdet auf ihr Zimmer flüchten konnte.

Noch schlimmer als diese Verfolgungen durch den Aal war das erschreckende Tempo, mit der seine dunkle Leidenschaft für Laura wuchs: eine krankhafte Begierde, die sich in seinem immer starreren Blick und dem sauren Schweiß zeigte, in den er ausbrach, sobald er länger als ein paar Minuten in einem Raum mit ihr zusammen war.

Laura, Ruth und Thelma versuchten sich einzureden, die von Sheener ausgehende Gefahr verringere sich mit jedem Tag, an dem er nichts unternehme, sein Zögern beweise, daß er Laura für unerreichbar halte. Im Innersten wußten sie, daß das so war, als wollte man den Drachen mit einem Wunsch erschlagen. Aber sie waren außerstande, das ganze Ausmaß der Gefahr zu begreifen, bis sie an einem Samstagnachmittag Ende August in ihr Zimmer zurückkamen und dort Tammy vorfanden, die in einem Anfall perverser Eifersucht Lauras Bücher zerfetzte.

Laura bewahrte rund 50 Taschenbücher - ihre Lieblingsbücher, die sie aus der Wohnung über dem Lebensmittelgeschäft mitgebracht hatte - in einer Schachtel unter ihrem Bett auf. Tammy hatte sie hervorgeholt und vor Haß rasend bereits zwei Drittel der Bücher zerrissen.

Laura war zu entsetzt, um reagieren zu können, aber Ruth und Thelma rissen die Tobende von den Büchern zurück und hielten sie fest.

Weil dies ihre Lieblingsbücher waren, weil ihr Vater sie ihr gekauft hatte, so daß sie nun Verbindungsglieder zu ihm darstellten, und vor allem weil sie so wenig besaß, schmerzte Laura diese Zerstörung. Ihre wenigen Habseligkeiten waren praktisch wertlos, aber sie erkannte plötzlich, daß sie ein Bollwerk gegen die schlimmsten Grausamkeiten des Lebens darstellten.

Sobald das wahre Objekt ihres Zorns vor ihr stand, interessierte Tammy sich nicht mehr für die Bücher. »Ich hasse dich, ich hasse dich!« Erstmals, seit Laura sie kannte, war ihr blasses, verhärmtes Gesicht belebt: vom Zorn gerötet, von Emotionen entstellt. Die Ringe unter ihren Augen ließen sie nicht mehr schwach oder innerlich gebrochen, sondern unzähmbar wild aussehen. »Ich hasse dich, Laura, ich hasse dich!«

»Tammy, Schatz«, sagte Thelma, während sie sich bemühte, das Mädchen festzuhalten. »Laura hat dir nie was getan.«

Die Kleine holte keuchend Luft, versuchte aber nicht mehr, sich von Ruth und Thelma loszureißen, und kreischte Laura an: »Du bist die einzige, von der er redet, für mich interessiert er sich nicht mehr, bloß für dich, er redet dauernd bloß von dir, ich hasse dich, warum hast du herkommen müssen, ich hasse dich!«

Niemand brauchte zu fragen, von wem sie redete.

»Er will mich nicht mehr, niemand will mich mehr, er will mich nur, damit ich ihm helfe, dich zu kriegen. Laura, Laura, Laura. Er will, daß ich dich irgendwohin locke, wo er mit dir allein ist und wo es gefahrlos ist. Aber ich tu’s nicht, ich tu’s nicht! Was hätte ich davon, wenn er dich erst mal hat? Nichts.« Ihr Gesicht war rot wie eine Tomate. Schlimmer als ihre Wut war die dahinter stehende schreckliche Verzweiflung.

Laura stürzte aus dem Zimmer und hetzte über den langen Flur zu den Toiletten. Vor Angst und Ekel war ihr schlecht; sie sank auf den gesprungenen gelben Fliesen vor einer der WC-Schüsseln auf die Knie und übergab sich. Sobald ihr Magen leer war, trat sie ans Waschbecken, spülte sich mehrmals den Mund aus und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Als sie dann den Kopf hob und in den Spiegel blickte, kamen endlich die Tränen.

Der Grund für Lauras Tränen war weder ihre Angst noch ihre Einsamkeit. Sie weinte um Tammy. Diese Welt war eine wahre Hölle, wenn in ihr geschehen konnte, daß eine Zehnjährige so sehr entwürdigt wurde, daß die einzige Anerkennung die ihr je von einem Erwachsenen zuteil geworden war, aus dem Munde des Irren kam, der sie mißbraucht hatte, und wenn der einzige Besitz, auf den sie stolz sein konnte, ihr schmächtiger, noch nicht gereifter Körper als Sexualobjekt war.

Laura erkannte, daß Tammy sich in weit schlimmerer Lage befand als sie selbst. Sogar ohne ihre Bücher hatte Laura noch schöne Erinnerungen an einen sanften, freundlichen, liebevollen Vater, wie Tammy nie einen gekannt hatte. Hätte man Laura ihre wenigen Habseligkeiten genommen, sie wäre noch immer psychisch gesund gewesen, während Tammy psychisch krank war - vielleicht sogar unheilbar krank.

4

Sheener wohnte in Santa Ana in einer ruhigen Nebenstraße in einem Bungalow. Dieses Viertel gehörte zu den nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen: hübsche kleine Häuser mit interessanten baulichen Details. In diesem Sommer 1967 waren die verschiedenen Arten Feigenbäume bereits ausgewachsen und breiteten ihre Zweige schützend über die Häuser, darüber hinaus war Sheeners Haus von hohen Stauden umgeben -Azaleen, Eugenien und rotblühenden Hibisken.

Kurz vor Mitternacht sperrte Stefan den Hintereingang mit einem Plastikdietrich auf und betrat Sheeners Haus. Während er den Bungalow inspizierte, schaltete er überall frech das Licht ein und machte sich nicht einmal die Mühe, die Vorhänge zuzuziehen.

Die Küche war mustergültig sauber. Die blauen Kunststoffplatten der Arbeitsflächen glänzten fleckenlos. Die Chromgriffe der Küchengeräte, der Wasserhahn am Ausguß und die Metallgestelle der Küchenstühle glitzerten, ohne durch einen einzigen Fingerabdruck entstellt zu sein.

Er öffnete den Kühlschrank, ohne recht zu wissen, was er darin zu finden erwartete. Vielleicht einen Hinweis auf Willy Sheeners gestörte Psyche - ein früheres Opfer, das er ermordet und eingefroren hatte, um es als perverses Andenken aufzubewahren? Aber der Kühlschrank enthielt nichts Dramatisches in dieser Art. Andererseits war unverkennbar, daß der Mann pedantisch ordnungsliebend war. Für alle Lebensmittel hatte er in Farbe und Form einheitliche Tupperware-Behälter.

Ansonsten war das einzig Auffällige am Inhalt des Kühlschranks und der Hängeschränke, daß Süßigkeiten überwogen: Biskuits, Schokolade, Eiscreme, Kekse, Bonbons, Kuchen, Pralinen, Krapfen, Pudding und andere Süßspeisen. Auch neu eingeführte Produkte wie Buchstaben-Spaghetti und Dosen mit Gemüsesuppe, deren Nudeln wie bekannte Comicfiguren aussahen, waren reichlich vertreten. Man hätte glauben können, Sheeners Vorräte seien von einem Kind ohne Beaufsichtigung durch einen Erwachsenen eingekauft worden.

Stefan bewegte sich ins Innere des Hauses weiter.

5

Die Auseinandersetzung wegen der zerfetzten Bücher genügte, um Tammy den letzten Rest Lebensmut zu nehmen. Sie sprach nicht mehr von Sheener und schien Laura nicht länger feindselig gegenüberzustehen. Tag für Tag zog sie sich mehr in sich zurück, senkte vor jedermann den Blick und ließ den Kopf immer tiefer hängen; ihre Stimme wurde noch leiser.

Laura hätte nicht sagen können, was unerträglicher war: daß der Weiße Aal sie ständig bedrohte oder daß sie miterleben mußte, wie Tammys ohnehin nur schwach ausgeprägte Persönlichkeit weiter schwand und sie sich einem Zustand völliger Gefühl- und Reglosigkeit näherte. Aber am 30. August, einem Mittwoch, wurden Laura überraschend beide Lasten von den Schultern genommen: Sie erfuhr, daß sie bereits am Donnerstag zu Pflegeeltern nach Costa Mesa kommen sollte.

Sie bedauerte jedoch die Trennung von den Ackerson-Zwillingen. Obwohl sie die Schwestern erst seit wenigen Wochen kannte, hatte die unter extremen Verhältnissen geschlossene Freundschaft sich rascher und haltbarer gefestigt, als das unter normalen Umständen der Fall gewesen wäre.

Als die drei an diesem Abend in ihrem Zimmer auf dem Boden hockten, sagte Thelma: »Shane, solltest du zu einer guten Familie, in ein glückliches Heim kommen, genießt du’s hoffentlich. Solltest du’s gut treffen, vergißt du uns am besten, suchst dir neue Freunde und lebst dein Leben weiter. Aber das legendäre Ackerson-Duo - Ruth et moi - hat schon dreimal schlechte Erfahrungen mit Pflegeeltern gemacht, und ich kann dir versichern, daß du nicht bleiben mußt, falls du zu schrecklichen Leuten kommen solltest.«

»Du weinst einfach viel und läßt alle merken, wie unglücklich du bist«, sagte Ruth. »Solltest du nicht weinen können, tust du wenigstens so.«

»Sei mürrisch«, ergänzte Thelma. »Und ungeschickt. Sorg dafür, daß bei jedem Abspülen irgendein Geschirrstück in Brüche geht. Sei einfach unausstehlich.«

Laura war überrascht. »Das alles habt ihr getan, um ins McIllroy zurückzukommen?«

»Das alles und mehr«, bestätigte Ruth.

»Aber ist’s nicht schrecklich gewesen, absichtlich Sachen kaputtzumachen?«

»Für Ruth ist’ s schlimmer gewesen als für mich«, antwortete Thelma. »Ich habe den Teufel im Leib, während Ruth die Reinkarnation einer unscheinbaren, demütigen kleinen Nonne aus dem vierzehnten Jahrhundert ist, deren Name wir noch nicht haben ermitteln können.«

Innerhalb eines Tages wußte Laura, daß sie nicht bei der Familie Teagel bleiben wollte, aber sie versuchte sich einzugewöhnen, weil sie anfangs noch glaubte, dort besser aufgehoben zu sein als im McIllroy Home.

Für Flora Teagel, die sich nur für Kreuzworträtsel interessierte, war das reale Leben lediglich ein verschwommener Hintergrund ihrer Existenz. Sie verbrachte die Tage und Abende in eine Strickjacke gewickelt, die sie bei jedem Wetter trug, in ihrer gelben Küche am Tisch und arbeitete mit einem Eifer, der zugleich verblüffend und idiotisch war, ein Kreuzworträtselheft nach dem anderen durch.

Mit Laura sprach sie im allgemeinen nur, um ihr Anweisungen für die Hausarbeit zu geben oder sie nach schwierigen Lösungswörtern zu fragen. Während Laura am Ausguß stand und Geschirr spülte, fragte Flora beispielsweise: »Eine Raubkatze mit sechs Buchstaben und ‘nem O am Anfang?«

Lauras Antwort war stets die gleiche: »Weiß ich nicht.«

»Weiß ich nicht, weiß ich nicht, weiß ich nicht«, äffte Mrs. Teagel sie nach. »Du weißt anscheinend gar nichts, Mädchen. Paßt du denn in der Schule nicht auf? Hast du keinen Sinn für Sprache, für Wörter?«

Laura war natürlich von Wörtern fasziniert. Für sie besaßen Wörter magische Eigenschaften und ließen sich mit anderen zu hochwirksamen Zaubersprüchen kombinieren. Für Flora Teagel waren Wörter lediglich Mosaiksteine, die sie zum Ausfüllen von leeren Kästchen brauchte: sinnentleerte Buchstabenanhäufungen, die sie frustrierten.

Floras Ehemann war ein stämmiger Lastwagenfahrer mit Babygesicht. Er verbrachte die Abende in seinem Sessel, studierte den »National Enquirer« und ähnliche Blätter und nahm aus dubiosen Artikeln über Kontakte mit außerirdischen Lebewesen und über Schwarze Messen in Filmstarkreisen wertlose Tatsachen in sich auf. Seine Vorliebe für »exotische Nachrichten«, wie er sie nannte, wäre harmlos gewesen, wenn er so mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre wie seine Frau. Aber Mike kam oft zu Laura, wenn sie im Haushalt arbeitete oder ausnahmsweise einmal Zeit hatte, ihre Hausaufgaben zu machen, und bestand darauf, ihr besonders kuriose Artikel vorzulesen.

Sie hielt diese Storys für dumm, unlogisch und sinnlos - aber das durfte sie Mike nicht sagen. Sie hatte die Erfahrung gemacht, daß er nicht beleidigt war, wenn sie seine Zeitungen als Schund bezeichnete. Statt dessen betrachtete er sie mitleidig und begann dann, ihr aufreizend geduldig und mit der auf den Nerv gehenden Besserwisserei, die nur sehr Gebildete und völlig Ungebildete an den Tag legen, den Lauf der Welt zu erklären. Ausführlichst. »Laura, du mußt noch viel lernen«, sagte er jedesmal. »Die wichtigen Leute, die in Washington an der Regierung sind - die wissen über außerirdische Lebewesen und die Geheimnisse von Atlantis Bescheid ...«

Trotz aller ihrer sonstigen Unterschiede hatten Flora und Mike eine Überzeugung gemeinsam: Ein Pflegekind nahm man nur auf, um sich ein kostenloses Dienstmädchen zu sichern. Laura sollte kochen, spülen, putzen, waschen und bügeln.

Ihre eigene Tochter - Hazel, ein Einzelkind - war zwei Jahre älter als Laura und gründlich verzogen. Hazel brauchte nie zu kochen, zu spülen, zu putzen, zu waschen oder zu bügeln. Obwohl sie erst 14 war, hatte sie perfekt gepflegte und lackierte Finger- und Zehennägel. Hätte man von ihrem Alter die Stunden abgezogen, die sie sich vor dem Spiegel bewunderte, wäre sie erst fünf Jahre alt gewesen.

»Am Waschtag mußt du meine Sachen zuerst bügeln«, erklärte sie Laura an deren erstem Tag bei den Teagels. »Und vergiß nicht, sie nach Farben geordnet in meinen Kleiderschrank zu hängen.«

Dieses Buch habe ich gelesen, diesen Film habe ich gesehen, dachte Laura. Großer Gott, ich spiele die Hauptrolle in Cinde-rella!

»Später werd’ ich mal ein großer Filmstar oder ein bekanntes Fotomodell«, sagte Hazel. »Deshalb sind mein Gesicht, meine Hände und mein Körper meine Zukunft. Ich muß gut auf sie achten.«

Als Mrs. Ince - die für Laura zuständige spindeldürre Sozialarbeiterin mit dem Spitzmausgesicht - der Familie Teagel am Vormittag des 16. September, einem Samstag, den angekündigten Besuch abstattete, wollte Laura sie auffordern, für ihre Rückkehr ins McIllroy zu sorgen. Die dort von Willy Sheener ausgehende Gefahr erschien ihr als geringeres Problem als der Alltag bei den Teagels.

Mrs. Ince traf pünktlich ein und sah Flora Geschirr spülen, was diese seit zwei Wochen zum erstenmal tat. Laura saß am Küchentisch und war scheinbar damit beschäftigt, ein Kreuzworträtsel zu lösen, das ihr jedoch erst in die Hand gedrückt worden war, als es klingelte.

Während des in Lauras Zimmer stattfindenden Gesprächs unter vier Augen, das zu Mrs. Inces Besuchsprogramm gehörte, weigerte die Sozialarbeiterin sich, ihr die Überlastung durch Hausarbeit zu glauben. »Aber Mr. und Mrs. Teagel sind vorbildliche Pflegeeltern, meine Liebe. Und du siehst nicht so aus, als würdest du ausgenutzt. Du hast sogar ein paar Pfund zugenommen.«

»Ich behaupte nicht, daß sie mich verhungern lassen«, sagte Laura. »Aber ich habe nie Zeit für meine Hausaufgaben. Ich falle jeden Abend erschöpft ins Bett und ...«

»Außerdem«, unterbrach Mrs. Ince sie, »sollen Pflegeeltern die ihnen anvertrauten Kinder nicht nur aufziehen, sondern auch erziehen, was bedeutet, daß sie ihnen Manieren beibringen, ihren Sinn für gute Werte wecken und sie zu Fleiß und Ordnung anhalten.«

Mrs. Ince war ein hoffnungsloser Fall.

Laura griff auf den Plan der Ackerson-Zwillinge - »Wie werde ich eine unerwünschte Pflegefamilie los?« - zurück. Sie begann, schlampig zu putzen. Hatte sie abgewaschen, war das Geschirr noch fleckig und schlierig. Sie bügelte Falten in Ha-zels Kleidungsstücke.

Da die Vernichtung des größten Teils ihrer Bücher ihre Achtung vor jeglicher Art von Eigentum erhöht hatte, brachte Laura es nicht über sich, Geschirrstücke oder sonstigen Besitz der Teagels zu zertrümmern, also ersetzte sie diesen Teil des Ackerson-Plans durch Frechheit und Verachtung. Für ein Kreuzworträtsel brauchte Flora eine Rinderrasse mit sechs Buchstaben, und Laura sagte: »Teagel«. Als Mike von fliegenden Untertassen erzählte, von denen er im »Enquirer« gelesen hatte, unterbrach sie ihn mit einer Fabel über Maulwurfsmenschen, die im hiesigen Supermarkt lebten. Und Hazel suggerierte sie, der große Durchbruch im Showgeschäft sei ihr sicher, wenn sie sich als Double für Ernest Borgnine bewerbe. »Du siehst ihm täuschend ähnlich, Hazel. Sie müssen dich einfach nehmen!«

Diese Unverschämtheiten brachten ihr sofort eine Tracht Prügel ein. Mike legte sie übers Knie und versohlte sie mit seiner breiten, schwieligen Hand, aber Laura biß sich auf die Unterlippe und weigerte sich, ihm die Befriedigung zu verschaffen, sie zum Weinen gebracht zu haben. »Das reicht, Mike«, sagte Flora, die von der Küchentür aus zugesehen hatte. »Man darf keine Spuren sehen.« Er hörte erst widerstrebend auf, als seine Frau ins Wohnzimmer kam und ihm in den Arm fiel.

In dieser Nacht fand Laura kaum Schlaf. Sie hatte erstmals ihre Sprachfertigkeit - die Macht des Wortes - genutzt, um eine erwünschte Wirkung zu erzielen, und die Reaktion der Teagels hatte bewiesen, daß sie sich darauf verstand. Viel erregender war jedoch der erst halb gefaßte, noch nicht ganz ausgeformte Gedanke, sie könnte die Fähigkeit besitzen, sich nicht nur mit Worten zu verteidigen, sondern eines Tages sogar ihren Lebensunterhalt damit verdienen - vielleicht sogar als Schriftstellerin. Mit ihrem Vater hatte sie darüber gesprochen, ob sie Ärztin, Ballerina oder Tierärztin werden sollte, aber das war nur Gerede gewesen. Keiner dieser Träume war so erregend gewesen wie die Vorstellung, Schriftstellerin werden zu können.

Als Laura am nächsten Morgen in die Küche kam, wo die drei Teagels beim Frühstück saßen, sagte sie: »He, Mike, ich hab’ vorhin entdeckt, daß im Klospülkasten ein intelligenter Tintenfisch vom Mars lebt.«

»Was soll das sein?« fragte Mike brummig.

»Eine exotische Nachricht«, antwortete sie lächelnd.

Zwei Tage später wurde Laura ins McIllroy Home zurückgebracht.

6

Willy Sheeners Wohnzimmer und sein Hobbyraum waren eingerichtet, als lebe hier ein ganz normaler Mensch. Stefan wußte nicht recht, was er eigentlich erwartet hatte. Vielleicht Anzeichen für eine Geisteskrankheit, aber gewiß nicht dieses saubere, ordentliche Heim.

Eines der beiden Schlafzimmer stand leer, das andere war entschieden merkwürdig. Die einzige Schlafgelegenheit war eine schmale Matratze am Fußboden. Die Bettwäsche, die aus einem Kinderzimmer zu stammen schien, war mit bunten Cartoonhäschen bedruckt. Nachttisch und Kommode waren mit Tierfiguren - Giraffen, Kaninchen und Eichhörnchen - bemalte blaßblaue Kindermöbel. Sheener besaß auch eine umfangreiche Sammlung von Bilderbüchern, Plüschfiguren und Spielsachen für Sechs- bis Siebenjährige.

Stefan glaubte anfangs, dieser Raum sei für die Verführung von Kindern aus der näheren Umgebung bestimmt, weil Sheener offenbar labil genug war, selbst auf heimatlichem Boden, wo das Risiko am größten war, nach Opfern Ausschau zu halten. Im ganzen Haus gab es jedoch kein weiteres Bett, und Kommode und Einbaukleiderschrank enthielten Männersachen. An den Wänden hing ein Dutzend gerahmter Photos eines rothaarigen Jungen, die ihn als Säugling und bis zum Alter von sieben oder acht Jahren zeigten - unverkennbar Willy Sheener. Allmählich wurde Stefan klar, daß diese Raumausstattung lediglich eine Macke des Hausbesitzers war. Der Spinner schlief hier allein. Beim Schlafengehen zog Sheener sich offenbar in eine Kindheitsphantasie zurück und fand in dieser gespenstischen allnächtlichen Rückverwandlung zweifellos den ersehnten Seelenfrieden.

In der Mitte dieses merkwürdigen Raums stehend, empfand Stefan Mitleid und Abscheu zugleich. Sheener belästigte Kinder offenbar nicht ausschließlich oder auch nur hauptsächlich aus sexuellen Motiven, sondern um ihre Jugend in sich aufzunehmen, wieder jung zu werden wie sie - seine verlorene Unschuld zurückzugewinnen. Er war gleichermaßen mitleiderregend und abscheulich: den Anforderungen eines Erwachsenenlebens nicht gewachsen, zugleich aber wegen seiner Unzulänglichkeiten höchst gefährlich.

Stefan lief ein kalter Schauer über den Rücken.

7

Lauras Bett im Zimmer der Ackerson-Zwillinge war inzwischen mit einem anderen Mädchen belegt. Sie kam in ein kleines Zweibettzimmer am Nordende des zweiten Stocks in der Nähe der Treppe. Ihre Zimmergenossin war die neunjährige Eloise Fisher, die Zöpfe, Sommersprossen und eine für ein Kind in ihrem Alter viel zu ernsthafte Art hatte. »Wenn ich groß bin, werde ich Buchhalterin«, vertraute sie Laura an. »Ich mag Zahlen. Man kann eine Zahlenreihe zusammenzählen und kriegt immer das gleiche Ergebnis heraus. Bei Zahlen gibt’s keine Überraschungen wie bei Menschen.« Eloises Eltern waren als Drogenhändler zu Haftstrafen verurteilt worden, und sie mußte im McIllroy bleiben, bis das Gericht entschied, welcher Verwandte das Sorgerecht erhalten sollte.

Sobald Laura ausgepackt hatte, rannte sie zum Zimmer der Ackersons. »Ich bin frei, ich bin frei!« rief sie, während sie hineinstürmte.

Tammy und die Neue starrten sie verständnislos an, aber Ruth und Thelma umarmten sie, und es war, als wäre sie zu einer wirklichen Familie heimgekehrt.

»Haben deine Pflegeeltern dich nicht gemocht?« erkundigte Ruth sich.

»Aha!« sagte Thelma. »Du hast den Ackerson-Plan angewendet!«

»Nein, ich habe sie alle im Schlaf ermordet.«

»Das würde auch funktionieren«, bestätigte Thelma.

Rebecca Bogner, die Neue, war ungefähr elf. Sie kam offenbar nicht gut mit den Ackersons aus. Während sie Laura und den Zwillingen zuhörte, sagte Rebecca immer wieder mit überlegener, verächtlicher Miene: »Ihr spinnt!« oder »Völlig bescheuert!« oder »Gott, was für Spinner!«, womit sie die Atmosphäre etwa so wirkungsvoll vergiftete wie eine Atombombendetonation.

Laura und die Zwillinge gingen nach draußen in eine Ecke des Spielplatzes, wo sie ohne Rebeccas hämische Kommentare über die vergangenen fünf Wochen schwatzen konnten. Ende Oktober waren die Tage noch warm, obwohl die Luft um Viertel vor fünf schon kühl wurde. Sie trugen Jacken und saßen auf den unteren Ästen des Spieldschungels, der jetzt verlassen war, weil die kleineren Kinder sich wuschen, um dann als erste zu Abend zu essen.

Sie waren noch keine fünf Minuten auf dem Spielplatz, als Willy Sheener mit einer elektrischen Heckenschere erschien. Er machte sich daran, etwa zehn Meter von ihnen entfernt eine Taxushecke zu schneiden, hatte aber nur Augen für Laura.

Beim Abendessen war der Aal auf seinem Posten hinter der langen Theke, wo er Milchtüten und Kirschkuchen ausgab. Das größte Stück hatte er für Laura aufgehoben.

Am Montag kam Laura in eine neue Schule, in der die anderen Kinder bereits vier Wochen Zeit gehabt hatten, Freundschaften zu schließen. Ruth und Thelma saßen in einigen ihrer Kurse, was die Anpassung erleichterte, aber sie wurden trotzdem wieder daran erinnert, daß Ungewißheit ein Hauptbestandteil des Lebens von Waisen war.

Als Laura am Dienstagnachmittag aus der Schule kam, hielt Mrs. Bowmaine sie in der Eingangshalle auf. »Laura, kommst du mit in mein Büro?«

Mrs. Bowmaine trug ein Kleid mit purpurrotem Blütenmuster, das in scheußlichem Gegensatz zu den rosaroten und pfirsichfarbenen Blütenmustern der Vorhänge und Tapeten stand. Laura durfte in einem Sessel mit Rosenmuster Platz nehmen. Mrs. Bowmaine blieb stehen, weil sie die Sache mit Laura kurz abhandeln wollte, um neue Aufgaben in Angriff nehmen zu können. Mrs. Bowmaine war ständig aktiv, ständig in Bewegung, ständig überbeschäftigt.

»Eloise Fisher ist seit heute nicht mehr bei uns«, sagte Mrs. Bowmaine.

»Wer hat das Sorgerecht zugesprochen bekommen?« erkundigte Laura sich. »Sie wäre am liebsten zu ihrer Großmutter gegangen.«

»Dort ist sie jetzt auch«, bestätigte Mrs. Bowmaine.

Gut für Eloise! Laura hoffte, daß die bezopfte zukünftige Buchhalterin außer ihren Zahlen auch einen Menschen finden würde, dem sie trauen konnte.

»Du hast keine Zimmergenossin mehr«, fuhr Mrs. Bowmaine energisch fort, »und wir haben anderswo kein freies Bett, so daß du nicht einfach einziehen und ...«

»Darf ich einen Vorschlag machen?« fragte Laura.

Mrs. Bowmaine runzelte die Stirn und sah auf ihre Armbanduhr.

»Ruth und Thelma sind meine besten Freundinnen«, sagte Laura hastig, »und sie sind mit Tammy Hinsen und Rebecca Bogner zusammen. Aber ich glaube nicht, daß Tammy und Rebecca gut mit Ruth und Thelma auskommen. Deshalb .«

»Wir möchten, daß ihr Kinder lernt, mit Menschen zurechtzukommen, die anders sind. Das Zusammenleben mit Mädchen, die ihr bereits mögt, ist nicht charakterbildend. Außerdem kann ich erst morgen Umbelegungen veranlassen; heute bin ich zu beschäftigt. Deshalb will ich von dir wissen, ob ich dir trauen kann, wenn du diese Nacht allein in deinem jetzigen Zimmer verbringst.«

»Trauen?« wiederholte Laura verwirrt.

»Sag mir die Wahrheit, junge Dame. Kann ich dir trauen, wenn du heute nacht allein bist?«

Laura verstand nicht, welche Probleme die Sozialarbeiterin erwartete, wenn sie ein Kind eine Nacht allein ließ. Oder rechnete sie damit, daß Laura sich so wirkungsvoll verbarrikadieren würde, daß die Polizei dann die Tür aufbrechen, sie mit Tränengas überwältigen und in Handschellen abführen mußte?

Laura war ebenso gekränkt wie beleidigt. »Klar, ich komme schon zurecht. Ich bin kein Baby mehr. Ich hab’ keine Angst.«

»Nun ... okay. Heute nacht schläfst du allein, aber morgen sehen wir zu, daß wir dich anderswo unterbringen.«

Nachdem Laura aus Mrs. Bowmaines farbenprächtigem Büro in den grauen Korridor getreten war und die Treppe zum zweiten Stock hinaufstieg, dachte sie plötzlich: Der Weiße Aal! Sheener würde wissen, daß sie in dieser Nacht allein war. Er wußte alles, was im McIllroy vor sich ging, und hatte sämtliche Schlüssel, so daß er nachts zurückkommen konnte. Ihr Zimmer lag gleich neben der Nordtreppe: Er konnte sich vom Treppenhaus in ihr Zimmer schleichen und sie sekundenschnell überwältigen. Er würde sie niederschlagen oder sonstwie betäuben, in einen Sack stecken, sie verschleppen und in einen Keller sperren. Und niemand würde wissen, was aus ihr geworden war.

Sie machte auf dem dritten Absatz kehrt, nahm je zwei Stufen auf einmal und wollte zu Mrs. Bowmaines Büro zurücklaufen. Aber als sie um die Ecke zur Eingangshalle bog, wäre sie beinahe mit Sheener zusammengeprallt. Der Aal trug einen Mop und einen mit einem Reinigungsmittel mit aufdringlichem Tannenduft gefüllten Rollkübel mit aufgesetztem Auswringer.

Er grinste Laura an. Vielleicht bildete sie sich das nur ein, aber sie war überzeugt, daß er bereits wußte, daß sie in dieser Nacht allein sein würde.

Laura hätte an ihm vorbeilaufen, zu Mrs. Bowmaine gehen und darum bitten sollen, heute nacht woanders schlafen zu dürfen. Sie durfte kein Wort gegen Sheener sagen, sonst erging es ihr wie dem armen Denny Jenkins - vom Personal als Lügnerin hingestellt, von ihrem Peiniger erbarmungslos verfolgt und gequält -, aber sie hätte irgendeine plausible Begründung für ihren Sinneswandel finden können.

Sie überlegte auch, ob sie sich auf ihn stürzen, ihn in seinen Putzkübel schubsen und ihm warnend erklären sollte, sie sei ihm jederzeit gewachsen und er solle ja die Finger von ihr lassen. Aber Sheener war anders als die Teagels. Mike, Flora und Hazel waren träge, engstirnig und ungebildet, aber geistig einigermaßen normal. Der Aal war geistesgestört, und es war nicht abzuschätzen, wie er auf einen tätlichen Angriff reagieren würde.

Während sie zögerte, wurde sein schiefes, gelbliches Lächeln breiter.

Sein blasses Gesicht rötete sich leicht, und Laura, die darin aufkeimende Lust zu erkennen glaubte, mußte gegen Übelkeit ankämpfen.

Sie wandte sich ab, ging davon und wagte erst zu rennen, als sie auf der Treppe außer Sicht war. Dann hastete sie ins Zimmer der Ackerson-Zwillinge.

»Du schläfst heute nacht hier«, entschied Ruth.

»Natürlich«, wandte Thelma ein, »mußt du oben in deinem Zimmer bleiben, bis die Bettenkontrolle vorbei ist, und dann runterschleichen.«

»Wir haben bloß vier Betten«, warf Rebecca ein, die auf ihrem Bett in der Ecke sitzend Mathematikaufgaben machte.

»Ich schlafe auf dem Fußboden«, sagte Laura.

»Das wäre ein Verstoß gegen die Heimordnung«, stellte Rebecca fest. Thelma drohte ihr mit der Faust und funkelte sie an.

»Okay, schon gut«, wehrte Rebecca ab. »Ich hab’ nie gesagt, daß ich sie nicht hier haben will. Ich hab’ nur darauf hingewiesen, daß das gegen die Heimordnung ist.«

Laura befürchtete, daß Tammy Einwände erheben würde, aber die kleine Blondine lag auf ihrem gemachten Bett, starrte gedankenverloren die Zimmerdecke an und schien sich nicht für die Pläne der anderen zu interessieren.

In dem eichengetäfelten Speisesaal, bei einem fast ungenießbaren Abendessen aus zähen Schweinekoteletts, klebrigem Kartoffelbrei und lederartigen grünen Bohnen - und unter dem wachsamen Blick des Aals -, sagte Thelma: »Was übrigens Bowmaines Frage betrifft, ob sie dir trauen könne, wenn du allein seist ... Sie hat Angst, du könntest einen Selbstmordversuch unternehmen.«

Laura starrte sie ungläubig an.

»Andere Heimkinder haben bereits welche unternommen«, erklärte Ruth ihr betrübt. »Deshalb stecken sie mindestens zwei in ein Zimmer - auch wenn es eine kleine Kammer ist. Zuviel Einsamkeit scheint zu den auslösenden Faktoren zu gehören.«

»Ruth und mir geben sie keines der kleinen Zimmer«, fuhr Thelma fort, »weil sie uns als eineiige Zwillinge für praktisch einen Menschen halten. Sie fürchten, wir könnten uns erhängen, sobald die Tür hinter uns ins Schloß gefallen ist.«

»Das ist doch lächerlich!« protestierte Laura.

»Klar ist’s lächerlich«, bestätigte Thelma. »Erhängen wäre nicht dramatisch genug. Die erstaunlichen Ackerson-Schwestern - Ruth et moi - haben eine Vorliebe fürs Dramatische. Wir würden Harakiri mit gestohlenen Küchenmessern begehen oder, wenn wir uns eine Kettensäge verschaffen könnten .«

Alle Gespräche wurden in gedämpftem Ton geführt, denn bei den Mahlzeiten gingen Aufsichtspersonen im Speisesaal auf und ab. Miss Keist, die für den zweiten Stock zuständige Heimerzieherin, kam hinter dem Tisch vorbei, an dem Laura mit den Ackersons saß, und Thelma flüsterte: »Gestapo!«

»Mrs. Bowmaine ist gutwillig«, sagte Ruth, als Miss Keith vorbei war, »aber sie macht ihre Sache einfach nicht gut. Hätte sie sich Zeit genommen, dich als Persönlichkeit kennenzulernen, Laura, hätte sie niemals Angst zu haben brauchen, du könntest Selbstmord verüben. Du bist ein Überlebenstyp.«

Thelma säbelte ein Stück vom zähen Fleisch ab. »Tammy Hinsen ist einmal mit einem Päckchen Rasierklingen im Bad erwischt worden, noch bevor sie den Mut aufgebracht hat, sich die Pulsadern aufzuschneiden.«

Laura staunte plötzlich über die Mischung aus Humor und Tragödie, Absurdem und schwarzer Realität, die ihr eigentümliches Leben im McIllroy prägte. Eben noch hatten sie miteinander gescherzt, und jetzt sprachen sie über die selbstmörderische Veranlagung eines Mädchens, das sie alle kannten. Sie erkannte, daß diese Einsicht über das hinausging, was man von einer Zwölfjährigen erwarten konnte, und beschloß, den Gedanken nach ihrer Rückkehr in ihr Zimmer in das Notizbuch einzutragen, das sie vor kurzem zu führen begonnen hatte.

Ruth war nun doch mit ihrer Portion fertig. »Vier Wochen nach dem Vorfall mit den Rasierklingen haben sie unsere Zimmer unangekündigt nach gefährlichen Gegenständen durchsucht«, berichtete sie. »Bei Tammy sind Zündhölzer und ein kleiner Kanister Feuerzeugbenzin gefunden worden. Sie wollte sich in einer der Duschkabinen mit Benzin übergießen und selbst verbrennen.«

»Großer Gott!« Laura dachte an das schmächtige Kind mit dem blassen Teint und den dunklen Ringen unter den Augen und hatte das Gefühl, Tammys geplante Selbstverbrennung habe nur dazu dienen sollen, die kleine lodernde Flamme, die sie seit langem von innen verzehrte, zum Feuer anzufachen.

»Sie haben sie für zwei Monate zu einer Intensivtherapie weggeschickt«, fügte Ruth hinzu.

»Als sie zurückkam«, sagte Thelma, »redeten alle Erwachsenen davon, wie sehr ihr Zustand sich gebessert habe, aber Ruth und mir kam sie unverändert vor.«

Zehn Minuten nach Miss Keists abendlicher Bettenkontrolle schlich Laura sich aus ihrem Zimmer. Der leere Korridor im zweiten Stock wurde lediglich durch drei Sicherheitsleuchten erhellt. Laura hastete im Schlafanzug und mit Decke und Kopfkissen unter dem Arm barfuß ins Zimmer der Ackersons.

Dort brannte nur die Lampe auf Ruths Nachttisch. »Laura, du schläfst in meinem Bett«, flüsterte Ruth. »Ich habe mir einen Schlafplatz auf dem Boden hergerichtet.«

»Kommt nicht in Frage!« wehrte Laura ab. »Ich schlafe auf dem Boden.«

Sie faltete ihre Decke zusammen, um eine Unterlage zu haben, und streckte sich quer zum Fußende von Ruths Bett mit ihrem Kissen unter dem Kopf darauf aus.

»Ihr werdet schon sehen, was für Schwierigkeiten wir deswegen kriegen«, sagte Rebecca Bogner von ihrem Bett aus.

»Wovor hast du eigentlich Angst?« fragte Thelma. »Daß sie uns auf dem Hof an Pfähle binden, mit Honig beschmieren und den Ameisen überlassen?«

Tammy stellte sich schlafend.

Ruth knipste ihre Nachttischlampe aus, und sie versuchten einzuschlafen.

Eine Minute später flog die Tür auf, die Deckenlampe wurde eingeschaltet. Miss Keist, die einen roten Morgenrock trug, kam mit finsterer Miene hereingestürmt. »Aha! Laura, was hast du hier zu suchen?«

Rebecca Bogner ächzte. »Ich hab’ euch doch gesagt, daß es Stunk gibt!«

»Komm sofort mit zurück auf dein Zimmer, junge Dame!«

Die Promptheit, mit der Miss Keist erschienen war, war zu verdächtig, und Laura schaute zu Tammy Hinsen hinüber. Die Blondine stellte sich nicht mehr schlafend, sondern stützte sich schwach lächelnd auf einen Ellbogen. Sie hatte offenbar beschlossen, dem Aal bei seiner Jagd auf Laura behilflich zu sein

- vielleicht in der Hoffnung, ihre Position als Favoritin zurückzugewinnen.

Miss Keist eskortierte Laura in ihr Zimmer. Laura schlüpfte ins Bett, und die Erzieherin starrte sie einen Augenblick an. »Es ist warm. Ich mache das Fenster auf.« Sie trat wieder ans Bett und studierte Laura nachdenklich. »Möchtest du mir irgendwas erzählen? Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

Laura überlegte, ob sie ihr von Sheener erzählen sollte. Aber was, wenn Miss Keist den Aal dabei ertappen wollte, daß er sich in ihr Zimmer schlich, und er in dieser Nacht nicht auf-kreuzte? Dann würde Laura ihn später nie wieder beschuldigen können, weil sie ihn schon einmal fälschlich beschuldigt hatte. Niemand würde ihr mehr glauben; selbst wenn Sheener sie vergewaltigte, würde er ungestraft davonkommen.

»Nein, alles ist in Ordnung«, sagte sie.

»Deine Freundin Thelma ist viel zu altklug, viel zu sehr von sich selbst überzeugt«, behauptete Miss Keist. »Wenn du dumm genug bist, nochmals gegen die Heimordnung zu verstoßen, nur um eine Nacht lang schwatzen zu können, dann such dir lieber Freundinnen, für die sich’s lohnt, das zu riskieren.«

»Ja, Ma’am«, sagte Laura, nur um sie loszuwerden. Sie bedauerte, auch nur daran gedacht zu haben, auf die vorübergehende Besorgnis der Erzieherin einzugehen.

Nachdem Miss Keist gegangen war, verließ Laura nicht sofort ihr Bett und flüchtete. Sie blieb in der Dunkelheit liegen, weil sie sicher war, daß in einer halber Stunde eine weitere Bettenkontrolle stattfinden würde. Der Aal würde sich garantiert nicht vor Mitternacht heranschlängeln, und da es erst 22 Uhr war, hatte Laura zwischen Miss Keists nächster Kontrolle und Sheeners Eintreffen reichlich Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.

In weiter, weiter Ferne erklang Donnergrollen. Sie setzte sich im Bett auf. Ihr Beschützer! Laura schlug die Bettdecke zurück und lief ans Fenster. Sie sah keine Blitze. Der ferne Donner verhallte. Vielleicht war’s gar kein Donner gewesen. Sie wartete noch zehn Minuten, ohne daß irgend etwas geschah. Dann kehrte sie enttäuscht in ihr Bett zurück.

Kurz nach 22.30 Uhr knarrte die Türklinke. Laura schloß die Augen, ließ ihren Mund offen und spielte die Schlafende.

Jemand kam leise herein, durchquerte den Raum und blieb neben dem Bett stehen.

Laura atmete langsam, tief und regelmäßig, aber das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Es war Sheener. Sie wußte, daß er’s war. O Gott, sie hatte vergessen, daß er verrückt, daß er unberechenbar war, und jetzt war er früher als erwartet hier und bereitete die Betäubungsspritze vor. Er würde sie in einen Rupfensack stopfen und davonschleppen, als wäre er ein geistesgestörter Weihnachtsmann, der kam, um Kinder zu stehlen, anstatt ihnen Geschenke zu bringen.

Die Wanduhr tickte. Eine kühle Brise ließ die Vorhänge rascheln.

Endlich zog die neben dem Bett stehende Gestalt sich wieder zurück. Die Tür wurde leise geschlossen.

Es war also doch Miss Keist gewesen!

Laura stand heftig zitternd auf und schlüpfte in ihren Bademantel. Sie nahm die Bettdecke zusammengefaltet über den Arm und verließ das Zimmer ohne Pantoffeln, weil sie wußte, daß ihre Schritte barfuß leiser waren.

Ins Zimmer der Ackersons konnte sie nicht zurück. Statt dessen ging sie zur Nordtreppe, öffnete vorsichtig die Tür und trat auf den schwach beleuchteten Treppenabsatz hinaus.

Sie horchte ängstlich nach unten, wo sie Sheeners Schritte zu hören fürchtete. Dann stieg sie wachsam die Treppe hinab, darauf gefaßt, dem Aal zu begegnen. Aber sie erreichte ungehindert das Erdgeschoß.

Vor Kälte zitternd, weil ihre nackten Füße auf den Bodenfliesen auskühlten, suchte sie im Spielsaal Zuflucht. Sie machte kein Licht, sondern begnügte sich mit dem geisterhaften Schein der Straßenlampen, der durch die Fenster fiel und die Kanten der Möbelstücke in silbriges Licht tauchte.

Sie schlich an Stühlen und Tischen vorbei und streckte sich hinter dem Sofa auf ihrer zusammengelegten Decke aus.

Sie schlief nur leicht und schreckte wiederholt aus Alpträumen hoch. Im alten Herrenhaus erwachte des Nachts heimliches Leben: Die Bodendielen der Decke über Laura knarrten, in den alten Wasserleitungen gurgelte es.

8

Stefan schaltete alle Lampen aus und wartete in dem für ein Kind eingerichteten Schlafzimmer. Kurz vor 3.30 Uhr hörte er Sheener zurückkommen. Stefan trat lautlos hinter die Schlafzimmertür. Einige Minuten später kam Willy Sheener herein, machte Licht und bewegte sich auf die Matratze zu. Während er den Raum durchquerte, gab er einen merkwürdigen Laut von sich: halb ein Seufzen, halb das Winseln eines Tieres, das sich aus einer feindseligen Welt in seinen sicheren Bau zurückzieht.

Stefan schloß die Tür. Sheener warf sich bei diesem Geräusch herum und war offenbar entsetzt, daß jemand in seinen Zufluchtsort eingedrungen war. »Wer . wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen, verdammt noch mal?«

Aus einem im Schatten auf der anderen Seite geparkten Chevy beobachtete Kokoschka, wie Stefan Willy Sheeners Haus verließ. Er wartete noch zehn Minuten, stieg dann aus, ging um den Bungalow herum, fand die Hintertür offen und trat vorsichtig ein.

Er entdeckte Sheener in seinem Kinderzimmer: übel zugerichtet, blutend und still. Das Zimmer stank nach Urin, denn der Mann hatte in seiner Angst Wasser gelassen.

Irgendwann, dachte Kokoschka grimmig entschlossen und mit einem Anflug von Sadismus, richte ich Stefan noch schlimmer zu. Ihn und dieses verdammte Mädchen. Sobald ich weiß, welche Rolle sie in seinen Plänen spielt und weshalb er Jahrzehnte überspringt, um in ihr Leben einzugreifen. Beide werden Höllenqualen erleiden, dafür sorge ich!

Er verließ Sheeners Haus. Im Garten blickte er sekundenlang zum sternklaren Nachthimmel auf, bevor er ins Institut zurückkehrte.

9

Kurz vor Tagesanbruch - bevor die ersten Heimbewohner aufstanden, aber nicht eher, als sie das Gefühl hatte, für diesmal vor Sheener sicher zu sein - verließ Laura ihre Lagerstatt im Spielzimmer und kehrte in den zweiten Stock zurück. In ihrem Zimmer war alles so, wie sie es verlassen hatte. Nichts wies auf einen nächtlichen Eindringling hin.

Erschöpft und mit geröteten Augen fragte sie sich, ob sie dem Aal etwas zuviel Kühnheit und Wagemut zugetraut hatte. Sie kam sich sogar ein bißchen dumm vor.

Als sie ihr Bett machte - eine Arbeit, für die jedes Heimkind selbst verantwortlich war -, erstarrte sie förmlich, als sie sah, was unter dem Kopfkissen lag. Eine einzelne Tootsie Roll.

An diesem Tag kam der Weiße Aal nicht zur Arbeit. Er war offenbar die ganze Nacht wach gewesen, um Lauras Entführung vorzubereiten, und brauchte zweifellos Schlaf.

»Wie findet ein Kerl wie er überhaupt Schlaf?« fragte Ruth, als sie sich nach der Schule im McIllroy in einer Ecke des Spielplatzes trafen. »Ich meine, hält sein schlechtes Gewissen ihn denn nicht wach?«

»Ruthie«, sagte Thelma, »er hat kein Gewissen.«

»Jeder hat eines, sogar der Schlechteste unter uns. So hat Gott uns geschaffen.«

»Shane«, verlangte Thelma, »halt dich bereit, mir bei einer Teufelsaustreibung zu helfen. Unsere Ruth ist schon wieder vom Geist einer mittelalterlichen Schwachsinnigen besessen.«

In einer atypisch humanitären Geste verlegte Mrs. Bowmaine Tammy und Rebecca in ein anderes Zimmer und ließ Laura wieder bei Ruth und Thelma einziehen. Das vierte Bett in ihrem Zimmer blieb vorerst leer.

»Das ist für Paul McCartney«, sagte Thelma, als die Zwillinge Laura halfen, sich bei ihnen einzurichten. »Wenn die Beatles mal in Kalifornien sind, kann er’s benützen. Und ich benütze dann Paul!«

»Du kannst einen richtig verlegen machen«, stellte Ruth fest.

»Ich drücke nur gesundes sexuelles Begehren aus.«

»Thelma, du bist erst zwölf!« sagte Ruth aufgebracht.

»Aber demnächst dreizehn. Bald hab’ ich meine ersten Tage. Eines Morgens wachen wir auf und sehen so viel Blut, als hätt’s hier ein Massaker gegeben.«

»Thelma!«

Auch am Donnerstag kam Sheener nicht zur Arbeit. Da Freitag und Samstag seine freien Tage waren, tauschten Laura und die Zwillinge am Samstagabend aufgeregt Vermutungen aus, der Aal werde nie mehr kommen, weil er unter einen Lastwagen geraten sei oder sich Beriberi zugezogen habe.

Am Sonntagmorgen beim Frühstück stand Sheener jedoch wieder am Buffett hinter der Theke. Er hatte zwei blaue Augen, ein verbundenes rechtes Ohr, eine geschwollene Oberlippe und eine lange blutverkrustete Schramme am linken Unterkiefer; außerdem fehlten ihm zwei Vorderzähne.

»Vielleicht ist er tatsächlich unter einen Lastwagen gekommen«, flüsterte Ruth, während sie in der Schlange vorrückten.

Auch andere Kinder tuschelten über Sheeners Verletzungen, und einige von ihnen kicherten. Da ihn jedoch alle haßten, fürchteten oder verachteten, hatte niemand Lust, ihn direkt auf seinen Zustand anzusprechen.

Laura, Ruth und Thelma schwiegen, als sie das Buffett erreichten. Je näher sie Sheener kamen, desto mitgenommener sah er aus. Obwohl seine Veilchen schon ein paar Tage alt waren, war das Fleisch noch immer schrecklich verfärbt und geschwollen; beide Augen mußten ursprünglich fast völlig zugeschwollen gewesen sein. Seine aufgeplatzten Lippen schienen zu eitern. Wo sein Gesicht nicht verfärbt oder aufgeschürft war, wirkte die sonst weißliche blasse Haut grau. Mit seinem borstigen kupferroten Haarschopf sah er komisch aus: ein Zirkusclown, der eine Treppe hinuntergeplumst war, ohne zu wissen, wie man richtig aufkam und sich nicht weh tat.

Er sah nicht die Kinder an, deren Teller er füllte, sondern hielt seinen Blick stur auf die Milch und die Kuchenschnitten gesenkt. Als Laura vor ihm stand, schien er sich zu verkrampfen, ohne jedoch aufzublicken.

An ihrem Tisch rückten Laura und die Zwillinge ihre Stühle so zurecht, daß sie den Aal beobachten konnten. Das hier war eine Entwicklung, die sie sich eine Stunde zuvor nicht hätten träumen lassen. Er erregte jetzt mehr Neugier denn Angst. Anstatt ihm aus dem Weg zu gehen, verbrachten sie den ganzen Tag damit, ihn unauffällig bei der Arbeit zu beobachten, indem sie so taten, als wären sie nur zufällig in seiner Nähe. Dabei zeigte sich allmählich, daß er sich Lauras Gegenwart bewußt war, aber ängstlich jeden Blickkontakt mit ihr mied. Er sah andere Kinder an und blieb einmal im Spielzimmer stehen, um ein paar halblaute Worte mit Tammy Hinsen zu wechseln, aber er schien Lauras Blick ebenso ungern zu erwidern, wie er seine Finger in eine Steckdose gesteckt hätte.

»Laura, er hat Angst vor dir«, stellte Ruth am späten Vormittag fest.

»Verdammt noch mal, das stimmt!« bestätigte Thelma. »Hast du ihn vermöbelt, Shane? Hast du uns bisher verschwiegen, daß du Karatemeisterin bist?«

»Wirklich merkwürdig, nicht wahr? Warum hat er Angst vor mir?«

Aber Laura wußte Bescheid. Ihr spezieller Beschützer! Obwohl sie geglaubt hatte, selbst mit Sheener fertig werden zu müssen, hatte ihr Beschützer wieder eingegriffen und Sheener nachdrücklich aufgefordert, die Finger von ihr zu lassen.

Sie wußte nicht recht, weshalb sie zögerte, den Ackersons von ihrem geheimnisvollen Beschützer zu erzählen. Die beiden waren ihre besten Freundinnen. Sie hatte Vertrauen zu ihnen. Trotzdem fühlte Laura intuitiv, daß ihr Beschützer ein heiliges Geheimnis bleiben mußte - daß sie das Wenige, was sie über ihn wußte, selbst Freundinnen gegenüber nicht gedankenlos ausplaudern durfte.

In den folgenden beiden Wochen verblaßten die blauen Flecke des Aals, er konnte den Ohrverband abnehmen, unter dem eine feuerrote Stichnaht sichtbar wurde, mit der sein fast abgerissenes Ohr wieder angenäht worden war. Er achtete weiter auf Distanz zu Laura. Wenn er sie in der Cafeteria an der Theke bediente, hob er nicht mehr die besten Stücke für sie auf, und er weigerte sich standhaft, ihr in die Augen zu sehen.

Gelegentlich ertappte Laura ihn jedoch dabei, daß er sie quer durch einen Raum anstarrte. Er wandte sich jedesmal rasch ab, aber in seinen blitzenden grünen Augen sah sie jetzt etwas, das noch schlimmer war als seine frühere perverse Gier: Wut. Offenbar machte er sie für die Tracht Prügel verantwortlich, die er bezogen hatte.

Am 27. Oktober, einem Freitag, erfuhr Laura von Mrs. Bowmaine, daß sie am nächsten Tag zu neuen Pflegeeltern kommen sollte. Mr. und Mrs. Dockweiler, die in Newport Beach wohnten, hatten sich erst vor kurzem für das Pflegeelternprogramm gemeldet und wollten Laura gern bei sich aufnehmen.

»Ich bin sicher, daß es diesmal besser klappt«, sagte Mrs. Bowmaine, die in einem Kleid mit aufgedruckten leuchtendgelben Blüten, in dem sie wie eine Sonnenliege aussah, neben ihrem Schreibtisch stand. »Die Schwierigkeiten, die du bei den Teagels verursacht hast, wiederholen sich bei den Dockweilers hoffentlich nicht.«

Abends in ihrem Zimmer versuchten Laura und die Zwillinge, tapfere Gesichter aufzusetzen und so gleichmütig über die bevorstehende Trennung zu diskutieren, wie sie über ihre Abreise zu den Teagels gesprochen hatten. Aber sie standen einander jetzt näher als vor einem Monat - so nahe, daß Ruth und Thelma begonnen hatten, von Laura wie von einer Schwester zu sprechen. Thelma hatte einmal sogar gesagt: »Die erstaunlichen Acker son-Schwestern, Ruth, Laura et moi«, und Laura hatte sich verstandener, geliebter und lebendiger gefühlt denn je zuvor in dem Vierteljahr seit dem Tode ihres Vaters.

»Ich liebe euch, Mädels«, erklärte Laura.

»Oh, Laura«, sagte Ruth und brach in Tränen aus.

Thelma machte ein finsteres Gesicht. »Du bist garantiert bald wieder da. Diese Dockweilers sind bestimmt gräßliche Leute. Sie lassen dich in der Garage schlafen.«

»Hoffentlich!« sagte Laura.

»Sie verprügeln dich mit Gummischläuchen ...«

»Das wäre schön.«

Diesmal war der Blitz, der in ihr Leben gefahren war, ein guter Blitz - so sah es wenigstens anfänglich aus.

Die Dockweilers bewohnten eine riesige Villa in einem der besten Viertel von Newport Beach. Laura hatte ein eigenes Schlafzimmer mit Meerblick. Es war in Erdtönen gehalten -vor allem in Beige.

»Wir haben nicht gewußt, was deine Lieblingsfarben sind«, sagte Carl Dockweiler, als sie ihr das Zimmer zeigten, »deshalb haben wir’s so gelassen. Aber wir können alles in den Farben, die du dir wünscht, neu streichen lassen.« Er war ein freundlicher Riese Anfang Vierzig und hatte ein breites, etwas schwammiges Gesicht, das Laura an John Wayne erinnert hätte, wenn John Wayne ein bißchen lustiger ausgesehen hätte. »Vielleicht möchte ein Mädchen in deinem Alter sein Zimmer in Rosa.«

»Nein, nein, es gefällt mir so sehr gut!« wehrte Laura ab. Ohne ihren gelinden Schock über den Reichtum, der sie plötzlich umgab, schon überwunden zu haben, trat sie ans Fenster und genoß die prachtvolle Aussicht auf Newport Harbor mit den vielen Yachten auf dem in der Sonne glitzernden Wasser.

Nina Dockweiler trat neben Laura und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Mit ihrer puppenhaft zarten Figur, ihrem dunklen Teint, dem schwarzen Haar und den veilchenblauen Augen war sie äußerst attraktiv. »Laura, in deiner Akte hat gestanden, daß du gern liest, aber wir haben nicht gewußt, welche Bücher dir am liebsten sind, deshalb fahren wir jetzt gleich los und kaufen alle, die dir gefallen.«

Bei Waldenbooks suchte sich Laura fünf Taschenbücher aus. Die Dockweilers drängten sie, mehr zu nehmen, aber sie hatte ein schlechtes Gewissen, wenn sie das Geld der Dockweilers ausgab. Carl und Nina suchten die Regale ab, nahmen Bücher heraus, lasen Laura die Klappentexte vor und legten sie auf den Stapel, wenn sie auch nur das geringste Interesse dafür erkennen ließ. Als sie endlich den Laden verließen, hatten sie über 100 Bücher, einen ganzen Berg Bücher eingekauft!

Ihr erstes gemeinsames Abendessen fand in einer Pizzeria statt, in der Nina Dockweiler ein verblüffendes Talent für Zauberkunststücke bewies, indem sie einen Peperoniring hinter Lauras Ohr hervorholte und verschwinden ließ.

»Toll!« sagte Laura. »Wo hast du das gelernt?«

»Ich bin früher Innenarchitektin gewesen, aber ich habe meinen Beruf vor acht Jahren aus Gesundheitsgründen aufgeben müssen. Er war mir zu streßreich. Weil ich es aber nicht gewohnt war, wie ein Kloß zu Hause rumzusitzen, habe ich alles getan, wovon ich vorher als Geschäftsfrau mit sehr knapper Freizeit nur hatte träumen können. Zum Beispiel Zauberkunststücke einzuüben.«

»Aus Gesundheitsgründen?« fragte Laura.

Sie hatte gelernt, daß Sicherheit eine nur scheinbar feste Eisfläche war, die jederzeit einbrechen konnte - und jetzt war es offenbar wieder einmal soweit.

Ihre Angst mußte sichtbar gewesen sein, denn Carl Dockweiler sagte: »Mach dir keine Sorgen. Nina hat einen angeborenen Herzfehler, aber wenn sie Streß meidet, kann sie damit so lange leben wie du oder ich.«

»Kann er nicht operiert werden?« fragte Laura und legte die Pizzaschnitte weg, in die sie eben hatte beißen wollen. Sie hatte plötzlich keinen Appetit mehr.

»Die Herzchirurgie macht große Fortschritte«, erklärte Nina ihr. »Vielleicht in ein paar Jahren. Aber das braucht dir keine Sorgen zu machen, mein Schatz. Ich passe gut auf mich auf -vor allem jetzt, wo ich eine Tochter habe, die ich verhätscheln kann!«

»Wir haben uns eigene Kinder gewünscht«, sagte Carl, »nur hat’s leider nie geklappt. Als wir uns dann zur Adoption entschlossen, trat Ninas Herzfehler auf, so daß wir nicht als Adoptiveltern in Frage kamen.«

»Aber wir erfüllen die Voraussetzungen für Pflegeeltern«, ergänzte Nina, »und wenn’s dir bei uns gefällt, kannst du bei uns leben, als ob wir dich adoptiert hätten.«

In ihrem großen Schlafzimmer mit Blick auf das jetzt unheimlich dunkle Meer sagte Laura sich an diesem Abend, sie dürfe die Dockweilers nicht zu sehr liebgewinnen, weil Ninas Herzfehler eine sichere, fundierte Zukunft ausschließe.

Am nächsten Tag, einem Sonntag, fuhren die beiden mit ihr einkaufen und hätten ein Vermögen für Kleidung ausgegeben, wenn Laura sie nicht schließlich gebeten hätte, nicht noch mehr zu kaufen. Mit dem Kofferraum ihres Mercedes voller Tragtüten fuhren sie ins Kino, um sich eine Komödie mit Peter Sellers anzusehen, und danach zum Abendessen in ein HamburgerRestaurant, das für seine gigantischen Milchmixgetränke bekannt war.

»Ihr könnt von Glück sagen, daß ihr vom Jugendamt statt eines anderen Kindes mich geschickt bekommen habt«, stellte Laura fest, während sie Ketchup über ihre Pommes frites verteilte.

Carl zog die Augenbrauen hoch. »Oh?«

»Nun, ihr seid nett, zu nett - und weit verwundbarer, als ihr ahnt. Jedes Kind würde eure Verwundbarkeit erkennen, und viele würden sie ausnützen. Gnadenlos. Aber bei mir könnt ihr ganz unbesorgt sein. Ich nütze euch niemals aus oder benehme mich so, daß es euch leid tut, mich aufgenommen zu haben.«

Die beiden starrten sie verblüfft an.

Zuletzt wandte Carl sich an seine Frau. »Nina, wir sind reingelegt worden! Das ist keine Zwölfjährige. Sie haben uns eine Zwergin untergeschoben.«

Abends im Bett wiederholte Laura vor dem Einschlafen ihre dem eigenen Schutz dienende Litanei: »Du darfst sie nicht zu sehr liebgewinnen ... du darfst sie nicht zu sehr liebgewinnen ...« Aber sie hatte sie bereits sehr liebgewonnen.

Die Dockweilers schickten Laura auf eine Privatschule, deren Anforderungen höher waren als in den bisher von ihr besuchten öffentlichen Schulen; sie nahm diese Herausforderung jedoch bereitwillig an und bekam gute Noten. Allmählich schloß sie auch neue Freundschaften. Ruth und Thelma fehlten ihr sehr, aber sie tröstete sich mit der Gewißheit, daß die beiden sich wohl darüber freuten, daß sie’s so gut getroffen hatte.

Sie begann sogar zu glauben, sie könne Vertrauen zur Zukunft haben und wagen, glücklich zu sein. Schließlich hatte sie einen speziellen Beschützer, nicht wahr? Vielleicht sogar einen Schutzengel. Und ein von einem Engel beschütztes Mädchen mußte doch ein Leben voller Liebe, Glück und Sicherheit zu erwarten haben ...

Aber streckte ein Schutzengel einen Mann mit einem Kopfschuß nieder? Prügelte er einen anderen windelweich? Tat nichts zur Sache. Sie hatte einen gutaussehenden Beschützer, der vielleicht sogar ein Engel war, und liebevolle Pflegeeltern, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen. Wie hätte sie sich weigern können, glücklich zu sein, wenn sie förmlich mit Glück überschüttet wurde?

Am 5. Dezember, einem Dienstag, hatte Nina ihren monatli-chen Termin bei ihrem Kardiologen, so daß niemand zu Hause war, als Laura nachmittags aus der Schule kam. Sie sperrte die Haustür auf und legte ihre Schulbücher in der Diele auf den Louis-XIV.-Tisch am Fuß der Treppe.

Das riesige Wohnzimmer war in Crème-, Pfirsich- und blassen Grüntönen gehalten, so daß es trotz seiner Abmessungen behaglich wirkte. Als Laura an einem der Fenster stand, um die Aussicht zu bewundern, überlegte sie sich, wieviel schöner es wäre, wenn Ruth und Thelma sie mit ihr genießen könnten -und plötzlich erschien es ihr nur natürlich, daß die beiden ebenfalls hier waren.

Warum eigentlich nicht? Carl und Nina liebten Kinder. Ihre Liebe hätte für ein ganzes Haus voll Kinder, für ein Dutzend Kinder ausgereicht.

»Shane«, sagte sie laut, »du bist ein Genie!«

Laura ging in die Küche und stellte einen Imbiß zusammen, den sie in ihr Zimmer mitnehmen wollte. Während sie sich ein Glas Milch eingoß, ein Schokoladehörnchen im Backofen aufwärmte und einen Apfel aus dem Kühlschrank holte, überlegte sie, wie sie das Thema Zwillinge bei den Dockweilers anschneiden sollte. Ihr Plan war so erfolgversprechend, daß sie keine Möglichkeit eines Scheiterns sah, als sie ihren Imbiß zu der Schwingtür zwischen Küche und Eßzimmer trug und sie mit einer Schulter aufstieß.

Der Aal hatte ihr im Eßzimmer aufgelauert, bekam sie zu fassen und schmetterte sie mit solcher Gewalt gegen die Wand, daß ihr die Luft wegblieb. Der Apfel und das Hörnchen rutschten vom Teller, der Teller flog ihr aus der Hand, das Milchglas wurde Laura aus der anderen Hand geschlagen und zerschellte klirrend am Eßtisch. Er zog sie von der Wand weg, um sie sofort wieder dagegenzuschmettern. Ein Schmerz durchzuckte ihren Hinterkopf, ihr Blick trübte sich, sie wußte, daß sie nicht ohnmächtig werden durfte, deshalb klammerte sie sich an ihr Bewußtsein, klammerte sich hartnäckig daran, obwohl sie keine Luft bekam, starke Schmerzen und bestimmt schon eine leichte Gehirnerschütterung hatte.

Wo war ihr Beschützer? Wo nur?

Sheener brachte sein Gesicht dicht an ihres heran, und das Entsetzen schien ihre Sinne zu schärfen, denn sie nahm jede Einzelheit seiner wutverzerrten Visage wahr: die noch immer roten Stiche, mit denen sein fast abgerissenes Ohr wieder angenäht worden war, die schwarzen Mitesser in den Poren um die Nase herum, die Aknenarben in der teigigen Haut. Seine grünen Augen hatten nichts Menschliches mehr an sich: Sie waren fremdartig wie die einer blutrünstigen Raubkatze.

Ihr Beschützer würde den Aal jetzt gleich von ihr wegzerren, ihn wegzerren und unschädlich machen. Bestimmt gleich im nächsten Augenblick!

»Jetzt hab’ ich dich«, kreischte er im schrillen Ton eines Verrückten, »jetzt gehörst du mir, Süße, und sagst mir, wer das Schwein gewesen ist, das mich verprügelt hat, damit ich den Kerl abknallen kann!«

Seine Finger gruben sich in das Fleisch ihrer Oberarme. Er hob Laura hoch, brachte sie auf Augenhöhe und drückte sie gegen die Wand. Ihre Füße baumelten in der Luft.

»Wie heißt das Schwein?« Er war furchtbar stark. Er stieß sie erneut gegen die Wand und hielt sie dann wieder in Augenhöhe fest. »Sag’s mir, Süße, sonst muß ich dir ein Ohr abreißen.«

Im nächsten Augenblick. Bestimmt im nächsten Augenblick.

Lauras Hinterkopf tat noch immer weh, aber sie bekam wenigstens wieder Luft, obwohl sie dabei seinen Atem, der ekelerregend säuerlich war, einatmen mußte.

»Du sollst antworten, Süße.«

Vielleicht brachte er sie um, wenn sie tatenlos auf das Eingreifen ihres Schutzengels wartete.

Sie trat ihn in den Unterleib. Ein Volltreffer. Er hatte mit gespreizten Beinen vor ihr gestanden und war sich wehrende Mädchen so wenig gewöhnt, daß er den Tritt nicht einmal kommen sah. Seine Augen weiteten sich, wirkten dabei für kurze Zeit geradezu menschlich, er stieß einen leisen, erstickten Laut aus. Seine Hände ließen Laura los, die zu Boden glitt. Sheener stolperte rückwärts, verlor das Gleichgewicht, fiel gegen den Eßtisch und klappte seitlich auf dem chinesischen Teppich zusammen.

Laura, die durch Schmerz, Schock und Angst wie gelähmt war, konnte nicht aufstehen. Ihre Beine versagten ihr den Dienst. Also mußte sie kriechen. Das ging. Weg von ihm. In verzweifelter Hast. Auf den Rundbogen zwischen Eß- und Wohnzimmer zu. In der Hoffnung, daß sie sich daran würde hochziehen können. Er bekam ihren linken Knöchel zu fassen. Sie versuchte sich loszustrampeln. Aussichtslos. Sheener hielt sie eisern fest. Kalte Finger. Leichenkalt. Aus seiner Kehle kam ein schriller, dünner Laut. Nicht der eines Menschen. Ihre Hand berührte einen Milchfleck auf dem Teppich. Sie sah das zerbrochene Glas. Die obere Hälfte war abgesplittert. Der von Glaszacken gesäumte schwere Fuß, an dem noch Milchtropfen hingen, war intakt geblieben. Noch immer vom Schmerz in seinen Bewegungen eingeschränkt, ergriff der Aal auch ihren zweiten Knöchel. Robbte, kroch, schlängelte sich an Laura heran. Immer noch mit diesem hohen, dünnen Laut. Wollte sich auf sie werfen. Sie unter sich begraben. Sie griff nach dem zerbrochenen Glas, schnitt sich den rechten Daumen auf, ohne etwas zu spüren. Er ließ ihre Knöchel los und packte ihre Schenkel. Laura wälzte sich auf den Rücken, als wäre sie ein Aal. Stieß ihm den Zackenrand des zerbrochenen Glases entgegen - nicht um ihn zu verletzen, nur in der Hoffnung, ihn dadurch abzuschrecken. Aber er warf sich in diesem Moment auf sie, ließ sich nach vorn fallen, und die drei Glaszacken bohrten sich tief in seine Kehle. Er versuchte zurückzuweichen, schlug nach ihrer Hand. Die Zacken brachen in seinem Fleisch ab. Er röchelte, würgte, nagelte Laura mit seinem Gewicht auf dem Teppich fest. Aus seiner Nase schoß Blut. Sie drehte und wand sich unter ihm. Er umklammerte sie noch fester. Sein linkes Knie preßte sich in ihre rechte Hüfte. Dann lag sein Mund an ihrer Kehle. Er biß zu. Seine Zähne bekamen nur eine Hautfalte zu fassen. Beim nächsten Mal würden seine Zähne sie richtig zu fassen kriegen. Sie schlug wild um sich. Bei jedem keuchenden Atemzug pfiff Luft durch seine aufgeschlitzte Kehle. Sie entwand sich ihm und war frei. Er wollte sie wieder packen. Sie trat nach ihm. Ihre Beine gehorchten ihr jetzt wieder besser. Ein kräftiger, wirkungsvoller Tritt. Sie kroch in Richtung Wohnzimmer. Bekam den Rahmen des Rundbogendurchgangs zu fassen. Zog sich daran hoch. Sah sich um. Auch der Aal war wieder auf den Beinen, schwang einen Eßzimmerstuhl wie eine Keule. Laura duckte sich. Der Stuhl krachte mit ohrenbetäubendem Lärm gegen den Türrahmen. Sie taumelte ins Wohnzimmer, wollte in die Diele, zur Haustür, ins Freie. Er schleuderte den Stuhl nach ihr, traf ihre Schulter. Sie ging zu Boden, rollte sich ab, schaute nach oben. Er stand hoch aufgerichtet da, beugte sich nieder, packte ihren linken Arm. Ihr wurde schwarz vor den Augen. Er packte auch den anderen Arm. Sie war erledigt. Wäre erledigt gewesen, hätte nicht einer der Glassplitter in seiner Kehle jetzt die Halsschlagader durchtrennt. Aus seiner Wunde schoß jäh ein pulsierender Blutstrom. Sheener brach mit dem schweren, schrecklichen Gewicht eines Toten auf Laura zusammen.

Sie konnte sich nicht bewegen, konnte kaum atmen und hatte Mühe, bei Bewußtsein zu bleiben. Über den grausig an- und abschwellenden Ton ihres erstickten Schluchzens hinweg hörte sie eine Tür aufgehen. Dann kamen Schritte näher.

»Laura? Ich bin wieder da!« Das war Ninas Stimme, anfangs unbekümmert heiter, dann schrill vor Entsetzen. »Laura? Mein Gott, Laura!«

Laura versuchte, den Toten von sich fortzuschieben, aber sie konnte sich nur halb unter der Leiche hervorwälzen - gerade weit genug, um Nina an der Wohnzimmertür stehen zu sehen.

Nina war zunächst vor Entsetzen wie gelähmt. Sie starrte ins Cremeweiß, Pfirsichgelb und Meergrün ihres Wohnzimmers, das jetzt unregelmäßig verteilte Rotakzente aufwies. Dann fiel der Blick ihrer veilchenblauen Augen auf Laura, und sie erwachte mit einem Ruck aus ihrer Trance. »Laura, o mein Gott, Laura!« Sie trat zwei, drei Schritte auf sie zu, blieb plötzlich stehen und krümmte sich keuchend zusammen, als habe jemand ihr mit der Faust einen Schlag in den Magen versetzt. Sie wollte sich aufrichten. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Dann konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten und brach lautlos zusammen.

Das durfte nicht sein! Das war nicht fair, verdammt noch mal!

Panik und ihre Liebe zu Nina verliehen Laura neue Kräfte. Sie wälzte sich unter Sheener hervor und kroch rasch zu ihrer Pflegemutter hinüber.

Nina lag schlaff und ohne Bewegung. Ihre schönen Augen standen blicklos offen.

Laura legte ihre blutverschmierte Hand an Ninas Hals und versuchte, ihren Puls zu erfühlen. Sie bildete sich ein, ihn gefunden zu haben. Schwach, unregelmäßig, aber spürbar.

Sie zerrte ein Kissen vom nächsten Sessel, bettete Ninas Kopf darauf und hastete in die Küche, wo die Notrufnummern von Polizei und Feuerwehr auf dem Wandtelefon standen. Mit bebender Stimme meldete sie Ninas Herzanfall und gab der Feuerwehr ihre Adresse an.

Als sie auflegte, wußte sie, daß alles wieder gut werden würde, denn sie hatte schon ihren Vater durch einen Herzanfall verloren, und es wäre einfach absurd gewesen, Nina auf gleiche Weise zu verlieren. Gewiß, das Leben hatte seine absurden Augenblicke, aber das Leben selbst war nicht absurd. Es war seltsam, schwierig, wundersam, köstlich, rätselhaft, aber nicht einfach absurd. Deshalb würde Nina überleben, weil ihr Tod unsinnig gewesen wäre.

Noch immer ängstlich und besorgt, aber eigentlich schon getröstet lief Laura ins Wohnzimmer zurück, kniete neben ihrer Pflegemutter nieder und nahm sie in die Arme.

Der Rettungsdienst in Newport Beach war erstklassig organisiert. Seit Lauras Anruf waren erst drei, vier Minuten vergangen, als bereits der Krankenwagen vorfuhr. Die beiden Sanitäter waren erfahren und gut ausgerüstet. Trotzdem konnten sie nur noch Ninas Tod feststellen: Sie war zweifellos schon tot gewesen, als sie zusammenbrach.

10

Eine Woche nach Lauras Rückkehr ins McIllroy Home und acht Tage vor Weihnachten wies Mrs. Bowmaine Tammy Hinsen wieder das vierte Bett im Zimmer der Ackerson-Zwillinge zu. In einem ungewöhnlich vertraulichen Gespräch mit Laura, Ruth und Thelma erläuterte die Sozialarbeiterin ihnen den Grund für diese Verlegung: »Ich weiß, ihr sagt, daß Tammy sich bei euch Mädchen nicht wohl fühlt, aber sie scheint hier besser zurechtzukommen als anderswo. Wir haben sie in verschiedenen Zimmern untergebracht, aber die anderen Kinder vertragen sich nicht mit ihr. Ich weiß nicht, was die Kleine an sich hat, daß sie zur Ausgestoßenen wird, aber von ihren Zimmergenossinnen bezieht sie am Ende immer Prügel.«

Als sie vor Tammys Ankunft wieder in ihrem Zimmer waren, nahm Thelma die Yogagrundhaltung mit sitzend übereinandergeschlagenen Beinen ein. Seit die Beatles sich für fernöstliche Meditation interessierten, hatte auch sie Yoga gelernt, weil sie sich sagte, wenn sie eines Tages Paul McCartney begegne (was unweigerlich passieren würde), »wäre es nett, wenn wir etwas gemeinsam hätten, was der Fall ist, wenn ich ‘ne Ahnung von diesem Yogascheiß habe«.

Anstatt zu meditieren, fragte sie jetzt: »Was hätte die Kuh wohl getan, wenn ich gesagt hätte: >Mrs. Bowmaine, die anderen Kinder mögen Tammy nicht, weil sie sich von dem Aal hat bumsen lassen und ihm bei der Suche nach weiteren Opfern geholfen hat, so daß sie aus unserer Sicht der Feind ist!?< Wie hätte die Bowmaine reagiert, wenn ich ihr das hingeknallt hätte?«

»Sie hätte dich ein verlogenes Aas genannt«, antwortete Laura und ließ sich rücklings auf ihr wackeliges Bett fallen.

»Zweifellos! Und dann hätte sie mich zum Mittagessen verspeist. Habt ihr gesehen, wie unförmig sie geworden ist? Sie wird jede Woche fetter. Eine Riesin dieser Art ist gefährlich: eine heißhungrige Allesfresserin, die imstande ist, das nächste Kind mit Haut und Haar so beiläufig zu verschlingen, wie sie ‘ne Familienpackung Eiscreme verdrücken würde.«

Ruth stand am Fenster und blickte auf den Spielplatz hinab. »Wie die anderen Kinder Tammy behandeln, ist nicht fair«, meinte sie.

»Das Leben ist nicht fair«, sagte Laura.

»Das Leben ist aber auch keine Kinderparty«, stellte Thelma fest. »Jesus, Shane, werd bloß nicht philosophisch, wenn du nur Phrasen dreschen willst. Du weißt, daß wir hier Phrasen kaum weniger hassen, als wir’s hassen, das Radio aufzudrehen und Bobby Gentrie seine Ode to Billy Joe singen zu hören.«

Als Tammy eine Stunde später einzog, war Laura nervös. Schließlich hatte sie Sheener umgebracht, und Tammy war von ihm abhängig gewesen. Sie rechnete damit, daß Tammy zornig und verbittert sein würde, aber die Blondine begrüßte sie nur mit einem aufrichtigen, scheuen und ergreifend traurigen Lächeln.

Nach zwei Tagen bei ihnen stellte sich allmählich heraus, daß Tammy dem Verlust der anormalen Zuneigung des Aals mit einer Art perverser Trauer, aber auch mit gewisser Erleichterung begegnete. Ihr hitziges Temperament, das an die Oberfläche gekommen war, als sie Lauras Bücher zerfetzte, war abgekühlt. Tammy war wieder das farblose, schmächtige, unscheinbare Mädchen, das Laura an ihrem ersten Tag im McIllroy Home gar nicht wie ein wirklicher Mensch vorgekommen war, sondern wie eine geisterhafte Erscheinung, die Gefahr lief, sich in körperlosen Rauch aufzulösen und vom ersten kräftigen Windstoß vollends verweht zu werden.

Nach dem Tod des Weißen Aals und Nina Dockweilers führte Dr. Boone, ein Psychotherapeut, der jeden Dienstag und Samstag ins McIllroy Home kam, mehrere halbstündige Therapiegespräche mit Laura. Boone konnte nicht glauben, daß sie imstande sein sollte, den Schock über Sheeners Überfall und Ninas tragischen Tod ohne psychischen Schaden zu verarbeiten. Lauras gewandte Beschreibung ihrer Empfindungen, der Erwachsenenwortschatz, mit dem sie schilderte, wie sie die Ereignisse in Newport Beach im Rückblick sah, stellten ihn vor immer neue Rätsel. Laura, die ohne Mutter aufgewachsen war, ihren Vater verloren hatte, in viele kritische, gefährliche Situationen geraten war - und vor allem von der wundervollen Liebe ihres Vaters profitiert hatte -, war elastisch wie ein Schwamm und nahm alles in sich auf, was das Leben ihr brachte. Aber obwohl sie leidenschaftslos über Sheener und mit einer Mischung aus Zuneigung und Trauer über Nina sprechen konnte, hielt der Psychotherapeut ihre Gelassenheit lediglich für einen Abwehrschild.

»Du träumst also von Willy Sheener?« fragte er, als sie in dem kleinen Büro, das im McIllroy für ihn reserviert war, neben ihm auf dem Sofa saß.

»Ich habe nur zweimal von ihm geträumt. Das sind natürlich Alpträume gewesen. Aber alle Kinder haben welche.«

»Du träumst auch von Nina. Sind das ebenfalls Alpträume?«

»O nein! Das sind schöne Träume.«

Er schien überrascht zu sein. »Bist du traurig, wenn du an Nina denkst?«

»Ja. Aber auch ... Ich erinnere mich daran, wieviel Spaß wir beim Einkaufen, beim Anprobieren aller möglichen Sachen gehabt haben. Ich erinnere mich daran, wie sie gelächelt und gelacht hat.«

»Fühlst du dich schuldig? Hast du Schuldgefühle wegen Ninas Tod?«

»Nein. Nina könnte vielleicht noch leben, wenn ich nicht zu ihnen gekommen und Sheener dorthin gelockt hätte, aber ich kann mich deswegen nicht schuldig fühlen. Ich habe mich sehr bemüht, ihnen eine gute Pflegetochter zu sein, und sie sind glücklich mit mir gewesen. Aber dann hat das Leben uns eine große Sahnetorte ins Gesicht geworfen - und dafür kann ich nichts. Die Sahnetorten sieht man nie kommen; eine Komödie, in der man sie kommen sieht, taugt nichts.«

»Sahnetorte?« fragt er verwirrt. »Du siehst das Leben als Komödie?«

»Teilweise.«

»Das Leben ist also nur ein Witz?«

»Nein. Das Leben ist ernst und zugleich ein Witz.«

»Aber wie kann das sein?«

»Wenn Sie das nicht wissen«, antwortete sie, »sollte ich vielleicht hier die Fragen stellen.«

Laura füllte viele Seiten ihres Tagebuchs mit Beobachtungen über Dr. Will Boone. Über ihren unbekannten Beschützer schrieb sie jedoch nichts. Sie versuchte auch, nicht mehr an ihn zu denken. Er hatte sie im Stich gelassen. Sie hatte auf ihn vertraut; seine heroischen Bemühungen, sie zu retten, hatten sie zur Überzeugung gebracht, etwas Besonderes zu sein, und ihr über den Tod ihres Vaters hinweggeholfen. Jetzt kam sie sich töricht vor, weil sie sich überhaupt je auf ihn verlassen hatte. Seinen kurzen Brief, den sie nach der Beerdigung ihres Vaters auf ihrem Schreibtisch gefunden hatte, bewahrte sie noch auf, aber sie las ihn nicht mehr. Sein mehrmaliges Eingreifen rückte mehr und mehr in den Bereich kindischer Phantasien, aus dem sie herauswachsen mußte.

Am Nachmittag des ersten Weihnachtsfeiertags kehrten sie mit den Geschenken, die sie von Wohltätigkeitsorganisationen und privaten Wohltätern bekommen hatten, in ihr Zimmer zurück. In ihrer Festtagsstimmung begannen sie Weihnachtslieder zu singen, und Laura war ebenso überrascht wie die Zwillinge, als Tammy mit einstimmte. Sie sang leise und zaghaft mit.

In den folgenden Wochen gab Tammy das Nägelkauen beinahe ganz auf. Sie war nur um weniges zugänglicher als bisher, wirkte aber ruhiger und selbstzufriedener als je zuvor.

»Vielleicht fühlt sie sich allmählich wieder sauber«, vermutete Thelma, »wenn kein Sittenstrolch mehr in der Nähe ist, der sie belästigt.«

Am Freitag, dem 12. Januar 1968, war Lauras dreizehnter Geburtstag, den sie jedoch nicht feierte. Ihr war nicht nach Feiern zumute.

Am Montag darauf mußte sie aus dem McIllroy Home in das reichlich acht Kilometer entfernte Jugendheim Caswell Hall in Anaheim übersiedeln.

Ruth und Thelma halfen ihrer Freundin, das Gepäck in die Eingangshalle hinunterzutragen. Laura hätte sich niemals vorstellen können, daß sie das McIllroy eines Tages mit solchem Bedauern verlassen würde.

»Im Mai kommen wir nach«, versicherte Thelma ihr. »Am 2. Mai werden wir dreizehn und kommen hier raus. Dann sind wir wieder zusammen.«

Als die Sozialarbeiterin aus Caswell kam, fuhr Laura nur ungern mit. Aber sie sträubte sich nicht.

Caswell Hall war eine ehemalige High School, die durch den Einbau von Schlafräumen, Spielzimmern und Personalbüros in ein Jugendheim umgewandelt worden war. Deshalb war die Heimatmosphäre dort stärker ausgeprägt als im McIllroy Home.

Caswell war auch gefährlicher als McIllroy, weil die Jugendlichen älter waren - und weil viele von ihnen bereits ein- oder mehrmals Straftaten begangen hatten. Der Handel mit Marihuana und Amphetaminen blühte, Schlägereien unter den Jungen - und sogar unter Mädchen - waren an der Tagesordnung. Wie im McIllroy bildeten sich Cliquen, aber in Caswell kamen sie nach ihrer Struktur und Funktion in gefährliche Nähe zu Straßenbanden. Diebstähle waren keine Besonderheit.

Schon nach wenigen Wochen erkannte Laura, daß es zwei Arten von Überlebenskünstlern gab: die einen, die ihre Kraft aus der Tatsache schöpften, daß sie einmal sehr geliebt worden waren; und die anderen, die nicht geliebt worden waren und statt dessen gelernt hatten, von Haß, Rachsucht und Verdächtigungen zu leben. Einerseits spöttelten diese über das Verlangen nach Zuneigung, anderseits beneideten sie jene, die der Liebe fähig waren.

Laura bewegte sich in Caswell mit äußerster Vorsicht, ohne jedoch zuzulassen, daß ihre Angst ihr Verhalten regierte. Die Schlägertypen konnten einem Angst machen, sie waren aber auch mitleiderregend und in ihrer Selbstdarstellung und mit ihren Ritualen der Gewalt sogar komisch. Laura fand keine Freundinnen wie die Ackersons, die ihren Sinn für schwarzen Humor geteilt hätten, deshalb vertraute sie das meiste nur ihrem Notizbuch an. In diesen sauber geschriebenen Monologen kehrte sie sich nach innen - und wartete darauf, daß die Ackersons dreizehn würden. Diese Zeit war für Laura eine unendlich bereichernde Periode der Selbstfindung und des wachsenden Begreifens jener tragikomischen Welt, in die sie hineingeboren worden war.

Am 30. März, einem Samstag, saß sie in Caswell lesend in ihrem Zimmer, als sie hörte, wie eine ihrer Zimmergenossinnen - ein weinerliches Mädchen namens Fran Wicken: - draußen im Flur mit einem anderen Mädchen über einen Brand sprach, bei dem Kinder umgekommen waren. Laura hörte nur mit halbem Ohr zu, bis das Wort »McIllroy« fiel.

Laura lief ein kalter Schauer über den Rücken, ihr Herzschlag jagte, und sie bekam feuchte Hände. Sie ließ das Buch fallen und stürzte auf den Flur hinaus, so daß die beiden Mädchen erschraken. »Wann? Wann hat’s gebrannt?«

»Gestern«, sagte Fran.

»Wie viele sind u-umgekommen?«

»Nicht viele, nur zwei, glaub’ ich, vielleicht auch nur eins -aber ich hab’ gehört, daß es nach verbranntem Fleisch gerochen hat. Muß doch scheußlich sein .«

Laura baute sich dicht vor Fran auf. »Wie haben sie geheißen?«

»He, laß mich doch!«

»Wie sie geheißen haben, will ich wissen!«

»Ich weiß keine Namen, Jesus, was hast du plötzlich?«

Laura wußte gar nicht, daß sie von Fran abließ und aus dem Heimgelände rannte, fand sich plötzlich mehrere Blocks weit von Caswell Hall entfernt auf der Katella Avenue wieder. Dort führte die Straße teilweise ohne Gehsteig durch ein Industrieareal, so daß Laura auf dem Bankett nach Osten weitertrabte, während der Verkehr rechts von ihr vorbeirauschte. Nach McIllroy waren es über acht Kilometer, und sie kannte die Strecke nicht, vertraute aber ihrem Instinkt, rannte solange, bis sie nicht mehr konnte, ging ein Stück und fiel dann wieder in Trab.

Vernünftigerweise hätte sie sich in Caswell an eine Heimerzieherin wenden und sie nach den Namen der bei dem Brand in McIllroy umgekommenen Kinder fragen sollen. Laura hatte jedoch die verrückte Vorstellung, das Schicksal der Ackerson-Zwillinge hinge einzig und allein von ihrer Bereitschaft ab, zu Fuß nach McIllroy zu gehen, um nach ihnen zu fragen. Wenn sie sich telefonisch nach ihnen erkundigte, würde sie erfahren, sie seien tot; nahm sie jedoch die Strapazen dieses Fußmarsches auf sich, würde sich herausstellen, daß die beiden in Sicherheit waren. Es war purer Aberglaube, aber Laura unterwarf sich ihm bedingungslos.

Die Abenddämmerung sank herab. An diesem Abend Ende März leuchtete der Himmel in einem schmutzigen Karmesin-und Purpurrot, und die Wolkenränder schienen in Flammen zu stehen, als Laura endlich das McIllroy Home vor sich hatte. Zu ihrer großen Erleichterung wies die Vorderfront des alten Herrenhauses keine Brandspuren auf.

Obwohl Laura schweißnaß war, vor Erschöpfung zitterte und bohrende Kopfschmerzen hatte, lief sie nicht langsamer, als sie das unbeschädigte Gebäude sah, sondern behielt ihr Tempo auch auf den letzten hundert Metern bei. Im Erdgeschoß be-gegneten ihr ein halbes Dutzend Heimkinder, und auf der Treppe kamen ihr drei weitere entgegen, von denen zwei sie anredeten. Aber sie blieb nicht stehen, um sie nach dem Brand zu fragen. Sie mußte sehen, was passiert war.

Erst auf dem letzten Treppenabsatz nahm Laura beißenden Rauchgeruch als Folge des Brandes wahr. Als sie oben die Korridortür aufstieß, sah sie, daß die Fenster an beiden Enden des Flurs im zweiten Stock offen standen und daß im Gang elektrische Ventilatoren aufgestellt worden waren, um die verpestete Luft nach beiden Richtungen hinauszubefördern.

Die Tür zum Zimmer der Ackersons wies einen neuen, grundierten Rahmen mit noch nicht lackiertem Blatt auf, aber die Wand um den Rahmen herum war rußig und rauchgeschwärzt. Ein handgemaltes Schild warnte vor Gefahren. Da keine Tür im McIllroy sich absperren ließ, ignorierte Laura das Warnschild, stieß die Tür auf, trat über die Schwelle und sah, was sie zu sehen befürchtet hatte: ein Bild der Verwüstung.

Die Flurbeleuchtung hinter ihr und das purpurrote Zwielicht vor den Fenstern erhellten den Raum nur unzulänglich, aber sie sah, daß die Überreste der verbrannten Möbel fortgeschafft worden waren: Das Zimmer war leer bis auf den scharfen Brandgeruch. Der rußgeschwärzte Fußboden war angekohlt, schien aber noch tragfähig zu sein. Die Wände waren rauchgeschwärzt. Die Türen des Einbaukleiderschranks waren verbrannt, einige Holzsplitter hafteten noch an den ausgeglühten Angeln.

Die Scheiben der beiden Fenster waren geplatzt oder von den vor den Flammen Flüchtenden eingeschlagen worden; sie waren provisorisch durch vor die Fenster genagelte durchsichtige Plastikfolien ersetzt worden. Zum Glück für die übrigen Heimkinder hatte das Feuer sich nicht durch die Wände, sondern durch die Zimmerdecke gefressen. Laura konnte in den Dachboden blicken. Undeutlich waren die mächtigen Eichenbalken zu erkennen. Der Brand war offenbar gelöscht worden, bevor die Flammen aus dem Dach schlugen, denn der Abendhimmel war nicht zu sehen.

Sie atmete laut keuchend - nicht nur wegen des anstrengenden Dauerlaufes von Caswell hierher, sondern weil panikartige Angst ihr die Kehle zuschnürte. Und bei jedem Atemholen bekam sie den Übelkeit erregenden Ruß- und Rauchgeschmack in die Kehle.

Als Laura in Caswell von dem Brand im McIllroy gehört hatte, war ihr die Ursache klar gewesen, obwohl sie sich diese nicht hatte eingestehen wollen. Tammy Hinsen war einmal mit einem kleinen Behälter Feuerzeugbenzin und Streichhölzern erwischt worden. Als Laura von der geplanten Selbstverbrennung gehört hatte, war ihr sofort klar gewesen, daß Tammy den ernsten Vorsatz gehabt hatte: Verbrennung wäre für sie die angemessene Form des Selbstmordes gewesen.

Bitte, lieber Gott, laß sie allein im Zimmer gewesen sein. Bitte!

Laura mußte wegen des Gestanks und Geschmacks würgen, wandte sich von dem ausgebrannten Zimmer ab und stolperte in den Korridor hinaus.

»Laura?«

Sie blickte auf und sah Rebecca Bogner vor sich stehen. Laura atmete stoßartig, weil der Brechreiz übermächtig zu werden drohte, aber sie schaffte es trotzdem irgendwie, die beiden Namen zu krächzen: »Ruth ... Thelma?«

Rebeccas trüber Blick schloß die Möglichkeit aus, die Zwillinge könnten heil geblieben sein, aber Laura wiederholte die Namen ihrer Freundinnen und merkte dabei, in welch mitleiderregendem Tonfall sie es sagte.

»Dort hinten«, sagte Rebecca und deutete zum Nordende des Korridors. »Im vorletzten Zimmer links.«

Wider besseres Wissen schöpfte Laura plötzlich neue Hoffnung, als sie zu dem angegebenen Zimmer lief. Drei der Betten waren leer, aber im vierten, auf das das Licht der Nachttischlampe fiel, lag ein Mädchen mit dem Gesicht zur Wand.

»Ruth? Thelma?«

Das Mädchen auf dem Bett stand langsam auf: eine der Ak-kersons, unverletzt. Sie war ungekämmt und trug ein mausgraues, stark verknittertes Kleid; ihr Gesicht war vom Weinen aufgequollen, sie hatte Tränen in den Augen. Sie trat einen Schritt auf Laura zu, blieb dann aber stehen, als ob selbst diese kleine Anstrengung schon zuviel wäre.

Laura stürzte auf sie zu, schloß sie in die Arme.

Sie verbarg ihr Gesicht an Lauras Schulter, drückte es gegen Lauras Hals und sprach endlich mit gequälter Stimme: »Oh, ich wollte, ich wär’s gewesen, Shane! Warum bin’s nicht ich gewesen, wenn’s eine von uns hat treffen müssen?«

Bis zu dem Moment, da sie sprach, hatte Laura sie für Ruth gehalten. Laura weigerte sich noch immer, das Schlimmste zu glauben.

»Wo ist Ruthie?«

»Tot. Ruthie ist tot. Ich dachte, du wüßtest, daß meine Ruthie tot ist!«

Laura hatte das Gefühl, in ihrem Innersten zerreiße etwas. Ihr Schmerz war so überwältigend, daß er nicht einmal Tränen zuließ. Sie stand stumm und betäubt da.

Sie hielten einander lange wortlos umarmt. Draußen ging die Abenddämmerung allmählich in Nacht über. Die beiden ließen sich auf der Bettkante nieder.

An der Tür erschienen zwei weitere Mädchen. Dies war offenbar ihr Zimmer, aber Laura schickte sie mit einer Handbewegung fort.

Thelma starrte vor sich hin. »Ich bin von einem Kreischen aufgewacht«, erzählte sie mit leiser Stimme, »von einem schrecklichen Kreischen ... und von einem grellen Licht, das mich geblendet hat. Und dann ist mir klar geworden, daß unser Zimmer in Flammen stand. Tammy war in Flammen gehüllt, sie hat wie eine Fackel gebrannt! Sie hat brennend und kreischend im Bett um sich geschlagen ...«

Laura legte ihr den Arm um die Schultern und wartete schweigend.

». dann haben die Flammen sich plötzlich ausgebreitet -schschsch ging’s die Wand hinauf, ihr Bett brannte lichterloh, der Teppich hat zu brennen angefangen .«

Laura erinnerte sich, wie Tammy zu Weihnachten mit ihnen gesungen hatte und danach von Tag zu Tag ruhiger geworden war, als finde sie allmählich inneren Frieden. Jetzt war offensichtlich, daß dieser Friede die Folge ihres Entschlusses gewesen war, ihren Qualen endgültig ein Ende zu bereiten.

»Tammy hatte das Bett neben der Tür, die Tür brannte, deshalb schlug ich das Fenster über meinem Bett ein. Ich rief Ruth, sie ... s-sie hat geantwortet, sie kommt gleich, aber der Qualm war so dicht, daß ich sie nicht sehen konnte, und dann kam Heather Dorning, die in deinem früheren Bett schlief, zum Fenster, und ich half ihr raus, und dann sah ich durch den Rauch, daß Ruth versucht hatte, ihre Bettdecke über Tammy zu werfen, um die Flammen zu e-ersticken, aber die Decke hatte auch Feuer gefangen, und ich hab g-gesehen, wie Ruth ... wie Ruth ... Ruth in Flammen stand ...«

Draußen ging die purpurrote Abenddämmerung in eine sternenklare Nacht über.

Die Schatten in den Ecken des Zimmers wurden dunkler, bedrohlicher.

Der noch in der Luft hängende Brandgeruch schien stärker zu werden.

». und ich wollte hinlaufen, um sie rauszuholen, natürlich war’ ich hingelaufen, aber dann ist das F-Feuer explodiert, es hüllte das ganze Zimmer ein, und der Qualm war so schwarz und dicht, daß ich weder Ruth noch irgendwas sehen konnte ... Dann hörte ich Sirenen, laute Sirenen ganz in der Nähe, und redete mir ein, die Feuerwehr würde rechtzeitig kommen und Ruth retten, aber das ist eine L-L-Lüge gewesen, die ich einfach glauben wollte, und ... Ich hab’ sie dort drin zurückgelassen, Shane! O Gott, ich bin durchs Fenster abgehauen und hab’ Ruthie brennend, in F-F-Flammen zurückgelassen .«

»Du hast nichts anderes tun können«, versicherte Laura ihr.

»Ich hab’ Ruthie brennend zurückgelassen.«

»Du hättest ihr nicht helfen können.«

»Ich hab’ Ruthie im Stich gelassen.«

»Wem hätte es genützt, wenn du auch umgekommen wärst?«

»Ich hab’ Ruthie brennend zurückgelassen.«

Im Mai 1968, nach ihrem dreizehnten Geburtstag, kam Thelma ebenfalls nach Caswell Hall und bezog dort ein Zimmer gemeinsam mit Laura. Die Heimleitung war mit dieser Lösung einverstanden, weil Thelma unter Depressionen litt und auf keine Therapie reagierte. Vielleicht fand sie den benötigten Trost in ihrer Freundschaft mit Laura.

Laura bemühte sich monatelang verzweifelt, Thelmas Verfall aufzuhalten, ins Gegenteil zu verwandeln. Ihre Freundin wurde nachts von Alpträumen heimgesucht und quälte sich tagsüber mit Selbstvorwürfen. Die Zeit wirkte allmählich heilend, obwohl ihre Wunden sich niemals ganz schlossen. Thelmas Sinn für Humor kehrte langsam zurück, ihr Witz war wieder so ätzend wie früher, aber eine neue Art von Melancholie ergriff von ihr Besitz.

Die beiden teilten sich fünf Jahre lang ein Zimmer in Caswell Hall, bis sie aus staatlicher Vormundschaft entlassen wurden, um in Zukunft für ihr Leben ausschließlich selbst verantwortlich zu sein. In diesen Jahren hatten sie viel Spaß zusammen, das Leben war wieder schön, wenn es auch nie mehr so wurde, wie es vor dem Brand gewesen war.

11

Beherrschendes Objekt im Hauptlabor war das Tor, durch das man andere Zeitalter betreten konnte. Es bestand aus einem riesigen, trommelförmigen Zylinder von vier Meter Länge und zweieinhalb Meter Durchmesser, dessen blanke Edelstahlhülle mit polierten Kupferplatten ausgekleidet war. Der Zylinder ruhte auf Kupferblöcken einen halben Meter über dem Betonboden des Labors. Armdicke Elektrokabel führten zu ihm, und starke elektrische Felder ließen die Luft in seinem Inneren wie Wasser schimmern.

Kokoschka kehrte durch die Zeit ins Tor zurück und materialisierte sich im riesigen Zylinder. Er hatte an diesem Tag mehrere Zeitreisen unternommen, Stefan an verschiedenen Orten beschattet und endlich in Erfahrung gebracht, weshalb der Verräter so versessen darauf war, in Laura Shanes Leben einzugreifen. Jetzt trat er rasch aus dem Tor, vor dem ihn zwei Wissenschaftler und drei seiner eigenen Leute erwarteten.

»Das Mädchen hat nichts mit den Hochverratsplänen des Hurensohns, nichts mit seinen Versuchen zu tun, das Zeitreiseprojekt zu sabotieren«, stellte Kokoschka fest. »Sein Interesse an ihr ist persönlicher Natur - ein rein privates Unternehmen.«

»Nun wissen wir also, was er alles getan und weshalb er’s getan hat«, sagte einer der Wissenschaftler, »und Sie können ihn liquidieren.«

»Richtig«, bestätigte Kokoschka und trat ans Hauptprogrammierpult. »Nachdem wir jetzt alle Geheimnisse des Verräters aufgedeckt haben, können wir ihn liquidieren.«

Während Kokoschka am Programmierpult saß, um die Koordinaten eines anderen Raum-Zeit-Kontinuums einzugeben, in dem er dem Verräter auflauern konnte, beschloß er, auch Laura umzubringen. Das war keine schwere Aufgabe, die er allein erledigen konnte, weil er das Überraschungsmoment auf seiner Seite haben würde; er arbeitete ohnehin am liebsten allein, um das Vergnügen nicht mit anderen teilen zu müssen. Laura Shane stellte keine Gefahr für die Staatsführung und deren Pläne zur Umgestaltung der Zukunft der Welt dar, aber er würde zuerst sie umbringen, vor Stefans Augen, damit dem Verräter das Herz brach, bevor er es mit einer Kugel zum Stillstand brachte. Außerdem mordete Kokoschka gern.

Ein Licht im Dunkel

1

Am 12. Januar 1977, ihrem 22. Geburtstag, bekam Laura Shane mit der Post eine Kröte geschickt. Das Päckchen trug keinen Absender und enthielt kein Begleitschreiben. Als Laura die Geschenkpackung im Wohnzimmer ihres Appartements am Schreibtisch unter dem Fenster öffnete, ließ das helle Sonnenlicht des ungewöhnlich warmen Wintertages die hübsche kleine Keramikfigur aufleuchten. Die gut fünf Zentimeter große Kröte mit Stöckchen und Zylinder stand auf einem Keramiksockel, der ein Seerosenblatt darstellte.

Zwei Wochen zuvor hatte das Literaturmagazin ihrer Universität Lauras »Krötengeschichte« veröffentlicht - die Kurzgeschichte von einem Mädchen, dessen Vater phantasievolle Fabeln über einen erfundenen Sir Keith Kröterich aus England erzählte. Obwohl nur sie den wahren Hintergrund dieser Story kannte, mußte irgend jemand deren Wichtigkeit für sie intuitiv erfaßt haben, denn die grinsende Kröte mit dem Zylinder war außergewöhnlich gut verpackt. Sie war sorgfältig in Baumwoll-flies gehüllt, das mit einem roten Geschenkband verschnürt war. Darüberhinaus war sie in Kosmetiktücher gewickelt und in eine weiße Schachtel gelegt worden, die ihrerseits von zusammengeknüllten Zeitungen umgeben war und in einem festen Karton steckte. Nur um eine Keramikfigur zu schützen, die vielleicht fünf Dollar gekostet hatte, hätte sich niemand soviel Mühe gegeben - es sei denn, die sorgfältige Verpackung sollte darauf hinweisen, daß irgend jemand Lauras gefühlsmäßige Bindung zu ihrer »Krötengeschichte« zu würdigen wußte.

Um sich die Miete leisten zu können, teilte sie sich ihr Appartement in Irvine mit Meg Falcone und Julie Ishimina, zwei ihrer Kommilitoninnen im vorletzten Studienjahr, und dachte zunächst, eine von ihnen habe ihr die Kröte geschickt. Das war jedoch wenig wahrscheinlich, denn Laura war nicht eng mit ihnen befreundet. Die beiden waren mit ihrem Studium beschäftigt und hatten eigene Interessen; außerdem wohnten sie erst seit September mit Laura zusammen. Sie behaupteten, nichts von der Kröte zu wissen, und ihre Aussagen wirkten glaubwürdig.

Laura fragte sich, ob Professor Matlin, der die Redaktion des UCI-Literaturmagazins beriet, ihr die Keramikfigur geschickt haben könnte. Seit sie im zweiten Studienjahr an Matlins Seminar für kreatives Schreiben teilgenommen hatte, ermutigte er sie, ihre Begabung zu nutzen und ihren Stil zu verbessern. Da die »Krötengeschichte« ihm besonders gut gefallen hatte, konnte er ihr die Kröte als Ausdruck seiner Anerkennung geschickt haben. Aber weshalb ohne Absender? Ohne ein paar freundliche Zeilen? Und wozu die Geheimnistuerei? Nein, das war nicht Harry Matlins Art.

An der Universität hatte Laura einige Studienkollegen und -kolleginnen, aber daraus hatten sich aus Zeitmangel keine richtigen Freundschaften entwickelt. Das Studium, ihr Nebenjob und das Schreiben nahmen ihre ganze Zeit in Anspruch, sofern sie nicht aß oder schlief.

Ihr fiel niemand ein, der sich ihretwegen die Mühe gemacht hätte, die Kröte zu kaufen, einzupacken und anonym abzuschicken.

Ein Rätsel.

Am folgenden Tag hatte Laura von acht bis 14 Uhr Vorlesungen. Gegen 15.45 Uhr kam sie zu ihrem neun Jahre alten Chevy auf dem Parkplatz vor dem Hörsaalgebäude zurück, sperrte die Tür auf, glitt hinters Lenkrad - und sah zu ihrer Verblüffung eine weitere Kröte auf der Instrumentenabdeckung liegen.

Die smaragdgrüne Keramikfigur war fünf Zentimeter hoch und zehn Zentimeter lang. Die Kröte lag auf der Seite, stützte den Kopf in eine Hand und lächelte versonnen.

Laura wußte bestimmt, daß sie den Wagen versperrt hatte, und er war auch versperrt gewesen, als sie vorhin zurückgekommen war. Der geheimnisvolle Krötenverschenker hatte sich offenbar alle Mühe gegeben und die Autotür mit einem Dietrich oder Drahthaken geöffnet, um die Kröte auf so dramatische Art zurücklassen zu können.

Zu Hause erhielt die liegende Kröte einen Platz auf ihrem Nachttisch, auf dem schon die Figur mit Stöckchen und Zylinder stand. Laura verbrachte den Abend lesend im Bett. Von Zeit zu Zeit wanderte ihr Blick zu den Kröten hinüber.

Als sie am nächsten Morgen ihre Wohnung verließ, fand sie vor ihrer Tür eine kleine Schachtel. Sie enthielt eine weitere sorgfältig verpackte Kröte, diesmal aus Zinnguß, die mit einem Banjo auf einem Baumstamm saß.

Den Sommer über hatte Laura einen Ganztagsjob als Serviererin im »Hamburger Hamlet« in Costa Mesa, und während des Studienjahrs arbeitete sie dort drei Abende in der Woche. Das »Hamlet« war ein gutgehendes Hamburger-Restaurant, das zu vernünftigen Preisen gutes Essen in angenehmer Atmosphäre -Balkendecke, holzgetäfelte Wände, bequeme Stühle mit Armlehnen - bot, so daß die Gäste im allgemeinen zufriedener waren als in den Restaurants, in denen Laura früher bedient hatte.

Selbst wenn der Laden schäbig und die Gäste unfreundlich gewesen wären, hätte sie den Job behalten, denn sie brauche das Geld. An ihrem 18. Geburtstag vor vier Jahren war ihr eröffnet worden, daß ihr Vater bestimmt habe, aus seinem Nachlaß solle ein Treuhandfonds gebildet werden, auf den der Staat trotz seiner Aufwendungen im McIllroy Home und in Caswell Hall keinen Anspruch erheben dürfe. Seit damals konnte Laura über das Geld verfügen und hatte damit einen Teil ihres Studiums finanziert. Ihr Vater war jedoch nicht reich gewesen; selbst mit Zins und Zinseszinsen machte das Fondsvermögen nach sechs Jahren nur rund 12 000 Dollar aus - bei weitem nicht genug für vier Jahre Essen, Kleidung, Miete und Studiengebühren. Deshalb mußte Laura unbedingt als Serviererin dazuverdienen.

Am 16. Januar, einem Sonntag, hatte sie bereits die halbe Abendschicht im »Hamlet« hinter sich, als ein älteres Ehepaar Anfang Sechzig an einem ihrer Tische Platz nahm. Während die beiden die Speisekarte studierten, bestellten sie zwei Glas Michelob. Als Laura einige Minuten später das Bier brachte, sah sie auf dem Tisch eine Keramikkröte stehen. Vor Überraschung wäre ihr beinahe das Tablett aus der Hand gefallen. Sie starrte die beiden an, die jedoch nichts sagten, und fragte schließlich: »Sie haben mir also die Kröten geschenkt? Aber ich kenne Sie doch gar nicht - oder vielleicht doch?«

»Ah, das ist also nicht die erste?« wollte der Mann wissen.

»Das ist schon die vierte! Sie haben sie also nicht für mich mitgebracht? Aber sie ist vorhin noch nicht dagewesen. Wer hat sie hiergelassen?«

Er blinzelte seiner Frau zu, die Laura erklärte: »Sie haben einen heimlichen Verehrer, meine Liebe.«

»Wen?«

»Ein junger Mann, der dort drüben gesessen hat«, antwortete der Mann und zeigte auf einen der Tische, für die Lauras Kollegin Amy Heppleman zuständig war. Aber dort saß niemand mehr; soeben räumte ein ebenfalls hier angestellter junger Mann das gebrauchte Geschirr ab.»Sobald Sie weg waren, um unser Bier zu holen, ist er rübergekommen und hat uns gebeten, das hier für Sie zurücklassen zu dürfen.«

Diesmal war es eine als Weihnachtsmann verkleidete Kröte -allerdings ohne Bart - mit einem Spielzeugsack über der Schulter.

»Wissen Sie wirklich nicht, wer er ist?« fragte die Frau.

»Nein. Wie hat er ausgesehen?«

»Groß«, sagte der Mann. »Sehr groß und athletisch. Braunes Haar.«

»Und braune Augen«, ergänzte die Frau. »Sehr höflich.«

Laura starrte die Kröte in ihrer Hand an. »Diese Sache ist mir irgendwie ... unheimlich.«

»Unheimlich?« wiederholte die Frau. »Aber der junge Mann ist nur in Sie verknallt, meine Liebe.«

»Ob das alles ist?« fragte sie leise.

Um eine vielleicht bessere Personenbeschreibung des Krö-tenverschenkers zu erhalten, sprach sie Amy Heppleman am Salatbüfett an.

»Er hat eine Omelette mit Pilzen, einen Vollkorntoast und eine Cola gehabt«, sagte Amy, während sie mit der Salatzange aus rostfreiem Stahl zwei Schalen füllte. »Hast du ihn nicht dort sitzen gesehen?«

»Nein, er ist mir nicht aufgefallen.«

»Ein großer, kräftiger Kerl. Jeans. Blaukariertes Hemd. Zu kurzer Haarschnitt, aber sonst gar nicht übel, wenn man auf Muskelmänner steht. Ziemlich schweigsam, fast ein bißchen schüchtern.«

»Hat er mit einer Kreditkarte bezahlt?«

»Nein, bar.«

»Zum Teufel mit ihm!« sagte Laura.

Sie nahm die Weihnachtsmannkröte mit nach Hause und stellte sie zu den anderen.

Am Montagmorgen verließ Laura ihr Appartement, und wieder lag eine weiße Schachtel vor der Tür. Sie machte sie widerstrebend auf. Die Schachtel enthielt eine gläserne Kröte.

Als Laura an diesem Montag von der Uni heimkam, saß Julie Ishimina mit einer Zeitung am Tisch in der Eßnische und trank eine Tasse Kaffee. »Schon wieder eine«, sagte sie und zeigte auf ein Päckchen auf der Arbeitsfläche neben dem Ausguß. »Ist mit der Post gekommen.«

Laura riß die sorgfältig verpackte Sendung auf. Die sechste Kröte war eigentlich ein Krötenpaar - Salz- und Pfefferstreuer.

Sie stellte die beiden zu den übrigen Figuren auf ihrem Nachttisch, blieb lange auf der Bettkante sitzen und starrte ihre wachsende Sammlung stirnrunzelnd an.

An diesem Nachmittag rief sie kurz nach 17 Uhr Thelma Ak-kerson in Los Angeles an und erzählte ihr von den Kröten.

Da Thelmas Eltern ihr buchstäblich keinen Cent hinterlassen hatten, war sie gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, eines Tages zu studieren; andererseits hatte sie diese Tatsache nie bedauert, weil das akademische Leben sie nicht interessierte. Nach der High School war sie sofort nach Los Angeles gegangen, um sich im Showgeschäft als Komikerin einen Namen zu machen.

Thelma verbrachte praktisch jede Nacht bis zwei Uhr morgens in diversen Künstlerclubs - im »Improv«, im »Comedy Store« und deren Nachahmern -, bemühte sich um unbezahlte Sechsminutenauftritte, knüpfte Verbindungen an - oder hoffte, welche anzuknüpfen - und konkurrierte mit Unmengen junger Komiktalente, die wie sie ins Rampenlicht drängten.

Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitete sie tagsüber, wechselte von einem Job zum anderen und übte gelegentlich seltsame Tätigkeiten aus. Beispielsweise hatte sie als Huhn verkleidet in einer verrückten Pizzeria gesungen und bedient, ein andermal als Streikposten mehrere Mitglieder der Writers Guild West vertreten, die von ihrer Gewerkschaft zum Streik aufgerufen worden waren und es vorzogen, irgend jemandem 100 Dollar pro Tag zu zahlen, damit er - oder sie -für sie Flugblätter verteilte und in der Anwesenheitsliste unterschrieb.

Obwohl Laura und Thelma lediglich eineinhalb Stunden voneinander entfernt lebten, trafen sie sich nur zwei- oder dreimal im Jahr, gewöhnlich zu einem etwas ausgedehnteren Mittag- oder Abendessen -, weil sie beide sehr beschäftigt waren. Trotz dieser langen Zeitspannen gingen sie ebenso vertraut miteinander um wie früher und waren stets bereit, ihre intimsten Gedanken und Erlebnisse auszutauschen. »Die McIll-roy-Caswell-Verbindung«, hatte Thelma einmal festgestellt, »ist stärker als jede Blutsbruderschaft, stärker als der Zusammenhalt zwischen Mafiosi, stärker als die Bande zwischen Fred Feuerstein und Barney Geröllheimer - und diese beiden sind wirklich dicke Freunde.«

»Woraus besteht eigentlich dein Problem, Shane?« fragte Thelma jetzt, nachdem Laura ihre Story erzählt hatte. »Wie ich die Sache sehe, schwärmt irgendein großer, schüchterner Kerl für dich. Viele andere Frauen wären davon begeistert.«

»Aber steckt wirklich nicht mehr dahinter? Ist er tatsächlich nur in mich verknallt?«

»Was denn sonst?«

»Das weiß ich selbst nicht. Es ... ist mir unheimlich.«

»Unheimlich? Alle diese Kröten sind niedliche kleine Geschöpfe, stimmt’s? Du hast keine bekommen, die mordlüstern dreinblickt? Keine hat ein blutiges kleines Schlachtmesser gehabt? Oder eine kleine Kettensäge aus Keramikmaterial?«

»Nein.«

»Und er hat dir keine enthauptete Kröte geschickt, oder?«

»Nein, aber ...«

»Shane, wenn du früher auch ein ziemlich ereignisreiches Leben geführt haben magst, sind die letzten Jahre friedlich abgelaufen. Daß du den Verdacht hast, dieser Kerl könnte Charles Mansons Bruder sein, ist ganz natürlich. Aber ich möchte wetten, daß er genau das ist, was er zu sein scheint: ein Mann, der dich aus der Ferne anhimmelt, vielleicht ein bißchen schüchtern ist und eine ausgeprägte romantische Ader hat. Wie sieht dein Geschlechtsleben aus?«

»Ich habe keines«, antwortete Laura.

»Und warum nicht? Du bist keine Jungfrau mehr. Letztes Jahr hast du diesen Kerl gehabt, der .«

»Hör zu, du weißt, daß das nicht funktioniert hat.«

»Seither keiner mehr?«

»Nein. Glaubst du etwa, daß ich zur Promiskuität neige?«

»Daß ich nicht lache! Kindchen, zwei Liebhaber in zweiundzwanzig Jahren wären selbst nach päpstlicher Definition keine Promiskuität. Laß dieses Mißtrauen! Sei ein bißchen weniger starr! Laß dich einfach treiben und sieh zu, wie die Sache sich entwickelt. Vielleicht stellt er sich als der Prinz heraus, der dich wachküßt.«

»Nun ... gut, vielleicht nehme ich deinen Rat an. Vermutlich hast du recht.«

»Nur noch eines, Shane.«

»Ja?«

»An deiner Stelle würde ich in Zukunft eine 357 Magnum als Talisman in der Handtasche haben.«

»Sehr witzig!«

»Witzig gehört zu meinem Beruf.«

An den folgenden drei Tagen erhielt Laura zwei weitere Kröten, und am Samstagmorgen, dem 22. Januar, war sie verwirrt, aufgebracht und ängstlich zugleich. Daß ein heimlicher Verehrer dieses Spiel so lange treiben sollte, kam ihr unwahrscheinlich vor. Jede weitere Kröte war in ihren Augen eher eine Verhöhnung als eine Liebesgabe. Die Hartnäckigkeit des Unbekannten geriet langsam in die Nähe einer Besessenheit.

Den größten Teil der Nacht zum Sonntag verbrachte sie in einem Sessel am großen Fenster ihres abgedunkelten Wohnzimmers. Durch einen Vorhangspalt konnte sie den Eingangsbereich des Appartementgebäudes und ihre eigene Wohnungstür beobachten. Falls der Kerl nachts aufkreuzte, wollte sie ihn auf frischer Tat ertappen und zur Rede stellen. Als er jedoch nicht kam, döste sie gegen halb vier Uhr ein. Als sie morgens aufwachte, lag kein Päckchen auf der Schwelle.

Nachdem Laura geduscht und kurz gefrühstückt hatte, verließ sie das Haus und ging zu ihrem Auto, das auf einem überdachten Stellplatz hinter dem Gebäude stand. Sie wollte in die Universitätsbibliothek fahren, um dort zu studieren, und dies war ein Tag, an dem man sich lieber nicht im Freien aufhielt. Der bleigraue, wolkenverhangene Winterhimmel wirkte bedrückend - ein Gefühl, das sich noch verstärkte, als Laura auf der Instrumentenabdeckung ihres versperrten Chevy eine weitere Schachtel entdeckte. Am liebsten hätte sie vor Wut und Verzweiflung laut gekreischt.

Statt dessen setzte Laura sich ans Steuer und öffnete die Schachtel. Bisher waren die Figuren nie teuer gewesen - zehn bis 15 Dollar, manche vielleicht nur drei Dollar wert -, diesmal aber hatte der Unbekannte ihr eine Porzellanminiatur geschenkt, die mindestens 50 Dollar gekostet haben mußte. Die Verpackung interessierte Laura jedoch mehr als die Kröte: Die Schachtel war nicht neutral wie sonst immer, sondern trug den Aufdruck der Geschenkboutique »Collectibles« in der Ladenpassage an der South Coast Plaza.

Laura fuhr sofort hin, war eine Viertelstunde zu früh da, wartete auf einer Bank in der Passage und betrat als erste Kundin den Laden, als geöffnet wurde. Besitzerin und Geschäftsführerin der Boutique war Mrs. Eugenia Farvor, eine grauhaarige, zierliche Mittfünfzigerin. »Ja, wir führen solche Figuren«, bestätigte sie, nachdem sie sich Lauras knappe Erklärung angehört und die Porzellankröte betrachtet hatte, »und ich habe die hier gestern nachmittag einem jungen Mann verkauft.«

»Wissen Sie, wie er heißt?«

»Nein, leider nicht.«

»Wie hat er ausgesehen?«

»Ich kann mich gut an ihn erinnern, weil er so groß gewesen ist. Über einsneunzig, eher einsfünfundneunzig. Und sehr breitschultrig. Er war recht gut angezogen. Blauer Anzug mit Nadelstreifmuster und dezent gestreifte Krawatte. Bei seiner Größe hat er bestimmt Mühe, Konfektionskleidung zu finden.«

»Hat er bar bezahlt?«

»Mmmmm ... nein, mit einer Kreditkarte, glaube ich.«

»Haben Sie die Rechnungsdurchschrift noch?«

»Bestimmt! Bis wir sie bei den Kreditkartenorganisationen einreichen, vergehen immer ein, zwei Tage.« Mrs. Farvor führte Laura an Vitrinen mit Wedgwoodporzellan, Lalique-und Waterfordkristall, Hummelfiguren und anderen teuren Stücken vorbei zu einem winzigen Büro hinter dem Laden. Dann hatte sie plötzlich Bedenken, die Identität ihres Kunden preiszugeben. »Falls er harmlose Absichten hat, falls er Sie wirklich nur verehrt - und ich muß sagen, daß er sehr nett und freundlich gewesen ist -, würde ich ihm alles verderben. Er wird sich Ihnen bestimmt zu erkennen geben, wann er’s für richtig hält.«

Laura gab sich große Mühe, Mrs. Farvor für sich einzunehmen und ihr Mitgefühl zu wecken. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals beredter oder mit mehr Eindringlichkeit gesprochen zu haben; im allgemeinen lag es ihr besser, ihre Gefühle schriftlich auszudrücken. Echte Tränen kamen ihr dabei zu Hilfe - und überraschten Laura noch mehr als die Besitzerin der Boutique.

Laura verließ die Geschenkboutique mit seinem Namen -Daniel Packard - und seiner Telefonnummer, die von der Kreditkarte aufs Rechnungsduplikat übernommen worden waren. Sie betrat sofort eine Telefonzelle in der Ladenpassage, um ihn nachzuschlagen. Im Telefonbuch standen zwei Daniel Packards, aber der mit der angegebenen Nummer wohnte in der Newport Avenue in Tustin.

Als sie zu dem kleinen Parkplatz zurückging, setzte kalter Nieselregen ein. Laura schlug den Mantelkragen hoch, hatte aber weder Hut noch Regenschirm. Bis sie ihren Wagen erreichte, hatte sie nasse Haare und war durchgefroren. Sie bibberte auf der ganzen Fahrt von Costa Mesa nach North Tustin.

Sie rechnete damit, daß er zu Hause sein würde. Falls er Student war, hatte er sonntags keine Vorlesungen; auch ein Angestellter würde heute nicht im Büro sitzen. Und wegen des Wetters kamen viele der üblichen Wochenendhobbys der sportlichen Südkalifornier nicht in Frage.

Die angegebene Adresse war eine Wohnanlage aus acht einstöckigen Einheiten im spanischen Stil, die in einem kleinen Park angeordnet waren. Auf der Suche nach seiner Wohnung mußte Laura minutenlang auf einem gewundenen Gehweg unter tropfenden Palmen und Korallenbäumen von Block zu Block gehen. Bis sie das Appartement gefunden hatte, war ihr Haar klatschnaß, und sie zitterte vor Kälte. Dieser unbehagliche Zustand steigerte ihren Zorn und ließ sie jede Angst vergessen, so daß sie ohne Zögern an der Wohnungstür klingelte.

Er hatte offenbar nicht durch den Spion geschaut, denn als er die Tür öffnete und Laura sah, wirkte er völlig verwirrt. Er war ungefähr fünf Jahre älter als sie und tatsächlich riesig: gut 1,95 Meter groß, bestimmt 110 Kilogramm schwer und mit sportlicher Figur. Er trug Jeans und ein enges blaßblaues T-Shirt voller Öl- und Fettflecken, das seine Armmuskeln wirkungsvoll zur Geltung kommen ließ. Auch sein unrasiertes Gesicht war ölig und schmutzig, und er hatte schwarze Hände.

Laura trat vorsichtshalber einen Schritt zurück, um außer Reichweite zu sein, und fragte nur: »Warum?«

»Weil .« Er trat von einem Fuß auf den anderen, war fast zu groß für den Türrahmen, unter dem er stand. »Weil .«

»Ja?«

Er fuhr sich mit einer Hand durch sein kurzgeschnittenes Haar, ohne darauf zu achten, daß sie voll Öl waren. Sein Blick wich Laura aus. Er starrte den im Regen liegenden Innenhof an, während er sprach. »Wie ... wie sind Sie auf mich gekommen?«

»Das ist unwichtig. Wichtig ist nur, daß ich Sie nicht kenne, daß ich Sie nie zuvor gesehen habe und trotzdem eine ganze Krötensammlung zu Hause habe. Sie kommen mitten in der Nacht an meine Tür, Sie brechen meinen Wagen auf - und das geht schon wochenlang so, deshalb habe ich doch wohl das Recht, Aufklärung zu verlangen?«

Er wurde rot, sah sie aber noch immer nicht an. »Ja, natürlich«, antwortete er zögernd, »aber ich wollte ... den richtigen Zeitpunkt abwarten.«

»Der richtige Zeitpunkt wäre vor einer Woche gewesen!«

»Mmmm.«

»Los, raus mit der Sprache! Warum?«

Er betrachtete angelegentlich seine schmutzigen Hände und sagte leise: »Nun, ich ...«

»Ja?«

»Ich liebe Sie.«

Laura starrte ihn ungläubig an. Endlich erwiderte er ihren Blick. »Sie lieben mich?« fragte sie. »Aber Sie kennen mich doch gar nicht! Wie können Sie einen Menschen lieben, den Sie überhaupt nicht kennen?«

Er schaute wieder weg, fuhr sich erneut mit seiner schmierigen Hand durchs Haar und zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich auch nicht, aber es ist eben so, und ich ... äh ... nun, ich habe das Gefühl, wissen Sie, dieses Gefühl, daß ich den Rest meines Lebens gemeinsam mit Ihnen verbringen muß.«

Aus Lauras nassem Haar tropfte ihr kaltes Regenwasser ins Genick und lief ihren Rücken hinunter. Den geplanten Arbeitstag in der Bibliothek konnte sie abschreiben - wie hätte sie sich nach diesem verrückten Auftritt noch konzentrieren können? Sie war ziemlich enttäuscht darüber, daß ihr heimlicher Verehrer sich als dieser schmuddelige, verschwitzte Ochse entpuppt hatte, der sich kaum ausdrücken konnte, und sagte scharf: »Hören Sie, Mr. Packard, ich will nicht, daß Sie mir weitere Kröten schicken.«

»Nun, wissen Sie, ich möchte sie Ihnen wirklich gern schik-ken.«

»Aber ich will sie nicht! Und morgen mache ich ein Paket aus denen, die Sie mir geschickt haben. Nein, ich bringe sie noch heute zur Post.«

Er sah sie wieder an, blinzelte erstaunt und sagte: »Ich dachte, Sie hätten was für Kröten übrig.«

»Ich mag Kröten«, antwortete Laura mit wachsender Verärgerung. »Ich liebe Kröten! Ich halte sie für die possierlichsten Geschöpfe unter Gottes Himmel. Im Augenblick wünsche ich mir sogar, eine Kröte zu sein, aber ich will Ihre Kröten nicht haben. Kapiert?«

»Mmmm.«

»Belästigen Sie mich bitte nicht mehr, Mr. Packard. Manche Frauen fallen vielleicht auf Ihre unbeholfene Romantik und auf Ihren verschmitzten Macho-Charme rein, aber ich gehöre nicht zu denen und kann mich meiner Haut wehren, das dürfen Sie mir glauben. Ich bin viel energischer, als ich aussehe, und schon mit weit schlimmeren Typen als Ihnen fertig geworden.«

Sie ließ ihn stehen, trat unter dem Vordach hervor in den Regen hinaus, ging zu ihrem Wagen und fuhr nach Irvine zurück. Auf der ganzen Heimfahrt zitterte sie - nicht nur vor Kälte und Nässe, sondern auch vor Zorn. Der Kerl hatte vielleicht Nerven!

In ihrem Appartement zog sie ihre nassen Sachen aus, schlüpfte in einen Frotteebademantel und kochte sich eine Kanne Kaffee zum Aufwärmen.

Beim ersten Schluck klingelte das Telefon. Laura nahm den Hörer in der Küche ab. Packard war am Apparat.

Er redete so rasch, daß seine Sätze ohne Punkt und Komma ineinander überzugehen schienen: »Bitte legen Sie nicht auf, Sie haben recht, ich bin in solchen Dingen ziemlich dumm, ein Idiot, aber geben Sie mir nur eine Minute Zeit, um alles zu erklären. Als Sie kamen, habe ich gerade die Geschirrspülmaschine repariert, deshalb war ich so schmutzig und verschwitzt, ich mußte sie unter der Einbauküche rausziehen, eigentlich hätte der Vermieter sie reparieren lassen müssen, aber die Hausverwaltung läßt sich mit Reparaturen wochenlang Zeit, und ich bin ein guter Heimwerker, ich kann alles reparieren, es war ein regnerischer Tag, ich hatte nichts Besonderes vor, deshalb wollte ich sie selbst reparieren, ich hätte natürlich nie gedacht, daß Sie vorbeikommen würden. Ich heiße Daniel Packard, aber das wissen Sie bereits, ich bin achtundzwanzig, war bis 1973 in der Army, habe erst vor drei Jahren mein Betriebswirtschaftsstudium an der University of California in Irvine abgeschlossen und arbeite jetzt als Börsenmakler, aber ich habe einige Abendkurse an der Universität belegt, deshalb bin ich im UCI-Literaturmagazin auf Ihre Krötengeschichte gestoßen, eine großartige Story, wirklich, sie hat mich begeistert, deshalb bin ich in die Bibliothek gegangen und habe aus früheren Ausgaben alles herausgesucht, was Sie sonst noch geschrieben haben. Ich habe alles gelesen, und vieles davon ist gut gewesen, sogar verdammt gut, nicht alles, aber doch sehr vieles, und ich habe mich dabei irgendwann in Sie verliebt -nicht richtig in Sie, mehr in die Autorin, die so schön, so real geschrieben hat. Eines Abends habe ich in der Bibliothek vor einer Ihrer Storys gesessen - gebundene Zeitschriften Jahrgänge werden nur im Lesesaal ausgeliehen -, als eine Bibliothekarin neben mir stehenblieb und mich fragte, ob mir die Story gefalle. Und als ich bejahte, sagte sie: >Dort drüben sitzt die Verfasserin, falls Sie’s ihr selbst sagen wollen.< Und Sie haben nur drei Tische von mir entfernt vor einem ganzen Bücherstapel gesessen, stirnrunzelnd darin nachgeschlagen und sich Notizen gemacht - und sind wunderschön gewesen. Ich hatte gewußt, daß Sie innerlich schön sein würden, weil Ihre Geschichten schön sind, aber ich wäre nie darauf gekommen, daß Sie auch äußerlich schön sein könnten, und deshalb konnte ich Sie nicht ansprechen, weil ich in Gegenwart schöner Frauen immer linkisch und sprachlos bin, vielleicht weil meine Mutter schön, aber kalt und abweisend gewesen ist, so daß ich jetzt unbewußt fürchte, alle schönen Frauen könnten mich wie meine Mutter zurückweisen - eine ziemlich wackelige Selbstanalyse -, aber jedenfalls wäre alles viel einfacher gewesen, wenn Sie häßlich gewesen wären oder wenigstens nur durchschnittlich ausgesehen hätten. Wegen Ihrer Story bin ich auf die Idee mit den Kröten gekommen und habe den heimlichen Verehrer gespielt, um mich damit bei Ihnen einzuschmeicheln; nach der dritten oder vierten Kröte wollte ich mich zu erkennen geben, das wollte ich wirklich, aber ich hab’s immer wieder hinausgeschoben, um keine Zurückweisung zu riskieren; ich wußte, daß das verrückt war, eine Kröte nach der anderen, aber ich konnte einfach nicht damit aufhören und Sie vergessen -und andererseits konnte ich mich nicht dazu aufraffen, Sie anzusprechen. Ich wollte Sie niemals ärgern oder belästigen, das müssen Sie mir glauben, und es tut mir schrecklich leid, daß alles so gekommen ist. Und ich bitte um Verzeihung.«

Er verstummte endlich, offensichtlich am Ende seiner Kräfte.

»Also gut«, wehrte Laura ab.

»Dann gehen Sie also mit mir aus?« fragte er.

»Ja«, sagte sie und staunte über ihre eigene Reaktion.

»Abendessen und ins Kino?«

»Einverstanden.«

»Heute abend? Soll ich Sie um achtzehn Uhr abholen?«

»Okay.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, blieb sie eine Weile stehen und starrte das Telefon an. »Shane, bist du übergeschnappt?« fragte sie laut. Dann fügte sie hinzu: »Aber er hat mir erklärt, daß ich >so schön und so real< schreibe.«

Sie ging in ihr Zimmer und betrachtete die Krötensammlung auf ihrem Nachttisch. »Er ist unbeholfen und schweigsam und brabbelt im nächsten Augenblick pausenlos. Er könnte ein Psychopath, ein geistesgestörter Mörder sein, Shane.« Dann fügte sie hinzu: »Ja, das könnte er sein, aber er ist auch ein großartiger Literaturkritiker.«

Weil sie zum Essen und ins Kino gehen wollten, zog Laura einen grauen Rock mit weißer Bluse und einen kastanienbraunen Pullover an; Packard jedoch erschien, als wäre der Anlaß die Eröffnung der Opernsaison, in einem dunkelblauen Anzug, mit weißem Manschettenhemd, einer blauen Seidenkrawatte mit Goldkettchen, seidenem Einstecktuch und blitzblanken schwarzen Wingtip-Schuhen. Er trug einen Regenschirm und geleitete Laura, die eine Hand unter ihren rechten Arm gelegt, so fürsorglich zu seinem Wagen, als wäre er davon überzeugt, sie werde beim ersten Regentropfen in Auflösung übergehen oder, wenn sie etwa ausrutsche und hinfalle, wie Glas zerbrechen.

Wegen des Unterschieds ihrer Kleidung und ihres beträchtlichen Größenunterschieds - mit 1,65 Meter war Laura um 30 Zentimeter kleiner als er und brachte mit ihren 50 Kilogramm nicht einmal die Hälfte seines Gewichts auf die Waage - hatte sie fast das Gefühl, mit ihrem Vater oder einem älteren Bruder auszugehen. Sie war keineswegs zierlich, aber an seinem Arm kam sie sich geradezu winzig vor.

Im Auto war Daniel wieder ziemlich schweigsam, aber Laura machte dafür das scheußliche Wetter verantwortlich, bei dem er sich aufs Fahren konzentrieren mußte. Sie gingen in ein kleines italienisches Restaurant in Costa Mesa, in dem Laura schon mehrmals recht gut gegessen hatte. Sie nahmen Platz und erhielten Speisekarten, aber noch bevor die Bedienung fragen konnte, ob sie einen Drink wollten, sagte Daniel: »Hier ist’s nicht richtig, wir sind ins falsche Lokal geraten, wir müssen uns was anderes suchen.«

»Aber warum?« fragte sie überrascht. »Mir gefällt das Lokal. Und das Essen ist hier sehr gut.«

»Nein, hier stimmt nichts, gar nichts. Kein Stil, keine Atmosphäre. Ich möchte nicht, daß Sie glauben ... äh ... na ja, jedenfalls ist dies nicht die richtige Umgebung für unser erstes Rendezvous. Ich weiß genau das richtige Lokal, glaube ich. Tut mir leid, Miss ...«, sagte er zu der verblüfften jungen Kellnerin. ». hoffentlich habe ich Ihnen keine Unannehmlichkeiten gemacht.« Dann zog er Lauras Stuhl zurück und war ihr beim Aufstehen behilflich. »Ich weiß genau das richtige Lokal, es wird Ihnen bestimmt gefallen, ich habe noch nie dort gegessen, aber ich habe gehört, daß es sehr gut, wirklich hervorragend sein soll.« Die anderen Gäste starrten zu ihnen her, deshalb verzichtete Laura auf weitere Einwände. »Es ist auch ganz in der Nähe - nur ein paar Straßen weit entfernt.«

Sie gingen zu seinem Wagen zurück, fuhren vier Straßen weiter und parkten vor einem unprätentiös wirkenden Restaurant in einem Einkaufszentrum.

Laura kannte Daniel inzwischen gut genug, um zu wissen, daß sein Sinn für Höflichkeit erforderte, daß sie sitzenblieb, bis er ums Auto herumgegangen war und ihr die Beifahrertür aufhielt. Aber als er die Tür öffnete, sah sie, daß er in einer tiefen Pfütze stand. »Oh, Ihre Schuhe!« rief sie aus.

»Die trocknen wieder. Da, halten Sie bitte meinen Schirm über sich, dann hebe ich Sie über die Pfütze.«

Sie ließ sich verblüfft aus dem Wagen und über die Pfütze heben, als wiege sie nicht mehr als ein Federkissen. Er setzte sie auf dem Gehsteig ab und stapfte ohne Schirm zurück, um die Autotür zu schließen.

Das französische Restaurant besaß weniger Atmosphäre als das italienische, sie bekamen einen Ecktisch in der Nähe der Küche, und Daniels völlig durchnäßte Schuhe quatschten und quietschten auf dem ganzen Weg quer durchs Lokal.

»Sie holen sich bestimmt eine Lungenentzündung«, meinte Laura besorgt, als sie saßen und zwei Dry Sack on the rocks bestellt hatten.

»Niemals! Ich habe ein fabelhaftes Immunsystem. Ich werde nie krank. In Vietnam war ich mal von meiner Einheit abgeschnitten und verbrachte eine Woche bei strömendem Regen allein im Dschungel. Mir sind fast Schwimmhäute gewachsen, bis ich zu den eigenen Linien zurückfand, aber ich hatte nicht mal ‘nen Schnupfen.«

Als sie ihre Drinks schlürften, die Speisekarte studierten und bestellten, war er nicht mehr so verkrampft, wie Laura ihn bisher erlebt hatte, und konnte tatsächlich flüssig, unterhaltsam und sogar amüsant Konversation machen. Nachdem die Vorspeisen serviert worden waren - Lachs in Dillsauce für Laura, in Teig gebackene Langusten für ihn -, zeigte sich sofort, daß das Essen schrecklich war, obwohl sie hier doppelt so hohe Preise verlangten wie in dem italienischen Restaurant. Daniels Verlegenheit wuchs von Gang zu Gang, seine Fähigkeit, ein Gespräch in Gang zu halten, nahm entsprechend ab. Laura beteuerte, es schmecke köstlich, und zwang sich dazu, alles aufzuessen. Aber er ließ sich nicht täuschen.

Fast ebenso schlimm war, daß Küche und Service sehr langsam arbeiteten. Als Daniel gezahlt und Laura zum Auto zurückbegleitet hatte - wo er sie wie ein kleines Mädchen wieder über die Pfütze hob -, lief der Film, den sie hatten sehen wollen, bereits seit einer halben Stunde.

»Macht nichts«, sagte Laura, »wir gehen einfach rein und sehen uns die erste halbe Stunde anschließend in der nächsten Vorstellung an.«

»Nein, nein«, widersprach er, »so kann man sich keinen Film ansehen. Ich habe Ihnen alles verpatzt. Dabei wollte ich, daß dies ein perfekter Abend wird!«

»Wozu die Aufregung?« fragte sie. »Ich amüsiere mich gut.«

Er starrte sie ungläubig an. Sie lächelte, und er lächelte zurück, aber sein Lächeln war aufgesetzt.

»Ich bin einverstanden, wenn Sie nicht mehr ins Kino gehen wollen«, sagte sie. »Ich gehe überall hin mit.«

Er nickte, ließ den Motor an und fuhr auf die Straße hinaus. Sie waren bereits einige Minuten unterwegs, bevor Laura merkte, daß er sie nach Hause brachte.

Auf dem Weg vom Auto bis zu ihrer Wohnungstür entschul-digte Daniel sich für diesen scheußlichen Abend, und sie versicherte ihm wiederholt, sie sei keinen Augenblick lang enttäuscht gewesen. Sobald sie ihren Schlüssel ins Schloß steckte, machte er kehrt und flüchtete die Außentreppe hinab, ohne um einen Gutenachtkuß zu bitten oder Laura Gelegenheit zu geben, ihn für einen Augenblick zu sich einzuladen.

Sie trat auf den Treppenabsatz im ersten Stock und sah Daniel nach. Auf halber Höhe erfaßte ein Windstoß seinen Regenschirm und stülpte ihn um. Er kämpfte dagegen an, verlor zweimal fast das Gleichgewicht, und es dauerte bis zum Gehsteig hinunter, bis er seinen Schirm in die ursprüngliche Form gebracht hatte. Aber der nächste Windstoß stülpte ihn erneut um. In seiner Frustration warf Daniel ihn in die nächsten Büsche und schaute dann zu Laura hinauf. Inzwischen war er bis auf die Haut durchnäßt, und sie sah im blassen Licht der nächsten Straßenlampe, daß sein Anzug, völlig aus der Fasson geraten, an ihm hing. Daniel war ein Riese, aber sie hatte erlebt, wie ihn Kleinigkeiten - Pfützen, Windstöße - aus dem Gleis brachten, und das war irgendwie komisch. Sie wußte, daß sie nicht lachen durfte, aber ihr Lachen platzte auch gegen ihren Willen aus ihr heraus.

»Sie sind zu verdammt schön, Laura Shane!« rief Daniel vom Gehsteig herauf. »Gott steh mir bei, Sie sind einfach zu schön!« Damit hastete er in die Nacht davon.

Laura, die ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie unwillkürlich gelacht hatte, ging ins Bad und zog ihren Schlafanzug an. Es war erst 20.40 Uhr.

Entweder war Daniel Packard ein hoffnungsloser Invalider oder der liebste Mann, den sie seit dem Tod ihres Vaters kennengelernt hatte.

Um 21.30 Uhr klingelte das Telefon. »Gehen Sie jemals wieder mit mir aus?« fragte er.

»Ich dachte schon, Sie würden nie wieder anrufen.«

»Tun Sie’s?« »Klar.«

»Abendessen und ins Kino?« schlug er vor.

»Klingt gut.«

»In dieses scheußliche französische Restaurant gehen wir nie mehr. Tut mir leid, daß wir dort reingeraten sind, tut mir wirklich leid.«

»Wohin wir gehen, ist mir egal«, sagte sie, »wenn Sie mir versprechen, daß wir in dem Restaurant bleiben, in dem wir einmal sitzen.«

»In manchen Dingen bin ich einfach zu stur. Und wie ich Ihnen schon gesagt habe ... in Gegenwart schöner Frauen bin ich einfach unbeholfen.«

»Wegen Ihrer Mutter.«

»Richtig. Sie hat mich abgewiesen. Und meinen Vater auch. Sie hat mich niemals die geringste Wärme spüren lassen. Als ich elf war, hat sie uns verlassen.«

»Das muß weh getan haben.«

»Sie sind schöner als meine Mutter und ängstigen mich zu Tode.«

»Wie schmeichelhaft!«

»Na ja, tut mir leid, aber das hätte ein Kompliment sein sollen. Dabei sind Sie nicht halb so schön wie die Sachen, die Sie schreiben, und das ängstigt mich noch mehr. Denn was könnte ein Genie wie Sie an einem Kerl wie mir finden - außer daß ich Sie vielleicht zum Lachen bringe?«

»Nur eine Frage, Daniel.«

»Danny.«

»Nur eine Frage, Danny. Wieviel taugen Sie als Börsenmakler? Haben Sie im Beruf Erfolg?«

»In meinem Beruf bin ich erstklassig«, antwortete er mit so unüberhörbarem Stolz, daß Laura wußte, daß er die Wahrheit sagte. »Meine Kunden schwören auf mich, und ich habe selbst ein hübsches kleines Portefeuille, das seit drei Jahren überdurchschnittliche Erträge abwirft. Als Börsenanalytiker, Makler und Vermögensberater gebe ich dem Wind keine Chance, mir den Schirm umzudrehen.«

2

Am Nachmittag des Tages, an dem Stefan die Sprengladungen im Keller des Instituts angebracht hatte, unternahm er die nach seiner Planung vorletzte Zeitreise. Es war ein inoffizieller Ausflug, Ziel der 10. Januar 1988. Die Reise stand nicht auf dem Dienstplan und erfolgte ohne Wissen seiner Kollegen.

Bei seiner Ankunft schneite es in den San Bernardino Mountains leicht, aber er war mit festen Stiefeln, Lederhandschuhen und seiner Seemannsjacke für dieses Wetter gut gerüstet. Er suchte unter dichten Tannen Schutz, um dort das Ende des jede Zeitreise begleitenden heftigen Gewitters abzuwarten.

Er schaute im flackernden Lichtschein der Blitze auf seine Armbanduhr und stellte erschrocken fest, wie spät es schon war. Um Laura zu erreichen, noch bevor sie den Tod fand, blieben ihm weniger als 40 Minuten. Falls er versagte und zu spät kam, würde es keine zweite Chance für ihn geben.

Noch während die letzten grellweißen Blitze die geschlossene Wolkendecke zerrissen und der Donner von den Bergen widerhallte, kam Stefan unter den Bäumen hervor und hastete ein Schneefeld hinunter. Der knietiefe Schnee lag unter dünnem Harsch, der bei jedem Schritt einbrach, so daß er wie durch einen Sumpf watend nur mühsam vorankam. Er fiel zweimal hin, Schnee drang von oben in seine Stiefel, und der Sturmwind zerrte an ihm wie ein lebendes Wesen, das ihn vernichten wollte. Bis er das Schneefeld hinter sich hatte und über dessen Rand auf die zweispurige Staatsstraße kletterte, die in einer Richtung nach Arrowhead, in der anderen nach Big Bear führte, war er über und über mit verkrustetem Schnee bedeckt, hatte eiskalte Füße und über fünf Minuten Zeit verloren.

Die vor kurzem geräumte Straße war schneefrei bis auf dünne Schneeschleier, die sich, wechselnden Luftströmungen folgend, über den Asphalt schlängelten. Die Intensität des Sturms hatte zugenommen. Die Schneeflocken waren jetzt viel kleiner als bei Stefans Ankunft und fielen doppelt so schnell. Die Straße würde bald wieder schneeglatt sein.

Stefan sah einen Wegweiser - LAKE ARROWHEAD 1 MILE - und stellte entsetzt fest, um wieviel weiter als geplant er von Laura entfernt war.

Er blickte mit zusammengekniffenen Augen gegen den Sturmwind nach Norden und entdeckte im trübseligen Grau dieses Winternachmittags einen warmen Lichtschimmer: ein ebenerdiges Gebäude in etwa 300 Meter Entfernung rechts von ihm, vor dem Autos parkten. Er marschierte sofort in diese Richtung und hielt dabei den Kopf gesenkt, um sein Gesicht vor dem schneidend kalten Wind zu schützen.

Er mußte sich ein Auto beschaffen. Laura hatte keine halbe Stunde mehr zu leben, und es waren fast 20 Kilometer bis hin zu ihr.

3

Fünf Monate nach ihrem ersten Rendezvous und eineinhalb Monate nach Abschluß ihres Studiums an der UCI heiratete Laura Danny Packard am Samstag, dem 16. Juli 1977, vor einem Richter in dessen Amtsräumen. Die einzigen Gäste, die zugleich als Trauzeugen fungierten, waren Dannys Vater Sam und Thelma Ackerson.

Sam Packard war ein etwa 1,75 Meter großer, gutaussehender silberhaariger Mann, der im Vergleich zu seinem Sohn geradezu zerbrechlich wirkte. Während der kurzen Zeremonie mußte er immer wieder weinen, und Danny drehte sich mehrmals nach ihm um und fragte: »Alles in Ordnung, Dad?« Sam nickte jedesmal, putzte sich die Nase und forderte sie zum Weitermachen auf. Aber im nächsten Augenblick weinte er schon wieder. Danny erkundigte sich wieder, ob alles in Ordnung sei, und Sam putzte sich geräuschvoll die Nase, als imitiere er den Paarungsruf von Graugänsen. »Junger Mann«, sagte der Richter schließlich, »das sind bloß Freudentränen, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir weitermachen könnten -ich habe nämlich noch drei Paare zu trauen.«

Selbst wenn der Vater des Bräutigams nicht vor Ergriffenheit in Tränen ausgebrochen, der Bräutigam nicht ein Riese mit wachsweichem Herzen gewesen wäre, hätte Thelmas Anwesenheit die Hochzeitsparty zum denkwürdigen Ereignis gemacht. Ihr Haar war seltsam zottig geschnitten und vorn zu einem purpurrot gefärbten Schöpf hochgekämmt. Mitten im Sommer - und ausgerechnet zu einer Hochzeit - trug sie rote Lacklederpumps, eine hautenge schwarze Stretchhose, eine -absichtlich - mit aller Sorgfalt zerrissene schwarze Bluse und eine gewöhnliche Stahlkette als Gürtel. Übertrieben starkes purpurrotes Augen-Make-up, blutroter Lippenstift und ein Ohrring, der an einen Angelköder erinnerte, vervollständigten die Aufmachung.

Während Danny sich nach der Trauung mit seinem Vater unterhielt, hockte Thelma in einer Ecke der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes mit Laura zusammen und erläuterte ihr diesen Aufzug. »Das ist der Punkerlook - in England der letzte Schrei. Hier bei uns trägt das noch kein Mensch. Übrigens muß er sich auch in England erst durchsetzen, aber in ein paar Jahren laufen alle so rum. Für meine Auftritte ist er große Klasse. Ich sehe so verrückt aus, daß die Leute schon lachen, wenn ich auf die Bühne komme. Außerdem ist er gut für mich. Ich meine, wenn wir mal ehrlich sind, Shane, hab’ ich mich im Alter nicht gerade vorteilhaft entwickelt. Wäre Häßlichkeit ‘ne Krankheit, gegen die ein organisierter Feldzug geführt werden müßte, dann könnten sie mein Photo auf ihre Plakate tun. Aber der Punkerlook hat zwei große Vorteile: Man kann sich mit Frisur und Make-up so tarnen, daß keiner merkt, wie hausbak-ken man ist. Außerdem soll man ohnehin verrückt aussehen. Jesus, Shane, dein Danny ist wirklich riesig. Du hast mir am Telefon schon viel über ihn erzählt, aber so groß hab’ ich ihn mir nicht vorgestellt. Den brauchte man nur in einen Godzilla-Anzug zu stecken, auf New York loszulassen und das Ergebnis zu filmen und könnte sich teure Atelierbauten sparen. Und du liebst ihn, was?«

»Ich liebe ihn sehr«, antwortete Laura. »Er ist ebenso sanft, wie er groß ist - vielleicht nach all den Grausamkeiten, die er in Vietnam erlebt hat, oder vielleicht auch, weil er schon immer sanft gewesen ist. Er ist süß, Thelma, er ist intelligent und rücksichtsvoll, und er hält mich für eine der beste Schriftstellerinnen, die er je gelesen hat.«

»Aber als er angefangen hat, dir Kröten zu schenken, hast du ihn für ‘nen Psychopathen gehalten!«

»Eine kleine Fehleinschätzung.«

Zwei uniformierte Polizisten führten einen bärtigen jungen Mann in Handschellen durch die Eingangshalle zu einem der Gerichtssäle. Der Häftling musterte Thelma im Vorbeigehen prüfend und sagte dann laut: »He, Mama, wie wär’s mit uns?«

»Ah, der Ackerson-Charme«, flüsterte Thelma ihrer Freundin zu. »Du kriegst eine Mischung aus griechischem Gott, Teddybären und Bennett Cerf, und ich kriege eindeutige Anträge aus der Gosse. Aber wenn ich’s mir recht überlege, hab’ ich früher nicht mal die gekriegt, was darauf schließen läßt, daß meine Zeit vielleicht erst kommt.«

»Du unterschätzt dich, Thelma. Das hast du schon immer getan. Irgendwann erkennt ein ganz bestimmter Mann, was für ein Schatz du bist, und ...«

»Charles Manson - wenn er auf Bewährung entlassen wird.«

»Nein! Irgendwann wirst du so glücklich wie ich. Das weiß ich genau! Schicksal, Thelma.«

»Großer Gott, Shane, aus dir ist eine hoffnungslose Optimistin geworden! Was ist mit den Blitzen? Mit all den tiefschürfenden Gesprächen auf dem Fußboden unseres Zimmers in Caswell? Hast du die vergessen? Damals sind wir uns darüber einig gewesen, daß das Leben nichts als eine absurde Komödie ist, die gelegentlich von tragischen Blitzschlägen unterbrochen wird, um die Story besser zu gewichten und die komischen Momente deutlicher hervortreten zu lassen.«

»Vielleicht erlebe ich in Zukunft keine Tragödien mehr«, sagte Laura.

Thelma starrte sie prüfend an. »Wow! Ich kenne dich, Shane, und weiß, daß du dir darüber im klaren bist, welches gewaltige emotionale Risiko du eingehst, wenn du dir auch nur wünschst, so glücklich zu sein. Ich hoffe, daß du recht behältst, Schätzchen, und wette, daß es so ist. Ich wette, in Zukunft gibt es keine Blitze mehr für dich!«

»Danke, Thelma.«

»Und ich glaube, daß dein Danny ein Schatz ist. Aber ich will dir noch was sagen, das weit mehr zählt als bloß meine Meinung: Er hätte auch Ruthie gefallen; sie hätte ihn für einen Traummann gehalten.«

Sie hielten einander fest umarmt und waren einen Augenblick lang wieder kleine Mädchen - trotzig, aber verwundbar, selbstbewußt frech und zugleich voller Angst vor dem blinden Schicksal, das ihre gemeinsame Jugend geformt hatte.

Als sie am Sonntag, dem 24. Juli, nach einer einwöchigen Hochzeitsreise nach Santa Barbara wieder im Appartement in Tustin waren, kauften sie Lebensmittel ein und bereiteten sich gemeinsam ihr Abendessen zu: gemischten Salat, Sauerteigbrot, fertige Hackfleischklößchen aus dem Mikrowellenherd und Spaghetti. Laura hatte ihre Wohnung aufgegeben und war einige Tage vor der Hochzeit bei Danny eingezogen. Ihr gemeinsam ausgearbeiteter Plan sah vor, daß sie noch zwei, drei Jahre dort wohnen würden. (Sie hatten so häufig und so detailliert über ihre Zukunft gesprochen, daß der Plan ihnen jetzt wie ein kosmisches Betriebshandbuch vorkam, das ihnen zur Hochzeit übergeben worden war und auf das sie sich in bezug auf ihr Schicksal als Ehepaar blind verlassen konnten.) In zwei bis drei Jahren würden sie sich die Anzahlung für das richtige Haus leisten können, ohne Dannys Portefeuille angreifen zu müssen, und dann von hier ausziehen.

Sie aßen an dem kleinen Tisch in der Eßnische neben der Küche, von der aus sie in der goldenen Spätnachmittagssonne die Königspalmen im Innenhof sehen konnten, und besprachen den Kernpunkt ihres Plans, der daraus bestand, daß Danny sie beide ernähren würde, während Laura zu Hause ihren ersten Roman schrieb. »Wenn du dann reich und berühmt bist«, sagte er und wickelte Spaghetti auf seine Gabel, »gebe ich meinen Job auf und beschäftige mich nur noch damit, dein Vermögen zu verwalten.«

»Was ist, wenn ich nie reich und berühmt werde?«

»Das wirst du bestimmt.«

»Wenn ich nicht einmal einen Verleger finde?«

»Dann lasse ich mich scheiden.«

Sie warf mit einem Stück Brotrinde nach ihm. »Schuft!«

»Hexe!«

»Möchtest du noch etwas Fleisch?«

»Nicht, wenn du damit nach mir wirfst!«

»Mein Zorn ist verraucht. Ich mache gute Hackfleischklößchen, stimmt’s?«

»Sogar sehr gute«, bestätigte er.

»Findest du nicht auch, daß das gefeiert werden muß - daß du eine Frau hast, die gute Hackfleischklößchen macht?«

»Natürlich muß das gefeiert werden.«

»Komm, wir lieben uns.«

»Hier beim Abendessen?« fragte Danny überrascht.

»Nein, im Bett.« Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf.

»Komm schon! Das Essen läßt sich wieder aufwärmen.«

In diesem ersten Ehejahr liebten sie sich oft, und Laura fand in diesem körperlichen Zusammensein mehr als sexuelle Erfüllung, etwas, das weit mehr war, als sie erwartet hatte. Wenn sie mit Danny zusammen war, fühlte sie sich ihm so nahe, daß sie manchmal glaubte, völlig eins mit ihm zu sein - ein Körper, ein Verstand, ein Geist, ein Traum. Gewiß, sie liebte ihn von Herzen, aber dieses Gefühl, mit ihm eins zu sein, war mehr als Liebe - oder zumindest anders. Als sie ihre ersten gemeinsamen Weihnachten feierten, wußte sie, daß ihr Zusammengehörigkeitsgefühl auf dem lange entbehrten Bewußtsein basierte, Teil einer Familie zu sein: Danny war ihr Ehemann, sie war seine Ehefrau, und sie würden eines Tages - dem Plan nach in zwei, drei Jahren - Kinder haben, und im Schütze dieser Familie genoß sie den Frieden, den es sonst nirgends gab.

Laura hatte gedacht, tagaus, tagein glücklich, harmonisch und umsorgt zu leben und zu arbeiten müsse zu geistiger Lethargie führen, unter der ihre schriftstellerische Arbeit leiden werde, weil sie ein unausgeglichenes Leben mit Krisen und Depressionen brauche, um nicht zu erschlaffen. Aber die Vorstellung von der leiden müssenden Künstlerin war bloß ein naiver, angelesener Kinderglaube. Je glücklicher sie war, desto besser schrieb sie.

Sechs Wochen vor ihrem ersten Hochzeitstag schloß Laura ihren ersten Roman »Die Nächte von Jericho« ab und schickte ihn dem New Yorker Literaturagenten Spencer Keene, der ihre erste Anfrage einen Monat zuvor positiv beantwortet hatte. Zwei Wochen später rief Keene an, um mitzuteilen, er übernehme die Verwertung des Buches, rechne damit, die Rechte rasch zu verkaufen, und halte Laura für eine begabte Romanautorin mit großer Zukunft. Zur Überraschung des Agenten kaufte Viking, gleich der erste Verlag, dem Keene die Rechte angeboten hatte, das Buch für bescheidene, aber durchaus achtbare 15 000 Dollar, und der Vertrag wurde am Freitag, dem 14. Juli, unterzeichnet - zwei Tage vor Lauras und Dannys Hochzeitstag.

4

Das Gebäude, das er von der Straße aus entdeckt hatte, war ein Restaurant, das unter gewaltigen Ponderosa-Kiefern versteckt stand. Die mächtigen Äste der über sechzig Meter hohen Baumriesen mit ihrer tief zerfurchten Rinde trugen 15 Zentimeter lange Zapfen und bogen sich unter der Last früherer Schneefälle. Sie schützten das ebenerdige Blockhaus so gut, daß dessen Schieferdach mehr mit Kiefernadeln als mit Schnee bedeckt war. Die Fenster waren beschlagen oder mit Eisblumen überzogen, und das ins Freie fallende Licht wirkte durch diese dünne Schicht auf dem Glas angenehm warm.

Auf dem Parkplatz vor dem Gebäude standen zwei Jeeps, zwei Lieferwagen und ein Thunderbird. Stefan war froh, daß niemand ihn aus dem Restaurant sehen konnte, als er an einen der Jeeps trat, den Wagen unabgesperrt vorfand, sich hineinsetzte und die Tür schloß.

Er zog seine 9,65-mm-Pistole Walther PPK/S aus dem Schulterhalfter, den er unter seiner Seemannsjacke trug, und legte sie auf den Beifahrersitz.

Seine Füße schmerzten vor Kälte, und er hätte sich am liebsten die Zeit genommen, den Schnee aus seinen Stiefeln zu kippen. Aber er war bereits in Zeitnot und durfte keine Minute verlieren. Außerdem waren seine Füße nicht erfroren, solange er sie noch spürte; vielleicht wurden sie unter der Autoheizung wieder warm.

Der Zündschlüssel steckte nicht. Stefan schob den Fahrersitz zurück, beugte sich vor, und es gelang ihm verblüffend schnell, die Zündung kurzzuschließen.

Stefan hatte sich eben wieder aufgerichtet, als der Jeepbesit-zer, dem eine deutliche Bierfahne vorauswehte, die Wagentür aufriß. »He, was haben Sie in meinem Wagen zu suchen?«

Der Parkplatz dahinter war menschenleer. Die beiden waren im Schneetreiben allein.

Laura hatte nur noch 25 Minuten zu leben.

Die Fäuste des Jeepbesitzers packten zu. Stefan ließ sich hinter dem Lenkrad hervorziehen, griff dabei nach seiner Pistole und warf sich dem Mann sogar entgegen, so daß der andere auf dem vereisten Parkplatz rückwärtstaumelte. Beide gingen zu Boden. Stefan war obenauf und rammte dem Mann die Mündung seiner Waffe unters Kinn.

»Jesus, Mister! Nicht schießen!«

»Wir stehen jetzt auf. Langsam, verdammt noch mal, keine plötzlichen Bewegungen!«

Als sie wieder auf den Beinen waren, trat Stefan rasch hinter den Mann, faßte seine Walther am Lauf und schlug einmal zu: so fest, daß der andere das Bewußtsein verlor, aber nicht fest genug, um ihn ernstlich zu verletzen. Der Jeepbesitzer ging erneut zu Boden und blieb schlaff liegen.

Stefan sah sich um. Sie waren noch immer allein.

Er hörte keinen Verkehr auf der Straße, aber im Heulen des Sturms konnte das Motorengeräusch eines herankommenden Wagens sehr wohl untergehen.

Der Schnee fiel dichter. Stefan steckte die Pistole in eine seiner tiefen Jackentaschen und schleifte den Bewußtlosen zum nächsten Wagen. Auch der Thunderbird war nicht abgeschlossen. Er hievte den Mann auf den Rücksitz, schloß die Tür und hastete zum Jeep zurück.

Der Motor war abgestorben. Stefan schloß die Zündung nochmals kurz.

Als Stefan auf die Straße hinausfuhr, pfiff eisiger Wind durch das einen Spalt weit offene Fenster. Der Schneefall wurde zum Blizzard, der Wind wirbelte Schneewolken auf, die im Scheinwerferlicht funkelnd über die Fahrbahn stoben. Die riesigen, in Schatten gehüllten Kiefern ächzten schwankend im Sturm. Laura hatte nur noch etwas über 20 Minuten zu leben.

5

Den Vertragsabschluß für »Die Nächte von Jericho« und das ungewöhnlich harmonisch verlaufene erste Ehejahr feierten sie, indem sie ihren Hochzeitstag in Disneyland verbrachten, das sie beide liebten. Der Himmel war wolkenlos blau, die Luft heiß und trocken. Ohne sich von dem sommerlichen Massenansturm stören zu lassen, fuhren sie mit den Karibikpiraten, ließen sich mit Mickymaus fotografieren, von einem Karikaturisten zeichnen, aßen Hot Dogs, Eiscreme und gefrorene Bananen mit Schokoladeguß und tanzten abends zur Musik einer Dixie-Band auf dem New Orleans Square.

Nach Einbruch der Dunkelheit wurde der Vergnügungspark erst recht zu einem Zauberland, und sie umfuhren zum drittenmal, eng umschlungen an der Reling auf dem Oberdeck stehend, mit dem Schaufelraddampfer Tom Sawyers Insel. »Weißt du, weshalb Disneyland uns so gut gefällt?« fragte Danny. »Weil es von dieser Welt ist, aber trotzdem nicht von ihr verdorben.«

Als sie später am Carnation-Pavillon an einem Tisch unter Bäumen mit weißen Lichterketten Eis mit Früchten aßen, meinte Laura nachdenklich: »Fünfzehntausend Dollar für ein Jahr Arbeit ... nicht gerade ein Vermögen.«

»Aber auch kein Hungerlohn.« Danny schob seinen Eisbecher beiseite, beugte sich nach vorn, schob auch Lauras Eis zur Seite und griff nach ihrer Hand. »Du machst bestimmt viel Geld, weil du brillant bist, aber mir geht’s nicht um Geld, mir geht’s darum, daß du etwas Besonderes hast, das du mit mir teilst. Nein, das ist nicht ganz, was ich meine. Du hast nicht nur etwas Besonderes, du bist etwas Besonderes. Und obwohl ich’s nicht recht erklären kann, weiß ich, daß dein Wesen anderen Menschen, denen du dich mitteilst, ebensoviel Freude und Hoffnung bringen kann wie mir.«

In ihren Augen standen plötzlich Tränen. »Ich liebe dich«, flüsterte sie.

»Die Nächte von Jericho« erschienen zehn Monate später -im Mai 1979. Danny hatte darauf bestanden, daß Laura ihren Mädchennamen benützte, weil er wußte, daß sie in den schlimmen Jahren im McIllroy Home und in Caswell Hall stets ein Ziel vor Augen gehabt hatte: das Vermächtnis ihres Vaters, und vielleicht auch ihrer Mutter, die sie nie gekannt hatte, zu erfüllen: erwachsen zu werden und Erfolg zu haben. Der Roman verkaufte sich mäßig gut, wurde von keinem Buchklub ins Programm genommen, aber für eine geringe Lizenzgebühr von einem Taschenbuchverlag erworben.

»Das spielt keine Rolle«, versicherte Danny ihr. »Erfolg braucht Zeit. Er kommt, weil du bist, was du bist.«

Inzwischen arbeitete Laura längst an »Shadrach«, ihrem zweiten Roman. Sie schrieb an sechs Tagen in der Woche je zehn Stunden lang und wurde im Juli mit dem Buch fertig.

An einem Freitag schickte sie eine Kopie an Spencer Keene in New York ab und gab Danny das Original. Er sollte ihren Roman als erster lesen. Er hörte an diesem Tag früher zu arbeiten auf, begann gegen 13 Uhr in seinem Sessel im Wohnzimmer zu lesen, zog dann ins Schlafzimmer um, schlief nur vier Stunden und hatte, als er am Samstagmorgen schon um acht Uhr wieder in seinem Sessel saß, bereits zwei Drittel des Typoskripts gelesen. Aber er war nicht bereit, darüber zu sprechen. »Erst wenn ich fertig bin. Es wäre dir gegenüber unfair, ein Urteil abzugeben, bevor ich weiß, worauf du hinauswillst, und es wäre auch mir gegenüber unfair, weil du mir bei einer Diskussion bestimmt irgendwas von der weiteren Handlung verraten würdest.«

Laura beobachtete ihn zwischendurch heimlich, um zu sehen, ob er die Stirn runzelte, lächelte oder sonstwie auf die Story reagierte, und wenn er reagierte, fürchtete sie, es könnte eine falsche Reaktion sein. Um 10.30 Uhr hielt sie es zu Hause nicht mehr aus, fuhr zur South Coast Plaza, schmökerte in Buchhandlungen, aß früh zu Mittag, obwohl sie gar keinen Hunger hatte, fuhr zur Westminster Mall, machte einen Schaufensterbummel, aß ein Joghurteis, fuhr zur Orange Mall weiter, sah sich in einigen Boutiquen um, kaufte Fondants und aß die Hälfte davon. »Ab nach Hause, Shane«, sagte sie zu sich, »sonst siehst du abends wie ein Double von Orson Welles aus!«

In der Tiefgarage der Wohnanlage sah sie, daß Dannys Wagen nicht da war. Als sie die Wohnung betrat, rief sie seinen Namen, ohne eine Antwort zu bekommen.

Das Typoskript von »Shadrach« lag auf dem Eßtisch.

Laura sah sich nach einer kurzen Mitteilung Dannys um. Sie fand keine.

»Großer Gott!« sagte sie.

Ihr Buch war miserabel. Es war schaurig schlecht. Es war eine Katastrophe. Der arme Danny war irgendwo hingegangen, um sich mit einem Bier Mut anzutrinken, damit er imstande wäre, ihr zu raten, sie solle Installateur lernen, solange sie noch jung genug für einen neuen Beginn sei.

Laura hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sie hastete ins Bad, aber ihre Übelkeit klang wieder ab. Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser.

Ihr neuer Roman war eine Katastrophe.

Gut, damit mußte sie eben leben. Sie hatte geglaubt, »Shadrach« sei weit besser als »Jericho«, aber das war offenbar ein Irrtum gewesen. Also würde sie ein drittes Buch schreiben.

Laura ging in die Küche und öffnete ein Coors. Sie hatte kaum zwei Schlucke davon getrunken, als Danny heimkam -mit einem Geschenkkarton, in dem ein Basketball Platz gehabt hätte. Er stellte ihn auf den Eßtisch neben das Manuskript und warf Laura einen ernsten Blick zu. »Das ist für dich.«

Sie ignorierte den Geschenkkarton. »Sag’s mir!«

»Erst mußt du dein Geschenk auspacken.«

»Mein Gott, ist das Buch so schlecht? So mies, daß du den Schlag mit einem Geschenk abmildern mußt? Sag mir die Wahrheit! Ich halte alles aus. Augenblick!« Laura zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Jetzt kannst du loslegen! Mich wirft nichts mehr um.«

»Dein Sinn fürs Dramatische ist überentwickelt, Laura.«

»Was soll das heißen? Daß mein Buch melodramatisch ist?«

»Nicht das Buch. Du. Zumindest in diesem Augenblick. Hörst du bitte endlich auf, die am Boden zerstörte Jungautorin zu spielen, und machst dein Geschenk auf?«

»Schon gut, schon gut, wenn ich mir das Geschenk ansehen muß, bevor du redest, mache ich eben das verdammte Geschenk auf!«

Sie hob den schweren Karton auf die Knie und riß das Geschenkband ab, während Danny sich ihr gegenübersetzte und sie beobachtete.

Obwohl der Karton aus einer teuren Geschenkboutique stammte, war Laura nicht auf seinen Inhalt gefaßt: eine riesige, prachtvolle Lalique-Schale aus klarem Glas mit zwei Handgriffen, die aus je zwei hüpfenden grünen Rauchkristallkröten bestanden.

Laura sah mit großen Augen auf. »So was Schönes hab’ ich noch nie gesehen, Danny!«

»Sie gefällt dir also?«

»Mein Gott, wieviel hat sie gekostet?«

»Dreitausend.«

»Das können wir uns nicht leisten, Danny!«

»Doch, das können wir.«

»Nein, das können wir wirklich nicht. Nur weil ich ein miserables Buch geschrieben habe und du mich trösten willst ...«

»Du hast kein miserables Buch geschrieben. Du hast ein krötenwürdiges Buch geschrieben. Ein Vierkrötenbuch, wobei vier die höchsterreichbare Stufe ist. Diese Schale können wir uns genau deshalb leisten, weil du >Shadrach< geschrieben hast. Dein neuer Roman ist ausgezeichnet, Laura, weit besser als dein erster. Dieses Buch ist, was du bist, und es leuchtet.«

In ihrer Aufregung und weil sie es so eilig hatte, ihn zu umarmen, hätte sie die Dreitausenddollarschale beinahe fallen lassen.

6

Die Fahrbahn verschwand jetzt unter einer dünnen Neuschneedecke. Der Jeep hatte Allradantrieb und Schneeketten, so daß Stefan trotz der schlechten Straßenverhältnisse einigermaßen schnell vorankam.

Aber nicht schnell genug.

Nach seiner Schätzung war das Restaurant, vor dem er den Jeep gestohlen hatte, rund 20 Kilometer vom Haus der Pa-ckards entfernt, das einige Kilometer südlich von Big Bear nahe der Staatsstraße 330 stand. Die schmalen Bergstraßen waren kurvenreich und wiesen starke Steigungen und Gefällestrecken auf. Im Schneesturm war die Sicht so schlecht, daß seine Durchschnittsgeschwindigkeit bestenfalls 60 Stundenkilometer betrug. Er durfte jedoch nicht schneller fahren, denn Laura, Danny und Chris hatten überhaupt nichts davon, wenn er die Kontrolle über den Jeep verlor, von der Straße abkam und in den Tod stürzte. Bei dieser Geschwindigkeit würde er ihr Haus jedoch frühestens zehn Minuten nach ihrer Abfahrt erreichen.

Ursprünglich hatte er sie zu Hause festhalten wollen, bis die Gefahr vorüber war. Dieses Vorhaben ließ sich jetzt nicht mehr verwirklichen.

Der Januarhimmel schien von der Schneelast so tief herabgedrückt zu werden, daß es aussah, als berühre er die Wipfel der auf beiden Seiten der Straße aufragenden Baumriesen. Sturmböen schüttelten die Bäume und ließen selbst den Jeep erzittern. Schnee setzte sich an den Scheibenwischern fest und wurde rasch zu Eis. Stefan stellte die höchste Stufe der Scheibenheizung an und beugte sich nach vorn, um besser durch die unzulänglich von Eis und Schnee freigehaltene Scheibe sehen zu können.

Beim nächsten Blick auf seine Uhr stellte er fest, daß ihm weniger als eine Viertelstunde Zeit blieb. Laura, Danny und Chris stiegen jetzt in ihren Chevrolet Blazer. Vielleicht rollte der Wagen bereits aus der Einfahrt.

Er würde sie in letzter Sekunde vor dem Tod auf der Straße abfangen müssen.

Stefan bemühte sich, etwas mehr Geschwindigkeit aus dem Jeep herauszuholen, ohne aus einer Kurve getragen zu werden und in einen Abgrund zu stürzen.

7

Am 15. August 1979, fünf Wochen nach dem Tag, an dem Danny ihr die Lalique-Schale geschenkt hatte, stand Laura mittags in der Küche und machte sich eine Dose Hühnersuppe heiß, als ihr New Yorker Agent Spencer Keene anrief. Viking waren von »Shadrach« ganz begeistert und boten hunderttausend.

»Dollar?« fragte Laura.

»Natürlich Dollar«, sagte Spencer. »Denken Sie etwa Rubel? Was würden Sie dafür kriegen - vielleicht ‘ne Pelzmütze?«

»O Gott.« Sie mußte sich festhalten, weil sie plötzlich weiche Knie hatte.

»Laura, meine Liebe«, fuhr Spencer fort, »Sie müssen wissen, was am besten für Sie ist, aber wenn Viking nicht bereit sind, die hunderttausend als ihr Mindestangebot bei einer Auktion stehenzulassen, möchte ich Ihnen raten, dieses Angebot abzulehnen.«

»Hunderttausend Dollar ablehnen?« fragte sie ungläubig.

»Ich möchte das Manuskript an sechs, acht weitere Verlage schicken, einen Versteigerungstag festsetzen und abwarten, was dann passiert. Ich kann mir vorstellen, was passieren wird, Laura, weil ich glaube, daß allen das Buch so gut gefallen wird wie mir. Andererseits ... vielleicht auch nicht. Das ist eine schwierige Entscheidung, die Sie nur nach reiflicher Überlegung treffen sollten.«

Sobald Spencer aufgelegt hatte, rief Laura Danny im Büro an und berichtete ihm von dem Angebot.

»Wenn sie kein Mindestgebot daraus machen wollen, würde ich an deiner Stelle ablehnen«, riet er ihr.

»Aber können wir uns das leisten, Danny? Ich meine, mein Wagen ist elf Jahre alt und fällt fast auseinander. Und deiner ist schon fast vier Jahre alt ...«

»Hör zu: Was habe ich dir über dieses Buch gesagt? Habe ich dir nicht erklärt, daß du dieses Buch bist, daß es ein Spiegel deiner selbst ist?«

»Das ist lieb von dir, aber ...«

»An deiner Stelle würde ich das Angebot ablehnen. Hör zu, Laura, du glaubst natürlich, daß es eine Verhöhnung aller Schicksalsgötter bedeutet, hundert Mille abzulehnen - daß du ihren Zorn damit geradezu herausforderst. Aber du hast dir diesen großen Erfolg verdient, und das Schicksal wird dich nicht darum betrügen.«

Laura rief Spencer Keene an und teilte ihm ihre Entscheidung mit.

Nervös, aufgeregt und den 100 000 Dollar bereits nachtrauernd, ging sie in ihr Arbeitszimmer zurück, setzte sich an die Schreibmaschine und starrte die unfertige Kurzgeschichte eine Zeitlang an, bis ein starker Geruch nach Hühnersuppe sie daran erinnerte, daß sie die Herdplatte eingeschaltet gelassen hatte.

Laura hastete in die Küche und stellte fest, daß die Suppe bereits zu drei Vierteln verkocht und der Topfboden mit festgebrannten Nudeln bedeckt war.

Um 14.10 Uhr - 17.10 Uhr New Yorker Zeit - rief Spencer erneut an, um zu berichten, daß Viking damit einverstanden seien, die 100 000 Dollar als Mindestgebot stehen zu lassen. »Weniger als hundert Mille können Sie also mit >Shadrach< nicht verdienen. Ich habe die Auktion für den 26. September angesetzt. Ihr Buch wird ein Renner, Laura, das spüre ich!«

Für den Rest des Nachmittags versuchte sie, sich darüber zu freuen, aber ihre Befürchtungen blieben. Unabhängig davon, was bei der Versteigerung passierte, war »Shadrach« bereits ein großer Erfolg. Laura hatte keinen Grund zur Angst, konnte ihre Befürchtungen aber trotzdem nicht abschütteln.

Danny kam an diesem Tag mit einem Rosenstrauß, einer Flasche Champagner und einer Schachtel Godiva-Pralinen nach Hause. Sie saßen auf dem Sofa, tranken den Champagner, knabberten Pralinen und sprachen über die in hellem Glanz vor ihnen liegende Zukunft. Die Ängste blieben.

»Ich will weder Rosen noch Champagner noch Pralinen noch hunderttausend Dollar, sondern dich«, sagte sie schließlich. »Komm, wir gehen ins Bett, Danny.«

Sie liebten sich lange. Die Spätsommersonne ging vor den Schlafzimmerfenstern unter und wurde von einer sternenklaren Nacht abgelöst, bevor sie sich widerstrebend voneinander trennten. In der Dunkelheit neben Laura liegend, küßte Danny zärtlich ihre Brüste, ihre Kehle, ihre Augen und zuletzt ihre Lippen. Sie spürte, daß ihre Ängste verflogen waren. Vertrauliche Intimität, das Wissen, geliebt zu werden, und das Bewußtsein gemeinsamer Hoffnungen und Träume und Lebenspfade waren die eigentliche Medizin gewesen: Das große, gute Gefühl, eine Familie zu sein, das sie mit Danny gemeinsam hatte, war ein Talisman gegen alle Unbilden des Schicksals.

Den 26. September, einen Mittwoch, nahm Danny sich frei, um bei Laura zu sein, wenn die Meldungen aus New York eingingen.

Um 7.30 Uhr - 10.30 Uhr New Yorker Zeit - rief Spencer Keene an, um zu berichten. Random House habe das erste höhere Angebot abgegeben. »Hundertfünfundzwanzigtausend Dollar. Und damit geht’s erst los!«

Zwei Stunden später rief Spencer erneut an. »Jetzt sind alle beim Mittagessen, deshalb herrscht im Augenblick eine Flaute. Wir sind bei dreihundertfünfzigtausend - und sechs Verlage bieten noch mit.«

»Dreihundertfünfzigtausend?« wiederholte Laura.

Danny, der in der Küche das Frühstücksgeschirr abwusch, ließ einen Teller fallen.

Als sie den Hörer auflegte und zu Danny aufsah, fragte er grinsend: »Täusche ich mich, oder geht’s dabei um das Buch, das du für großen Mist gehalten hast?«

Als sie viereinhalb Stunden später am Eßtisch saßen und vorgaben, sich auf eine Partie Romme zu konzentrieren, wobei ihre Unaufmerksamkeit sich durch ihre Unfähigkeit verriet, die gewonnenen Punkte halbwegs richtig zusammenzuzählen, rief Spencer Keene wieder an. Danny folgte Laura in die Küche, um wenigstens zu hören, was sie sagte.

»Sitzen Sie gut, Schätzchen?« erkundigte Spencer sich.

»Ich bin bereit, Spencer. Ich brauche keinen Stuhl. Los, raus mit der Sprache!«

»Simon and Schuster haben den Zuschlag bekommen. Eine Million zweihundertfünfundzwanzigtausend Dollar.«

Laura war wie vor den Kopf geschlagen. Sie sprach weitere zehn Minuten mit Spencer, und als sie auflegte, wußte sie kaum noch, worüber sie sich nach der Nennung des Preises unterhalten hatten. Danny starrte sie erwartungsvoll an, bis ihr klar wurde, daß er nicht wußte, was sich ereignet hatte. Sie nannte ihm den Namen des Verlags und den erzielten Preis.

Die beiden starrten sich sekundenlang sprachlos an.

»Jetzt können wir uns ein Baby leisten, glaube ich«, sagte Laura schließlich.

8

Stefan kam über den letzten Hügel und hatte die knapp einen Kilometer lange verschneite Gefällestrecke vor sich, auf der es passieren würde. Über der nach Süden führenden Fahrbahn links von ihm stieg ein bewaldeter Steilhang auf. In Gegenrichtung war die Straße rechts lediglich von einem schmalen Bankett begrenzt, unter dem das Gelände in eine Schlucht abfiel. Auf diesem Straßenstück fehlten Leitplanken, die einen Sturz in die Tiefe hätten verhindern können.

Am Ende der Gefällestrecke verschwand die Straße in einer Linkskurve. Auf dem zweispurigen Stück zwischen der Hügelkuppe, über die Stefan eben gekommen war, und der Kurve unten war gegenwärtig kein Wagen unterwegs.

Nach seiner Uhr hatte Laura noch ungefähr eine Minute zu leben. Höchstens zwei.

Plötzlich wurde ihm klar, daß er nicht hätte versuchen sollen, den Packards entgegenzufahren, nachdem er sich wider Erwarten verspätet hatte. Anstatt sich zu bemühen, sie aufzuhalten, hätte er versuchen sollen, das Fahrzeug der Robertsons an einer geeigneten Stelle der Straße nach Arrowhead zu identifizieren und anzuhalten.

Dafür war’s jetzt zu spät.

Stefan hatte keine Zeit mehr, zu wenden und zurückzufahren, durfte auch nicht riskieren, den Packards weiter entgegenzufahren. Er wußte nicht genau, an welcher Stelle sie verunglücken würden - nicht auf die Sekunde genau -, aber die Katastrophe stand unmittelbar bevor. Falls er weiterfuhr und versuchte, Laura, Danny und Chris vor dieser Gefällestrecke anzuhalten, konnte es geschehen, daß sie unten in der Kurve an ihm vorbeifuhren. Dann würde er sie nicht mehr aufhalten können, bevor das von oben kommende Fahrzeug der Robertsons frontal mit ihnen zusammenstieß.

Er bremste vorsichtig, lenkte über beide Fahrspuren nach links und brachte den Jeep etwa auf halbem Gefälle so dicht am Rande des Felshangs zum Stehen, daß die Fahrertür sich nicht mehr öffnen ließ. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er den Rückwärtsgang einlegte, die Handbremse anzog, den Motor abstellte, über den Sitz rutschte und rechts ausstieg.

Eiskalte Luft und Schneegestöber zerstachen seine Haut mit tausend Nadeln, der Sturm kreischte und heulte mit vielen Stimmen durch die Berge - vielleicht mit den Stimmen der drei Schicksalsgöttinen der griechischen Mythologie, die über seinen Versuch spotteten, das von ihnen Beschlossene zu ändern.

9

Auf Vorschlag des Lektorats machte Laura sich an eine keine Mühe bereitende Überarbeitung von »Shadrach« und lieferte die Endfassung ihres Romans Mitte Dezember 1979 ab. Bei Simon and Schuster sollte das Buch dann im September 1980 erscheinen.

Laura und Danny waren in diesem Jahr so beschäftigt, daß sie das Geiseldrama im Iran und den Präsidentschaftswahlkampf nur am Rande mitbekamen und noch weniger auf die Vielzahl von Bränden, Flugzeugabstürzen, Giftunfällen, Massenmorden, Überschwemmungen, Erdbeben und anderen Tragödien achteten, von denen die Medien berichteten. Dies war das Jahr, in dem das Kaninchen einging. Dies war das Jahr, in dem Danny und sie sich ihr erstes Haus kauften - einen wahren Traum im spanischen Stil mit vier Schlafzimmern und zwei

Bädern in Orange Park Acres - und aus dem Appartement in Tustin auszogen. Laura begann »Die goldene Klinge« zu schreiben, ihren dritten Roman, und als Danny sie eines Tages fragte, wie es ginge, sagte sie: »Die reinste Affenscheiße!«, und Danny sagte: »Großartig!« Als sie einen weiteren beachtlichen Scheck für die Filmrechte von »Shadrach« erhielt, die die MGM gekauft hatte, kündigte Danny zum 1. September bei seiner Maklerfirma und wurde Lauras hauptberuflicher Vermögensverwalter. Am 21. September - drei Wochen nach Verkaufsbeginn - erschien »Shadrach« auf Platz 12 der Bestsellerliste der »New York Times«. Als Laura am 5. Oktober 1980 Christopher Robert Packard auf die Welt brachte, wurde »Shadrach« in dritter Auflage verkauft, stand in der »Times« unangefochten auf Platz acht und wurde in der Literaturbeilage dieser Ausgabe »sagenhaft gut« besprochen, wie Spencer Keene es ausdrückte.

Der Junge erblickte das Licht der Welt um 14.23 Uhr, wobei seine Mutter weit mehr Blut verlor als bei Geburten sonst üblich. Laura, deren Blutungen unter starken Schmerzen weitergingen, erhielt bis zum Abend insgesamt drei Bluttransfusionen. Sie verbrachte jedoch eine bessere Nacht als erwartet und war am Morgen schwach und übernächtigt, aber offensichtlich außer Lebensgefahr.

Am nächsten Tag erschien Thelma Ackerson während der Besuchszeit, um Mutter und Kind zu sehen. Noch immer im Punkerstil gekleidet und mit ihrer Frisur der Zeit voraus - links langes Haar mit einer weißen Strähne wie Frankensteins Braut, rechts kurzes Haar ohne Strähne -, kam sie in Lauras Privatzimmer gerauscht, steuerte als erstes auf Danny zu, umarmte ihn und rief dabei aus: »Mein Gott, bist du groß! Bestimmt ein Mutant. Gib’s zu, Packard, deine Mutter war vielleicht ein Mensch, aber dein Vater muß ein Grizzlybär gewesen sein.« Sie trat an das Bett, in dem Laura in drei Kissen gelehnt lag, und küßte sie auf beide Wangen. »Ich bin rasch an der Säuglingsabteilung vorbeigegangen und habe mir Christopher Robert durchs Fenster angesehen. Er ist süß! Aber ich glaube, daß du all die Millionen, die du mit deinen Büchern verdienst, brauchen wirst, Kleine, denn der Junge wird seinem Vater nachschlagen - und du wirst dreißigtausend im Monat brauchen, um ihn durchzufüttern. Wahrscheinlich knabbert er eure Möbel an, bis du ihn halbwegs erzogen hast.«

»Ich freue mich, daß du gekommen bist, Thelma«, sagte Laura.

»Hätte ich mir das entgehen lassen sollen? Na gut, wenn ich in einem der Mafia gehörenden Clubs in Bayonne, New Jersey, aufzutreten hätte und vertragsbrüchig werden müßte, um herfliegen zu können, würd ich’s mir vielleicht überlegen, denn diese Kerle schneiden dir die Daumen ab, wenn du Verträge brichst. Aber ich war westlich des Mississippi, als ich gestern abend davon hörte, und nur ein Atomkrieg oder ein Rendezvous mit Paul McCartney hätten mich davon abhalten können, dich zu besuchen.«

Vor fast zwei Jahren war Thelma endlich im »Improv« auf die Bühne gekommen - und hatte Erfolg gehabt. Sie hatte einen Agenten gefunden, der ihr Engagements in schäbigen drittklassigen - später zweitklassigen Clubs in ganz Amerika vermittelte. Laura und Danny waren zweimal nach Los Angeles gefahren, um sie live zu erleben, und hatten sich köstlich amüsiert. Thelma schrieb ihre Texte selbst und trug sie auf die komische Art vor, die sie schon als Kind beherrscht und seither noch verfeinert hatte. Ihr Vortrag hatte etwas Ungewöhnliches an sich, etwas, das sie zum Star machen oder zur Erfolglosigkeit verdammen konnte: eine unterschwellig spürbare Melancholie, ein Gefühl für die Tragik des Lebens, das aller Humor nicht überdecken konnte. Tatsächlich war dies eine Parallele zu der Grundhaltung von Lauras Romanen, aber was Lesern gefiel, brauchte Zuhörern, die herzhaft lachen wollten, noch lange nicht zu gefallen.

Jetzt beugte Thelma sich erneut über Laura und betrachtete sie prüfend. »He, du siehst blaß aus«, stellte sie fest. »Und diese Ringe unter den Augen ...«

»Thelma, Liebste, ich zerstöre deine Illusionen nur ungern, aber ein Baby wird nicht wirklich vom Storch gebracht. Die Mutter muß es selbst gebären - und das ist Schwerarbeit.«

Thelma musterte sie erneut und starrte danach ebenso forschend Danny an, der auf die andere Bettseite getreten war und Lauras Hand hielt. »Was ist hier nicht in Ordnung?«

Laura seufzte, verzog schmerzlich das Gesicht und veränderte ihre Stellung. »Siehst du?« sagte sie zu Danny. »Ich hab’ dir gesagt, daß sie ein Bluthund ist.«

»Es ist keine leichte Schwangerschaft gewesen, stimmt’ s?« fragte Thelma.

»Die Schwangerschaft ist nicht weiter schwierig gewesen«, antwortete Laura. »Dafür die Geburt um so mehr.«

»Du bist nicht ... fast gestorben oder so was, Shane?«

»Nein, nein, nein«, wehrte Laura ab und spürte, wie Danny ihre Hand fester umklammerte. »Nichts so Dramatisches. Wir haben von Anfang an gewußt, daß es gewisse Schwierigkeiten geben würde, aber wir haben den besten Arzt gefunden, der alles penibel überwacht hat. Aber ich ... kann keine Kinder mehr bekommen, weißt du. Christopher ist unser letztes.«

Thelma schaute zu Danny hinüber, bevor sie sich an Laura wandte und leise sagte: »Oh, das tut mir leid.«

»Halb so schlimm«, wehrte Laura mit gezwungenem Lächeln ab. »Wir haben den kleinen Chris, der wunderhübsch ist.«

Alle drei schwiegen verlegen, bis Danny feststellte: »Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen und bin fast verhungert. Wenn ihr nichts dagegen habt, verschwinde ich für eine halbe Stunde nach unten in den Coffee Shop.«

Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte Thelma wissend. »Er ist nicht wirklich hungrig, stimmt’s? Er hat nur gemerkt, daß wir Mädels ungestört miteinander schwatzen wollen.«

Laura lächelte. »Er ist ein lieber Kerl.«

Thelma klappte das Bettgitter auf der linken Seite herab. »Ich schüttle nicht deine Innereien durcheinander, wenn ich mich hier neben dich setze, oder?« fragte sie. »Du fängst nicht plötzlich an, mich mit Blut zu besudeln, Shane?«

»Ich will mich bemühen, es nicht zu tun.«

Thelma setzte sich auf die Kante des hohen Krankenhausbetts und ergriff mit beiden Händen Lauras rechte Hand. »Hör zu, ich habe >Shadrach< gelesen und finde den Roman verdammt gut. Er verkörpert genau das, was alle Schriftsteller wollen und so selten erreichen.«

»Danke, Thelma. Du bist süß.«

»Nein, ich bin abgebrüht, zynisch und eisenhart. Hör zu, das mit dem Buch ist mein Ernst. Es ist brillant. Ich habe die alte Kuh Bowmaine darin erkannt - und natürlich Tammy. Und Boone, den Psychologen vom Jugendamt. Alle unter anderem Namen, aber ich habe sie wiedererkannt. Du hast sie treffend charakterisiert, Shane. Mein Gott, manchmal hat alles so lebendig vor mir gestanden, daß mir ein kalter Schauder über den Rücken gelaufen ist und ich das Buch weglegen und einen Spaziergang in der Sonne machen mußte. Und manchmal habe ich schallend lachen müssen.«

Laura schmerzten alle Muskeln, alle Gelenke. Sie hatte nicht einmal die Kraft, sich aufzurichten und ihre Freundin zu umarmen. Deshalb sagte sie nur: »Ich liebe dich, Thelma.«

»Den Weißen Aal hast du natürlich weggelassen.«

»Den habe ich mir für ein anderes Buch aufgehoben.«

»Und mich, verdammt noch mal! Ich komme nicht in deinem Buch vor, obwohl ich die originellste Persönlichkeit bin, die du je kennengelernt hast!«

»Dich habe ich mir für ein eigenes Buch aufgehoben«, sagte Laura.

»Im Ernst?«

»Ja. Nicht fürs nächste, aber fürs übernächste.«

»Hör zu, Shane, mach mich bildhübsch, sonst verklage ich dich auf Schadenersatz in Millionenhöhe. Kapiert?«

»Ich habe verstanden.«

Thelma biß sich auf die Unterlippe. »Willst du dann auch .«

»Ja, Ruthie wird auch darin vorkommen.«

Sie blieben eine Zeitlang schweigend sitzen und hielten sich an den Händen.

Laura standen Tränen in den Augen, aber sie sah, daß ihre Freundin ebenfalls gegen die Tränen ankämpfte. »Nicht, Thelma! Sonst zerfließt dein schönes Punker-Augen-Make-up.«

Thelma hob einen Fuß bis in Höhe der Bettkante. »Sind das nicht ausgefallene Stiefel? Schwarzes Leder, spitz zulaufend, hohe Absätze und Zierketten. Damit sehe ich wie ‘ne gottverdammte Domina aus, stimmt’s?«

»Als du vorhin reingekommen bist, habe ich mich als erstes gefragt, wie viele Männer du in letzter Zeit ausgepeitscht haben magst.«

Thelma seufzte und zog geräuschvoll hoch. »Hör mir jetzt mal gut zu, Shane. Deine Begabung ist vielleicht wertvoller, als du glaubst. Du bist imstande, das Leben anderer aufs Papier zu bannen, und selbst wenn diese Menschen eines Tages sterben, ist das Papier noch da - ist ihr Leben noch da. Du kannst Gefühle zu Papier bringen, und jeder, der deine Bücher liest, kann diese Gefühle nachempfinden. Du rührst unsere Herzen an; du erinnerst uns daran, was es bedeutet, in einer aufs Verdrängen und Vergessen fixierten Welt menschlich zu sein. Deine Begabung ist ein Lebenszweck, wie ihn nur wenige besitzen. Deshalb ... nun, ich weiß, wie sehr du dir eine Familie gewünscht hast ... drei oder vier Kinder, hast du gesagt ... deshalb weiß ich, wie traurig du jetzt sein mußt. Aber du hast Danny und Christopher und deine erstaunliche Begabung - das ist schon sehr viel!«

Lauras Stimme schwankte. »Manchmal ... habe ich solche Angst.« »Angst wovor, Baby?«

»Ich wollte eine große Familie, weil . weil es dann unwahrscheinlicher ist, daß sie mir alle weggenommen werden.«

»Dir wird niemand weggenommen.«

»Wenn ich nur Danny und den kleinen Chris habe ... nur diese beiden ... da könnte irgendwas passieren.«

»Es passiert aber nichts.«

»Dann wäre ich allein.«

»Es passiert aber nichts«, wiederholte Thelma.

»Irgendwas passiert immer. So ist das Leben.«

Thelma rutschte von der Bettkante weiter zur Bettmitte, streckte sich neben ihrer Freundin aus und legte den Kopf an Lauras Schulter. »Als du gesagt hast, es sei eine schwere Geburt gewesen ... als ich gemerkt habe, wie blaß du bist ... hab’ ich Angst bekommen. Klar, ich habe Freunde in Los Angeles, aber die sind alle vom Bau. Du bist der einzige reale Mensch, der mir nahesteht, selbst wenn wir uns nicht allzu häufig sehen, und die Vorstellung, daß du beinahe .«

»Ich bin aber nicht.«

»Hätte aber sein können.« Thelma lachte humorlos. »Der Teufel soll’s holen, Shane: Wir Waisen können eben nie aus unserer Haut heraus, stimmt’s?«

Laura drückte sie an sich und streichelte ihr Haar.

Kurz nachdem Chris seinen ersten Geburtstag gefeiert hatte, lieferte Laura »Die goldene Klinge« ab. Der Roman erschien zehn Monate später, und am zweiten Geburtstag des Jungen stand das Buch auf Platz 1 der Bestsellerliste der »New York Times« - für Laura eine Premiere.

Danny verwaltete Lauras Einkommen mit soviel Geschick, Vorsicht und Scharfsinn, daß sie trotz fast erdrückend hoher Einkommensteuern damit rechnen konnten, binnen weniger Jahre nicht nur reich - reich waren sie nach den meisten Begriffen längst -, sondern schwerreich zu sein. Laura wußte nicht recht, was sie davon halten sollte. Sie hatte nie erwartet, eines Tages reich zu werden. Beim Gedanken an ihre beneidenswerten Vermögensverhältnisse hätte sie vielleicht freudig erregt oder - angesichts des Elends auf der Welt - entsetzt sein müssen, aber das viele Geld berührte sie kaum. Die materielle Sicherheit war willkommen, sie schuf Zuversicht. Aber Danny und Laura dachten nicht daran, aus ihrem hübschen Haus auszuziehen, obwohl sie sich einen Landsitz hätten leisten können. Das Geld war da, basta, und Laura dachte nicht weiter darüber nach. Das Leben bestand nicht aus Geldverdienen; ihr Leben bestand aus Danny und Chris und natürlich auch ihren Büchern.

Mit einem Kleinkind im Haus konnte und wollte Laura nicht mehr sechzig Stunden pro Woche vor ihrem PC sitzen. Chris lernte sprechen und laufen und ließ nichts von der Launenhaftigkeit und Aufsässigkeit erkennen, die Elternratgeber als normales Verhalten Zwei- bis Dreijähriger beschrieben. Er war ein lieber, aufgeweckter, wißbegieriger Junge, und Laura verbrachte möglichst viel Zeit mit ihm, ohne befürchten zu müssen, ihn dadurch zu verziehen.

»Die erstaunlichen Appelby-Zwillinge«, Lauras viertes Buch, erschien erst im Oktober 1984 - zwei Jahre nach »Die goldene Klinge«. Das Leserecho war keineswegs geringer, wie es manchmal der Fall ist, wenn ein Autor nicht jedes Jahr ein neues Buch schreibt. Die Vorbestellungen lagen höher als bei ihren bisherigen Titeln.

Am 10. Oktober saßen Laura, Danny und Chris auf den Sofas im Wohnzimmer, sahen auf Video alte Road-Runner-Cartoons an - »Brumm, brumm!« sagte Christopher jedesmal, wenn Road Runner blitzartig davonschoß - und aßen Popcorn, als Thelma in Tränen aufgelöst aus Chicago anrief. Laura nahm den Hörer in der Küche ab, aber auf dem Fernsehschirm nebenan versuchte der belagerte Kojote seinen Verfolger in die Luft zu sprengen und jagte sich dabei selbst in die Luft, so daß Laura sagte: »Danny, ich spreche lieber vom Arbeitszimmer aus.«

In den vier Jahren seit Christophers Geburt hatte Thelma Karriere gemacht und war in mehreren großen Spielkasinos in Las Vegas aufgetreten. (»He, Shane, ich muß ziemlich gut sein, denn obwohl die Serviererinnen halbnackt sind und viel Busen und Po zeigen, sehen die Kerle im Publikum manchmal tatsächlich mich an. Andererseits bin ich vielleicht nur für Schwule attraktiv.«) Im vergangenen Jahr war sie im MGM Grand im Hauptsaal aufgetreten, um das Publikum auf Dean Martin einzustimmen, und viermal zu Johnny Carsons »To-night Show« eingeladen worden. Es gab ein Filmprojekt oder sogar Pläne für eine eigene Fernsehserie, und Thelma schien kurz davor zu stehen, als Komödiantin ein Star zu werden. Im Augenblick war sie in Chicago, wo sie demnächst in einem bekannten Club als Hauptattraktion auftreten sollte.

Vielleicht war die lange Reihe positiver Ereignisse in Thel-mas und ihrem eigenen Leben schuld daran, daß Laura sofort in Panik geriet, als sie Thelma schluchzen hörte. Sie ließ sich in den Sessel hinter dem Schreibtisch fallen und griff mit zitternder Hand nach dem Telefonhörer. »Thelma? Was ist los, was hast du, was ist passiert?«

»Ich habe gerade ... dein neues Buch gelesen.«

Da Laura sich nicht vorstellen konnte, weshalb Thelma auf die »Appleby-Zwillinge« so betroffen reagieren sollte, fragte sie sich jetzt, ob ihre Charakterisierung der Zwillinge Carrie und Sandra Appleby irgendwie kränkend gewesen sein mochte. Obwohl keine der geschilderten Episoden aus Ruthies und Thelmas Leben stammte, waren die Applebys natürlich eine Kopie der Ackerson-Zwillinge. Beide waren liebevoll und mit viel Humor gezeichnet; ihre Darstellung enthielt bestimmt nichts für Thelma Beleidigendes, und Laura versuchte in ihrer Panik, ihre besten Absichten zu beteuern.

»Nein, nein, Shane, du hoffnungsloser Dummkopf!« sagte Thelma schluchzend. »Ich bin nicht beleidigt. Ich muß bloß heulen, weil dir was Wundervolles gelungen ist. Carrie Apple-by ist Ruthie, wie ich sie gekannt habe, aber in deinem Buch läßt du Ruthie lange leben. Du läßt Ruthie weiterleben, Shane, und leistest damit weit bessere Arbeit als Gott im richtigen Leben.«

Sie sprachen noch fast eine Stunde miteinander - vor allem über Ruthie, jetzt nicht mehr unter Tränen, tauschten Erinnerungen über sie aus. Danny und Chris erschienen mehrmals etwas ratlos an der offenen Tür des Arbeitszimmers, aber Laura warf ihnen lediglich Kußhände zu und telefonierte weiter, denn dies war einer jener seltenen Fälle, wo Erinnerungen an eine Tote wichtiger waren als die Bedürfnisse der Lebenden.

Zwei Wochen vor Weihnachten 1985, als Chris fünf vorbei war, begann in Südkalifornien die Regenzeit mit einem Platzregen, der Palmenwedel wie Knochen klappern ließ, die letzten Blüten von den Geranien schlug und Straßen überflutete. Chris konnte nicht im Freien spielen. Sein Vater war unterwegs, um Immobilien zu besichtigen, die eine gute Geldanlage sein konnten, und der Junge hatte keine Lust, sich allein zu beschäftigen. Er kam mit allen möglichen Ausreden zu Laura, die daraufhin um 14 Uhr den Versuch aufgab, an ihrem gegenwärtigen Roman zu arbeiten. Sie schickte ihn in die Küche, damit er die Backbleche aus dem Schrank hole, und versprach ihm, er dürfe ihr helfen, Plätzchen mit Schokoladestreusel zu backen.

Bevor sie nach unten ging, holte sie Sir Keith Kröterichs breite Stiefel, den winzigen Regenschirm und seinen karierten Schal aus der Kommode im Schlafzimmer, wo sie auf einen Tag wie diesen gewartet hatten. Auf dem Weg in die Küche ließ Laura sie in der Diele zurück.

Als Laura später ein Blech mit Plätzchen in den Backofen schob, schickte sie Chris zur Haustür, um ihn nachsehen zu lassen, ob der UPS-Paketbote eine Sendung, die sie angeblich erwartete, dort hinterlegt habe. Der Junge kam ganz aufgeregt zurück. »Mami, komm nur, sieh doch!«

In der Diele zeigte er ihr die winzigen Kleidungsstücke, und Laura sagte: »Die gehören Sir Keith, nehme ich an. Oh, habe ich vergessen, dir von unserem neuen Mieter zu erzählen? Ein vornehmer, gebildeter Kröterich aus England, der im Auftrag der Königin hier ist.«

Laura war acht gewesen, als ihr Vater Sir Keith erfunden hatte, und hatte den fabelhaften Kröterich als amüsante Phantasiegestalt akzeptiert. Chris war erst fünf und nahm ihn ernster. »Wo soll er schlafen - im Gästezimmer? Und was ist, wenn Grandpa auf Besuch kommt?«

»Wir haben Sir Keith einen Raum auf dem Dachboden vermietet«, behauptete Laura. »Wir dürfen ihn dort nicht stören oder irgend jemandem außer Daddy von ihm erzählen, weil Sir Keith mit einem Geheimauftrag Ihrer Majestät unterwegs ist.«

Chris starrte sie mit großen Augen an, und sie hätte am liebsten gelacht. Er hatte braunes Haar und braune Augen wie seine Eltern, aber das feingeschnittene Gesicht Lauras. Obwohl er noch so klein war, hatte er irgend etwas an sich, das sie vermuten ließ, er werde eines Tages in die Höhe schießen und so groß und athletisch werden wie Danny. Jetzt brachte er seine Lippen an ihr Ohr und flüsterte: »Ist Sir Keith ein Spion?«

Beim Backen, Aufräumen und Kartenspielen am Küchentisch fragte Chris den ganzen Nachmittag lang immer wieder nach Sir Keith, und Laura entdeckte, daß das Erfinden von Kindergeschichten in mancher Beziehung anstrengender war als das Schreiben von Romanen für Erwachsene.

»Hallo, wo steckt ihr?« rief Danny von der Verbindungstür zur Garage aus, als er gegen 16.30 Uhr nach Hause kam.

Chris sprang vom Küchentisch auf, an dem seine Mutter mit ihm Karten gespielt hatte, und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen. »Pssst, Daddy, Sir Keith schläft vielleicht gerade, er hat eine lange Reise hinter sich, er ist die Königin von England und spioniert auf unserem Dachboden!«

Danny runzelte die Stirn. »Kaum bin ich ein paar Stunden fort, nisten sich hier bereits schuppige britische Spione ein, die noch dazu Transvestiten sind?«

Nachdem Laura später am Abend im Bett besonders leidenschaftlich gewesen war, fragte Danny: »Was hast du heute? Du bist so ... aufgekratzt, so blendend gelaunt.«

Sie schmiegte sich unter der Decke an ihn und genoß das Gefühl, seinen nackten Körper an sich zu pressen. »Oh, ich weiß auch nicht, es liegt nur daran, daß ich lebe, daß Chris lebt, daß du lebst, daß wir zusammen sind. Und die Geschichte mit Sir Keith Kröterich.«

»Die macht dir Spaß.«

»Ja, sie macht mir Spaß. Aber das ist nicht alles. Sie ... nun, sie gibt mir irgendwie das Gefühl, daß das Leben weitergeht, daß es immer weitergeht, daß dieser Zyklus sich wiederholt -klingt verrückt, was? - und daß das Leben für uns, für uns alle noch lange weitergehen wird.«

»Na ja, wahrscheinlich hast du recht«, stimmte Danny zu. »Außer du bist in Zukunft jedesmal so energiegeladen, wenn wir uns lieben - dann bringst du mich nämlich in drei Monaten unter die Erde.«

Im Oktober 1986, als Chris sechs wurde, erschien »Endloser Fluß«, Lauras fünfter Roman, und wurde besser besprochen und verkauft als alle ihre früheren Bücher.

Ihr Lektor hatte diesen Erfolg vorausgesagt: »Ein typischer Laura-Shane-Roman - humorvoll, spannend und tragisch zugleich -, aber irgendwie nicht so düster wie die anderen, was ihn besonders reizvoll macht.«

Seit zwei Jahren waren Laura und Danny wenigstens einmal im Monat mit Chris übers Wochenende zum Lake Arrowhead und nach Big Bear in den San Bernardino Mountains gefahren, damit er lernte, daß die Welt nicht nur aus angenehmen, aber gänzlich urbanisierten und suburbanisierten Wohngebieten wie dem Orange County bestand. Da sie weiterhin als Schriftstellerin Erfolg hatte, Danny ihr Geld nach wie vor erfolgreich anlegte und Laura in letzter Zeit bereit war, ihren Optimismus auch zu leben, beschlossen sie, sich etwas zu leisten, und kauften ein zweites Haus in den Bergen.

Das Elf-Zimmer-Haus der Packards aus Naturstein und RotTannenholz stand einige Kilometer südlich von Big Bear auf einem acht Hektar großen Grundstück unweit der Staatsstraße 330. Tatsächlich war es viel luxuriöser als das Haus, in dem sie während der Woche in Orange Park Acres wohnten. Das riesige Grundstück war überwiegend mit Ponderosa-Kiefern, Tannen und kalifornischem Wacholder bewachsen, und die nächsten Nachbarn wohnten weit außer Sicht. Als sie an ihrem ersten Wochenende in den Bergen einen Schneemann bauten, erschienen am nahen Waldrand drei Hirsche und beobachteten sie neugierig.

Chris war von den Hirschen begeistert, und als er an diesem Abend zu Bett gebracht wurde, war er davon überzeugt, das seien die Hirsche gewesen, die den Schlitten des Weihnachtsmanns zogen. Hier verbringe der fröhliche dicke Mann den Rest des Jahres, behauptete er - nicht etwa am Nordpol, wie es immer hieß.

»Wind und Sterne« erschien im Oktober 1987 und war noch erfolgreicher als die vorigen. Die Verfilmung von »Endloser Fluß« kam am Thanksgiving Day in die Kinos und erzielte in der ersten Woche nach der Premiere die höchsten Einspielergebnisse aller Filme dieses Jahres.

Am 8. Januar 1988, einem Freitag, fuhren sie in dem angenehmen Bewußtsein, daß »Wind und Sterne« an diesem Sonntag zum fünften Mal die Bestsellerliste der »New York Times« anführen würde, am Nachmittag nach Big Bear, sobald Chris aus der Schule heimgekommen war. Der kommende Dienstag war Lauras 33. Geburtstag, und sie wollten ihn zu dritt vorausfeiern: hoch oben in den Bergen, mit Schnee statt dem Zuckerguß auf der Torte und dem Wind, der für Laura singen würde.

Die Hirsche hatten sich unterdessen so an sie gewöhnt, daß am Samstagmorgen ein ganzes Rudel in der Nähe des Hauses äste. Aber Chris war jetzt schon sieben, hatte in der Schule Gerüchte gehört, den Weihnachtsmann gebe es gar nicht, und neigte selbst dazu, diese Tiere für ganz gewöhnliche Hirsche zu halten.

Das Wochenende verlief perfekt, war vielleicht das beste, das sie bisher in den Bergen verbracht hatten -, aber sie mußten es vorzeitig abbrechen. Ursprünglich hatten sie am Montagmorgen um sechs Uhr abfahren wollen, um Chris direkt zur Schule zu bringen. Am späten Sonntagnachmittag zog jedoch vorzeitig ein Schneesturm auf, und obwohl sie kaum eineinhalb Stunden von den milderen Temperaturen in Küstennähe entfernt waren, sollte es in den Bergen über einen halben Meter Neuschnee geben. Um nicht eingeschneit zu werden und Chris einen Unterrichtstag versäumen zu lassen - was trotz ihres Blazers mit Allradantrieb vielleicht nicht zu vermeiden sein würde -, sperrten sie das große Haus ab und waren kurz nach 16 Uhr auf der Staatsstraße 330 nach Süden unterwegs.

Südkalifornien gehört zu den wenigen Gebieten der Welt, in denen man in weniger als zwei Stunden aus einer Winterlandschaft in subtropische Hitze fahren kann, und Laura genoß diese wunderbare Fahrt jedesmal. Die drei Packards waren mit Stiefeln, Wollsocken, Thermo-Unterwäsche, dicken Hosen, warmen Pullovern und Daunenjacken winterfest ausgerüstet, aber in eineinviertel Stunden würden sie ein milderes Klima erreichen, wo keiner mehr vermummt war, und in zwei Stunden würden die Leute wieder in Hemdsärmeln herumlaufen.

Laura fuhr den Blazer, während Danny, der neben ihr saß, mit Chris auf dem Rücksitz ein Assoziationsspiel mit Wörtern spielte, das sie auf früheren Fahrten zu ihrer Unterhaltung erfunden hatten. Rasch fallender Schnee bedeckte selbst die Straßenstücke, die auf beiden Seiten im Schutz großer Bäume lagen, und auf ungeschütztem Terrain wirbelte der Sturm Millionen von Schneeflocken über die Fahrbahn und nahm Laura manchmal fast die Sicht. Sie fuhr langsam, weil es sie nicht störte, wenn die Zwei stundenfahrt nach Hause diesmal drei oder gar vier Stunden dauerte; da sie frühzeitig aufgebrochen waren, hatten sie reichlich Zeit.

Am Ausgang der großen Kurve, einige Kilometer südlich ihres Hauses, wo die knapp einen Kilometer lange Steigung begann, sah sie einen roten Jeep entgegen der Fahrtrichtung am rechten Straßenrand parken und einen Mann in einer halblangen Seemannsjacke mitten auf der Straße stehen. Er kam ihnen bergab entgegen und winkte mit beiden Armen, sie sollten anhalten.

Danny beugte sich nach vorn, kniff die Augen zusammen, um trotz der über die Scheibe holpernden Wischer klar zu sehen, und sagte: »Er scheint ‘ne Panne zu haben und Hilfe zu brauchen.«

»Packards Patrouille greift ein!« rief Chris vom Rücksitz aus.

Als Laura das Gas wegnahm, winkte der Mann ihr aufgeregt zu, sie solle an den rechten Straßenrand fahren.

»Irgendwie kommt er mir merkwürdig vor ...«, sagte Danny.

Merkwürdig war der Mann tatsächlich: Er war ihr spezieller Beschützer. Sein unerwartetes Auftauchen nach so vielen Jahren ängstigte und erschreckte Laura.

10

Er war eben erst aus dem gestohlenen Jeep gestiegen, als der Blazer aus der Kurve am Fuß der Steilstrecke tauchte. Während er darauf zurannte, sah er, daß Laura im unteren Drittel der Steigung das Gas wegnahm und nur mehr im Schrittempo vorwärtskroch. Aber sie befand sich noch mitten auf der Straße, deshalb gab er ihr verzweifelt Zeichen, so nahe wie möglich an den rechten Straßenrand heranzufahren. Anfangs kroch sie weiter, als wisse sie nicht recht, ob er nur ein Autofahrer sei, der eine Panne hatte, oder ein gefährlicher Straßenräuber. Sobald sie jedoch so nahe heran war, daß sie sein Gesicht sehen konnte - und ihn vielleicht erkannte -, gehorchte sie sofort.

Als sie ruckartig beschleunigte, an ihm vorbeiröhrte und den Blazer nur fünf, sechs Meter unterhalb von Stefans Jeep an einer Stelle zum Stehen brachte, wo das Bankett etwas breiter war, kehrte er um, lief zurück und riß die Tür auf. »Ich weiß nicht, ob’s genügt, nicht auf der Fahrbahn zu sein. Steigt aus, klettert den Hang hinauf, beeilt euch, los!«

»He, Augenblick mal ...«, begann Danny.

»Tu, was er sagt!« rief Laura. »Schnell, Chris, raus mit dir!«

Stefan packte Lauras Hand und zerrte sie halb vom Fahrersitz. Während Danny und Chris sich beeilten, aus dem Blazer zu springen, hörte Stefan das Brummen eines schwer arbeitenden Motors, das den heulenden Wind übertönte. Er blickte die lange Steigung hinauf und beobachtete einen Kleinlaster, der über den Hügel gekommen war und jetzt bergab auf sie zurollte. Stefan zog Laura hinter sich her um den Kühler des Blazers herum.

»Los, weg von der Straße!« drängte ihr Beschützer und machte sich daran, den zusammengepreßten, mit einer Eisschicht bedeckten Schneewall zu erklettern, den Schneepflüge aufgetürmt hatten und der zu den ersten Bäumen hin steil abfiel.

Laura blickte die Steigung hinauf und sah den Kleinlaster, der noch einige hundert Meter von ihnen entfernt war, wie in Zeitlupe ins Schleudern geraten, bis er fast querstand. Hätte ihr Beschützer sie nicht aufgehalten, wären sie dem schleudernden Lastwagen genau dort begegnet und bereits von ihm gerammt worden.

Danny, der neben ihr stand und Chris auf dem Rücken hatte, erfaßte sofort die Gefahr, in der sie noch immer schwebten. Der außer Kontrolle geratene Lastwagen konnte die ganze Gefällestrecke hinunter und in ihre am Straßenrand abgestellten Fahrzeuge rasen. Danny packte Chris fester, arbeitete sich den Schneewall hoch und rief Laura zu, sie solle sich bewegen.

Sie begann hastig zu klettern, suchte Griffe und trat mit den Stiefeln Trittlöcher. Der Schneewall war nicht nur verharscht, sondern auch mit Eisbrocken durchsetzt, und an einigen Stellen lösten sich große Brocken, und Laura wäre beinahe rückwärts aufs Bankett gestürzt. Als sie dann mit ihrem Beschützer, Danny und Chris fünf Meter über der Straße auf einem schmalen, aber fast schneefreien Felsband in der Nähe der Bäume stand, hatte sie das Gefühl, ewig geklettert zu sein. Tatsächlich mußte die Angst ihr Zeitgefühl beeinträchtigt haben, denn als sie wieder auf die Straße blickte, sah sie, daß der Lastwagen noch immer auf sie zuschleuderte. Er war noch zehn Wagenlängen von ihnen entfernt, hatte sich einmal um seine Achse gedreht und kam wieder mit der Längsseite auf sie zu.

Im Schneetreiben schien das Fahrzeug sich wie in Zeitlupe zu bewegen: das Schicksal in Form einiger Tonnen Stahl. Auf seiner Ladefläche stand ein Schneemobil, das weder mit Ketten noch Gurten gesichert war; offenbar hatte der Fahrer leichtsinnigerweise darauf vertraut, daß es durch sein Gewicht stehenbleiben würde. Jetzt stieß das Schneemobil heftig gegen die Bordwände und die Rückwand des Fahrerhauses und brachte den schleudernden Kleinlaster so heftig ins Schwanken, daß ein Überschlagen wahrscheinlicher erschien als das erneute Kreiseln, das er jetzt vollführte.

Laura sah den Fahrer vergeblich mit dem Lenkrad kämpfen, sah die Frau neben ihm die Hände vors Gesicht schlagen und dachte: Mein Gott, diese armen Menschen!

Als habe ihr Beschützer ihre Gedanken erraten, rief er laut, um das Heulen des Windes zu übertönen: »Beide betrunken, keine Schneeketten!«

Wenn du soviel über sie weißt, dachte Laura, mußt du auch wissen, wer sie sind - warum hast du sie dann nicht angehalten, weshalb hast du nicht auch sie gerettet?

Mit schrecklichem Krachen bohrte der Kühler des Kleinlasters sich in die Flanke des Jeeps, und die Beifahrerin, die ihren Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte, wurde zur Hälfte durch die Windschutzscheibe geschleudert und blieb, halb aus dem Wagen hängend, liegen .

»Chris!« kreischte Laura. Aber dann sah sie, daß Danny den Jungen bereits abgesetzt hatte und ihn an sich gedrückt hielt, um zu verhindern, daß der Junge Augenzeuge des Unfalls wurde.

... Auch dieser Aufprall brachte den Lastwagen nicht zum Stehen; seine Bewegungsenergie war zu hoch, die Reifen ohne Ketten fanden auf der Schneedecke keinen Halt, doch änderte sich nun die Bewegungsrichtung des Lastwagens, dessen Heck jetzt abrupt nach rechts ausritt, so daß er rückwärts weiterschoß. Das Schneemobil durchbrach die Ladeklappe am Heck, flog in weitem Bogen von der Ladefläche, krachte in die Motorhaube des Blazers und zertrümmerte die Windschutzscheibe. Im nächsten Augenblick knallte das Heck des Kleinlasters mit solcher Gewalt gegen die Front des Blazers, daß das schwere Fahrzeug trotz angezogener Handbremse drei Meter weit zurückgeschoben wurde .

Obwohl Laura den Unfall aus sicherer Höhe über der Straße beobachtete, umklammerte sie Dannys Arm, weil sie sich entsetzt vorstellte, wie sie alle verletzt oder gar getötet worden wären, wenn sie in ihrem Wagen geblieben oder hinter ihm Schutz gesucht hätten.

... Jetzt prallte der Kleinlaster von dem Blazer ab; die blutende Frau fiel ins Fahrerhaus zurück; der demolierte Wagen, der an Geschwindigkeit verloren hatte, aber noch immer außer Kontrolle war, beschrieb in einem unheimlich graziösen Ballett des Todes einen Vollkreis, schleuderte über beide Fahrspuren, fand auf der Schneedecke keinen Halt, geriet über den ungesicherten Fahrbahnrand und verschwand sich überschlagend in der Tiefe.

Obwohl der Schrecken vorüber war, schlug Laura die Hände vors Gesicht, als könne sie dadurch das vor ihrem inneren Auge stehende Bild aussperren, wie der Kleinlaster mit seinen beiden Insassen Hunderte von Metern tief in die steile, fast unbewaldete Schlucht stürzte. Der Fahrer und seine Beifahrerin würden tot sein, bevor sie den Boden der Schlucht erreichten. Über das Tosen des Windes hinweg hörte sie, wie der Lastwagen gegen einen Felsen krachte, weiterstürzte und erneut aufschlug. Sekunden später gingen die Absturzgeräusche im wilden Heulen des Sturms unter.

Benommen rutschten und kletterten sie den Schneewall hinunter und erreichten die Straße zwischen dem Jeep und dem Blazer, wo der Schnee mit Metallstücken und Glassplittern übersät war. Unter dem Blazer, aus dessen zertrümmertem Kühler Wasser und Öl in den Schnee ausliefen, stieg Dampf auf, und der demolierte Wagen knirschte unter dem Gewicht des Schneemobils, das sich halb in die Fahrgastzelle gebohrt hatte.

Chris begann zu weinen. Laura streckte die Arme nach ihm aus. Der Junge drängte sich gegen sie, und sie hielt ihn an sich gedrückt, während er hemmungslos schluchzte.

Danny wandte sich verwirrt an ihren Retter. »Wer ... wer sind Sie, um Himmels willen?«

Laura starrte ihren Beschützer an und wollte nicht begreifen, daß er tatsächlich vor ihr stand. Sie hatte ihn seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr gesehen - seit ihrem zwölften Lebensjahr nicht mehr, als sie ihn entdeckt hatte, wie er das Begräbnis ihres Vaters vom Rande des Lorbeerwäldchens aus beobachtete. Ganz aus der Nähe hatte sie ihn zuletzt vor fast einem Vierteljahrhundert gesehen, als er den Junkie im Laden ihres Vaters erschossen hatte. Als er sie wider Erwarten nicht vor dem Aal gerettet hatte, als er die Bewältigung dieser Krise ihr überlassen hatte, war ihr Glaube an ihn wankend geworden, und ihre Zweifel hatten sich verstärkt, als er auch nichts unternommen hatte, um Nina Dockweiler - oder Ruthie - zu retten. Nach so langer Zeit war er zu einer eher mystischen als realen Traumgestalt geworden, und Laura hatte in den letzten Jahren kaum noch an ihn gedacht: Sie hatte den Glauben an ihn verloren, wie Chris jetzt den Glauben an den Weihnachtsmann verlor. Sie hatte noch immer seinen Brief ohne Unterschrift, den er nach der Beerdigung auf ihrem Schreibtisch zurückgelassen hatte. Aber sie hatte sich längst eingeredet, er stamme nicht von einem geheimnisvollen Beschützer, sondern sei vielleicht von Cora oder Tom Lance, den Freunden ihres Vaters, geschrieben worden. Jetzt hatte er sie erneut auf wunderbare Weise gerettet, und Danny wollte wissen, wer er um Himmels willen sei - und genau das interessierte auch Laura brennend.

Das merkwürdigste war, daß er genauso aussah wie damals, als er den Junkie erschossen hatte. Ganz genauso. Selbst nach so langer Zeit hatte sie ihn sofort wiedererkannt, weil er nicht gealtert war. Er schien noch immer Mitte bis Ende Dreißig zu sein. Obwohl das unmöglich war, hatten die Jahre keine Spur hinterlassen: keine Andeutung von Grau in seinem blonden Haar, keine Falten in seinem Gesicht. Obwohl er an jenem blutigen Tag in Santa Ana so alt wie ihr Vater gewesen war, gehörte er jetzt eher zu Lauras Generation.

Bevor der Mann Dannys Frage beantworten oder von ihr ablenken konnte, kam ein Auto über die Hügelkuppe und fuhr bergab auf sie zu. Es war ein neuer Pontiac mit Schneeketten, die auf dem Asphalt hell klirrten. Der Fahrer sah offenbar den beschädigten Jeep, den demolierten Blazer und die Schleuderspuren des Kleinlasters, die Schnee und Wind noch nicht verwischt hatten; er bremste - bei herabgesetzter Geschwindigkeit verwandelte das Klirren der Schneeketten sich in ein Rasseln -und fuhr herüber auf ihre Straßenseite. Anstatt jedoch auf dem Bankett zu parken, um den Verkehr nicht zu behindern, rollte der Pontiac auf der falschen Straßenseite weiter und hielt kaum fünf Meter von ihnen entfernt neben dem Heck des Jeeps an. Als der Fahrer - ein großer Mann in dunkler Kleidung - seine Tür öffnete und ausstieg, hielt er einen Gegenstand in der Hand, den Laura zu spät als Maschinenpistole erkannte.

»Kokoschka!« rief ihr Beschützer.

Während der Name fiel, eröffnete Kokoschka das Feuer.

Obwohl Dannys Militärzeit in Vietnam schon über 15 Jahre zurücklag, reagierte er mit dem Instinkt eines Soldaten. Als Querschläger von dem roten Jeep vor ihnen und dem Blazer hinter ihnen abprallten, packte er Laura und stieß sie mit Chris zwischen den beiden Fahrzeugen zu Boden.

Während Laura unter die Schußlinie fiel, sah sie, wie Danny in den Rücken getroffen wurde. Er bekam einen, vielleicht sogar zwei Treffer ab, und sie zuckte zusammen, als wäre sie selbst getroffen worden. Es warf ihn gegen den Kühler des Blazers, dann sank er auf die Knie.

Laura, die Chris schützend im Arm hielt, schrie auf und streckte die Hand nach ihrem Mann aus.

Danny lebte noch; er drehte sich sogar auf den Knien zu ihr um. Sein Gesicht war weiß wie der wirbelnde Schnee, sie hatte das seltsame und schreckliche Gefühl, keinen lebendigen Menschen, sondern ein Gespenst anzustarren. »Unter den Jeep«, forderte Danny sie auf und stieß ihre Hand weg. Seine Stimme klang feucht und halb erstickt, als habe er Blut in der Kehle. »Schnell!«

Eine der Kugeln mußte seinen Körper total durchschlagen haben, denn aus der Brust seiner blauen Daunenjacke quoll hellrotes Blut.

Als Laura zögerte, kam er auf allen vieren herangekrochen und stieß sie auf den dicht hinter ihr stehenden Jeep zu.

Ein weiterer Feuerstoß aus der Maschinenpistole hämmerte durch die frostige Winterluft.

Der Schütze würde sich zweifellos vorsichtig zur Motorhaube des Jeeps vorarbeiten und die dort Kauernden durchsieben. Trotzdem gab es für sie kein Entkommen. Versuchten sie, über den Schneewall unter die Bäume zu flüchten, würde er sie niedermähen, lange bevor sie den Schutz des Waldes erreicht hatten; überquerten sie die Straße, streckte er sie nieder, bevor sie auf der anderen Seite ankamen, wo sie ohnehin nur die steilen Felswände der Schlucht vor sich gehabt hätten; bergauf wären sie ihm entgegengelaufen; bergab hätten sie ihm den Rücken zugekehrt und sich als noch leichtere Ziele angeboten.

Die Maschinenpistole hämmerte wieder los. Autofenster zersplitterten. Karosserieblech wurde metallisch klirrend von Kugeln durchschlagen.

Laura zog Chris hinter sich nach und kroch auf den Jeep zu. Sie sah, wie ihr Beschützer sich in den Spalt zwischen der linken Seite des Fahrzeugs und dem Schneewall zwängte. Dort kauerte er unterhalb des Kotflügels außer Sicht des Mannes, den er Kokoschka genannt hatte. In seiner Angst war er nicht mehr geheimnisvoll, nicht mehr wie ein Schutzengel, sondern wie ein gewöhnlicher Mensch; er war auch kein Retter mehr, sondern hatte sich als Todesengel erwiesen, weil seine Gegenwart den Killer angelockt hatte.

Auf Dannys Drängen robbte sie in verzweifelter Hast unter den Jeep. Chris folgte ihrem Beispiel; er weinte jetzt nicht mehr, sondern war tapfer wie sein Vater. Weil sein Gesicht gegen Lauras Daunenjacke gedrückt gewesen war, hatte er nicht mitbekommen, daß Danny getroffen wurde. Zuflucht unter dem Jeep zu suchen erschien Laura zwecklos. Kokoschka würde sie auch dort aufspüren. Er konnte unmöglich so dumm sein, daß er nicht unter dem Jeep nachsah, wenn sie nirgends zu entdecken waren. Folglich gewannen sie damit nur etwas Zeit, bestenfalls eine weitere Minute Leben.

Als sie ganz unter dem Jeep war und Chris an sich gezogen hatte, um ihn mit ihrem Leib zu schützen, hörte sie von der Motorhaube her Dannys Stimme, die mit ihr sprach. »Ich liebe dich«, sagte er. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr Herz, weil sie erkannte, daß diese drei kurzen Worte zugleich ein letztes Lebewohl waren.

Stefan zwängte sich zwischen dem Jeep und dem schmutziggrauen Schneewall hindurch. Der Spalt war so eng, daß die Fahrertür sich vorhin nicht hatte öffnen lassen, aber eben breit genug, daß Stefan sich in Richtung Wagenheck hindurchzwängen konnte. Dort erwartete Kokoschka ihn hoffentlich nicht; von dort aus konnte er einen gezielten Schuß abgeben, bevor Kokoschka sich herumwarf und ihn mit seiner Maschinenpistole durchsiebte.

Kokoschka. Stefan war noch nie in seinem Leben so überrascht gewesen wie in dem Augenblick, als Kokoschka aus dem Pontiac stieg. Das bedeutete, daß man ihm im Institut als Verräter auf die Schliche gekommen war. Und daß man dort auch wußte, daß er sich Lauras eigentlichem Schicksal entgegengestellt hatte. Kokoschka hatte die Blitzstraße benutzt, um den Verräter und offenbar auch Laura zu liquidieren.

Jetzt schob sich Stefan tief geduckt zwischen Jeep und Schneewall zum Wagenheck vor. Ein weiterer Feuerstoß aus der Maschinenpistole ließ die Autofenster über ihm zersplittern. Die scharfen Eiskanten des Schneewalls bohrten sich in seinen Rücken; wenn er sich trotz der schmerzhaften Kanten dagegenstemmte, zersprang das Eis, und der Schnee darunter ließ sich so weit zusammendrücken, daß er durchkam. Er hatte gesehen, daß Laura und Chris unter den Jeep gerobbt waren, aber er wußte, daß sie dort bestenfalls eine Minute lang sicher waren - vielleicht nicht einmal so lange. Sobald Kokoschka um den Jeep bog und sie dort nicht sah, würde er einen Blick unter das Fahrzeug werfen, die beiden dort entdecken, das Feuer eröffnen und sie in ihrem Kerker mit einem Kugelhagel durchsieben.

Und was war mit Danny? Er war so riesig, so überdimensional groß, daß er bestimmt nicht hatte unter den Jeep kriechen können. Außerdem war er bereits verwundet und mußte vor Schmerzen steif sein. Zudem war Danny nicht der Mann, sich vor einem Angreifer zu verstecken, nicht einmal vor diesem Killer.

Dann erreichte Stefan endlich die hintere Stoßstange. Er blickte vorsichtig um die Ecke und sah keine drei Meter von sich entfernt den Pontiac mit offener Fahrertür und laufendem Motor auf der falschen Straßenseite stehen. Kokoschka war nirgends zu sehen, deshalb löste Stefan sich mit seiner 9,65-mm-Pistole Walther PPK/S von dem Schneewall und glitt hinter den Jeep. Er kroch weiter und lugte um die andere Stoßstangenkante.

Kokoschka bewegte sich in der Straßenmitte auf die Frontseite des Jeeps zu, hinter der er jemand in Deckung vermutete. Seine Waffe war eine Uzi mit verlängertem Magazin, die er für diesen Einsatz gewählt hatte, weil sie keinen Anachronismus darstellte. Als Kokoschka die Lücke zwischen den beiden Fahrzeugen erreichte, eröffnete er wieder das Feuer und bewegte die MP-Mündung dabei von links nach rechts. Kugeln trafen Blech, surrten als Querschläger davon, durchlöcherten Reifen oder klatschten dumpf in den Schneewall.

Stefan schoß auf Kokoschka, verfehlte ihn.

Plötzlich stürzte Danny sich mit berserkerhaftem Mut auf Kokoschka. Er sprang aus seinem Versteck hinter dem Kühler auf, vor dem er so flach im Schnee gelegen haben mußte, daß der Kugelhagel von vorhin über ihn hinweggegangen war. Der erste Feuerstoß hatte ihn verwundet, aber er war noch immer so stark und schnell, daß er einen Augenblick lang sogar die Chance zu haben schien, den Killer zu erreichen und kampfunfähig zu machen. Kokoschka, der die Mündung der Uzi von links nach rechts schwenkte, zielte in die falsche Richtung, als er Danny angreifen sah, und mußte seine Bewegungs- und Schußrichtung erst wieder umkehren. Hätte er nicht in der Straßenmitte, sondern dichter bei dem Jeep gestanden, wäre Dannys Angriff nicht mehr rechtzeitig abzuwehren gewesen.

»Nein!« rief Stefan und schoß dreimal auf Kokoschka, während Danny sich auf diesen stürzte.

Aber Kokoschka hatte vorsichtigen Abstand gewahrt und riß die kugelspeiende MP-Mündung jetzt herum, bis sie direkt auf Danny zeigte, der noch zwei, drei Schritte von ihm entfernt war. Danny taumelte mehrfach getroffen rückwärts und brach zusammen.

Für Stefan war es kein Trost, daß auch Kokoschka getroffen wurde, während er Danny durchsiebte: Zwei Schüsse aus der Walther hatten Kokoschkas linken Oberschenkel und seine linke Schulter getroffen. Auch er ging zu Boden. Dabei fiel ihm die Maschinenpistole aus den Händen und schlitterte kreiselnd über den schneebedeckten Asphalt davon.

Unter dem Jeep schrie Laura gellend laut.

Stefan verließ seine Deckung hinter dem Jeep und rannte bergab auf Kokoschka zu, der keine zehn Meter entfernt in der Nähe des Blazers lag. Er rutschte auf dem Schnee aus und hatte Mühe, sein Gleichgewicht zu halten.

Obwohl Kokoschka schwer verwundet war und zweifellos unter Schockeinwirkung stand, sah er Stefan kommen. Er wälzte sich auf die Uzi zu, die vor dem linken Hinterrad des Blazers zur Ruhe gekommen war.

Stefan gab im Laufen drei Schüsse ab, aber er zielte in der Eile nicht sorgfältig, Kokoschka wälzte sich zur Seite, so daß er den Dreckskerl verfehlte. Dann rutschte Stefan erneut aus, knallte in der Straßenmitte hin und fiel so schwer aufs rechte Knie, daß ein stechender Schmerz Oberschenkel und Hüfte durchzuckte.

Kokoschka wälzte sich weiter und erreichte die Maschinenpistole.

Als Stefan merkte, daß er den Mann nicht mehr rechtzeitig erreichen würde, erhob er sich auf beide Knie und nahm die Walther mit beiden Händen. Er war sechs, sieben Meter von Kokoschka entfernt - es war eigentlich nicht sehr weit. Aber selbst ein Meisterschütze konnte aus dieser Entfernung danebenschießen, wenn die äußeren Bedingungen schlecht genug waren. Und hier waren sie denkbar schlecht: beginnende Panik, ungünstiger Schußwinkel, Sturmböen, die das Geschoß ablenken konnten.

Sobald Kokoschka die Waffe in den Händen hatte, betätigte er den Abzug, ohne sich aufzurichten und noch bevor er die Mündung herumgerissen hatte. Der erste Feuerstoß aus der Uzi ging unter dem Blazer durch und durchlöcherte die Vorderreifen.

Während Kokoschka die Maschinenpistole schwenkte, gab Stefan ruhig und überlegt die letzten drei Schüsse ab. Trotz des Windes und des ungünstigen Winkels mußten sie treffen, denn falls er danebenschoß, würde ihm keine Zeit zum Nachladen bleiben.

Der erste Schuß der Walther ging daneben.

Die Mündung schwenkte weiter herum, so daß die nächsten Schüsse die Frontpartie des Jeeps trafen. Laura lag mit Chris unter diesem Wagen, und Kokoschka schoß im Liegen, so daß zumindest einige Schüsse die Unterseite des Jeeps getroffen haben mußten.

Stefan drückte erneut ab. Die Kugel durchschlug Kokoschkas Oberkörper, die Maschinenpistole verstummte. Stefans letzter Schuß traf Kokoschka in den Kopf. Es war vorbei.

Laura hatte Dannys unglaublich tapferen Angriff aus ihrer Deckung unter dem Jeep mitverfolgt, sah ihn wieder zu Boden gehen und bewegungslos auf dem Rücken liegenbleiben und wußte, daß er tot war - unwiderruflich tot. Schmerz wie der gleißend helle Lichtschein einer Explosion durchzuckte sie, sie sah eine Zukunft ohne Danny vor sich: eine so unbarmherzig grelle, so schreckliche Vision, daß es ihr fast das Bewußtsein raubte.

Dann dachte sie an Chris, der noch lebte und sich schutzsuchend an sie schmiegte. Sie verdrängte ihren Schmerz, der später zurückkehren würde - falls sie überlebte. Im Augenblick kam es darauf an, Chris am Leben zu erhalten und ihm nach Möglichkeit den Anblick des von Kugeln durchsiebten Körpers seines Vaters zu ersparen.

Dannys Leiche verdeckte einen Teil ihres Blickfelds, aber Laura sah, wie Kokoschka von Schüssen getroffen wurde. Sie sah ihren Beschützer auf den am Boden liegenden Killer zulaufen, glaubte einen Augenblick lang, das Schlimmste sei überstanden. Dann rutschte ihr Beschützer aus und fiel hin, während Kokoschka sich auf die Maschinenpistole zuwälzte, die ihm entglitten war. Weitere Schüsse, zwei lange Feuerstöße, bei denen Kugeln unter dem Jeep hindurchpfiffen, so daß Chris und Laura nur durch ein Wunder unverletzt blieben, und wieder einzelne Schüsse.

Nach dem letzten Schuß herrschte anfangs eine vollkommene Stille. Laura hörte weder den Wind noch das leise Schluchzen ihres Sohnes. Das Weinen drang erst allmählich in ihr Bewußtsein.

Als sie sah, daß ihr Beschützer lebte, war sie erleichtert und zugleich irrational empört darüber, daß er am Leben war, weil er diesen Kokoschka angelockt hatte, der Danny ermordet hatte. Andererseits wäre Danny - und mit ihm seine Frau und sein Sohn - bestimmt bei dem Zusammenstoß mit dem Lastwagen umgekommen, wenn ihr Beschützer nicht rechtzeitig aufgetaucht wäre. Wer zum Teufel war der Kerl? Woher kam er? Weshalb interessierte er sich so für sie? Sie war geschockt, zornig, tieftraurig und total verwirrt.

Ihr Beschützer, der offenbar Schmerzen hatte, stand auf und hinkte zu Kokoschka hinüber. Laura drehte sich zur Seite, um an Dannys reglosem Kopf vorbeischauen zu können. Was ihr Beschützer tat, konnte sie nicht genau erkennen; er schien jedoch Kokoschkas Lederjacke aufzureißen.

Nach einiger Zeit kam er mit etwas, das er dem Toten abgenommen hatte, bergauf zurückgehinkt.

Als er den Jeep erreichte, bückte er sich und starrte Laura an. »Ihr könnt rauskommen. Die Gefahr ist vorbei.« Sein Gesicht war blaß, er schien in den letzten Minuten um nicht wenige seiner 25 verlorenen Jahre gealtert zu sein. Er räusperte sich. »Tut mir leid, Laura«, sagte er in einem Tonfall, aus dem ehrliche Reue und tiefes Mitgefühl sprachen. »Mein aufrichtiges Beileid.«

Sie kroch auf dem Bauch zum Heck des Jeeps und stieß sich dabei den Kopf an. Sie zerrte Chris am Arm hinter sich her, damit er nicht zur Frontseite des Jeeps robbte und auf seinen Vater stieß. Ihr Beschützer zog sie unter dem Wagen hervor. Laura lehnte sich im Schnee sitzend an die hintere Stoßstange und hielt Chris an sich gedrückt.

»Ich will Daddy«, sagte der Junge mit zitternder Stimme.

Ich will ihn auch, dachte Laura. Oh, Baby, ich will ihn auch, ich will ihn so sehr, ich wünsche mir nichts mehr auf der Welt als deinen Daddy.

Der Sturm war jetzt zu einem regelrechten Blizzard geworden, der die San Bernardino Mountains mit Schneemassen überschüttete. Der Nachmittag ging zu Ende; das Tageslicht verblaßte, der grimmig graue Tag wurde von der eigentümlich phosphoreszierenden Dunkelheit einer Schneenacht abgelöst.

Bei diesem Wetter würden nur wenige Autofahrer unterwegs sein, aber Stefan fürchtete, daß doch bald jemand vorbeikommen würde. Seit er die Packards angehalten hatte, waren nicht mehr als zehn Minuten vergangen, aber selbst auf dieser Landstraße im Schneesturm konnte es nicht mehr lange dauern, bis jemand an ihnen vorbeifuhr und vielleicht sogar anhielt. Er mußte mit ihr reden und dann verschwinden, bevor er sich in die Konsequenzen dieser mörderischen Begegnung verstrickte.

Stefan ging vor ihr und dem weinenden Jungen in die Hocke und sagte: »Laura, ich muß jetzt fort, aber ich komme bald wieder, ich bin in ein paar Tagen zurück ...«

»Wer bist du überhaupt?« fragte sie aufgebracht.

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit.«

»Ich will’s aber wissen, verdammt noch mal! Ich habe ein Recht darauf!«

»Ja, das hast du, und du sollst es in ein paar Tagen erfahren. Aber jetzt müssen wir dringend besprechen, was du bei der Polizei aussagen sollst - wie damals im Geschäft deines Vaters. Erinnerst du dich noch?«

»Scher dich zum Teufel!«

»Ich meine es nur gut mit dir, Laura«, sagte er unbeirrt. »Du kannst der Polizei nicht die volle Wahrheit sagen, weil man sie dir nicht abnehmen wird, stimmt’s? Man wird glauben, du hättest alles nur erfunden, vor allem mein Verschwinden ... nun, wenn du das erzählst, hält die Polizei dich für die Komplizin eines Mörders oder für geistesgestört.«

Sie schaute ihn wütend an und schwieg. Er hatte Verständnis für ihren Zorn. Vielleicht wünschte sie sich sogar, er wäre tot -aber auch das war verständlich. Hingegen waren die einzigen Gefühle, die sie in ihm hervorrief, Liebe, Mitleid und tiefe Wertschätzung.

»Hör zu, Laura«, forderte er sie auf. »Bei der Polizei sagst du aus, daß hier drei Fahrzeuge standen, als ihr mit eurem Blazer aus der Kurve kamt: der am Straßenrand abgestellte Jeep, der Pontiac auf der falschen Fahrspur, wie er jetzt dasteht, und ein weiteres Auto auf der anderen Straßenseite. Du hast ... vier Männer - zwei davon bewaffnet - gesehen, die offenbar den Jeep von der Straße gedrängt hatten. Ihr seid im falschen Augenblick vorbeigekommen, das war euer Pech. Die Männer bedrohten euch mit einer Maschinenpistole und zwangen euch, an den Straßenrand zu fahren und auszusteigen. Du hast mitbekommen, daß sie von Kokain gesprochen haben ., mehr weißt du auch nicht, aber die Männer haben Streit miteinander gehabt, und den Jeepfahrer haben die anderen offenbar verfolgt .«

»Drogenhändler in dieser gottverlassenen Gegend?« sagte Laura verächtlich.

»Hier draußen könnte es illegale Labors geben - ein Blockhaus in den Wäldern, in dem beispielsweise Phencyclidin hergestellt wird. Hör zu, wenn deine Story auch nur halbwegs plausibel klingt, wird man sie dir abnehmen. Die wahre Story ist völlig unglaubwürdig, deshalb mußt du auf sie verzichten. Du sagst also aus, daß die Straße von drei Wagen blockiert war, als die Robertsons - ihren Namen weißt du natürlich nicht

- mit ihrem Kleinlaster über den Hügel herunterkamen. Der Fahrer versuchte zu bremsen, sein Wagen kam ins Schleudern und .«

»Du hast einen Akzent«, stellte sie aufgebracht fest. »Er ist nur schwach, aber unüberhörbar. Woher kommst du?«

»Das erzähle ich dir alles in ein paar Tagen«, antwortete er ungeduldig, indem er nach rechts und links ins Schneetreiben schaute. »Das tue ich ganz bestimmt, aber jetzt mußt du mir versprechen, bei dieser erfundenen Story zu bleiben und sie so gut wie möglich auszuschmücken, anstatt die Wahrheit zu sagen.«

»Mir bleibt gar nichts anderes übrig, stimmt’s?«

»Richtig«, bestätigte er und war erleichtert, daß sie ihre Lage zutreffend einschätzte.

Laura drückte Chris an sich und schwieg.

Die Schmerzen in Stefans halb erfrorenen Füßen machten sich wieder bemerkbar. Die Kampfeshitze war verflogen, er zitterte jetzt vor Kälte. Er hielt Laura den Gürtel hin, den er Kokoschka abgenommen hatte. »Den steckst du in eine Innentasche deiner Daunenjacke. Niemand darf ihn sehen! Zu Hause schließt du ihn irgendwo weg.«

»Was ist mit diesem Ding?«

»Das erkläre ich dir auch später. Ich versuche, so bald wie möglich zurückzukommen. Vielleicht schon in ein paar Stunden. Versprich mir jetzt, den Gürtel zu verstecken. Sei nicht neugierig, lege ihn nicht an und drücke um Himmels willen nicht auf den gelben Knopf neben der Schließe.«

»Warum nicht?«

»Weil du nicht hinwillst, wohin er dich bringen würde.«

Laura starrte ihn verständnislos an. »Wohin er mich bringen würde?«

»Das erkläre ich dir später.«

»Weshalb kannst du ihn nicht mitnehmen, wohin du jetzt unterwegs bist?«

»Zwei Gürtel, ein Körper - das wäre eine Anomalie, die eine Störung des Kraftfelds bewirken und mich Gott weiß wo stranden lassen würde.«

»Das verstehe ich nicht. Wovon redest du überhaupt?«

»Später, Laura. Sollte ich jedoch aus irgendeinem Grund nicht zurückkommen können, mußt du Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.«

»Was für Vorsichtsmaßnahmen?«

»Bewaffne dich. Sei auf einen Überfall vorbereitet. Sollten sie mich schnappen, haben sie keinen Grund, dir nachzustellen, aber unter Umständen versuchen sie’s trotzdem. Nur um mir eine Lektion zu erteilen, um mich zu demütigen. Sie denken immer nur an Rache und Vergeltung. Sollten sie eines Tages kommen . wird es eine Gruppe schwerbewaffneter Männer sein.«

»Wer sind sie, verdammt noch mal?«

Er stand wortlos auf, verzog schmerzlich das Gesicht und belastete sein rechtes Knie. Mit einem langen letzten Blick, der Laura zu liebkosen schien, trat er einen Schritt zurück. Dann wandte er sich ab und ließ sie am Straßenrand kauern: in Schnee und Kälte, am Heck des demolierten und von Einschüssen durchlöcherten Jeeps, mit ihrem ängstlich weinenden Sohn und ihrem ermordeten Ehemann.

Er trat langsam in die Straßenmitte, die mehr durch den Widerschein der schon zentimeterhohen Schneedecke als durch vom Himmel kommenden Licht erhellt wurde. Laura rief ihm etwas nach, aber er ignorierte sie.

Er steckte die leergeschossene Pistole ins Schulterhalfter unter seiner Jacke zurück. Er griff unter sein Hemd, ertastete den gelben Knopf seines eigenen Reisegürtels und zögerte.

Sie hatten Kokoschka entsandt, um ihn liquidieren zu lassen. Jetzt würden sie im Institut gespannt auf das Ergebnis dieses Unternehmens warten. Er würde bei seiner Rückkehr sofort verhaftet werden und wahrscheinlich nie wieder Gelegenheit finden, wie versprochen auf der Blitzstraße zu Laura zurückzukommen.

Die Versuchung, bei ihr zu bleiben, war groß.

Blieb er jedoch, würden sie lediglich einen weiteren Killer entsenden, um ihn beseitigen zu lassen, und er würde den Rest seines Lebens auf der Flucht vor Attentätern verbringen -während er zugleich mit ansehen mußte, wie die Welt um ihn herum sich auf gräßliche Weise veränderte. Kehrte er andererseits zurück, hatte er vielleicht noch eine geringe Chance, das Institut zu zerstören. Dr. Penlowski und die anderen wußten offenbar genau, daß er zugunsten einer Frau in den natürlichen Gang der Ereignisse eingegriffen hatte; aber vielleicht ahnten sie nicht, daß er auf dem Dachboden und im Keller des Instituts Sprengladungen angebracht hatte. Falls sie ihn auch nur für einen Augenblick in sein Büro gehen ließen, konnte er den versteckt angebrachten Schalter betätigen und das Gebäude -mitsamt allen Mitarbeitern und Unterlagen - in die Luft jagen. Höchstwahrscheinlich hatten sie die Sprengladungen längst entdeckt und ausgebaut. Aber solange die entfernteste Möglichkeit bestand, das Projekt endgültig zu Fall zu bringen und die Blitzstraße zu sperren, war er moralisch verpflichtet, ins Institut zurückzukehren, selbst wenn das bedeutete, daß er Laura nie mehr wiedersehen würde.

Mit dem Schwinden des Tages schien der Sturm noch an Wut und Kraft zu gewinnen. Auf den Hängen über der Straße heulte und brauste der Wind durch die riesigen Kiefern, die sturmgepeitschten Äste rauschten bedrohlich, als krieche irgendein vielbeiniges, gigantisches Wesen zu Tal. Die Schneeflocken waren klein, fast zu Eiskristallen geworden: Sie schienen die Welt abzuschleifen, sie zu glätten, wie Sandpapier Holz glättet, bis es eines Tages keine Berge und Täler, sondern nur eine einförmige, hochglanzpolierte Ebene geben würde, so weit das Auge reichte.

Mit seiner Hand unter Jacke und Hemd drückte Stefan dreimal rasch auf den gelben Knopf und löste so den Strahl aus. Von Angst und Bedauern erfüllt kehrte er in seine eigene Zeit zurück.

Sie hielt Chris, dessen Schluchzen abgeklungen war, in den Armen, saß hinter dem Jeep und beobachtete, wie ihr Beschützer am Heck von Kokoschkas Pontiac vorbei ins Schneetreiben davonging.

Er blieb mitten auf der Straße stehen und kehrte ihr für lange Augenblicke scheinbar unbeweglich den Rücken zu. Dann geschah etwas Unglaubliches: Als erstes wurde die Luft schwer; Laura spürte einen seltsamen, nie zuvor wahrgenommenen Druck, als ob die Erdatmosphäre durch irgendeine kosmische Umwälzung komprimiert werde, und hatte plötzlich Mühe beim Atemholen. Die Luft roch auch eigenartig, aber irgendwie vertraut, und sie brauchte einige Sekunden, um den Geruch überhitzter Elektrokabel und verschmorter Isolierung zu erkennen, den sie vor einigen Wochen in ihrer eigenen Küche wahrgenommen hatte, als der Toaster einen Kurzschluß gehabt hatte; überlagert wurde dieser Gestank durch leicht stechenden, aber nicht unangenehmen Ozongeruch, den sie von heftigen Gewittern kannte. Der Druck wuchs, bis sie sich fast zu Boden gepreßt fühlte, die Luft flimmerte und schimmerte wie Wasser. Mit einem Geräusch, als werde ein riesiger Korken aus einer Flasche gezogen, verschwand ihr Beschützer aus dem grauen Zwielicht des Winterabends, und zugleich mit diesem Plop! spürte Laura einen starken Windstoß, als strömten große Luftmassen heran, um irgendein Vakuum auszufüllen. Tatsächlich fühlte sie sich einen Augenblick lang in einem Vakuum gefangen, ohne atmen zu können. Dann ließ der auf ihr lastende Druck nach, die Luft roch nur mehr nach Wald und Schnee, und alles war wieder normal.

Bis auf die Tatsache natürlich, daß ihr nach dem jetzt Erlebten nie wieder etwas normal erscheinen würde.

Die Nacht wurde sehr finster. Ohne Danny war es die finsterste Nacht ihres Lebens. Nur ein Licht blieb, um ihr den mühevollen Weg zu einem vielleicht in Zukunft zu erhoffenden Glück zu weisen: Chris. Er war das letzte Licht im Dunkel ihres Lebens.

Später wurde ein bergab fahrendes Auto sichtbar. Scheinwerfer bohrten sich durch Nacht und dichtes Schneetreiben.

Sie kam mühsam auf die Beine und schleppte sich mit Chris in die Straßenmitte. Sie winkte.

Als das Fahrzeug abbremste, fragte sie sich plötzlich, ob nicht gleich noch ein Mann mit einer Maschinenpistole aussteigen und das Feuer eröffnen würde. Sie würde sich nie mehr sicher fühlen können.

Das innere Feuer

1

Am 13. August 1988, einem Samstag, sieben Monate nach der Ermordung Dannys, kam Thelma Ackerson für vier Tage in das Haus in den San Bernardino Montains.

Laura war auf der Schießbahn hinter dem Haus und übte mit ihrem Smith & Wesson Chiefs’s Special Kaliber 38. Sie hatte eben nachgeladen, die Trommel einschnappen lassen und wollte ihren Gehörschutz aufsetzen, als sie ein Auto die lange kiesbestreute Zufahrt von der Staatsstraße heraufkommen hörte. Sie nahm das Fernglas von dem Tischchen neben sich und beobachtete das Fahrzeug, um sich davon zu überzeugen, daß kein unerwünschter Besucher käme. Als sie Thelma am Steuer erkannte, legte sie ihr Fernglas weg und schoß weiter auf die an als Kugelfang dienenden Strohballen befestigte Mannscheibe.

Chris, der in der Nähe im Gras saß, zählte sechs weitere Patronen aus der Munitionsschachtel ab und hielt sich bereit, sie ihr zu geben, sobald sie den letzten Schuß dieser Serie abgefeuert haben würde.

Der Tag war heiß, klar und trocken. An den Rändern des Rasens, wo die gemähte Fläche zu den Bäumen hin in eine Naturwiese mit Blumen und Unkraut überging, blühten Hunderte und Aberhunderte von wildwachsenden Blumen. Am Vormittag hatten noch Eichhörnchen im Gras gespielt und Vögel gesungen, aber Lauras Übungsschießen hatte sie erschreckt und vorläufig vertrieben.

Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn Laura das Haus in den Bergen mit dem Tod ihres Mannes in Verbindung gebracht und deshalb verkauft hätte. Statt dessen hatte sie vor vier Monaten das Haus im Orange County verkauft und war mit Chris in die San Bernardino Mountains gezogen.

Nach ihrer Überzeugung hätte alles, was ihnen im vergangenen Januar auf der Staatsstraße 330 zugestoßen war, auch anderswo passieren können. Das Haus konnte nichts dafür; die Schuld lag bei ihrem Schicksal, bei den geheimnisvollen Kräften, die ihr seltsam konfliktbeladenes Leben beeinflußten. Eines wußte sie intuitiv: Hätte ihr Beschützer nicht eingegriffen, um ihr auf der verschneiten Straße das Leben zu retten, wäre er zu einem anderen Zeitpunkt, während einer anderen Krise in ihr Leben getreten. Kokoschka wäre dann dort mit einer Maschinenpistole aufgetaucht, und dieselben schrecklichen Ereignisse wären abgelaufen.

Das andere Haus enthielt mehr Erinnerungen an Danny als dieses Gebäude aus Naturstein und Rot-Tannenholz südlich von Big Bear. Hier in den Bergen wurde sie besser mit ihrem Kummer fertig als in Orange Park Acres.

Außerdem fühlte sie sich in den Bergen seltsamerweise weitaus sicherer. In der dichtbevölkerten Stadtlandschaft von Orange County, wo tagtäglich über zwei Millionen Menschen die Straßen und Autobahnen bevölkerten, konnte ein Feind in der Menge untertauchen, bis er anzugreifen beschloß. In den Bergen fielen Unbekannte jedoch vor allem schon deshalb auf, weil Lauras Haus fast genau in der Mitte eines über sieben Hektar großen Grundstückes stand.

Sie hatte die Warnung ihres Beschützers noch im Ohr: Bewaffne dich. Sei auf einen Überfall vorbereitet. Sollten sie eines Tages kommen ... wird es eine Gruppe schwerbewaffneter Männer sein.

Nachdem Laura den letzten Schuß aus ihrem Revolver abgegeben und den Gehörschutz abgenommen hatte, hielt Chris ihr sechs weitere Patronen hin. Dann nahm auch er seinen Gehörschutz ab und lief zur Scheibe, um die Treffer zu zählen.

Der Kugelfang bestand aus einer zwei Meter hohen und fünf Meter breiten Mauer aus vierfach hintereinander aufgestapelten Strohballen. Dahinter lagen einige Hektar Kiefernwald - ihr Privatbesitz -, so daß ein so aufwendiger Kugelfang entbehrlich gewesen wäre, aber Laura wollte niemanden erschießen. Zumindest nicht versehentlich.

Chris band eine neue Mannscheibe fest und kam mit der alten zu Laura zurück. »Vier Treffer, Mom. Zwei tödliche, zwei mannstoppende, aber du scheinst ein bißchen nach links abzukommen.«

»Mal sehen, ob sich das korrigieren läßt.«

»Du bist bloß müde, sonst nichts«, stellte Chris fest.

Im Gras um sie herum lagen über 150 leere Patronenhülsen. Lauras Handgelenke, Arme, Schultern und Genick begannen von den vielen Rückstößen zu schmerzen, aber sie wollte noch eine Trommel verschießen, bevor sie für heute aufhörte.

Jenseits des Hauses fiel Thelmas Autotür ins Schloß.

Chris setzte seinen Gehörschutz wieder auf und griff nach dem Fernglas, um die Mannscheibe zu beobachten, während seine Mutter schoß.

Mitleid durchflutete Laura, als sie jetzt den Jungen beobachtete - nicht nur weil er vaterlos war, sondern weil es ihr unfair erschien, daß ein Kind, das erst in zwei Monaten acht wurde, bereits wußte, wie gefährlich das Leben war, und in dem Bewußtsein ständig drohender Gefahr leben mußte. Sie tat alles, damit sein Leben so fröhlich wie möglich verlief; sie erfand noch immer neue Keith-Kröterich-Geschichten, obwohl Chris nicht mehr glaubte, daß Keith tatsächlich existierte; anhand ihrer großen Sammlung klassischer Kinderbücher konnte sie ihm auch zeigen, wieviel vergnügliche Abwechslung Bücher boten; sie bemühte sich sogar, jedes Übungsschießen als Spiel hinzustellen und dadurch davon abzulenken, daß für sie die Notwendigkeit bestand, sich verteidigen zu können. Trotzdem war ihr Leben gegenwärtig beherrscht von der Angst vor dem Unbekannten. Diese Realität ließ sich nicht vor dem Jungen verbergen und würde zwangsläufig gravierende und bleibende Auswirkungen auf ihn haben.

Chris ließ das Fernglas sinken und sah sie an, um festzustellen, weshalb sie nicht schoß. Sie lächelte ihm zu. Er lächelte zurück. Sein Lächeln war so berührend, daß es Laura fast das Herz brach.

Sie drehte sich nach der Mannscheibe um, hob den Revolver mit beiden Händen und gab den ersten Schuß der neuen Serie ab.

Nach Lauras viertem Schuß erschien Thelma neben ihr. Sie steckte sich die Zeigefinger in die Ohren und verzog schmerzlich das Gesicht.

Laura gab die beiden letzten Schüsse ab und zog ihren Gehörschutz herunter, während Chris die Scheibe holte. Das Echo ihrer Schüsse hallte noch durch die Berge, als sie sich zu Thelma umdrehte und sie umarmte.

»Was soll die Knallerei?« wollte Thelma wissen. »Willst du in Zukunft Drehbücher für Clint Eastwood schreiben? Nein, he, noch besser: Du schreibst Dirty Hariet, das Gegenstück zu Clints Rolle. Und ich bin genau die richtige Schauspielerin dafür - hart, eiskalt, mit einem verächtlichen Grinsen, vor dem selbst Bogart erschrecken würde.«

»Okay, ich denke an dich, wenn’s um die Besetzung geht«, versprach Laura. »Aber am liebsten wär’s mir, wenn Clint den Part in Frauenklamotten spielen würde.«

»He, du hast ja noch Sinn für Humor, Shane!«

»Hast du gedacht, ich hätte keinen mehr?«

Thelma runzelte die Stirn. »Ich wußte nicht, was ich denken sollte, als ich dich ballern sah - böse wie ‘ne Schlange mit Giftzahnkaries.«

»Selbstverteidigung«, sagte Laura. »Jedes brave Mädchen sollte sie beherrschen.«

»Du schießt wie ein Profi.« Thelma wurde auf die glitzernden Messinghülsen im Gras aufmerksam. »Wie oft übst du hier draußen?«

»Dreimal pro Woche, jedesmal ein paar Stunden.«

Chris kam mit der Scheibe zurück. »Hallo, Tante Thelma. Mom, diesmal sind’s vier tödliche Treffer, ein mannstoppender und ein Fehlschuß.«

»Tödliche?« wiederholte Thelma.

»Findest du, daß ich noch immer nach links abkomme?« fragte Laura den Jungen.

Er zeigte die Scheibe. »Nicht mehr so stark wie vorher.«

»Ho, Christopher Robin«, fragte Thelma, »ist das alles, was ich kriege - bloß ein kümmerliches >Hallo, Tante Thelma<?«

Chris legte die Mannscheibe auf einen Stapel gebrauchter Scheiben, lief zu Thelma, umarmte sie und gab ihr einen Kuß. Dabei fiel ihm auf, daß sie nicht mehr als Punkerin zurechtgemacht war. »Was ist los mit dir, Tante Thelma?« erkundigte er sich. »Du siehst normal aus.«

»Ich sehe normal aus? Was ist das - ein Kompliment oder eine Beleidigung? Merk dir, mein Junge: Selbst wenn deine alte Tante Thelma normal aussieht, ist sie’s nicht! Sie ist ein komisches Genie, verwirrend geistreich und nach eigener Einschätzung eine Berühmtheit. Ich glaube bloß, daß der Punkerlook passé ist.«

Sie stellten Thelma dazu an, beim Aufsammeln der leeren Patronenhülsen zu helfen.

»Mom schießt klasse«, sagte Chris stolz.

»Das will ich hoffen - bei so viel Übung. Hier liegt genug Metall herum, um ein ganzes Amazonenheer mit Messingpimmeln auszurüsten.«

»Was meint Tante Thelma damit?« fragte Chris seine Mutter.

»Frag mich in zehn Jahren noch mal«, sagte Laura.

Als sie ins Haus gingen, sperrte Laura die ins Freie führende Küchentür ab. Mit zwei Sicherheitsschlössern. Dann schloß sie die Fensterläden, damit niemand von draußen hereinsehen könnte.

Thelma beobachtete diese Rituale interessiert, ohne sich dazu zu äußern.

Chris schob im Wohnzimmer »Raiders of the Lost Ark« in den Videorekorder und machte es sich mit einer Cola und einem Beutel Käse-Popcorn vor dem Fernseher gemütlich. In der Küche nebenan saßen Laura und Thelma am Tisch und tranken Kaffee, während Laura den großkalibrigen Chief’s Special zerlegte und reinigte.

Die Küche war riesig, aber trotzdem gemütlich - mit viel dunkler Eiche, Sichtmauerwerk mit alten Ziegeln an zwei Wänden, einem Dunstabzug aus Kupfer, Wandhaken, an denen Kupfertöpfe und -pfannen hingen, dunkelblauen Bodenfliesen. In solchen Küchen lösten Familien in Fernsehserien allwöchentlich in dreißig Minuten (abzüglich Werbung) ihre unsinnigen Krisen und erlangten transzendentale Erleuchtung (mit Herz). Sogar Laura hatte das Gefühl, dies sei ein etwas merkwürdiger Ort, um eine Waffe zu reinigen, deren Hauptzweck die Tötung anderer Menschen war.

»Hast du wirklich Angst?« fragte Thelma.

»Worauf du dich verlassen kannst!«

»Aber Danny ist erschossen worden, weil ihr das Pech hattet, in eine Auseinandersetzung zwischen Drogenhändlern zu geraten. Diese Leute sind längst fort, stimmt’s?«

»Vielleicht nicht.«

»Hör zu, wenn sie Angst haben, du könntest sie identifizieren, hätten sie längst versucht, dich zu beseitigen.«

»Ich gehe kein Risiko ein.«

»Du mußt wieder lockerer werden, Kid. Du kannst nicht für den Rest deines Lebens mit der Angst leben, jemand könnte aus dem nächsten Busch über dich herfallen. Okay, meinetwegen, du hast einen Revolver im Haus. Das ist wahrscheinlich klug. Aber willst du denn nie wieder unter Leute gehen? Du kannst doch nicht überall deinen Revolver mit dir rumschleppen!«

»Doch, das kann ich. Ich habe einen Waffenschein.«

»Einen Waffenschein für diese Kanone?«

»Ich habe sie in der Handtasche bei mir, egal wohin ich gehe.«

»Jesus, wie hast du ‘nen Waffenschein gekriegt?«

»Mein Mann ist unter merkwürdigen Umständen von Unbekannten erschossen worden. Die Killer haben versucht, auch meinen Sohn und mich zu erschießen - und sie befinden sich noch immer auf freiem Fuß. Außerdem bin ich eine reiche und verhältnismäßig berühmte Frau. Da wär’s seltsam, wenn ich keinen Waffenschein bekommen hätte.«

Thelma schwieg eine Minute lang, trank mit kleinen Schluk-ken ihren Kaffee und sah zu, wie Laura den Revolver reinigte. »Mir ist’ s ein bißchen unheimlich, Shane«, meinte sie dann, »daß du so todernst, so nervös bist. Ich meine, es ist jetzt sieben Monate her, daß Danny ... gestorben ist. Aber du bist unruhig, als wäre es erst gestern passiert. Du kannst nicht ständig so angespannt oder bereit oder sonst was sein. Damit treibst du dich selbst in den Wahnsinn! Verfolgungswahn. Du mußt einsehen, daß du nicht für den Rest deines Lebens ununterbrochen auf der Lauer liegen kannst.«

»Das kann ich aber, wenn’s sein muß.«

»Ach, tatsächlich? Wie sieht’s damit im Augenblick aus? Dein Revolver ist zerlegt. Was wäre, wenn irgendein tätowierter Barbar jetzt anfangen würde, die Tür dort drüben einzuschlagen?«

Die Küchenstühle waren auf Gummirollen beweglich. Laura stieß sich vom Tisch ab, ließ sich zu dem Schrank neben der Kühl-Gefrierkombination rollen, riß eine Schublade auf und holte einen weiteren Chiefs Special Kaliber 38 heraus.

»He, wo bin ich hier - mitten in einem Waffenlager?« erkundigte Thelma sich.

Laura legte den zweiten Revolver in die Schublade zurück. »Komm, wir machen eine kleine Besichtigungstour.«

Thelma folgte ihr in den Anrichteraum, an dessen Tür eine MP Uzi hing.

»Das ist eine Maschinenpistole, stimmt’s? Darfst du die überhaupt legal besitzen?«

»Waffenscheinbesitzer dürfen sie in zugelassenen Geschäften kaufen - allerdings nur als halbautomatische Waffe; der Umbau zur vollautomatischen Maschinenpistole ist strafbar.«

Thelma warf Laura einen prüfenden Blick zu und seufzte. »Diese hier ist wohl umgebaut?«

»Ja, sie schießt vollautomatisch. Aber ich habe sie von einem illegalen Waffenhändler, nicht in einem Geschäft gekauft.«

»Das ist mir alles zu unheimlich, Shane. Wirklich!«

Laura führte ihre Freundin ins Eßzimmer und zeigte ihr den Revolver in der Halterung unter dem Sideboard. Im Wohnzimmer war ein vierter Revolver unter dem niedrigen Tisch neben einem der Sofas befestigt. Eine zweite umgebaute Uzi hing innen an der Haustür. In einer Schublade im Hobbyraum, in Lauras Arbeitszimmer im Obergeschoß, in ihrem Bad und im Nachttisch neben ihrem Bett lagen weitere Revolver. Vervollständigt wurde dieses Arsenal durch eine dritte MP Uzi in Lauras Schlafzimmer.

»Das wird ja immer unheimlicher«, sagten Thelma, während sie die Uzi anstarrte, die Laura unter ihrem Bett hervorgeholt hatte. »Wären wir nicht alte Freundinnen, Shane, würde ich glauben, du seist übergeschnappt - zu einer wilden Waffennärrin geworden. Da ich dich aber kenne, mußt du für solche Angst gute Gründe haben. Aber was ist mit Chris und all diesen Waffen?«

»Chris weiß, daß er sie nicht anfassen darf, und ich habe Vertrauen zu ihm. Um Chris brauchst du dir keine Sorgen zu ma-chen.«

»Wie findet man um Himmels willen einen illegalen Waffenhändler?« fragte Thelma, als Laura die Uzi wieder unter ihr Bett legte.

»Ich bin reich, hast du das vergessen?«

»Und mit Geld kann man alles kaufen? Okay, das mag stimmen - aber wie nimmt man Verbindung mit einem Waffenhändler auf? Solche Leute hängen doch wohl keinen Zettel ans Kleinanzeigenbrett im nächsten Waschsalon, oder?«

»Ich habe Recherchen für mehrere komplizierte Romane angestellt, Thelma. Dabei habe ich gelernt, jeden und alles ausfindig zu machen.«

Als sie in die Küche zurückkamen, war Thelma schweigsam geworden. Aus dem Wohnzimmer drang die bombastische Musik herüber, die Indiana Jones bei allen seinen Abenteuern begleitete. Während Laura saß und weiter ihren Revolver reinigte, schenkte Thelma ihnen Kaffee nach.

»Reden wir doch einmal vernünftig miteinander, Kleine. Falls da draußen wirklich eine Gefahr lauert, die dieses Waffenarsenal rechtfertigt, bist du allein ihr nicht gewachsen. Weshalb hast du keine Leibwächter?«

»Weil ich niemandem traue. Niemandem außer Chris und dir, meine ich. Und Dannys Vater, der aber in Florida lebt.«

»Aber du kannst nicht so weitermachen: allein, in ständiger Angst .«

»Ja, ich habe Angst, aber das Bewußtsein, vorbereitet zu sein, beruhigt«, sagte Laura, während sie eine Spiralbürste durch den Revolverlauf schob. »Ich habe mein Leben lang untätig zugesehen, wie mir geliebte Menschen weggenommen worden sind. Ich habe nichts dagegen getan, als es zu erdulden. Aber damit ist jetzt Schluß! In Zukunft kämpfe ich, verstehst du? Wer mir Chris wegnehmen will, muß über meine Leiche gehen, muß einen Krieg führen!«

»Laura, ich weiß, was du mitmachst. Aber hör zu, laß mich hier die Psychoanalytikerin spielen und dir sagen, daß das weniger eine Reaktion auf eine wirkliche Bedrohung, sondern eine Überreaktion auf das Gefühl ist, dem Schicksal hilflos ausgeliefert zu sein. Gegen die Vorsehung bist du machtlos, Kleines. Du kannst nicht mit Gott pokern und gewinnen wollen, nur weil du einen Revolver in der Handtasche hast. Ich meine, du hast Danny durch einen gewaltsamen Tod verloren, das stimmt, und Nina Dockweiler könnte vielleicht noch leben, wenn jemand den Aal erledigt hätte, als er’s verdiente, aber das sind die einzigen Fälle, in denen Menschen, die du geliebt hast, durch Schußwaffengebrauch hätten gerettet werden können. Deine Mutter ist bei deiner Geburt gestorben. Dein Vater ist einem Herzanfall erlegen. Ruthie haben wir durch einen Brand verloren. Selbstverteidigung mit Waffen ist in Ordnung, aber du mußt die Dinge in der richtigen Perspektive sehen, du mußt dir einen Sinn für Humor in bezug auf unsere Verwundbarkeit als Spezies Mensch bewahren - sonst landest du eines Tages in einer geschlossenen Anstalt. Was wäre, was Gott verhüten möge, wenn Chris Krebs bekäme? Du bist bereit, jeden abzuknallen, der ihn auch nur anfaßt, aber Krebs läßt sich mit keinem Revolver bekämpfen, und ich fürchte, du bist so darauf fixiert, Chris zu beschützen, daß du daran zerbrechen wirst, wenn ihm etwas in der Art zustößt, etwas, mit dem du nicht fertig wirst, mit dem niemand fertig wird. Ich mache mir Sorgen um dich, Kleines.«

Laura nickte und empfand plötzlich warme Zuneigung für ihre Freundin. »Ich weiß, Thelma. Und ich kann dich beruhigen. Ich habe vierunddreißig Jahre lang alles erduldet; jetzt wehre ich mich, so gut ich kann. Würden Chris oder ich Krebs kriegen, würde ich die besten Fachärzte aufsuchen und ihm oder mir die beste Behandlung sichern. Sollte jedoch alles fehlschlagen - sollte beispielsweise Chris an Krebs sterben -, würde ich diese Niederlage akzeptieren. Kämpfen schließt erdulden nicht aus. Ich kann kämpfen, und wenn aller Kampf nichts hilft, kann ich noch immer leiden.«

Thelma starrte sie lange über den Tisch hinweg an.

Schließlich nickte sie. »Das habe ich zu hören gehofft. Okay. Ende der Diskussion. Weiter im Text. Wann kaufst du dir einen Panzer, Shane?«

»Der wird am Montag geliefert.«

»Haubitzen, Granaten, Bazookas?«

»Dienstag. Was ist aus deinem Filmprojekt mit Eddie Murphy geworden?«

»Ich habe den Vertrag vorgestern unterschrieben.«

»Wirklich? Meine Thelma tritt als Star in einem EddieMurphy-Film auf?«

»Deine Thelma kriegt eine Rolle in einem Film mit Eddie Murphy. Ein Star bin ich deshalb noch lange nicht.«

»In dem Film mit Steve Martin hat du die vierte Hauptrolle gespielt, in dem mit Chevy Chase die dritte. Und diesmal spielst du die zweite, stimmt’s? Und wie oft bist du schon Moderatorin der >Tonight Show< gewesen? Achtmal, nicht wahr? Gib’s zu, Thelma, du bist ein Star.«

»Vielleicht, aber von sehr geringer Helligkeit. Ist das nicht verrückt, Shane? Wir beide kommen aus dem Nichts, aus dem McIllroy Home, und schaffen den Sprung zur Spitze. Merkwürdig, was?«

»Durchaus nicht«, widersprach Laura. »Not erzeugt Stehvermögen, und Leute mit Stehvermögen sind erfolgreich. Und verstehen zu überleben.«

2

Stefan verließ die im Schneesturm liegende Straße durch die San Bernardino Mountains und erschien im nächsten Augenblick in dem Tor am anderen Ende der Blitzstraße. Das Tor glich einem riesigen Faß, hatte Ähnlichkeit mit den auf Volksfesten belieb-ten rotierenden Trommeln - nur war dieser Zylinder mit poliertem Kupfer statt mit Holz ausgekleidet und drehte sich nicht. Der Zylinder war bei zweieinhalb Meter Durchmesser vier Meter lang, so daß Stefan nur wenige rasche Schritte zu tun brauchte, um ins Hauptlabor des Instituts zu gelangen, wo er zweifellos von bewaffneten Männern empfangen werden würde.

Das Labor war menschenleer.

Er blieb in seiner Seemannsjacke, an der noch Schneeflocken hafteten, verblüfft stehen und sah sich ungläubig um. Drei Wände des zehn mal zwölf Meter großen Erdgeschoßraums verschwanden bis zur Decke hinter Apparaturen, die ohne menschliches Zutun summten und klickten. Die Lampen der Deckenbeleuchtung waren größtenteils ausgeschaltet, so daß der Raum in sanftes, fast unheimliches Dämmerlicht getaucht war. Die Apparate waren für den Betrieb des Tors erforderlich und wiesen Dutzende von blaßgrün oder orangerot leuchtenden Skalen auf, denn das Tor - das einen Zeittunnel darstellte -wurde niemals ausgeschaltet; ein Wiedereinschalten wäre mit großen Schwierigkeiten und riesigem Energieaufwand verbunden gewesen, das einmal in Betrieb genommene Tor ließ sich aber verhältnismäßig leicht in Betrieb halten. Da der Schwerpunkt der Forschungsarbeit jetzt nicht mehr auf der Entwicklung des Tores lag, kamen Institutsmitarbeiter ins Hauptlabor nur noch zu routinemäßigen Wartungsarbeiten und natürlich zur Beaufsichtigung von Zeitreisen. Nur unter diesen Voraussetzungen hatte Stefan die unzähligen heimlichen, nicht genehmigten Zeitreisen durchführen können, die er unternommen hatte, um die Ereignisse in Lauras Leben zu überwachen und gelegentlich zu korrigieren.

Aber obwohl es nicht außergewöhnlich war, daß sich tagelang niemand im Labor aufhielt, kam diese Tatsache jetzt völlig unerwartet, denn Kokoschka war mit dem Auftrag losgeschickt worden, ihn zu liquidieren, und seine Auftraggeber hätten hier eigentlich besorgt warten müssen, um zu erfahren, wie es Kokoschka in den verschneiten San Bernardino Mountains ergangen war. Sie mußten doch mit der Möglichkeit rechnen, daß Kokoschka versagte und der falsche Mann aus dem Jahre 1988 zurückkehrte. Also hätten sie das Tor bewachen müssen. Wo waren die Männer der Geheimpolizei in ihren schwarzen Trenchcoats? Wo waren die Schußwaffen?

Er schaute auf die große Wanduhr und stellte fest, daß sie 11.06 Uhr Ortszeit anzeigte. Also völlig normal. Er hatte die Zeitreise an diesem Morgen um 10.55 Uhr begonnen, und jede Reise endete nach genau elf Minuten. Niemand wußte eine Erklärung dafür, aber unabhängig von der Aufenthaltsdauer des Zeitreisenden an seinem Ziel vergingen hier im Labor jeweils nur elf Minuten. Er war fast eineinhalb Stunden lang in den San Bernardino Mountains gewesen, aber in seinem eigenen Leben, in seiner eigenen Zeit waren nur elf Minuten verstrichen. Auch wenn er monatelang bei Laura geblieben wäre, bevor er auf den gelben Knopf gedrückt und den Strahl aktiviert hätte, wäre er nur genau elf Minuten nach seiner Abreise ins Institut zurückgekehrt.

Aber wo waren die Uniformen, die Schußwaffen, die wütenden Kollegen, die ihrer Empörung Ausdruck gaben? Weshalb hatten sie das Hauptlabor verlassen, wenn sie doch wußten, daß er in Lauras Leben eingriff, und Kokoschka losgeschickt hatten, um Laura und ihn erledigen zu lassen, und wenn sie nur elf Minuten zu warten brauchten, um den Ausgang dieser Strafex-pedition zu erfahren?

Er legte Stiefel, Seemannsjacke und Schulterhalfter ab und stopfte alles hinter einen Schaltschrank, der etwas von der Wand abgerückt stand. Seinen weißen Laborkittel hatte er dort vor Antritt der Zeitreise versteckt; jetzt schlüpfte er wieder hinein.

Verwirrt und trotz des Fehlens eines feindseligen Empfangskomitees noch immer besorgt, trat Stefan in den Erdgeschoßkorridor hinaus und machte sich auf den Weg in sein Büro.

3

Am Sonntagmorgen um 2.30 Uhr saß Laura in Schlafanzug und Morgenmantel in ihrem neben dem Schlafzimmer gelegenen Arbeitszimmer an ihrem PC, trank in kleinen Schlucken Apfelsaft und arbeitete an einem neuen Buch. Die einzigen Lichtquellen im Raum waren der Bildschirm mit seinen grün leuchtenden elektronischen Lettern und eine kleine Schreibtischlampe, deren Lichtkegel auf den Computerausdruck der gestern geschriebenen Seiten gerichtet war. Neben dem Typoskript lag ein Revolver auf dem Schreibtisch.

Die Tür zum dunklen Flur stand offen. Außer der Klotür machte Laura keine Tür mehr zu, weil eine geschlossene Tür sie daran hätte hindern können, die leisen Schritte eines Eindringlings in einem anderen Teil des Hauses zu hören. Das Haus war durch eine hochmoderne Alarmanlage gesichert, aber sie ließ die inneren Türen für alle Fälle trotzdem offen. Jetzt hörte sie Thelma den Flur entlangkommen und drehte sich um, als ihre Freundin an der Tür erschien. »Habe ich dich geweckt? Tut mir leid, wenn ich zu laut gewesen bin.«

»Nö, wir Nachtclubleute arbeiten immer spät. Dafür schlafe ich bis mittags. Aber was ist mit dir? Bist du normalerweise um diese Zeit auf?«

»Ich schlafe seit Monaten nicht mehr sehr gut. Vier bis fünf Stunden pro Nacht sind schon viel. Anstatt im Bett zu liegen und Schäfchen zu zählen, stehe ich lieber auf und arbeite.«

Thelma zog sich einen Stuhl heran und legte ihre Füße auf Lauras Schreibtisch. Ihr Geschmack in bezug auf Nachtwäsche war seit ihren Jugendtagen noch ausgefallener geworden: Sie hatte einen weiten grünen Seidenschlafanzug mit abstraktem Muster aus roten, blauen und gelben Kreisen und Quadraten an.

»Freut sich zu sehen, daß du noch immer Häschenpantoffeln trägst«, stellte Laura fest. »Das beweist eine gewisse feste Konsistenz deiner Persönlichkeit.«

»Ja, ich bin eben stinksolide. In meiner Größe gibt’s natürlich keine Häschenpantoffeln mehr, deshalb muß ich ein Paar flauschige Erwachsenenpantoffeln und ein Paar Kinderpantoffeln kaufen, die Augen und Ohren von den kleinen abschneiden und sie auf die großen nähen. Was schreibst du im Augenblick?«

»Ein rabenschwarzes Buch.«

»Bestimmt die ideale Lektüre für ein lustiges Wochenende am Strand.«

Laura seufzte und lehnte sich in ihren gasgefederten Bürosessel zurück. »Es ist ein Roman über den Tod, über die Ungerechtigkeit des Todes. Ein idiotisches Projekt, weil ich das Unerklärliche zu erklären versuche. Ich versuche, einem idealen Leser den Tod zu erklären, damit ich ihn dann vielleicht selbst verstehe. Mein Buch handelt davon, weshalb wir kämpfen und weitermachen müssen, obwohl wir uns unserer Sterblichkeit bewußt sind. Weshalb wir kämpfen und leiden müssen. Es ist ein schwarzes, finsteres, verbittertes, trübseliges, deprimierendes, zutiefst verstörendes Buch.«

»Gibt’s dafür einen großen Markt?«

Laura mußte lachen. »Wahrscheinlich gar keinen. Aber sobald ein Schriftsteller eine Idee für einen Roman hat ... Nun, es gleicht einem inneren Feuer, das einen anfangs angenehm wärmt, dann aber beginnt, einen zu verzehren, von innen heraus zu verbrennen. Vor diesem Feuer kann man nicht flüchten; es brennt unablässig weiter. Löschen kann man es nur, indem man das verdammte Buch schreibt. Aber sooft ich mit diesem Roman nicht weiterkommen, beschäftige ich mich mit dem hübschen kleinen Kinderbuch, das ich über Sir Keith Kröterich schreibe.«

»Du spinnst, Shane!«

»Wer trägt hier Häschenpantoffeln?«

Mit der legeren Kameraderie, die sie seit über zwei Jahrzehnten verband, sprachen sie über dieses und jenes. Vielleicht war Lauras Einsamkeit, die sie jetzt stärker beschäftigte als in den Tagen unmittelbar nach Dannys Ermordung, oder ihre Angst vor dem Unbekannten daran schuld, daß sie von ihrem speziellen Beschützer zu erzählen begann. Thelma war der einzige Mensch, der ihr vielleicht glauben würde. Tatsächlich hörte Thelma wie gebannt zu, nahm bald die Füße vom Schreibtisch und beugte sich in ihrem Sessel nach vorn. Sie äußerte kein Wort des Zweifels, während Laura die Ereignisse von dem Tag an, an dem der Junkie erschossen worden war, bis zum Verschwinden ihres Beschützers auf der Staatsstraße 330 schilderte.

Als Laura dieses innere Feuer gelöscht hatte, fragte Thelma: »Warum hast du mir nicht schon vor Jahren von deinem . deinem Beschützer erzählt? Nicht schon damals im McIllroy?«

»Das weiß ich selbst nicht. Die Sache ist mir irgendwie ... magisch vorgekommen. Wie etwas, das ich für mich behalten mußte, weil sonst der Bann gebrochen war und ich ihn nie wiedersehen würde. Und als er’s mir überließ, mit dem Aal fertig zu werden, nicht eingriff, um Ruthie zu retten, glaubte ich wohl nicht mehr recht an ihn. Ich habe Danny nie von ihm erzählt, denn damals ist mein Beschützer mir ungefähr so real vorgekommen wie der Weihnachtsmann. Und dann ... hat er plötzlich auf der Straße vor mir gestanden.«

»In dieser Nacht in den Bergen hat er doch gesagt, er werde in einigen Tagen zurückkommen und dir alles erklären ...?«

»Aber ich habe ihn seitdem nicht wiedergesehen. Ich warte seit sieben Monaten darauf, daß jemand, der plötzlich vor mir auftaucht, mein Beschützer ist - oder, ebenso wahrscheinlich, ein zweiter Kokoschka mit einer Maschinenpistole.«

Thelma war von der Story wie elektrisiert und rutschte in ihrem Sessel hin und her, als stehe sie unter Strom. Zuletzt stand sie auf und ging im Zimmer auf und ab. »Was ist mit Kokoschka? Haben die Cops was über ihn rausgekriegt?«

»Nichts. Er hat keinerlei Papiere bei sich gehabt. Sein Pontiac ist wie der rote Jeep gestohlen gewesen. Die Polizei hat seine Fingerabdrücke mit sämtlichen Karteien verglichen - ohne Ergebnis. Und einen Toten kann man nicht vernehmen. Niemand weiß, wer er war, woher er kam und weshalb er uns erschießen wollte.«

»Du hast viel Zeit gehabt, über die Sache nachzudenken. Wie steht’s mit ein paar Vermutungen? Wer ist dieser Beschützer? Woher kam er?«

»Keine Ahnung.« In Wirklichkeit hatte Laura eine ganz bestimmte Ahnung, die ihr jedoch verrückt erschien und für die sie keinerlei Beweise hätte vorbringen können. Sie verschwieg Thelma diese Vermutung jedoch nicht deshalb, weil sie sie für verrückt hielt, sondern weil sie so egozentrisch geklungen hätte. »Ich weiß es einfach nicht.«

»Wo ist dieser Gürtel, den er bei dir zurückgelassen hat?«

»Der liegt im Safe«, antwortete Laura und deutete mit dem Kopf zu der Ecke hinüber, in der ein in den Boden eingelassener Safe unter dem Teppich verborgen war.

Die beiden schlugen den mit Klebeband befestigten Teppichboden zurück und legten einen Safe frei, der aus einem 40 Zentimeter langen Zylinder mit 30 Zentimeter Durchmesser bestand. Laura öffnete ihn und holte den einzigen Gegenstand heraus, den er enthielt.

Sie gingen an den Schreibtisch zurück, um den geheimnisvollen Gürtel in besserem Licht betrachten zu können. Laura verstellte dazu ihre Arbeitslampe.

Der zehn Zentimeter breite Gürtel bestand aus schwarzem Stretchmaterial, vielleicht Nylon, mit eingewebten Kupferdrähten, die eigentümlich komplizierte Muster bildeten. Wegen seiner Breite benötigte er statt einer Gürtelschnalle zwei kleine Schnallen, die ebenfalls aus Kupfer hergestellt waren. Unmittelbar links neben diesen Schnallen war ein Kästchen von der Größe eines altmodischen Zigarettenetuis - etwa acht mal zehn Zentimeter bei nur knapp zwei Zentimeter Tiefe - aus Kupfer aufgenäht. Selbst eine genaue Untersuchung ließ keine Möglichkeit erkennen, das Kästchen zu öffnen, aus dem in der linken unteren Ecke ein gelber Knopf mit etwa zwei Zentimeter Durchmesser herausragte.

Thelma befühlte das seltsame Material des Gürtels zwischen Daumen und Zeigefinger. »Wiederhole mir noch einmal, was er sagte, daß passieren würde, wenn du auf den gelben Knopf drücken würdest.«

»Er hat mich ermahnt, um Himmels willen nicht draufzudrücken, und als ich ihn nach dem Grund fragte, hat er geantwortet: >Weil du nicht hinwillst, wohin er dich bringen würde.««

Sie standen im Lichtkegel der Schreibtischlampe nebeneinander und starrten den Gürtel an, den Thelma in ihren Händen hielt. Inzwischen war es nach vier Uhr morgens, und das Haus war so still wie irgendein unbelebter Mondkrater.

»Bist du jemals versucht gewesen, auf den Knopf zu drük-ken?« fragte Thelma schließlich.

»Nein, niemals«, antwortete Laura, ohne zu zögern. »Als er von dem Ort sprach, an den der Gürtel mich bringen würde ... da war in seinen Augen ein schrecklicher Ausdruck. Ich weiß, daß er nur widerstrebend dorthin zurückgekehrt ist. Ich weiß nicht, woher er stammt, Thelma, aber wenn ich seinen Ausdruck richtig gedeutet habe, dann muß dieser Ort praktisch die Hölle auf Erden sein.«

Am Sonntagnachmittag gingen sie in Shorts und T-Shirts hinters Haus, breiteten einige Decken auf dem Rasen aus und veranstalteten ein langes, gemütliches Picknick mit Kartoffelsalat, Weißbrot, Aufschnitt, Käse, Obst, Kartoffelchips und dicken Zimtschnitten mit viel Schlagsahne. Sie spielten mit Chris, der diesen Nachmittag vor allem auch deshalb genoß, weil Thelma die Gabe besaß, ihr komisches Talent den Bedürfnissen eines Achtjährigen anzupassen.

Als Chris Eichhörnchen sah, die in der Nähe des Waldrandes umhertollten, wollte er sie füttern. Laura gab ihm eine Scheibe Weißbrot mit. »Die zerteilst du in kleine Stücke, die du ihnen zuwirfst. Sie lassen dich ohnehin nicht zu nah an sich heran. Und du bleibst in meiner Nähe, verstanden?«

»Klar, Mom.«

»Geh nicht an den Waldrand. Nur ungefähr die halbe Strecke bis zum Wald.«

Chris lief ungefähr zehn Meter weit, hatte damit etwas über die Hälfte der Strecke bis zum Waldrand zurückgelegt, und ließ sich auf die Knie nieder. Er riß kleine Weißbrotstücke ab und warf sie den Eichhörnchen zu, und die scheuen Tiere kamen bei jedem Brocken näher heran.

»Ein lieber Junge«, meinte Thelma.

»Sehr lieb.« Laura zog ihre Uzi näher zu sich heran.

»Er ist nur zehn, zwölf Meter von uns entfernt«, stellte Thelma fest.

»Aber dem Waldrand näher als mir.« Laura beobachtete die Schatten unter den grüngezackten Baumriesen.

Thelma angelte sich ein paar Kartoffelchips aus dem Beutel. »Mein erstes Picknick, zu dem jemand eine Maschinenpistole mitgebracht hat. Gefällt mir gar nicht so übel. Wenigstens braucht man keine Angst vor Bären zu haben.«

»Sie hilft natürlich auch gegen Ameisen.«

Thelma streckte sich auf der Seite liegend aus und stützte ihren Kopf in eine Hand. Laura blieb nach Indianerart mit untergeschlagenen Beinen sitzen. Orangerote Schmetterlinge, hell wie konzentrierter Sonnenschein, flatterten durch die warme Augustluft.

»Der Junge scheint mit der Sache fertig zu werden«, sagte Thelma.

»Mehr oder weniger«, stimmte Laura zu. »Anfangs ist’s natürlich schlimm gewesen. Er hat viel geweint, ist emotional labil gewesen. Aber das hat sich wieder gegeben. Kinder in seinem Alter sind wandlungsfähig, passen sich rasch an. Aber obwohl er sich mit allem abgefunden zu haben scheint . ich fürchte, daß er jetzt einen düsteren Zug in sich hat, der früher nicht dagewesen ist und sich nicht wieder verlieren wird.«

»Nein, er verliert sich nicht wieder«, bestätigte Thelma. »Er liegt wie ein Schatten auf seinem Herzen. Aber Chris wird weiterleben und glücklich werden, und es wird Zeiten geben, in denen er sich dieses Schattens überhaupt nicht bewußt sein wird.«

Während Thelma beobachtete, wie Chris die Eichhörnchen anlockte, betrachtete Laura ihre Freundin von der Seite. »Du vermißt Ruth noch immer, nicht wahr?«

»Jeden Tag seit zwanzig Jahren. Vermißt du deinen Vater etwa nicht?«

»Doch«, antwortete Laura. »Aber ich glaube, daß ich etwas anderes empfinde, wenn ich an ihn denke. Wir rechnen damit, daß unsere Eltern vor uns sterben, und selbst wenn sie uns vorzeitig verlassen, werden wir damit fertig, weil wir stets gewußt haben, daß das früher oder später passieren wird. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn Ehepartner, Kinder ... oder Geschwister sterben, mit deren vorzeitigem Tod wir nie gerechnet haben. Deshalb werden wir damit schwerer fertig. Und am schwersten trifft uns wohl der Verlust einer Zwillingsschwester.«

»Bei jeder guten Nachricht - in bezug auf meine Karriere, meine ich - überlege ich mir als erstes, wie sehr Ruthie sich darüber für mich gefreut hätte. Und wie steht’s mit dir, Shane? Wie kommst du zurecht?«

»Ich weine nachts.«

»Das ist jetzt gesund. In einem Jahr wär’s nicht mehr gesund.«

»Ich liege nachts wach und horche auf meinen Herzschlag -ein einsames Geräusch. Gott sei Dank, daß ich Chris habe! Er ist jetzt mein Lebenszweck - und du, Thelma. Ich habe Chris und dich, wir sind eine Art Familie, findest du nicht auch?«

»Nicht nur eine Art Familie. Wir sind eine Familie. Du und ich, wir zwei sind Schwestern.«

Laura streckte lächelnd eine Hand aus und fuhr damit Thel-ma durchs zerzauste Haar.

»Aber«, schränkte Thelma ein, »daß wir Schwestern sind, bedeutet noch lange nicht, daß ich dir meine Klamotten leihe.«

4

Durch die offene Tür der Büro- und Laborräume des Instituts sah Stefan seine Kollegen bei der Arbeit, und keiner von ihnen ließ irgendein besonderes Interesse für ihn erkennen. Er fuhr in den zweiten Stock hinauf, wo er unmittelbar vor seinem Arbeitszimmer auf Dr. Wladislaw Janusky stieß, der als Dr. Wladimir Penlowskis langjähriger Schützling stellvertretender Leiter des Zeitreiseprojekts war, das ursprünglich als Projekt »Sichel« bezeichnet worden war, bis es vor einigen Monaten den zutreffenderen Decknamen »Blitzstraße« erhalten hatte.

Janusky war vierzig, um zehn Jahre jünger als sein Mentor, aber er sah älter aus als der energische, vitale Penlowski. Der kleine, dickliche Mann mit Stirnglatze, fleckigem Teint, zwei blitzenden Goldzähnen im Mund und dicken Brillengläsern, hinter denen seine Augen wie bemalte Eier aussahen, hätte eine komische Figur sein können. Aber sein fanatischer Glaube an den Staat und der Eifer, mit dem er sich für die nationale Sache einsetzte, machten sein komisches Potential mehr als wett; tatsächlich war er einer der unheimlichsten Männer, die an »Blitzstraße« beteiligt waren.

»Ah, mein lieber Stefan«, sagte Janusky, »ich wollte Ihnen noch für Ihren Vorschlag vom Oktober letzten Jahres danken, die Stromversorgung des Tores durch einen eigenen Generator sicherzustellen. Ihr Weitblick hat das Projekt gerettet. Wären wir weiterhin vom städtischen Stromnetz abhängig ... nun, dann wäre das Tor inzwischen ein halbes dutzendmal zusammengebrochen, und wir wären mit unserer Arbeit hoffnungslos im Rückstand.«

Stefan, der erwartet hatte, bei seiner Rückkehr ins Institut verhaftet zu werden, war verwirrt. Sein Verrat war offenbar unentdeckt geblieben, statt dessen wurde er von dieser bösartigen weißen Made gelobt. Hinter seinem Vorschlag, das Tor durch einen unabhängigen Generator mit Strom zu versorgen, hatte keineswegs der Wunsch gestanden, den Erfolg des Projekts zu sichern, sondern er hatte lediglich verhindern wollen, daß seine Zeitreisen in Lauras Leben durch Stromausfälle gestört würden.

»Ich hätte letzten Oktober nicht gedacht, daß die Lage sich bis heute so verschlechtern würde, daß die öffentliche Versorgung nicht mehr zuverlässig arbeitet«, fuhr Janusky fort und schüttelte trüb den Kopf. »Wieviel das Volk ertragen muß, um den Endsieg zu erringen, was?«

»Wir leben in bösen Zeiten«, bestätigte Stefan, der damit etwas ganz anderes meinte als Janusky.

»Aber wir werden siegen!« stellte Janusky nachdrücklich fest. In seinen vergrößerten Augen stand der Wahn, den Stefan so gut kannte. »Wir werden durch >Blitzstraße< siegen!« Er klopfte Stefan auf die Schulter und watschelte den Korridor entlang davon.

»Doktor Janusky?« rief Stefan ihm nach, als der Wissenschaftler schon fast am Aufzug war.

Die fette weiße Made drehte sich nach ihm um. »Ja?«

»Haben Sie Kokoschka heute schon gesehen?«

»Heute? Nein, heute nicht.«

»Aber er ist hier, nicht wahr?«

»Oh, das nehme ich an. Er ist meistens hier, solange irgend jemand arbeitet. Ein vorbildlich diensteifriger Mann. Hätten wir doch mehr Männer wie Kokoschka, stünde der Endsieg längst außer Zweifel. Müssen Sie ihn sprechen? Soll ich ihn zu Ihnen schicken, falls ich ihn irgendwo sehe?«

»Nein, nein,« wehrte Stefan an, »die Sache ist nicht dringend. Ich möchte ihn nicht von irgendwas abhalten. Er begegnet mir bestimmt irgendwo.«

Janusky ging zum Aufzug weiter, und Stefan verschwand in seinem Büro und schloß die Tür hinter sich.

Er kauerte neben dem Aktenschrank nieder, den er etwas seitlich verschoben hatte, damit er ein Drittel des Lüftungsgitters über der Fußbodenleiste abdeckte. In dem schmalen Spalt dahinter waren die aus dem untersten Schlitz kommenden dünnen Kupferdrähte kaum sichtbar. Die Litzen führten zu einem einfachen Zeitschalter, der wiederum mit einer Steckdose hinter dem Schrank verbunden war. Alle Verbindungen waren intakt. Stefan brauchte nur hinter den Aktenschrank zu greifen und den Zeitschalter einzustellen, um im Zeitraum von einer bis fünf Minuten - je nach Schalterstellung - das ganze Institut in die Luft zu jagen.

Was geht hier vor, verdammt noch mal? fragte er sich.

Er blieb eine Weile hinter seinem Schreibtisch sitzen und starrte den Himmelsausschnitt an, den er durch eines der beiden Fenster sehen konnte: Vor azurblauem Hintergrund zogen einzelne schmutzweiße Haufenwolken vorüber.

Schließlich verließ er sein Büro, ging zur Nordtreppe und stieg rasch am dritten Stock vorbei zum Dachboden hinauf. Die Tür knarrte nur kurz, als er sie öffnete. Stefan machte Licht, betrat den langen, nur teilweise ausgebauten Dachraum und bewegte sich so leise wie möglich über die Bodendielen. Er überprüfte drei der vor zwei Nächten angebrachten Sprengladungen. Der Plastiksprengstoff und die Zündkapseln befanden sich unverändert an Ort und Stelle.

Die Sprengladungen im Keller brauchte er nicht eigens zu überprüfen. Er verließ den Dachboden und kehrte in sein Büro zurück.

Offensichtlich wußte niemand von seinem Plan, das Institut zu zerstören, oder von seinen Versuchen, eine Serie von Tragödien in Lauras Leben zu verhindern. Niemand außer Kokoschka. Verdammt noch mal, Kokoschka mußte davon gewußt haben, sonst wäre er nicht mit einer Uzi auf der kalifornischen Bergstraße aufgetaucht.

Weshalb hatte Kokoschka sein Wissen für sich behalten?

Als Beamter der Geheimen Staatspolizei war Kokoschka ein Fanatiker, ein blind gehorsamer Staatsdiener. Und er war persönlich für die Sicherheit des Projekts »Blitzstraße« verantwortlich. Hätte er im Institut einen Verräter vermutet, würde er keinen Augenblick gezögert haben, sofort starke Polizeikräfte zusammenzuziehen, das Gebäude zu umstellen, die Ausgänge bewachen zu lassen und jedermann scharf zu verhören.

Jedenfalls hätte er nicht zugelassen, daß Stefan Laura auf der Bergstraße zu Hilfe kam und danach mit der Absicht folgte, alle im Institut zu töten. Ihm wäre es vor allem darum gegangen, Stefan an der Ausführung seiner Pläne zu hindern und ihn zu vernehmen, um herauszubekommen, ob er etwa im Institut Mitverschwörer hatte.

Kokoschka wußte, daß Stefan die vorausbestimmten Ereignisse im Leben dieser Frau schon mehrmals massiv beeinflußt hatte. Und er hatte die Sprengladungen im Institut entdeckt oder nicht entdeckt - vermutlich nicht, denn sonst hätte er zumindest die Zündleitungen unterbrochen. Und aus nur ihm bekannten Gründen hatte er an diesem Morgen in privater Initiative und nicht offiziell als Polizeibeamter gehandelt. Auch konnte Stefan sich beim besten Willen nicht denken, was Kokoschka dazu bewogen haben sollte, ihm durchs Tor zu diesem Winternachmittag im Januar 1988 zu folgen.

Das war unbegreiflich. Trotzdem mußte es geschehen sein.

Was hatte Kokoschka vorgehabt?

Wahrscheinlich würde er’s nie erfahren.

Jetzt lag Kokoschka im Jahre 1988 tot auf einer kalifornischen Straße, und im Institut würde bald jemand sein Fehlen bemerken.

Unter Penlowskis und Januskys Leitung sollte Stefan an diesem Nachmittag um 14 Uhr eine offizielle Zeitreise unternehmen. Er hatte die Absicht gehabt, das Institut um 13 Uhr - eine Stunde vor Reisebeginn - in die Luft zu jagen. Jetzt, um 11.43 Uhr, kam er zu dem Schluß, rascher als ursprünglich beabsichtigt handeln zu müssen, bevor wegen Kokoschkas Verschwinden Alarm geschlagen wurde.

Er trat an einen der Karteikästen aus Stahlblech, zog die leere untere Schublade auf, hängte sie aus und nahm sie ganz heraus. Hinter ihrer Rückwand war mit Draht eine 9-mm-Pistole befestigt: ein Colt Commander Parabellum mit neunschüssigem Magazin, die er sich auf einer seiner heimlichen Zeitreisen beschafft und ins Institut geschmuggelt hatte. Hinter einer weiteren Schublade holte er zwei hochwirksame Schalldämpfer und vier Reservemagazine hervor. In fliegender Hast, weil jeden Augenblick irgendein Kollege, ohne anzuklopfen, hereinkommen konnte, schraubte er an seinem Schreibtisch einen der Schalldämpfer auf den Lauf der Pistole, entsicherte die Waffe und verteilte den zweiten Schalldämpfer und die Magazine auf die Taschen seines Laborkittels.

Wenn er das Institut zum letzten Mal durch das Tor verließ, durfte er sich nicht darauf verlassen, daß Penlowski, Janusky und weitere Wissenschaftler bei der Sprengung des Instituts bestimmt den Tod finden würden. Die Detonation würde das Gebäude zum Einsturz bringen, zweifellos die meisten Akten vernichten und alle Maschinen zerstören - aber was war, wenn einer der wichtigsten Forscher überlebte? Penlowski oder Janusky konnten das Tor aus dem Gedächtnis rekonstruieren, deshalb wollte Stefan sie und einen weiteren Mann - einen gewissen Wolkow - erschießen, bevor er den Zeitschalter einstellte und das Tor betrat, um zu Laura zurückzukehren.

Mit angeschraubtem Schalldämpfer war die Commander zu lang, um ganz in die Tasche seines Laborkittels zu passen, deshalb kehrte er sie nach draußen und stieß ein Loch in die untere Naht. Mit dem Zeigefinger am Abzug steckte er die Pistole in die jetzt bodenlose Tasche und hielt sie dort fest, während er die Tür seines Büros öffnete und auf den Korridor hinaustrat.

Sein Herz schlug wie rasend. Was jetzt folgte, war der gefährlichste Teil seines Planes, weil so vieles schiefgehen konnte, bevor er die drei Männer erledigt hatte und in sein Büro zurückkehren konnte, um den Zeitzünder einzustellen.

Laura war weit, weit weg, und er würde sie vielleicht nie wiedersehen.

5

Am Montagnachmittag schlüpften Laura und Chris in graue Trainingsanzüge. Nachdem Thelma ihnen geholfen hatte, auf dem Boden der Veranda hinter dem Haus dicke Turnmatten auszurollen, saßen die beiden nebeneinander und machten Atemübungen.

»Wann kommt Bruce Lee?« fragte Thelma.

»Um vierzehn Uhr«, antwortete Laura.

»Er ist nicht Bruce Lee, Tante Thelma«, stellte Chris irritiert fest. »Du nennst ihn immer Bruce Lee, aber Bruce Lee ist tot.«

Mr. Takahami erschien pünktlich um 14 Uhr. Er trug einen blauen Trainingsanzug mit der Aufschrift QUIET STRENGTH

- dem Motto seiner Selbstverteidigungsschule - auf dem Rük-ken. »Sie sind sehr komisch«, versicherte er Thelma, als er ihr vorgestellt wurde. »Und ich finde Ihr Plattenalbum super.«

»Und ich kann Ihnen versichern, daß ich mir aufrichtig wünsche, Japan hätte den Krieg gewonnen«, antwortete Thelma, die bei diesem Lob errötet war.

»Das haben wir doch«, meinte Henry lachend.

Thelma saß in einem Liegestuhl und schlürfte Eistee, während sie zusah, wie Henry Laura und Chris in Selbstverteidigung unterrichtete.

Henry Takahami war Anfang Vierzig und hatte einen muskulösen Oberkörper und sehnige Beine. Er war Judo-, Karate-und Teakwon-do-Meister und lehrte eine auf diesen Systemen basierende Selbstverteidigung, die er selbst entwickelt hatte. Zweimal in der Woche kam er aus Riverside herüber, um Laura und Chris zu unterweisen.

Der grunzend und manchmal schreiend mit Boxhieben, Fußtritten, Beinstellen, Hüftwürfen und Handkantenschlägen geführte Nahkampf wurde sanft genug ausgetragen, um Verletzungen zu vermeiden, aber auch hart genug, um lehrreich zu sein. Die für Chris bestimmten Übungen waren kürzer und weniger anstrengend als die Lauras, und Henry ließ dem Jungen zwischendurch reichlich Zeit, sich wieder zu erholen. Bei Unterrichtsende war Laura wie jedesmal erschöpft und in Schweiß gebadet.

Nachdem Henry sich verabschiedet hatte, schickte Laura ihren Sohn nach oben unter die Dusche, während sie mit Thelma die Matten aufrollte.

»Er ist nett«, sagte Thelma.

»Henry? Ja, das ist er.«

»Vielleicht lerne ich auch Judo oder Karate.«

»Ist dein Publikum in letzter Zeit so unzufrieden mit dir gewesen?«

»Keine Tiefschläge, Shane!«

»Alles ist fair, wenn der Feind gnadenlos und übermächtig ist.«

Als Thelma am nächsten Nachmittag ihr Gepäck in den Kofferraum ihres Camaros legte, fragte sie plötzlich: »He, Shane, erinnerst du dich an die ersten Pflegeeltern, zu denen sie dich vom McIllroy aus geschickt haben?«

»Die Teagels«, sagte Laura. »Flora, Mike - und Hazel.«

Thelma lehnte sich neben Laura an die sonnenwarme Karosserie ihres Wagens. »Weißt du noch, was du uns von Mikes Begeisterung für Zeitungen wie den >National Enquirer< erzählt hast?«

»Ich erinnere mich an die Teagels, als wär’s gestern gewesen.«

»Nun«, fuhr Thelma fort, »ich habe viel über deine seltsamen Erlebnisse nachgedacht - vor allem über deinen Beschützer, der nicht altert und sich in Luft auflösen kann -, mich an die Teagels erinnert und mir überlegt, daß das eine wahre Ironie des Schicksals ist. Wie wir im McIllroy viele Abende lang über den verrückten alten Mike Teagel gelacht haben! Und du erlebst jetzt am eigenen Leib nichts anderes als exotische Nachrichten erster Klasse.«

Laura lachte halblaut. »Du meinst, an all den Geschichten von in Cleveland lebenden Wesen von einem anderen Stern könnte doch etwas Wahres sein, was?«

»Hör zu, ich will damit nur sagen, daß ... daß das Leben voller Wunder und Überraschungen ist. Gewiß, einige Überraschungen sind unangenehm, und manche Tage sind so leer wie der Kopf eines durchschnittlichen Politikers. Trotzdem gibt es Augenblicke, die mich erkennen lassen, daß wir alle aus irgendeinem Grund, so geheimnisvoll er auch sein mag, hier sind. Unser Leben ist nicht bedeutungslos. Wäre es bedeutungslos, gäbe es keine Geheimnisse. Dann wäre es so langweilig und durchschaubar und ohne Geheimnisse wie der Mechanismus einer Kaffeemaschine.«

Laura nickte.

»Meine Güte, hör dir das an! Ich vergewaltige unsere Muttersprache, um irgendeine dümmliche philosophische Erklärung zu finden, die letzten Endes nichts anderes besagt als >Kopf hoch, Kleine!<«

»Du bist nicht dümmlich.«

»Geheimnisse«, sagte Thelma. »Wunder. Du steckst mitten drin, Shane, und das ist der Sinn des Lebens. Und wenn es im Augenblick finster ist ... nun, auch das geht vorüber.«

Sie standen neben dem Auto und umarmten sich schweigend, weil sie nichts hinzuzufügen brauchten, bis Chris mit einem Bild aus dem Haus gerannt kam, das er mit Buntstiften für Thelma gemalt hatte und das sie nach Los Angeles mitnehmen sollte. Es war eine primitive, aber reizende Darstellung von Sir Keith Kröterich, der vor einem Kino stand, über dessen Eingang Thelmas Name in Riesenlettern auf einer Reklametafel prangte.

Chris hatte Tränen in den Augen. »Mußt du wirklich schon fahren, Tante Thelma? Kannst du nicht noch einen Tag bleiben?«

Thelma umarmte ihn und rollte dann die Zeichnung vorsichtig zusammen, als habe er ihr ein unschätzbares Meisterwerk geschenkt. »Ich würde gern länger bleiben, Christopher Robin, aber ich kann nicht. Meine begeisterten Fans fordern lautstark, daß ich diesen Film drehe. Außerdem habe ich eine hohe Hypothek zu tilgen.«

»Was ist eine Hypothek?«

»Die größte Motivation der Welt«, antwortete Thelma und gab ihm einen Abschiedskuß. Sie stieg ein, ließ den Motor an, öffnete das Seitenfenster und blinzelte Laura zu. »Exotische Nachrichten, Shane.«

»Geheimnisse.«

»Wunder!« Laura grüßte zum Abschied mit drei Fingern wie in »Raumschiff Enterprise«.

Thelma lachte. »Du schaffst es bestimmt, Shane. Trotz der Schußwaffen und aller Dinge, die ich seit Freitag gehört habe, mache ich mir jetzt weniger Sorgen um dich als vor meiner Ankunft.«

Chris stand neben Laura, und die beiden sahen Thelmas Wagen nach, bis er die langgestreckte Zufahrt verließ und in die Staatsstraße einbog.

6

Dr. Wladimir Penlowskis Chefbüro lag im dritten Stock des Instituts. Als Stefan das Vorzimmer betrat, war es menschenleer, aber er hörte Stimmen nebenan. Er trat an die einen Spalt weit offene Verbindungstür, stieß sie ganz auf und sah, daß Penlowski seiner Sekretärin Anna Kaspar etwas diktierte.

Penlowski hob den Kopf und schien von Stefans Auftauchen leicht überrascht zu sein. Stefans Nervosität war ihm offenbar anzusehen, denn Penlowski runzelte die Stirn und fragte: »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

»Irgendwas ist seit langem nicht mehr in Ordnung«, erwiderte Stefan, »aber es kommt jetzt in Ordnung, glaube ich.« Während die Falten auf Penlowskis Stirn sich vertieften, zog Stefan die Colt Commander mit Schalldämpfer aus der Tasche seines Laborkittels und schoß den Wissenschaftler zweimal in die Brust.

Anna Kaspar sprang vom Stuhl auf, ließ Bleistift und Stenoblock fallen und öffnete den Mund zu einem Schrei.

Er tötete nicht gern Frauen - er tötete überhaupt nicht gern -, aber in diesem Fall blieb ihm keine andere Wahl, deshalb drückte er dreimal ab, so daß die Schüsse Anna Kaspar rückwärts gegen den Schreibtisch warfen, bevor sie laut aufschreien konnte.

Sie war bereits tot, als sie vom Schreibtisch hinunter zu Boden glitt. Die Schüsse waren nicht lauter gewesen als das Fauchen einer wütenden Katze, und Anna Kaspars Zusammenbrechen nicht so laut, daß es unliebsame Aufmerksamkeit hätte erregen können.

Penlowski war mit offenem Mund und offenen Augen in seinem Sessel zusammengesackt und starrte blicklos vor sich hin. Einer der beiden Schüsse mußte sein Herz getroffen haben, denn auf seinem Hemd zeichnete sich nur ein kleiner Blutfleck ab; sein Herz mußte augenblicklich zu schlagen aufgehört haben.

Stefan verließ rückwärtsgehend den Raum und schloß die Tür hinter sich. Er durchquerte das Vorzimmer, trat in den Korridor hinaus und schloß auch diese Tür.

Sein Puls jagte noch immer. Mit diesen beiden Morden hatte er sich endgültig von seiner eigenen Zeit, von seinem eigenen Volk losgesagt. Eine Zukunft hatte er nur noch in Lauras Zeit. Für ihn gab es jetzt kein Zurück mehr.

Mit den Händen - und der Pistole - in den Taschen seines Laborkittels ging er den Korridor entlang auf Januskys Büro zu. Als er sich der Tür näherte, kamen zwei weitere seiner Kollegen heraus. Sie nickten ihm im Vorbeigehen zu, und er blieb stehen, um zu sehen, ob sie etwa zu Penlowski wollten. In diesem Fall hätte er sie ebenfalls erschießen müssen.

Zu seiner Erleichterung blieben sie bei den Aufzügen stehen. Je mehr Leichen in seinem Kielwasser zurückblieben, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, daß jemand einen Toten entdeckte und Alarm schlug, was Stefan daran hindern würde, den Zeitzünder einzustellen und über die Blitzstraße zu entkommen.

Er betrat das Vorzimmer von Januskys Büro. Die Sekretärin des Wissenschaftlers - auch sie wie Anna Kaspar von der Geheimpolizei - sah lächelnd zu ihm auf.

»Ist Doktor Janusky da?« fragte Stefan.

»Nein, er ist mit Doktor Wolkow unten im Archiv.«

Wolkow war der dritte Mann, der so eingehende Kenntnisse über das Projekt besaß, daß er ebenfalls liquidiert werden mußte. Stefan erschien es als gutes Omen, daß er und Janusky praktischerweise gemeinsam in einem Raum anzutreffen sein würden.

Im Archiv wurden die von den Teilnehmern offizieller Zeitreisen zurückgebrachten vielen Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und weiteren Unterlagen aufbewahrt, studiert und ausgewertet. Gegenwärtig hatten die Erfinder der »Blitzstraße« den Forschungsauftrag, die entscheidenden Zeitpunkte zu finden, an denen Veränderungen des natürlichen Ganges der Ereignisse genau die gewünschten Veränderungen des Laufes der Geschichte bewirken würden.

Auf der Fahrt nach unten wechselte Stefan den Schalldämpfer seiner Pistole im Aufzug gegen den unbenutzten zweiten aus. Der erste hätte noch ein weiteres Dutzend Schüsse ausgehalten, bevor seine Schallblenden ernstlich beschädigt gewesen wären, aber Stefan wolle ihn nicht überbeanspruchen. Der zweite Schalldämpfer war eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme. Außerdem wechselte er das halbleere Magazin gegen ein volles aus.

Der Hauptkorridor im Erdgeschoß war wie immer von Institutsangehörigen belebt, die aus Büros und Labors kamen und gingen. Stefan ließ beide Hände in den Taschen und ging geradewegs ins Archiv.

Als er es betrat, standen Janusky und Wolkow über eine Zeitschrift gebeugt vor einem Eichentisch und diskutierten ziemlich erregt, aber nur halblaut. Sie blickten auf und setzten ihre Diskussion gleich wieder fort, weil sie annahmen, er sei hier, um selbst irgend etwas nachzuschlagen.

Stefan schoß Wolkow zweimal in den Rücken.

Janusky reagierte entsetzt und verwirrt, als sein Kollege, durch die fast lautlosen Schüsse nach vorn geworfen, über dem Tisch zusammenbrach.

Stefan erledigte Janusky mit einem Kopfschuß, bevor er sich abwandte, den Raum verließ und die Tür hinter sich ins Schloß zog. Da er sich nicht zutraute, auch nur halbwegs beherrscht oder zusammenhängend mit Kollegen zu sprechen, spielte er den Gedankenverlorenen und hoffte, daß das sie daran hindern würde, ihn anzusprechen. Er ging so rasch wie möglich zum Aufzug, ohne gleich zu rennen, fuhr in sein Büro im zweiten Stock hinauf, griff hinter den Aktenschrank und drehte den Zeitschalter ganz nach rechts. Nun hatte er gerade noch fünf Minuten Zeit, das Tor zu erreichen und zu flüchten, bevor das Institut in einen brennenden Trümmerhaufen verwandelt wurde.

7

Als das Schuljahr begann, hatte Laura sich eine Ausnahmegenehmigung verschafft, um Chris von einer staatlich anerkannten Privatlehrerin zu Hause unterrichten lassen zu dürfen. Die Dame hieß Ida Palomar und erinnerte Laura an Majorie Main, die verstorbene Hauptdarstellerin der Filme mit Ma und Pa Kettle. Ida war eine imposante Gestalt, ein bißchen rauhbeinig, aber meistens freundlich und vor allem eine ausgezeichnete Lehrerin.

Als die Thanksgiving-Ferien begannen, fühlten Laura und Chris sich nicht mehr als Gefangene, sondern hatten sich an die verhältnismäßige Einsamkeit gewöhnt, in der sie lebten. Tatsächlich genossen sie sogar die besonders enge Beziehung, die sich zwischen ihnen entwickelte, weil es so wenige andere Menschen in ihrem Leben gab.

Am Thanksgiving-Day rief Thelma aus Beverly Hills an, um ihnen zum Fest alles Gute zu wünschen. Laura telefonierte von der Küche aus, in der es appetitanregend nach Truthahnbraten roch. Chris saß im Wohnzimmer und las.

»Ich wollte euch nicht nur alles Gute wünschen«, sagte Thelma, »sondern euch einladen, Weihnachten mit Jason und mir zu verbringen.«

»Jason?« fragte Laura.

»Jason Gaines, der Regisseur«, antwortete Thelma. »Der Regisseur des Films, den ich gerade drehe. Ich bin bei ihm eingezogen.«

»Weiß er schon davon?«

»Hör zu, Shane, ich mache hier die Witze.«

»Entschuldigung.«

»Er liebt mich, sagt er. Ist das nicht verrückt? Jesus, ich meine, da haben wir einen passabel aussehenden Kerl, nur fünf Jahre älter als ich und ohne sichtbaren Defekt, der als millionenschwerer, schrecklich erfolgreicher Filmregisseur so ziemlich jedes vollbusige kleine Sternchen kriegen könnte und trotzdem nur mich will. Er hat natürlich einen Dachschaden, aber den merkt man ihm im Gespräch nicht an, so normal wirkt er. Er behauptet, mich wegen meiner Intelligenz zu lieben ...«

»Weiß er, wie krank dein Gehirn ist?«

»Nicht schon wieder, Shane! Er liebt angeblich meinen Verstand und meinen Sinn für Humor und findet sogar meinen Körper erregend - oder er ist der erste Mann der Welt, der eine Erektion vortäuschen kann.«

»Du hast einen sehr attraktiven Körper.«

»Na ja, ich spiele in letzter Zeit mit dem Gedanken, daß er vielleicht doch nicht so übel ist, wie ich immer geglaubt habe. Falls man Knochigkeit für das weibliche Schönheitsideal schlechthin hält, versteht sich. Aber selbst wenn ich meinen Körper heute noch im Spiegel betrachten kann, sitzt darüber noch immer dieses Gesicht.«

»Du hast ein durchaus hübsches Gesicht - vor allem jetzt, wo es nicht mehr von grünem und purpurrotem Haar umgeben ist.«

»Es ist nicht dein Gesicht, Shane. Was bedeutet, daß ich verrückt sein muß, wenn ich dich über Weihnachten zu uns einlade. Sobald Jason dich sieht, sitze ich in einem Müllsack draußen auf dem Gehsteig. Aber wie steht’s damit? Kommt ihr? Wir drehen den Film in L. A. und Umgebung und werden um den 10. Dezember fertig. Danach hat Jason noch mehr zu tun, weil er die Schneidearbeit überwachen muß, aber in der Weihnachtswoche faulenzen wir. Wir hätten euch gern bei uns. Sag endlich, daß ihr kommt!«

»Natürlich möchte ich den Mann, der clever genug gewesen ist, sich in dich zu verlieben, gern kennenlernen, Thelma, aber ich weiß nicht recht ... Hier fühle ich mich sicher, verstehst du?«

»Hältst du uns etwa für gefährlich?«

»Du weißt, was ich meine.«

»Du kannst eine Uzi mitbringen.«

»Was würde Jason davon halten?«

»Ich erzähle ihm einfach, daß du eine linke Radikalistin, eine Retterin der Pottwale, eine Kämpferin für Müsli ohne Konservierungsstoffe und eine Papageienbefreierin bist, die für den Fall, daß die Weltrevolution überraschend ausbrechen sollte, ständig eine Uzi mit sich rumschleppt. Das glaubt er mir sofort. Wir leben schließlich in Hollywood, Kleine. Die meisten Schauspieler, mit denen er arbeitet, sind politisch noch verrückter.«

Der Durchgang zum Wohnzimmer gab den Blick auf Chris frei, der lesend in einem Sessel hockte.

Laura seufzte. »Vielleicht wär’s besser, wenn wir wieder mehr unter Menschen kämen. Und Weihnachten wird schwierig, wenn Chris und ich allein sind - die ersten Weihnachten ohne Danny. Aber mir ist unbehaglich zumute ...«

»Alles liegt jetzt schon zehn Monate zurück, Laura«, sagte Thelma sanft.

»Aber ich werde dort nicht weniger wachsam sein!«

»Das erwartet niemand von dir. Du kannst deine Uzi mitbringen. Meinetwegen bringst du dein ganzes Arsenal mit, wenn dir dann wohler ist. Hauptsache, du kommst.«

»Gut ... einverstanden.«

»Phantastisch! Ich kann’s kaum noch erwarten, daß du Jason kennenlernst.«

»Soll das heißen, daß die Liebe, die dieser Hollywoodmagnat mit Dachschaden für dich empfindet, erwidert wird?«

»Ich bin verrückt nach ihm«, gab Thelma zu.

»Ich freue mich mit dir, Thelma. Du solltest mich jetzt sehen: Ich stehe hier, kann nicht zu grinsen aufhören und fühle mich so wohl wie seit Monaten nicht mehr.«

Das stimmte. Aber nachdem sie aufgelegt hatte, fehlte Danny ihr mehr als je zuvor.

8

Sobald Stefan den Zeitzünder hinter dem Aktenschrank eingestellt hatte, verließ er sein Büro im zweiten Stock und fuhr ins Hauptlabor im Erdgeschoß hinunter. Es war 12.14 Uhr, und da die planmäßige Zeitreise erst um 14 Uhr stattfinden sollte, war das Hauptlabor menschenleer. Der große Raum war weiter so schwach beleuchtet wie vor über einer Stunde, als Stefan aus den San Bernardino Mountains zurückgekommen war. Die zahlreichen Skalen, Instrumente und Anzeigen der Hilfsaggregate leuchteten blaßgrün und orangerot. Das mehr im Schatten als im Licht liegende Tor erwartete ihn.

Vier Minuten bis zur Detonation.

Er trat sofort ans Hauptprogrammierpult und stellte die Skalen, Schalter und Hebel sorgfältig aufs gewünschte Ziel ein: Südkalifornien, in der Nähe von Big Bear, am 10. Januar 1988 um 20 Uhr - wenige Stunden nach der Ermordung Danny Packards. Stefan hatte die erforderlichen Berechnungen schon vor Tagen angestellt und sich die Ergebnisse aufgeschrieben, so daß er jetzt auf seine Notizen zurückgreifen und die Zeitmaschine in nur einer Minute programmieren konnte.

Hätte er zum Nachmittag des 10. Januar vor dem Unfall und der Schießerei mit Kokoschka reisen können, hätte er’s in der Hoffnung getan, Danny retten zu können. Wie sich jedoch gezeigt hatte, konnte ein Zeitreisender an keinen Ort zurückkehren, wenn der zweite Besuch vor seiner ersten Ankunft stattfinden sollte; irgendein natürlicher Mechanismus verhinderte, daß der Zeitreisende an einen Ort gelangte, an dem er sich selber auf einer früheren Reise hätte begegnen können. Stefan konnte nach Big Bear zurückkehren, nachdem er Laura an diesem Januarabend verlassen hatte, denn da er von der Straße verschwunden war, bestand keine Gefahr mehr, sich selbst zu begegnen. Stellte er jedoch eine Ankunftszeit ein, die diese Möglichkeit nicht ausschloß, würde er sich im Institut wiederfinden, ohne irgendwo gewesen zu sein. Das gehörte zu den vielen rätselhaften Aspekten von Zeitreisen, die ihnen bereits bekannt waren und die sie bei ihrer Arbeit einkalkulierten, ohne sie wirklich zu verstehen.

Nachdem er die Programmierung vorgenommen hatte, warf er einen Blick auf die Koordinatenanzeige, um sich davon zu überzeugen, daß er in der Umgebung von Big Bear ankommen würde. Mit einem weiteren Blick auf die Uhr stellte er zu seiner Verblüffung fest, daß sie den 10. Januar 1989 anzeigte. Er würde also nicht wenige Stunden nach Dannys Tod, sondern ein ganzes Jahr später ankommen!

Stefan wußte bestimmt, daß seine Berechnungen richtig waren; in den vergangenen Wochen hatte er reichlich Zeit gehabt, sie durchzuführen und mehrmals zu überprüfen. Offenbar hatte er in seiner Nervosität die Zahlen falsch eingegeben. Er würde die Programmierung wiederholen müssen.

Weniger als drei Minuten bis zur Detonation.

Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, während er die Augen zusammenkniff und die Zahlen, die er sich aufgeschrieben hatte - das Ergebnis langer Berechnungen - erneut studierte. Als er eben die bisherige Programmierung löschen und seine Zahlen erneut eingeben wollte, hörte er draußen im Korridor Alarmrufe. Die lauten Stimmen schienen vom Nordende des Gebäudes zu kommen, wo das Archiv lag.

Irgend jemand hatte die Leichen Januskys und Wolkows entdeckt.

Er vernahm weitere Rufe. Auf dem Korridor hörte man das Trampeln von Schritten, das sich näherte und wieder entfernte.

Nach einem nervösen Blick zur geschlossenen Korridortür hinüber sagte er sich, daß er keine Zeit haben werde, die Zeit-maschine neu zu programmieren. Er würde sich damit begnügen müssen, mit einem Jahr Verspätung zu Laura zurückzukehren.

Stefan erhob sich mit der Colt Commander mit Schalldämpfer in der rechten Hand vom Programmierpult und trat auf das Tor zu - den auf 30 Zentimeter hohen Kupferblöcken ruhenden, an beiden Enden offenen polierten Stahlzylinder. Er wollte nicht einmal riskieren, sich noch die Zeit zu nehmen, seine Seemannsjacke aus dem Versteck zu holen, in dem er sie vor einer Stunde zurückgelassen hatte.

Das Stimmengewirr auf dem Korridor wurde lauter.

Als er nur noch wenige Schritte vom Tor entfernt war, wurde die Labortür mit solcher Gewalt aufgestoßen, daß sie gegen die Wand krachte.

»Halt, stehenbleiben!«

Stefan erkannte die Stimme, aber er wollte seinen Ohren nicht trauen. Er riß die Pistole hoch, während er sich nach dem Mann umdrehte, der ihn angerufen hatte: Kokoschka, der jetzt ins Labor gestürmt kam.

Unmöglich! Kokoschka war tot. Kokoschka war ihm am Spätnachmittag des 10. Januar 1988 nach Big Bear gefolgt, und er hatte Kokoschka im Schneesturm auf der Bergstraße erschossen.

In seiner Benommenheit drückte Stefan zweimal überhastet ab. Beide Schüsse verfehlten ihr Ziel.

Kokoschka erwiderte das Feuer. Eine Kugel durchschlug Stefans Oberkörper unter dem linken Schlüsselbein und ließ ihn rückwärts gegen die Unterkante des Stahlzylinders torkeln. Aber er blieb auf den Beinen und gab drei weitere Schüsse auf Kokoschka ab, so daß der Schweinehund sich zu Boden werfen und hinter dem nächsten Arbeitstisch in Deckung gehen mußte.

Die Sprengladungen werden in weniger als zwei Minuten detonieren.

Stefan hatte keine Schmerzen, weil er unter Schockeinwir-kung stand. Aber sein linker Arm war kraftlos; er hing wie gelähmt herab. Und eine beharrliche, pechartige zähe Schwärze hatte begonnen, sein Blickfeld immer mehr einzuengen.

Nur wenige der Deckenlampen waren eingeschaltet gewesen, aber jetzt flackerten und erloschen plötzlich auch diese wenigen Lampen, so daß der Raum nur noch durch den schwachen Lichtschein der vielen Anzeigegeräte erhellt wurde. Im ersten Augenblick glaubte Stefan, dieser Lichtabfall sei eine auf eine weitere Bewußtseinstrübung zurückzuführende subjektive Erscheinung, aber dann wurde ihm klar, daß die öffentliche Stromversorgung erneut ausgefallen war - diesmal anscheinend durch Sabotage, weil keine Luftschutzsirenen vor einem Bombenangriff gewarnt hatten.

Kokoschka schoß zweimal aus dem Dunkel und verriet durch das Mündungsfeuer seine Position. Stefan erwiderte das Feuer mit den letzten drei Schüssen aus seiner Waffe, obwohl er nicht hoffen durfte, Kokoschka durch die massive Marmorplatte des Arbeitstischs hindurch zu treffen.

Stefan war dankbar, daß das Tor wegen seiner unabhängigen Stromversorgung weiterhin funktionsfähig war, als er jetzt seine Pistole wegwarf und mit der rechten Hand nach dem Rand des Stahlzylinders griff. Er zog sich hinein und kroch mit verzweifelter Hast auf den Dreiviertelpunkt zu, an dem er das Kraftfeld durchqueren und im Jahr 1989 in die Umgebung von Big Bear versetzt werden würde.

Während er in der Dunkelheit auf zwei Knien und einem heilen Arm weiterkroch, wurde ihm plötzlich klar, daß der Zeitzünder in seinem Büro ans öffentliche Netz angeschlossen war. Das bedeutete, daß der geplante Zündungsablauf durch diesen Stromausfall unterbrochen war.

Voller Verzweiflung begriff Stefan jetzt auch, weshalb Kokoschka nicht im Jahre 1988 tot bei Big Bear zurückgeblieben war. Kokoschka hatte diese Zeitreise noch nicht unternommen. Kokoschka hatte seinen Verrat erst jetzt entdeckt, nachdem Janusky und Wolkow tot aufgefunden worden waren. Bevor die öffentliche Stromversorgung wiederhergestellt war, würde Kokoschka sein Büro durchsuchen, den Zeitzünder finden und die Sprengladung entschärfen. Das Institut würde nicht zerstört werden.

Stefan zögerte und überlegte, ob er zurückkriechen sollte. Im Labor hinter sich hörte er die Stimmen weiterer Sicherheitsbeamter, die Kokoschka zu Hilfe geeilt waren.

Er kroch weiter.

Und was war mit Kokoschka? Der Sicherheitschef würde offenbar zum 10. Januar 1988 reisen und versuchen, ihn auf der Staatsstraße 330 zu liquidieren. Aber es würde ihm nur gelingen, Danny zu erschießen, bevor er selbst den Tod fand. Stefan war der Überzeugung, Kokoschkas Tod sei dessen unabwendbares Schicksal, aber er würde dennoch mehr über die Paradoxe von Zeitreisen nachdenken müssen, um herauszubekommen, ob es nicht auch eine Möglichkeit gab, daß Kokoschka am 10. Januar 1988 nicht erschossen wurde - ein Tod, dessen Augenzeuge Stefan bereits geworden war.

Die mit Zeitreisen verbundenen Komplikationen waren verwirrend genug, wenn man bei klarem Verstand über sie nachdachte. In seinem Zustand - verletzt darum kämpfend, nicht das Bewußtsein zu verlieren - machte ihn diese geistige Anstrengung nur noch benommener. Später. Darüber würde er sich später Sorgen machen.

Im dunklen Labor hinter ihm begann jemand in den Stahlzylinder zu schießen, um ihn vielleicht noch zu treffen, bevor er den Absprungpunkt erreichte.

Stefan kroch den letzten halben Meter. Auf Laura zu. Auf ein neues Leben in einer fernen Zeit zu. Aber er hatte gehofft, die Verbindung zwischen der Zeit, die er verließ, und jener, für die er jetzt optierte, endgültig zu kappen. Statt dessen würde das Tor offenbleiben. Und sie würden durch die Zeit kommen, um ihn zu erledigen. Ihn und auch Laura.

9

Laura und Chris verbrachten Weihnachten bei Thelma im Beverly Hills. Jason Gaines’ Villa hatte 22 Zimmer und stand in einem von einer Mauer umgebenen zweieinhalb Hektar großen Park - ein phantastisch großer Besitz in einem Prominentenviertel, in dem die Grundstückspreise längst schwindelerregende Höhen erreicht hatten. Beim Bau des Hauses in den vierziger Jahren - der ursprüngliche Besitzer hatte als Produzent von verrückten Komödien und Kriegsfilmen Millionen gescheffelt - waren keinerlei Kompromisse in bezug auf Qualität gemacht worden, und sämtliche Räume zeichneten sich durch prachtvolle Details aus, die heutzutage selbst zum Zehnfachen des ursprünglichen Herstellungspreises nicht mehr hätten imitiert werden können: fein ausgeführte Kassettendek-ken, teils in Eiche, teils in Kupfer; kunstvoll geschnitzte Türrahmen; bleigefaßte farbige oder facettierte Fensterscheiben in so tiefen Nischen in den festungsartig dicken Mauern, daß man bequem auf den breiten Fensterbänken sitzen konnte; innere Fensterrahmen aus Holz mit handgeschnitzten Verzierungen, etwa Ranken und Rosen, Cherubim und Banner, springende Hirsche, Vögel mit Bändern im Schnabel; aus Granit gemeißelte äußere Fensterrahmen, von denen zwei mit farbenprächtigen Trauben aus Keramikfrüchten im Della-Robbia-Stil geschmückt waren. Das zweieinhalb Hektar große Villengrundstück war ein sorgfältig gepflegter Park, in dem sich gepflasterte Wege durch eine subtropische Landschaft mit Pfauen, Palmen, duftenden Lorbeerbüschen, Feigenbäumen, mit roten Blüten überladenen Azaleen, Balsamsträuchern und Unmengen Blumen wanden, von denen Laura kaum die Hälfte mit Namen kannte.

Nachdem Laura und Chris am frühen Nachmittag des 24. Dezember, einem Samstag, angekommen waren, führte Thelma sie durchs Haus und durch den Park. Danach tranken sie heißen Kakao und aßen von der Köchin gebackene Pastetchen, die das Dienstmädchen ihnen auf der geräumigen Terrasse über dem Swimming-pool servierte.

»Ist das nicht verrückt, Shane? Hättest du dir vorstellen können, daß ein Mädchen, das fast zehn Jahre in Heimen wie McIllroy und Caswell zugebracht hat, eines Tages hier leben würde, ohne zuerst als Prinzessin wiedergeboren werden zu müssen?«

Die Villa war so imposant, daß sie jeden Eigentümer dazu verleiten konnte, sich für sehr wichtig zu halten, und wer sie besaß, hatte sicher Mühe, nicht eitel und selbstzufrieden aufzutreten. Als Jason Gaines gegen 16 Uhr nach Hause kam, erwies er sich als einer der am wenigsten eingebildeten Männer, die Laura kannte - ein erstaunlicher Zug bei einem Mann, der seit 17 Jahren in der Filmbranche tätig war. Er war 38, um fünf Jahre älter als Thelma, und erinnerte an einen jüngeren Robert Vaughn, was weit besser war als »passabel aussehend«, wie Thelma ihn charakterisiert hatte. Er war kaum eine halbe Stunde zu Hause, als Chris und er bereits in einem seiner drei Hobbyräume mit einer riesigen Modelleisenbahn spielten, die auf einem fünf mal sechs Meter großen Tisch inmitten einer bis ins kleinste nachgebildeten Miniaturlandschaft mit Dörfern, Hügeln, Seen, Windmühlen, Wasserfällen, Straßen, Brücken und Tunnels aufgebaut war.

Während Chris nachts im Zimmer nebenan schlief, besuchte Thelma ihre Freundin. Sie hockten in ihren Schlafanzügen im Schneidersitz auf dem Bett, als wären sie wieder kleine Mädchen, obwohl sie statt der Kekse geröstete Pistazien knabberten und Weihnachts-Champagner tranken statt Milch.

»Das verrückteste daran ist, Shane, daß ich mich trotz meiner Herkunft hier wie zu Hause fühle. Ich komme mir nicht wie eine Fehlbesetzung vor.«

Sie sah auch nicht wie eine Fehlbesetzung aus. Obwohl sie noch immer als Thelma Ackerson erkennbar war, hatte sie sich in den letzten Monaten auffällig verändert. Ihr Haar war eleganter und modischer geschnitten; sie war zum ersten Mal in ihrem Leben braungebrannt; sie trat mehr wie eine Frau und weniger wie eine Komikerin auf, die stets bemüht ist, mit jedem Wort, mit jeder Bewegung einen Lacherfolg zu erzielen. Auch der Schlafanzug der neuen Thelma war unauffälliger -und mehr sexy - als ihre früheren: am Körper anliegende, ungemusterte pfirsichfarbene Seide. Sie trug jedoch noch immer Häschenpantoffeln.

»Häschenpantoffeln«, sagte sie, »erinnern mich daran, wer ich bin. Wer Häschenpantoffeln an den Füßen hat, kann nicht eingebildet werden. Solange man Häschenpantoffeln trägt, ist man nie in Gefahr, sein Gefühl für Proportionen zu verlieren und sich wie ein Star oder eine stinkreiche Lady aufzuführen. Außerdem geben Häschenpantoffeln mir Selbstvertrauen, weil sie flott aussehen und mir dauernd vorsagen: Was auch passiert, ich lasse mich nie sosehr unterkriegen, daß ich nicht mehr verrückt und frivol sein kann. Wenn ich mich nach dem Tod in der Hölle wiederfinde, werd’ ich’s dort mit Häschenpantoffeln aushalten können.«

Der Weihnachtstag verging wie ein schöner Traum. Jason erwies sich als unverbesserlicher Romantiker, der sie dazu anstiftete, das Fest wie in ihrer Kindheit zu feiern.

So versammelten sie sich in Schlafanzug, Bademantel oder Morgenrock unter dem Weihnachtsbaum, sangen Weihnachtslieder, packten lärmend und lachend ihre Geschenke aus, verzichteten auf ein gesundes Frühstück und aßen statt dessen Plätzchen, Süßigkeiten, Nüsse, Obstkuchen und Karamelpopcorn. Jason bewies, daß er nicht nur versucht hatte, den freundlichen Gastgeber zu spielen, als er den Vorabend mit Chris an seiner Modelleisenbahn verbracht hatte; er beschäftigte sich den ganzen Tag mit dem Jungen und ließ dabei Humor und Einfühlungsvermögen erkennen. Beim Abendessen wurde Laura bewußt, daß Chris an diesem Tag mehr gelacht hatte als in den vergangenen elf Monaten.

»Ein Klassetag, was, Mom?« sagte er, als sie ihn zu Bett brachte.

»Ein großartiger Tag«, stimmte sie ihm bei.

»Ich wollte bloß«, murmelte Chris schon schläfrig, »Daddy wäre hiergewesen und hätte mitspielen können.«

»Das hätte ich mir auch gewünscht, Schatz.«

»Aber in gewisser Beziehung ist er dabeigewesen, weil ich viel an ihn gedacht habe. Werde ich immer wissen, wie er gewesen ist, Mom - selbst nach Dutzenden und Dutzenden Jahren noch?«

»Ich werde dir helfen, dich an ihn zu erinnern, Baby.«

»Manchmal gibt’s Kleinigkeiten über ihn, weißt du, an die ich mich nicht mehr genau erinnern kann. Über die ich angestrengt nachdenken muß. Aber ich will ihn nicht vergessen, weil er mein Daddy gewesen ist.«

Als Chris eingeschlafen war, ging Laura durch die Verbindungstür in ihr eigenes Zimmer hinüber. Sie war unendlich erleichtert, als Thelma wenige Minuten später zu einem weiteren Schwatz unter vier Augen aufkreuzte, denn ohne ihre Freundin hätte sie jetzt ein paar sehr schlimme Stunden durchgemacht.

»Nehmen wir mal an, ich hätte Kinder, Shane«, sagte Thelma und setzte sich auf Lauras Bett. »Glaubst du, daß sie in der menschlichen Gesellschaft leben dürften - oder müßten sie in eine Art Aussätzigenkolonie für häßliche Kinder verbannt werden?«

»Red keinen Unsinn!«

»Ich könnte mir natürlich umfangreiche Schönheitsoperationen für sie leisten. Ich meine, selbst wenn sich zeigen sollte, daß sie von zweifelhafter Art sind, könnte ich’s mir leisten, sie halbwegs menschlich zu machen.«

»Deine Art, dich selbst herabzusetzen, macht mich manchmal richtig wütend.«

»Entschuldige. Daß liegt daran, daß ich keine Eltern gehabt habe, die an mich geglaubt haben. Ich habe das Selbstvertrauen und die Selbstzweifel einer Vollwaise.« Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie lachend fragte: »He, weißt du schon das Neueste? Jason will mich heiraten! Anfangs habe ich gedacht, er sei von Dämonen besessen und außerstande, seine Zunge zu beherrschen, aber er versichert mir, daß wir keinen Teufelsaustreiber brauchen - obwohl er offenbar einen leichten Schlaganfall erlitten hat. Na, was hältst du davon?«

»Was ich davon halte? Welche Rolle spielt das schon? Aber wenn du meine Meinung hören willst: ein toller Mann. Du läßt ihn dir doch nicht durch die Lappen gehen, oder?«

»Ich befürchte, daß er zu gut für mich ist.«

»Keiner ist zu gut für dich. Heirate ihn!«

»Ich mache mir Sorgen, daß die Ehe schiefgeht und ich am Boden zerstört zurückbleibe.«

»Und wenn du’s nicht einmal versuchst«, sagte Laura, »ist’ s noch schlimmer - dann bist du allein.«

10

Stefan spürte das vertraute, unangenehme Prickeln, das eine Begleiterscheinung von Zeitreisen war: ein eigenartiges Kribbeln, das von außen kommend Haut, Fleisch und Knochen durchdrang, um dann ebenso rasch vom Knochenmark ausgehend wieder nach außen zu verschwinden. Dann verließ er mit einem Plop! das Tor und torkelte im selben Augenblick am Abend des 10. Januar 1989 ein steiles Schneefeld in den kalifornischen San Bernardino Mountains hinunter.

Er stolperte, fiel auf seine verletzte linke Seite, rollte im Schnee den Hang hinab und wurde erst von einem umgestürzten Baumstamm aufgehalten. Zum ersten Mal seit seiner Schußverletzung spürte er heftige Schmerzen. Er schrie laut auf, wälzte sich auf den Rücken, biß sich auf die Zunge, um nicht ohnmächtig zu werden, und starrte blinzelnd in den um ihn herum herrschenden nächtlichen Aufruhr.

Ein weiterer Blitzstrahl spaltete den Nachthimmel, und aus dem klaffenden Spalt schien grellweißes Licht zu pulsieren. Im geisterhaften Schein der schneebedeckten Erde und im gleißenden Licht der unregelmäßig herabzuckenden Blitze sah Stefan, daß er sich auf einer Waldlichtung befand. Unbelaubte schwarze Bäume reckten ihre kahlen Äste wie fanatische Gläubige, die einen gewalttätigen Gott anbeteten, in den lichtdurchzuckten Himmel. Nadelbäume mit weißen Chorhemden aus Schnee standen wie ernste Priester eines feierlichen Ritus zwischen ihnen.

Bei seiner Ankunft störte ein Zeitreisender das Gleichgewicht der Naturkräfte so sehr, daß dieses nur durch Freisetzung riesiger Energiemengen ausgeglichen werden konnte. Unabhängig von dem am Bestimmungsort herrschenden Wetter geschah das durch heftige Blitzentladungen, denen die ätherische Straße, auf der Zeitreisende sich fortbewegten, die Bezeichnung »Blitzstraße« verdankte. Aus bisher unerklärlichen Gründen löste die Rückkehr ins Institut - in die eigene Zeit des Reisenden - kein derartiges Himmelsfeuerwerk aus.

Wie stets verebbten die anfangs einer Apokalypse würdigen Blitze zu einem fernen Wetterleuchten. Eine Minute später war die Nacht wieder still und dunkel.

Mit dem Nachlassen der Blitzstrahlen waren seine Schmerzen stärker geworden - fast als wären die Blitze, die zuvor den Himmel gespalten hatten, jetzt in seiner Brust, seiner linken Schulter und seinem linken Arm gefangen: viel zu starke Energien, als daß ein Menschenleib sie hätte aufnehmen oder ertragen können.

Er richtete sich kniend auf, kam schwankend auf die Beine und fürchtete, kaum eine Chance zu haben, lebend aus diesem Wald herauszukommen. Bis auf das phosphoreszierende Leuchten der Schneedecke auf der Lichtung war die Nacht unter bewölktem Himmel bedrohlich finster, ja rabenschwarz. Obwohl Windstille herrschte, war die Winterluft eisig, und er trug lediglich einen dünnen Laborkittel über Hemd und Hose.

Noch schlimmer war, daß er unter Umständen kilometerweit von einer Straße oder irgendeinem markanten Geländepunkt entfernt war, der ihm eine Positionsbestimmung ermöglicht hätte. Betrachtete man die Zeitmaschine als Kanone, war ihre Treffsicherheit in bezug auf die Zeit beachtlich, aber das geographische Ziel wurde weit weniger genau getroffen. Der Zeitreisende kam im allgemeinen bis auf zehn Minuten genau zur gewünschten Zeit an - allerdings nicht unbedingt am gewünschten Ort. Manchmal war er weniger als hundert Meter von seinem Ziel entfernt; im ungünstigsten Fall konnten daraus jedoch 20 bis 25 Kilometer werden wie am 10. Januar 1988, als Stefan die Zeitreise unternommen hatte, um Laura, Danny und Chris vor dem Zusammenstoß mit dem schleudernden Kleinlaster der Robertsons zu bewahren.

Bei allen früheren Reisen hatte er eine Karte des Zielgebiets und einen Kompaß bei sich gehabt, um für den Fall gerüstet zu sein, daß er sich in einem unwegsamen Gebiet wie diesem wiederfand. Da seine Seemannsjacke in einer Ecke des Labors zurückgeblieben war, besaß er weder Karte noch Kompaß, und der bewölkte Himmel verhinderte eine Orientierung nach den Sternen.

Er stand ohne Stiefel, nur in Straßenschuhen bis fast zu den Knien im Schnee und hatte das Gefühl, sich sofort bewegen zu müssen, wenn er nicht festfrieren wollte. Nach einem Blick in die Runde, der ihm jedoch nicht die erhoffte Eingebung bescherte, wählte er willkürlich eine Richtung, stapfte los und hielt Ausschau nach einem Wildwechsel oder einem anderen natürlichen Pfad durch den tiefverschneiten Wald.

Seine gesamte linke Körperhälfte vom Hals bis zur Hüfte brannte wie Feuer. Er konnte nur hoffen, daß die Kugel, die durch seinen Oberkörper gegangen war, keine Arterie zerrissen hatte und daß der Blutverlust so langsam fortschritt, daß er Laura zumindest noch erreichte und ihr Gesicht - das Gesicht, das er liebte - noch einmal sehen konnte, bevor er starb.

Der erste Jahrestag von Dannys Ermordung fiel auf einen Dienstag, und obwohl Chris die Bedeutung dieses Tages nicht erwähnte, war klar, daß er sich ihrer bewußt war. Der Junge war ungewöhnlich still. Den größten Teil dieses traurigen Tages verbrachte er damit, im Wohnzimmer lautlos mit seinen »Master of the Universe«-Figuren zu spielen - ein Spiel, für das sonst lautstarke Imitationen von Laserwaffen, Schwertergeklirr und Raketentriebwerksgedröhn charakteristisch waren. Später lag er in seinem Zimmer auf dem Bett und las Comics. Er widerstand allen Bemühungen Lauras, ihn aus seiner selbstgewählten Einsamkeit herauszulocken, was vermutlich nur gut war; jeder ihrer Versuche, heiter zu sein, wäre unglaubwürdig gewesen und hätte Chris nur noch mehr deprimiert, weil er gespürt hätte, wie sehr auch seine Mutter gegen die Erinnerung an ihren schmerzlichen Verlust ankämpfte.

Thelma, die erst vor vier Tagen angerufen hatte, um die frohe Botschaft zu verkünden, daß sie sich entschlossen habe, Jason Gaines zu heiraten, rief gegen 19.15 Uhr an, um mit ihrer Freundin zu schwatzen, als wäre ihr die Bedeutung dieses Tages gar nicht bewußt. Laura telefonierte von ihrem Arbeitszimmer aus, in dem sie noch immer mit dem rabenschwarzen Buch kämpfte, das sie seit einem Jahr beschäftigte.

»He, Shane, stell dir vor, ich habe Paul McCartney kennengelernt! Er war in L. A., um einen Plattenvertrag zu unterschreiben, und wir sind uns am Samstagabend auf einer Party begegnet. Als ich ihn sah, stopfte er sich gerade ein Hors d’œuvre in den Mund; er sagte hallo, hatte Krümel auf den Lippen und war herrlich. Er kennt alle meine Filme und machte mir Komplimente darüber, und wir unterhielten uns - kaum zu glauben, was? -, wir müssen mindestens zwanzig Minuten miteinander geredet haben. Und allmählich ist was ganz Merkwürdiges passiert ...«

»Du hast gemerkt, daß du ihn während eures Gesprächs ausgezogen hattest.«

»Nun, er sieht noch immer blendend aus, weißt du, noch immer dieses Engelsgesicht, für das wir vor zwanzig Jahren geschwärmt haben, aber jetzt natürlich von Erfahrung gezeichnet, geradezu distinguiert und mit einem reizend melancholischen Zug um die Augen, und er ist sehr amüsant und charmant. Zu Anfang hätte ich ihm wohl am liebsten die Kleider vom Leib gerissen, das gebe ich zu, und endlich meinen Traum ausgelebt. Aber je länger wir miteinander redeten, desto mehr verwandelte er sich aus einem Gott in einen Menschen, und binnen Minuten war der Mythos verflogen, Shane, und er war nur mehr ein netter, attraktiver Mann in mittleren Jahren. Na, was hältst du davon?«

»Was soll ich davon halten?«

»Das weiß ich selbst nicht«, gab Thelma zu. »Es beunruhigt mich ein bißchen. Sollte eine lebende Legende, die man kennenlernt, einen nicht etwas länger als zwanzig Minuten beeindrucken? Ich meine, ich kenne unterdessen massenhaft Stars, von denen keiner gottähnlich geblieben ist. Aber das ist McCartney gewesen!«

»Hör zu, wenn dich meine Meinung interessiert, sagt dieser rasche Verlust mythologischer Eigenschaften nichts Negatives über ihn aus, aber viel Positives über dich. Du hast ein Stadium neuer Reife erreicht, Ackerson.«

»Bedeutet das, daß ich mir jetzt am Samstagmorgen keine alten Filme mit den Three Stooges mehr ansehen darf?«

»Die Stooges sind erlaubt, aber Streit ums Essen kommt in Zukunft für dich nicht mehr in Frage.«

Als Thelma um 19.50 Uhr auflegte, fühlte Laura sich etwas besser, deshalb wechselte sie von ihrem rabenschwarzen Buch zu dem über Sir Keith Kröterich. Sie hatte erst zwei Sätze der Kindergeschichte geschrieben, als die Nacht vor den Fenstern durch einen grellweißen Blitz erhellt wurde, der sie entsetzt an eine detonierende Atombombe denken ließ. Der folgende Donner erschütterte das Haus vom Dachfirst bis zu den Fundamenten. Laura sprang auf und war so erschrocken, daß sie sogar vergaß, auf die Speichertaste ihres Computers zu drük-ken. Ein zweiter Blitzstrahl ließ die Fenster wie Fernsehschirme aufleuchten, der Donner grollte diesmal noch lauter.

»Mom!«

Sie drehte sich um und sah Chris an der Tür stehen. »Alles in Ordnung«, versicherte sie ihm. Er kam zu ihr gerannt. Sie setzte sich wieder und zog ihn auf ihren Schoß. »Alles in Ordnung«, wiederholte sie. »Du brauchst keine Angst zu haben, Schatz.«

»Aber es regnet nicht«, wandte er ein. »Warum ist der Donner so laut, wenn’s gar nicht regnet?«

Draußen ging noch fast eine Minute lang eine unglaubliche Serie von Blitzen und einander ablösenden Donnerschlägen nieder, um dann allmählich abzuklingen. Dieser Ausbruch der Naturgewalten war so heftig gewesen, daß Laura sich vorstellte, der zerbrochene Himmel werde am Morgen gleich den Bruchstücken einer riesigen Eierschale herumliegen.

Stefan war noch keine fünf Minuten von der Lichtung entfernt, auf der er gelandet war, als er bereits rasten und sich an den dicken Stamm einer Kiefer lehnen mußte, deren Äste dicht über seinem Kopf begannen. Die Wundschmerzen bewirkten, daß er Ströme von Schweiß vergoß; zugleich fror er in der bitteren Januarkälte, war zu benommen, um stehen zu können, und fürchtete sich andererseits davor, sich hinzusetzen und in einen Schlaf zu verfallen, aus dem es kein Erwachen geben würde. Unter den herabhängenden Ästen der Riesenkiefer, die ihn auf allen Seiten umgaben, hatte er das Gefühl, Zuflucht unter der schwarzen Robe des Todes gesucht zu haben.

Bevor Laura Chris wieder zu Bett brachte, machte sie noch Eisbecher aus Kokos-Mandel-Eiscreme mit Hershley-Schokoladensirup. Während sie am Küchentisch saßen, stellte Laura fest, daß die Niedergeschlagenheit ihres Sohnes verflogen zu sein schien. Vielleicht hatte das bizarre Wetterphänomen, das diesen traurigen Jahrestag so dramatisch beendet hatte, ihn aus seinen Gedanken an den Tod gerissen und zum Staunen über Naturwunder gebracht. Chris plapperte in einem fort über den Blitz, der in dem alten James-Whale-Film, den er vor einer Woche zum ersten Mal gesehen hatte, durch eine Drachenschnur in Dr. Frankensteins Labor gelangt war, über die Blitze, die Donald Duck in einem Cartoon geängstigt hatten, und über die Gewitternacht in dem Film »101 Dalmatiner«, in dem den Welpen so schreckliche Gefahren von Cruella DeVille gedroht hatten.

Als sie Chris zudeckte und ihm einen Gute-Nacht-Kuß gab, lächelte er wieder - ein auffälliger Gegensatz zu dem finsteren Gesichtsausdruck, den er den ganzen Tag über zur Schau getragen hatte. Laura blieb im Sessel neben seinem Bett sitzen, bis er fest schlief, obwohl Chris keine Angst mehr hatte und ihre Gegenwart nicht mehr brauchte. Sie blieb einfach sitzen, weil sie ihn eine Zeitlang ansehen mußte.

Um 21.15 Uhr ging sie in ihr Arbeitszimmer zurück. Aber bevor sie sich wieder an ihren PC setzte, trat sie an eines der Fenster, starrte die Schneefläche vor dem Haus an, verfolgte das schwarze Band der kiesbestreuten Zufahrt bis zur fernen Staatsstraße und blickte zu dem wolkenverhangenen Nachthimmel auf. Irgend etwas an den Blitzen beunruhigte sie zutiefst: Nicht daß sie so ungewöhnlich, so bedrohlich gewesen waren, sondern daß ihre einzigartige, fast übernatürliche Energie irgendwie ... vertraut gewesen war.

Laura ging ins Schlafzimmer und kontrollierte das Schaltpult der Alarmanlage im Einbaukleiderschrank. Alle Türen und Fenster des Hauses waren gesichert. Dann holte sie unter dem Bett eine Uzi hervor, deren übergroßes Sondermagazin 400 Schuß Leichtmunition enthielt. Sie nahm die Maschinenpistole ins Arbeitszimmer mit und legte sie neben ihrem Stuhl auf den Teppichboden.

Als sie sich eben setzen wollte, zuckte erneut ein Blitz herab und erschreckte sie. Der sofort folgende Donnerschlag erschütterte sie bis ins Mark. Noch ein Blitz und noch einer und noch einer leuchtete in den Fenstern auf wie eine Folge grinsender Geisterfratzen aus Ektoplasma.

Während das Himmelsgewölbe zu erzittern schien, hastete Laura zu Chris, um ihn zu beruhigen. Obwohl die Blitze und Donnerschläge beängstigend heftiger waren als zuvor, wachte der Junge zu ihrem Erstaunen nicht auf - vielleicht weil das Getöse ihm als Teil eines Traumes über Dalmatinerwelpen und ihre Abenteuer in einer Gewitternacht erschien.

Auch diesmal fiel kein Regen.

Das Unwetter legte sich rasch, aber Lauras Besorgnis wollte nicht abklingen.

Im Dunkel sah er seltsame pechschwarze Gestalten: Fabelwesen, die durch den Wald huschten und ihn mit Augen beobachteten, die noch schwärzer waren als ihre Leiber. Aber obwohl sie ihn erschreckten und ängstigten, wußte Stefan, daß sie nicht real, sondern nur Ausgeburten seines mehr und mehr verwirrten Geistes waren. Er schleppte sich weiter trotz äußerer Kälte, innerer Hitze, spitzer Kiefernadeln, tückischer Brombeerranken und gelegentlicher Eisplatten, auf denen er den Boden unter den Füßen verlor. Die Schmerzen in Brust, Schulter und Arm wurden so stark, daß er im Delirium zu spüren glaubte, wie Ratten sein Fleisch von innen heraus annagten, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie sie dort hineingelangt sein sollten. Nachdem er mindestens eine Stunde lang herumgeirrt war - es erschien ihm wie viele Stunden, sogar Tage, aber es konnten keine Tage gewesen sein, weil die Sonne nicht aufgegangen war -, erreichte er einen Waldrand und sah am Fuß einer sanft abfallenden weiten Schneefläche ein Haus stehen. Seine Fensterläden waren geschlossen, aber an deren Rändern schimmerte es hell. Drinnen brannte Licht. Stefan verharrte ungläubig, weil er zunächst glaubte, das Haus sei nicht wirklicher als die Unterweltgestalten, die ihn durch den Wald begleitet hatten. Dann begann er sich auf die Fata Morgana zuzubewegen - für den Fall, daß sie doch kein Trugbild aus einem Fiebertraum war.

Schon nach wenigen Schritten zuckte ein Blitz durch die Nacht, schien den Himmel aufzureißen. Die Peitsche knallte noch mehrmals, schien jedes Mal von einem stärkeren Arm geschwungen zu werden.

Während Stefan im Augenblick vor Angst gelähmt war, drehte und wand sein Schatten sich im Schnee vor ihm. Manchmal hatte er zwei Schatten, weil er aus zwei Richtungen gleichzeitig von Blitzen beleuchtet wurde. Ein Sonderkommando war ihm bereits auf der Blitzstraße gefolgt, um ihn zu erledigen, bevor er Laura warnen konnte.

Er sah sich nach den Bäumen um, unter denen er hervorgekommen war. Unter dem stroboskopisch aufleuchtenden Himmel schienen die Nadelbäume auf ihn zuzuspringen, dann wieder zurückzuweichen, sich wieder nach vorn zu bewegen. Dort waren keine Verfolger zu erkennen.

Als das Unwetter nachließ, taumelte Stefan weiter auf das Haus zu. Er stürzte zweimal, raffte sich wieder auf und torkelte weiter, obwohl er fürchtete, beim nächsten Sturz nicht wieder aufstehen oder laut genug rufen zu können, um gehört zu werden.

Laura starrte den Bildschirm an, versuchte an Sir Keith Kröterich zu denken, statt dessen fielen ihr die Blitze ein: die Blitze genau an dem Tag, an dem ihr Vater ihr erstmals von Sir Keith erzählt hatte, der Junkie ins Geschäft gekommen war und sie ihren Beschützer zum ersten Mal gesehen hatte - an jenem Sommertag in ihrem achten Lebensjahr.

Sie setzte sich ruckartig im Sessel auf.

Ihr Herz begann wie rasend zu schlagen.

Blitze dieser unnatürlichen Intensität bedeuteten Unannehmlichkeiten einer ganz bestimmten Art: Unannehmlichkeiten für sie. Während der Bestattung ihres Vaters oder an dem Tag, als Danny starb, hatte es keine Blitze gegeben. Mit einer Gewißheit, die sie nicht hätte erklären können, wußte sie jedoch, daß die Blitze heute abend für sie Schlimmes bedeuteten.

Sie griff nach der Uzi, machte einen Rundgang durch den ersten Stock, kontrollierte die Fenster, sah nach Chris und überzeugte sich davon, daß alles in Ordnung war. Dann hastete sie die Treppe hinunter, um die Räume im Erdgeschoß zu inspizieren.

Als Laura die Küche betrat, schlug etwas gegen die Tür zum Garten. Sie warf sich mit einem ängstlich-verblüfften Aufschrei herum, riß die Uzi hoch und hätte beinahe das Feuer eröffnet.

Aber dies war nicht das entschiedene Geräusch, das jemand machte, der sich gegen die Tür warf, um sie einzudrücken. Es klang nicht so bedrohlich, war kaum lauter als ein Klopfen und wiederholte sich zweimal. Darüber hinaus glaubte sie eine schwache Stimme zu hören, die ihren Namen rief.

Stille.

Laura schlich zur Tür und horchte etwa eine halbe Minute lang nach draußen.

Nichts.

Die Tür war ein Hochsicherheitsmodell mit einer Stahlplatte, die zwischen die zwei je fünf Zentimeter starken Eichenpaneele eingesetzt war, so daß Laura nicht zu befürchten brauchte, sie könnte durch die Tür hindurch erschossen werden. Trotzdem schreckte sie davor zurück, ganz an die Tür heranzutreten und einen Blick durch den Spion zu werfen, weil sie fürchtete, ein von außen gegen die Linse gepreßtes Auge zu sehen, das sie zu beobachten versuchte. Als sie endlich den Mut dazu aufbrachte, zeigte der Spion ihr ein Weitwinkelbild der Veranda, und sie sah einen Mann mit ausgebreiteten Armen auf den Fliesen liegen, als wäre er nach hinten umgefallen, nachdem er an die Tür geklopft hatte.

Falle! dachte sie. Falle, Trick.

Laura schaltete die Außenbeleuchtung ein und trat an das mit Stahlläden gesicherte Fenster neben der Tür. Indem sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie durch die schrägen Lamellen hinaussehen. Der Mann auf der Veranda war ihr Beschützer. Seine Schuhe und Hosenbeine waren schneeverkrustet. Er trug etwas, das wie ein weißer Laborkittel aussah, dessen Vorderseite dunkle Blutflecken aufwies.

Soviel sie erkennen konnte, lauerte niemand auf der Veranda oder auf dem Rasen dahinter, aber sie mußte mit der Möglichkeit rechnen, daß jemand ihn hingelegt hatte, um sie aus dem Haus zu locken. Unter diesen Umständen war es tödlicher Leichtsinn, nachts die Tür zu öffnen.

Trotzdem konnte sie ihn nicht draußen liegen lassen. Nicht ihren Beschützer. Nicht, wenn er verletzt war und vielleicht im Sterben lag.

Sie betätigte den Überbrückungsschalter der Alarmanlage neben der Tür, sperrte die Sicherheitsschlösser auf und trat mit schußbereiter Uzi widerstrebend in die Winternacht hinaus. Niemand schoß auf sie. Auf der nur schwach erhellten Rasenfläche bis zum Waldrand hin war keine Bewegung zu erkennen.

Laura erreichte ihren Beschützer, kniete neben ihm nieder und fühlte seinen Puls. Er lebte. Sie schob eines seiner Lider zurück. Er war bewußtlos. Die Wunde unter seinem linken Schlüsselbein sah schlimm aus, obwohl sie im Augenblick nicht zu bluten schien.

Durch ihre Ausbildung bei Henry Takahami und durch regelmäßiges Krafttraining war sie weit stärker als früher, aber trotzdem nicht stark genug, den Verletzten mit einer Hand hochheben zu können. Sie lehnte die Uzi an den Türrahmen und mußte feststellen, daß sie ihn nicht einmal mit zwei Händen hochheben konnte. Obwohl es wahrscheinlich gefährlich war, einen so schwer Verletzten zu bewegen, war es bestimmt noch gefährlicher, ihn hier in der Kälte liegen zu lassen - vor allem, weil er anscheinend verfolgt wurde. Laura schaffte es, ihn halb hochzuheben und rückwärtsgehend in die Küche zu schleppen, wo sie ihn auf den Boden legte. Mit einem Seufzer der Erleichterung holte sie ihre Uzi herein, sperrte die Tür ab und schaltete die Alarmanlage wieder ein.

Er war erschreckend blaß und eiskalt, deshalb mußte Laura ihm als erstes die schneeverkrusteten Schuhe und Socken ausziehen. Als sie mit dem linken Fuß fertig war und den rechten Schuh aufzuschnüren begann, murmelte er etwas in einer fremden Sprache - allerdings so undeutlich, daß Laura sie nicht identifizieren konnte - und dann auf Englisch etwas von Sprengladungen und Toren und »Gespenstern in den Bäumen«.

Obwohl sie wußte, daß er im Delirium lag und sie vermutlich so wenig verstehen würde, wie sie ihn verstand, redete sie beruhigend auf ihn ein: »Okay, langsam, immer mit der Ruhe, reg dich nicht auf, alles kommt wieder in Ordnung; sobald ich deinen Fuß aus diesem Eisklotz befreit habe, rufe ich einen Arzt an.«

Bei der Erwähnung eines Arztes schreckte er kurz aus seiner Verwirrung auf. Er umklammerte mit schwachem Griff Lauras Arm und starrte sie angstvoll und durchdringend an. »Keinen Arzt. Muß fort ... muß weg von hier ...«

»In deinem Zustand kannst du nirgends hin«, widersprach sie. »Außer mit einem Krankenwagen ins nächste Krankenhaus.«

»Muß aber fort. Schnell! Sie kommen ... kommen bald ...«

Sie sah zu der Uzi hinüber. »Wer kommt?«

»Killer«, sagte er drängend. »Ermorden mich aus Rache. Ermorden dich, ermorden Chris. Sind schon unterwegs.«

Bei diesen Sätzen ließ weder Blick noch Stimme auf ein Delirium schließen. Sein bleiches, schweißnasses Gesicht war nicht mehr schlaff, sondern starr vor Angst. Lauras ganze Schieß- und Selbstverteidigungsausbildung schien plötzlich keine bloße hysterische Vorsichtsmaßnahme mehr. »Okay«, sagte sie. »Wir verschwinden, sobald ich mir deine Wunde angesehen und sie verbunden habe.«

»Nein! Sofort. Müssen sofort weg.«

»Aber ...«

»Sofort«, wiederholte er. In seinen Augen stand ein so gequälter Blick, daß man beinahe glauben konnte, die Killer, von denen er redete, seien keine gewöhnlichen Männer, sondern übernatürliche Wesen.

»Okay«, stimmte sie zu. »Wir fahren sofort.«

Seine Hand glitt von ihrem Arm. Sein Blick wurde verschwommen, er begann heiser sinnloses Zeug zu murmeln.

Als sie durch die Küche hastete, um nach oben zu laufen und Chris zu wecken, hörte sie ihren Beschützer wie im Traum, aber trotzdem ängstlich von einer »großen, schwarzen, unaufhaltbaren Todesmaschine« sprechen, was ihr nichts sagte, sie aber dennoch erschreckte.