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Zweiter TeilVERFOLGUNG

Die lange Gewohnheit zu leben hat uns der Fähigkeit zu sterben beraubt.

Sir Thomas Browne

Ein Heer von Schatten

1

Laura knipste eine Lampe an und rüttelte Chris wach. »Zieh dich an, Schatz.«

»Was iss’n los?« fragte er verschlafen und rieb sich mit seinen kleinen Fäusten die Augen.

»Ein paar böse Männer sind hierher unterwegs, und wir müssen fort, bevor sie kommen. Beeil dich jetzt!«

Chris hatte im vergangenen Jahr nicht nur um seinen Vater getrauert, sondern sich auf den Augenblick vorbereitet, in dem ihr trügerisch friedlicher Alltag durch einen weiteren unerwarteten Ausbruch des Chaos geschüttelt werden würde, das Chaos, das am Grunde aller menschlichen Existenz schlummerte und von Zeit zu Zeit gleich einem Vulkan ausbrach wie in jener Nacht, als sein Vater ermordet worden war. Chris hatte beobachtet, wie seine Mutter sich zu einer erstklassigen Pistolenschützin heranbildete, hatte miterlebt, wie sie ein ganzes Arsenal ansammelte, hatte mit ihr Unterricht in Selbstverteidigung genommen und war in Einstellung und Verhalten trotzdem ein normales Kind geblieben, auch wenn er seit dem Tode seines Vaters verständlicherweise etwas melancholischer gewirkt hatte als andere Kinder. In diesem Augenblick der Krise reagierte er jedoch nicht wie ein Achtjähriger: Er greinte nicht, stellte keine unnötigen Fragen, war weder langsam noch widerspenstig noch schwer von Begriff. Statt dessen schlug er seine Bettdecke zurück, stand sofort auf und lief zum Kleiderschrank.

»Ich warte in der Küche auf dich«, sagte Laura noch.

»Okay, Mom.«

Sie war stolz darauf, wie vernünftig er reagierte, und erleichtert darüber, daß Chris ihre Flucht nicht behindere würde; zugleich betrübte sie jedoch, daß er schon als Achtjähriger die Kürze und Härte des Lebens gut genug begriff, um auf eine Krise rasch und gelassen wie ein Erwachsener zu reagieren.

Laura trug Jeans und eine blaukarierte Flanellbluse. Als sie jetzt in ihr Schlafzimmer ging, brauchte sie nur noch in einen Pullover zu schlüpfen und ihre Freizeitschuhe mit hochschäfti-gen Wanderstiefeln zu vertauschen.

Sie hatte Dannys Sachen weggegeben und besaß deshalb keinen Mantel für den Verletzten. Aber sie hatte reichlich Wolldecken und holte im Vorbeigehen zwei aus dem Wäscheschrank auf dem Flur.

Dann fiel ihr noch etwas ein. Sie hastete in ihr Arbeitszimmer zurück, öffnete den Safe und nahm den eigenartigen schwarzen Gürtel mit Kupferapplikationen heraus, den ihr Beschützer ihr voriges Jahr anvertraut hatte. Sie stopfte ihn in ihre geräumige Umhängetasche.

Im Erdgeschoß holte Laura ihre blaue Daunenjacke aus dem Garderobenschrank in der Diele und nahm die hinter der Haustür hängende Uzi mit. Während sie sich durchs Haus bewegte, achtete sie auf von draußen kommende ungewöhnliche Laute, Stimmen oder Motorengeräusche, aber die Nacht blieb still.

In der Küche legte sie die Uzi zu der anderen Maschinenpistole auf den Tisch und kniete dann neben ihrem Beschützer nieder, der wieder bewußtlos war. Laura knöpfte seinen von Schmelzwasser durchnäßten Laborkittel und das Hemd darunter auf und untersuchte die Schußwunde unter seinem linken Schlüsselbein. Sie saß hoch über dem Herzen, was gut war, aber er hatte viel Blut verloren, mit dem seine Kleidung förmlich getränkt war.

»Mom?« Chris stand für die Winternacht gekleidet an der Küchentür.

»Nimm eine der Uzis mit, hol die dritte aus dem Anrichtezimmer und leg sie in den Jeep.«

»Das ist er!« sagte Chris mit vor Staunen großen Augen.

»Richtig«, bestätigte Laura. »Er ist schwerverletzt bei uns aufgekreuzt. Außer den Uzis nimmst du zwei Revolver mit -den aus der Schublade dort drüben und den aus dem Eßzimmer. Aber sei vorsichtig, damit du nicht versehentlich ...«

»Keine Angst, Mom«, sagte er und machte sich daran, ihre Aufträge auszuführen.

Laura wälzte ihren Beschützer so behutsam wie möglich auf die rechte Seite - er stöhnte dabei, ohne jedoch aus seiner Bewußtlosigkeit zu erwachen -, um nachzusehen, ob er am Rücken eine Austrittswunde hatte. Tatsächlich hatte die Kugel den Oberkörper durchschlagen und war unter dem Schulterblatt ausgetreten. Auch der Rücken des Laborkittels war mit Blut getränkt, aber weder Ein- noch Austrittswunde schienen stark zu bluten; falls er jedoch starke innere Blutungen hatte, so konnte Laura sie weder feststellen noch behandeln.

Unter dem Hemd trug er einen der schwarzen Gürtel mit eingewebten Kupferfäden. Laura nahm ihn ihm ab und stopfte ihn zu dem anderen in ihre geräumige Umhängetasche. Sie knöpfte ihm das Hemd wieder zu und überlegte, ob sie ihm den durchnäßten Laborkittel ausziehen sollte. Aber es wäre zu schwierig gewesen, ihm die Ärmel von den Armen zu ziehen. Also begnügte sie sich damit, ihn erneut auf die Seite zu wälzen, um ihn in eine graue Wolldecke hüllen zu können.

Während Laura den Verletzten einpackte, benützte Chris den Durchgang vom Bügelraum zur Garage, um die Waffen nach draußen in den Jeep zu schaffen. Dann kam er mit einem etwas über einen Meter langen und einen halben Meter breiten Transportwagen - im Prinzip eine massive Sperrholzplatte auf drehbaren Rädern - zurück, die Möbelpacker vor etwas über einem Jahr bei ihnen vergessen und nicht mehr abgeholt hatten.

Er fuhr damit wie auf einem Skateboard zur Tür des Anrichtezimmers. »Wir müssen die Munitionskiste mitnehmen«, sagte er, »aber die kann ich nicht schleppen. Deshalb stelle ich sie hier drauf.«

Laura freute sich darüber, daß er so tatkräftig und clever war. »Wir haben zwölf Schuß in den beiden Revolvern und zwölfhundert in den drei Uzis - das müßte für alle Fälle reichen. Schnell, bring den Karren in die Küche! Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie wir ihn ohne große Erschütterungen zum Jeep transportieren könnten. Das hier scheint die Lösung zu sein.«

Die beiden bewegten sich so rasch, als hätten sie für diesen speziellen Notfall geübt. Trotzdem hatte Laura das Gefühl, sie brauchten viel zu lange. Ihre Hände zitterten, ihre Magennerven hatten sich verkrampft. Sie rechnete jeden Augenblick damit, daß jemand an die Tür hämmern würde.

Chris hielt den Transportwagen fest, während Laura den Verletzten hinaufzog. Als er mit Kopf, Schultern, Rücken und Gesäß auf der Plattform lag, konnte sie seine Beine ergreifen und ihn wie einen Schubkarren vor sich herschieben. Chris, dessen rechte Hand auf der Schulter des Mannes lag, lief gebückt neben ihm her, um zu verhindern, daß er seitlich abrutschte. Die hohe Trittschwelle zwischen Bügelraum und Garage war nicht ganz einfach zu überwinden, aber es gelang ihnen doch, den Verletzten mit dieser Methode in die Dreifachgarage zu schaffen.

Links war der Mercedes geparkt, der Jeep stand rechts, der Platz in der Mitte war frei. Sie rollte ihren Beschützer zu dem Jeep.

Chris hatte bereits die Heckklappe geöffnet und auf der Ladefläche eine kleine Turnmatte als Matratze ausgebreitet.

»Das hast du großartig gemacht!« lobte sie ihn.

Gemeinsam gelang es ihnen, den Verletzten durch die offene Heckklappe in den Jeep zu bugsieren.

»Hol bitte die zweite Decke und seine Schuhe aus der Küche«, verlangte Laura.

Bis der Junge damit zurückkam, hatte Laura ihren Beschützer in Rückenlage auf der Turnmatte ausgestreckt. Sie breiteten die zweite Decke über seine nackten Füße und stellten die durchnäßten Schuhe neben ihn.

»Chris, du steigst schon ein und schnallst dich an«, forderte Laura ihn auf, während sie die Heckklappe schloß.

Sie hastete nochmals ins Haus zurück. Ihre Umhängetasche, in der sie Geld und alle ihre Kreditkarten hatte, lag auf dem Küchentisch. Laura nahm die Tasche über die Schulter, griff nach der dritten Uzi und machte sich auf den Rückweg in die Garage. Aber schon nach wenigen Schritten ließ ein gewaltiger Schlag die aus der Küche ins Freie führende Tür erzittern.

Laura warf sich herum und riß die Waffe hoch.

Noch ein gewaltiger Anprall, aber die Spezialtür mit Stahlkern und Schlage-Sicherheitsschlössern war nicht so leicht aufzubrechen.

Dann begann der Alptraum im Ernst.

Eine Maschinenpistole hämmerte los, und Laura ging hinter dem Kühlschrank in Deckung. Irgend jemand versuchte, die Küchentür aufzuschießen, aber ihr Stahlkern hielt auch diesem Angriff stand. Die ganze Tür erzitterte jedoch, und einige Kugeln durchschlugen das Mauerwerk neben dem ebenfalls verstärkten Türrahmen.

In Küche und Wohnzimmer zersprangen klirrend Fensterscheiben, als eine zweite Maschinenpistole das Feuer eröffnete. Die stählernen Fensterläden schepperten; einige Kugeln gingen zwischen ihren Lamellen hindurch, die dabei verbogen wurden, und ließen Glasscherben auf die Fensterbank und den Boden regnen. Von Kugeln durchschlagene Schranktüren splitterten, von einer Wand sprangen Ziegelteilchen ab, einige Querschläger verbeulten den Dunstabzug aus Kupferblech. Auch die an Haken von den Deckenbalken hängenden Kupfertöpfe und -pfannen erhielten zahlreiche Treffer, die verschiedene Töne erzeugten. Eine der Deckenleuchten zersprang. Dann gaben die Lamellen eines Fensterladens nach, und der nächste Feuerstoß durchsiebte die Kühlschranktür dicht neben Laura.

Ihr Herzschlag raste, eine sprunghaft erhöhte Adrenalinproduktion hatte ihre Sinne fast schmerzhaft geschärft. Am liebsten wäre sie zu dem Jeep in der Garage gelaufen und hätte wegzufahren versucht, bevor die anderen merkten, daß sie fluchtbereit waren, aber ein urtümlicher Kämpferinstinkt veranlaßte sie zum Bleiben. Sie drückte sich außerhalb der Schußlinie an die Seite des Kühlschranks und konnte nur hoffen, daß sie nicht von einem Querschläger getroffen würde.

Wer seid ihr, verdammt noch mal? fragte sie sich wütend.

Als das Feuer verstummte, erwies Lauras Instinkt sich als richtig: Auf die Beschießung folgten nun die bewaffneten Angreifer selbst. Sie stürmten das Haus. Der erste wollte durch das zerschossene Fenster über dem Küchentisch einsteigen. Sie kam hinter dem Kühlschrank hervor, eröffnete das Feuer und warf ihn auf die Veranda zurück. Ein zweiter, schwarz gekleidet wie der erste, kam durch die zersplitterte Schiebetür zum Wohnzimmer. Laura sah ihn eine Sekunde früher als er sie, schwang die Uzi feuerspeiend in seine Richtung, zerschoß die Kaffeemaschine, riß große Brocken aus der Wand neben dem Durchgang und mähte den Angreifer nieder, während er seine Waffe herumzureißen versuchte. Sie hatte in letzter Zeit nicht mehr viel mit der Uzi geübt und war überrascht, wie gut sich ihr Feuer kontrollieren ließ. Ebenso überrascht war sie darüber, wie elend sie sich beim Töten fühlte, obwohl diese Männer versuchten, sie und ihren Sohn zu ermorden. Übelkeit durchflutete sie wie ölig schwappendes Brackwasser, aber Laura würgte die in ihr aufsteigende Galle entschlossen hinunter. Ein dritter Mann war im Wohnzimmer erschienen, und sie war bereit, auch ihn zu erschießen - und hundert andere wie ihn -, selbst wenn ihr davon schlecht wurde, aber er warf sich aus ihrer Schußlinie, als er sah, wie sein Vorgänger durchsiebt wurde.

Jetzt zum Jeep!

Sie wußte nicht, wie viele Killer draußen lauerten; vielleicht waren es lediglich drei Angreifer gewesen, von denen jetzt nur noch einer lebte; vielleicht warteten draußen fünf oder zehn oder fünfzig. Unabhängig von ihrer Anzahl hatten sie bestimmt nicht mit so entschlossener Gegenwehr und schon gar nicht mit solcher Feuerkraft gerechnet - nicht von Seiten einer Frau und eines kleinen Jungen -, zumal sie wahrscheinlich wußten, daß ihr Beschützer verletzt und unbewaffnet war. Deshalb waren die Angreifer zunächst verblüfft in Deckung gegangen, um die Lage zu sondieren und ihr weiteres Vorgehen zu überlegen. Möglicherweise war dies ihre einzige Chance zur Flucht mit dem Jeep. Sie spurtete aus dem Haus hinüber zur Garage.

Laura sah, daß Chris den Motor des Jeeps angelassen hatte, während die Schüsse fielen; aus den Auspuffrohren kamen bläuliche Abgaswolken. Während sie zu dem Fahrzeug rannte, setzte das Garagentor sich nach oben in Bewegung: Chris hatte offenbar die Fernsteuerung betätigt, sobald er sie kommen sah.

Bis sie am Steuer saß, war das Tor zu einem Drittel geöffnet. Sie legte den ersten Gang ein. »Duck dich, Chris!«

Während Chris sofort gehorchte und auf seinem Sitz bis unter die Kante der Windschutzscheibe rutschte, nahm Laura den Fuß von der Bremse. Sie trat das Gaspedal durch, fuhr mit quietschenden Reifen an, ließ eine Gummispur auf dem Betonboden zurück und röhrte unter dem noch hochgehenden Garagentor, dessen untere Kante die Radioantenne abscherte, in die Nacht hinaus.

Die Reifen des Jeeps waren ohne Schneeketten, hatten aber ein grobstolliges Winterprofil. Damit gruben sie sich mühelos in die Mischung aus Kies und gefrorenem Schneematsch, von der die Einfahrt bedeckt war, und schleuderten einen Hagel von Eisbrocken und Kieselsteinen nach hinten.

Von links tauchte eine dunkle Gestalt auf: ein Mann in Schwarz, der zwölf, fünfzehn Meter entfernt über den Rasen lief und bei jedem Schritt Schneewolken aufwirbelte. Es war eine so schemenhafte Gestalt, daß sie lediglich ein Schatten hätte sein können, wenn das Aufheulen des Motors nicht von einem Feuerstoß übertönt worden wäre. Die Flanke des Jeeps erhielt mehrere Treffer, das Fenster hinter Laura zersplitterte, aber das Fahrerfenster blieb unbeschädigt. Sie raste weiter ... nur noch wenige Sekunden, dann waren sie in Sicherheit ... der Fahrtwind heulte und pfiff durch die zersplitterte Scheibe. Sie konnte nur hoffen, daß kein Reifen zerschossen war, hörte, wie das Karosserieblech von weiteren Schüssen getroffen wurde - oder vielleicht nur von wegspritzenden Steinen und Eisbrocken.

An der Einmündung zur Staatsstraße wußte Laura bestimmt, daß sie außer Schußweite waren. Während sie scharf bremste, um nach links abzubiegen, sah sie kurz in den Rückspiegel und erkannte weit hinter sich ein Scheinwerferpaar am Tor der offenen Garage. Die Killer waren ohne Fahrzeug gekommen -der Teufel mochte wissen, wie sie sich fortbewegt hatten, vielleicht mit Hilfe der seltsamen Gürtel - und jetzt im Begriff, sie mit ihrem eigenen Mercedes zu verfolgen.

Sie hatte vorgehabt, an der Staatsstraße 330 nach links abzubiegen, um an Running Springs und der Abzweigung zum Lake Arrowhead vorbei die Autobahn zu erreichen und nach San Bernardino zu fahren, wo es Menschen und Schutz gab, wo schwarzgekleidete Männer mit Maschinenpistolen sie nicht so leicht auf offener Straße überfallen konnten und wo sie ärztliche Hilfe für ihren Beschützer gefunden hätte. Als Laura jedoch die Scheinwerfer hinter sich sah, setzte ihr unterschwelliger Überlebenstrieb sich durch: Sie bog statt dessen rechts ab und fuhr nach Nordosten in Richtung Big Bear Lake weiter.

Wäre sie links abgebogen, hätte sie die unheilvolle, etwa einen Kilometer lange Steigung passieren müssen, auf der Danny vor einem Jahr ermordet worden war. Laura spürte intuitiv, daß der für sie alle gefährlichste Ort der Welt im Augenblick dieser Straßenabschnitt mit seinen zwei schmalen Fahrspuren war. Chris und sie hätten dort schon zweimal den Tod finden sollen: zum ersten Mal, als der Kleinlaster der Robertsons ins Schleudern geriet; zum zweiten Mal, als Kokoschka das Feuer auf sie eröffnete. Manchmal, in Momenten klarsichtigen Denkens, war ihr klar geworden, daß es im Leben vorausbestimmte erfreuliche und bedrohliche Entwicklungen gab - und daß das einmal an deren Verwirklichung gehinderte Schicksal sich bemühte, Vorausbestimmtes durchzusetzen. Obwohl Laura ihre Überzeugung, eine Weiterfahrt in Richtung Running Springs bedeute für sie alle den sicheren Tod, nicht hätte vernünftig begründen können, wußte sie im Innersten ihres Herzens, daß der Tod sie dort erwartet hätte.

Während sie auf die Staatsstraße abbog und zwischen auf beiden Seiten düster aufragenden Nadelbaumriesen in Richtung Big Bear weiterfuhr, setzte Chris sich wieder auf und schaute nach hinten.

»Sie kommen«, erklärte Laura ihm, »aber wir sind schneller.«

»Sind das die Leute, die Daddy erschossen haben?«

»Ja, wahrscheinlich. Aber damals haben wir nichts von ihnen gewußt, waren wir unvorbereitet.«

Auch der Mercedes befand sich jetzt auf der Staatsstraße 330 - allerdings wegen der vielen Kurven, Steigungen und Gefällestrecken meistens außer Sicht. Der Wagen schien etwa 200 Meter hinter ihnen zu sein, aber er holte bestimmt auf, weil er einen größeren, weit stärkeren Motor hatte als der Jeep.

»Wer sind sie?« fragte Chris.

»Das weiß ich nicht sicher, Schatz. Und ich weiß nicht, weshalb sie’s auf uns abgesehen haben. Aber ich weiß, was sie sind: brutale Gewalttäter, der Abschaum der Menschheit. Ich habe solche Typen schon in Caswell Hall kennengelernt und weiß, daß man ihnen energisch entgegentreten muß, weil sie nur davor Respekt haben.«

»Du hast’s ihnen richtig gezeigt, Mom!«

»Und du hast mir klasse geholfen, Kleiner. Das war clever von dir, daß du den Motor angelassen und das Garagentor geöffnet hast. Wahrscheinlich hat uns das gerettet.«

Der Mercedes hinter ihnen war inzwischen auf etwa 100 Meter herangekommen. Der 420 SEL war nicht nur schneller, sondern hatte auch eine hervorragende Straßenlage - viel besser als die des Jeeps.

»Sie kommen schnell näher, Mom.«

»Ich weiß.«

»Wirklich schnell.«

Sie näherten sich dem Ostende des Sees, und Laura hatte plötzlich einen klapprigen alten Dodge-Lieferwagen vor sich, bei dem lediglich ein Rücklicht brannte und dessen rostige Stoßstange anscheinend nur von witzig sein sollenden Aufklebern wie BLONDINEN DÜRFEN ÜBERHOLEN und ICH GEHÖRE ZUR MAFIA zusammengehalten wurde. Er tuckerte unterhalb der Geschwindigkeitsbegrenzung mit etwa 50 Stundenkilometern dahin. Laura wußte, daß der Mercedes zu ihnen aufschließen würde, wenn sie jetzt zögerte; waren die Killer nahe genug heran, konnten sie erneut das Feuer eröffnen. Auf diesem Straßenabschnitt herrschte Überholverbot, aber die freie Gegenfahrbahn reichte knapp für ein Überholmanöver. Laura zog den Jeep nach links, trat das Gaspedal durch, überholte den kleinen Dodge und scherte wieder ein. Unmittelbar davor fuhr ein Buick mit etwas über 60 Stundenkilometern, den sie ebenfalls überholte, bevor die Straße wieder so kurvenreich wurde, daß der Mercedes den alten Dodge nicht mehr überholen konnte.

»Sie sind dahinter hängengeblieben!« berichtete Chris.

Laura fuhr jetzt fast 90 Stundenkilometer, was für einige Kurven zu schnell war, aber sie schaffte es, den Jeep auf der Straße zu halten, und begann zu hoffen, sie würden ihren Verfolgern entkommen. Aber die Straße gabelte sich vor dem See, und weder der Buick noch der alte Dodge folgten dem Jeep das Südufer entlang nach Big Bear City; beide bogen in Richtung Fawnskin am Nordufer ab, so daß die Straße zwischen Laura und dem Mercedes, der sofort aufzuschließen begann, wieder frei war.

Überall standen jetzt Häuser: auf den Hügeln rechts der Straße ebenso wie in dem zum See hin abfallenden Gelände links von ihnen. Manche - vermutlich nur an Wochenenden bewohnte Ferienhäuser - waren unbeleuchtet, aber die Lichter anderer leuchteten zwischen den Bäumen hindurch.

Laura wußte, daß sie einem der Wege, einer dieser Zufahrten zum nächsten Haus folgen konnte, in dem Chris und sie aufgenommen worden wären. Die Bewohner hätten ihnen ohne zu zögern ihre Tür geöffnet. Hier herrschte keine Großstadtatmosphäre; auf dem Lande, in den Bergen waren die Menschen nicht sofort mißtrauisch, wenn nachts unangemeldeter Besuch an ihre Tür klopfte.

Der Mercedes war wieder auf 100 Meter herangekommen, und sein Fahrer betätigte die Lichthupe, als wollte er sagen: He, wir kommen, Laura, wir kriegen dich, wir sind die Buhmänner, wir meinen ’s ernst, uns entkommt niemand, wir holen dich, wir kommen!

Hätte sie in einem der Häuser in der Nähe Zuflucht zu finden versucht, hätten die Killer sie wahrscheinlich dorthin verfolgt und nicht nur Chris und sie, sondern auch die Hausbewohner eiskalt ermordet. Diese Schweinehunde würden vielleicht davor zurückschrecken, sie mitten in San Bernardino, in River-side oder sogar in Redlands zu überfallen, weil sie dort damit rechnen mußten, von der Polizei gestellt zu werden. Aber sie würden sich nicht von einer Handvoll harmloser Außenstehender einschüchtern lassen, zumal sie unabhängig davon, wie viele Menschen sie ermordeten, einer Festnahme bestimmt dadurch entgehen konnten, daß sie auf die gelben Knöpfe an ihren Gürteln drückten und verschwanden, wie Lauras Beschützer vor einem Jahr verschwunden war. Sie hatte keine rechte Vorstellung davon, wohin sie verschwinden würden, aber sie konnte sich denken, daß sie dort für die hiesige Polizei unerreichbar waren. Sie wollte das Leben Unbeteiligter nicht gefährden, deshalb passierte sie Haus nach Haus, ohne ihre Geschwindigkeit zu verringern.

Der Mercedes war noch etwa 50 Meter hinter ihnen und schloß rasch auf.

»Mom .«

»Ich sehe sie, Schatz.«

Sie waren nach Big Bear City unterwegs, das seinen Namen bedauerlicherweise nicht verdiente, denn es war nicht nur keine City, sondern nur ein ziemlich kleines Dorf, kaum größer als ein Weiler. Dort gab es nicht so viele Straßen, daß Laura hätte hoffen können, ihre Verfolger abzuschütteln, und das stationierte Polizeikontingent reichte nicht aus, mit Maschinenpistolen bewaffnete Fanatiker abzuwehren.

Der Gegenverkehr war nur schwach. Laura schloß zu einem in ihre Richtung fahrenden grauen Volvo auf und überholte ihn praktisch blind, weil ihr nichts anderes übrigblieb, da der Mercedes auf 40 Meter herangekommen war. Der Mercedesfahrer überholte den Volvo mit einem ebenso gewagten Manöver.

»Wie geht’s unserem Passagier?« erkundigte Laura sich.

Chris drehte sich nach hinten um, ohne seinen Sicherheitsgurt zu lösen. »Einigermaßen, schätze ich. Er rutscht natürlich viel herum.«

»Das kann ich nicht ändern.«

»Wer ist er, Mom?«

»Ich weiß nicht allzuviel über ihn«, sagte Laura. »Aber sobald wir in Sicherheit sind, erzähle ich dir alles, was ich weiß. Das habe ich bisher noch nicht getan, weil ... na ja, weil ich selbst nicht genug gewußt habe und Angst hatte, für dich könnte es gefährlich sein, überhaupt etwas über ihn zu wissen. Aber gefährlicher als jetzt kann’s kaum werden, stimmt’s? Wir reden also später über ihn.«

Falls es überhaupt ein Später gab.

Nach etwa zwei Dritteln der Strecke entlang dem Südufer des Sees, der Mercedes der Killer war inzwischen auf 30 Meter herangekommen, sah Laura eine Hinweistafel auf die vor ihnen abzweigende Nebenstrecke. Sie führte an Clark’s Summit vorbei durch die Berge: 15 Kilometer Landstraße, die den über 50 Kilometer langen Bogen der Staatsstraße 38 abschnitten und bei Barton Fiats wieder auf sie stießen. Soweit Laura sich erinnerte, waren Anfang und Ende der Bergstraße auf einigen Kilometern asphaltiert, aber die mittleren acht bis zehn Kilometer waren unbefestigt. Im Gegensatz zu ihrem Jeep hatte der Mercedes keinen Allradantrieb; er war mit Winterreifen ausgerüstet, hatte aber keine Schneeketten. Der Mann am Steuer wußte bestimmt nicht, daß der Asphaltbelag der Bergstraße schon bald vereisten und zum Teil verschneiten Fahrrinnen Platz machen würde.

»Halt dich fest!« forderte sie Chris auf.

Sie bremste erst im letzten Augenblick und nahm die Rechtskurve zur Bergstraße so schnell, daß der Jeep sich mit protestierend quietschenden Reifen querstellte. Zugleich erzitterte das Fahrzeug dabei wie ein altes Pferd, das zu einem gefährlichen Sprung gezwungen worden war.

Dem Mercedes gelang die Richtungsänderung besser, obwohl Lauras Abbiegen für seinen Fahrer überraschend gekommen sein mußte. Auf der kurvenreichen Bergstraße verkürzte er den Abstand erneut auf etwa 30 Meter.

Dann auf 25 Meter. Auf 20 Meter.

Über den Nachthimmel im Süden flackerten plötzlich grellweiße Blitze: nicht so nahe wie die vorigen, die sie zu Hause erlebt hatten, aber nahe genug, um die Nacht zum Tage zu machen. Der Donner übertönte selbst das Röhren des Jeepmotors.

»Mommy, was ist hier los?« fragte Chris, der das Naturschauspiel mit angehaltenem Atem beobachtete. »Was hat das zu bedeuten?«

»Keine Ahnung«, antwortete sie und mußte schreien, um die Kakophonie aus Motorenlärm und Donnergrollen zu übertönen.

Laura hörte keine Schüsse, aber sie hörte, wie der Jeep von Kugeln getroffen wurde, spürte den Schlag, mit dem eine durchs Heckfenster kommende Kugel sich in ihre Rückenlehne bohrte. Um den Killern das Zielen zu erschweren, lenkte sie den Jeep in wildem Zickzack über die Straße, wobei ihr im flackernden Schein der Blitze fast schwindlig wurde. Der Schütze mußte das Feuer eingestellt oder nicht mehr getroffen haben, denn Laura hörte keine Einschläge mehr. Durch das Fahren im Zickzack war sie jedoch langsamer geworden, und der Mercedes kam unaufhaltsam näher.

Statt des Rückspiegels mußte sie die beiden Außenspiegel benützen. Obwohl das Heckfenster noch weitgehend intakt war, zogen sich Hunderte von feinen Sprüngen durch das Sicherheitsglas und machten es undurchsichtig.

Noch 15 Meter, nur noch 10 Meter.

Laura fuhr über eine Kuppe und sah, daß die asphaltierte Fahrbahn nach etwa der Hälfte der vor ihr liegenden Gefällestrecke endete. Sie hörte auf, Zickzacklinien zu fahren, und gab statt dessen Gas. Als der Jeep den Asphalt verließ, wäre er beinahe ins Schleudern geraten, aber dann faßten die grobstol-ligen Reifen in Eis und Geröll. Der Jeep rumpelte über mehrere Querrillen, durch eine Senke, in der Bäume ein geschlossenes Dach über ihnen bildeten, und die nächste Steigung hinauf.

In den Außenspiegeln beobachtete Laura, wie der Mercedes die Senke durchquerte und die Steigung in Angriff nahm. Als der Jeep eben die Kuppe erreichte, begann der Wagen hinter ihnen zu schlingern, geriet ins Schleudern, so daß seine Scheinwerfer plötzlich über den Straßenrand hinausleuchteten. Der Fahrer korrigierte mit zu hastigen Lenkausschlägen und gab zuviel Gas. Die Hinterräder des Mercedes drehten durch, der Wagen kam nicht nur zum Stehen, sondern rutschte zurück, bis sein rechtes Hinterrad in den Straßengraben geriet. Die Scheinwerfer strahlten jetzt schräg über die Bergstraße hinweg in den Nachthimmel.

»Sie sitzen fest!« rief Chris.

»Dort rauszukommen dauert mindestens eine halbe Stunde.«

Laura fuhr über die Kuppe und hatte im Scheinwerferlicht das nächste Gefälle der dunklen Bergstraße vor sich.

Obwohl Laura Jubel oder zumindest Erleichterung hätte verspüren müssen, war ihre Angst unvermindert da. Sie ahnte, daß sie noch keineswegs in Sicherheit waren, hatte vor über zwei Jahrzehnten gelernt, ihren Ahnungen zu vertrauen - wie in jener Nacht, als sie vermutete, der Weiße Aal werde auf der Suche nach ihr ins McIllroy kommen, und dann die von ihm zurückgelassene Tootsie Roll unter ihrem Kopfkissen fand. Ahnungen waren schließlich nichts anderes als Botschaften des Unterbewußtseins, das ständig höchst aktiv war und Informationen verarbeitete, die man nur unbewußt aufgenommen hatte.

Irgend etwas stimmte hier nicht. Aber was?

Auf der engen, kurvenreichen, vereisten Bergstraße mit ihren zahlreichen Schlaglöchern und Querrillen kamen sie nur mit Tempo 30 voran. Eine Zeitlang folgte die Straße einem baumlosen Felsgrat, um dann in Serpentinen auf den Boden einer Schlucht hinunterzuführen, in der die Bäume auf beiden Straßenseiten so dicht standen, daß ihre Stämme im Scheinwerferlicht massive Kiefernwände zu bilden schienen.

Auf der Ladefläche des Jeeps murmelte ihr Beschützer im Fieber unverständliche Worte vor sich hin. Laura machte sich Sorgen um ihn; sie wäre gern schneller gefahren, aber sie hatte Angst, ebenfalls im Graben zu landen.

Nachdem sie ihre Verfolger abgeschüttelt hatten, schwieg Chris zunächst einige Kilometer lang. »Im Haus ... hast du im Haus einen von ihnen erwischt?« fragte er dann.

Sie zögerte. »Ja, zwei.«

»Gut!«

Die aus diesem Wort sprechende grimmige Freude beunruhigte Laura. »Nein, Chris, es ist nicht gut, einen Menschen zu erschießen«, widersprach sie. »Mir ist davon ganz übel geworden.«

»Aber sie hatten den Tod verdient«, stellte er fest.

»Ja, das stimmt. Aber das bedeutet noch lange nicht, daß es ein Vergnügen war, sie zu erschießen. Durchaus nicht! Das ist keineswegs befriedigend. Man empfindet lediglich ... Abscheu von der Notwendigkeit. Und Trauer über das Unvermeidliche.«

»Ich wollte, ich hätte einen von ihnen abknallen können«, sagte Chris mit einer kalten Wut, die für einen Jungen in seinem Alter beunruhigend war.

Laura sah zu ihrem Sohn hinüber. Im schwachen Lichtschein der Instrumentenbeleuchtung wirkte er älter, als er in Wirklichkeit war, und sie ahnte, wie er als Mann aussehen würde.

Als Felsblöcke auf dem Boden der Schlucht die Durchfahrt versperrten, stieg die Straße wieder an und folgte einer natürlichen Terrasse auf halber Höhe der steil in die Schlucht abfallenden Wand.

Laura starrte weiter angestrengt nach vorn. »Schatz, darüber müssen wir uns später ausführlich unterhalten. Im Augenblick möchte ich nur, daß du mir gut zuhörst und etwas zu begreifen versuchst. Auf der Welt gibt’s eine Menge schlechter Philosophien. Weißt du, was eine Philosophie ist?«

»Einigermaßen. Nein ... nicht wirklich.«

»Dann genügt fürs erste die Feststellung, daß viele Menschen Überzeugungen haben, die schlecht für sie sind. Aber zwei, die voneinander sehr verschiedene Menschen haben, sind die schlimmsten, gefährlichsten und falschesten von allen. Manche Menschen sind der Überzeugung, Probleme ließen sich am besten mit Gewalt lösen: Sie verprügeln oder ermorden jeden, der nicht ihrer Meinung ist.«

»Wie die Kerle, die hinter uns her sind.«

»Ja, sie gehören offenbar zu diesem Typ. Aber das ist eine ganz schlimme Auffassung, denn Gewalt erzeugt immer wieder neue Gewalt. Außerdem gibt’s keine Gerechtigkeit, keinen Augenblick Frieden und keine Hoffnung, wenn man Meinungsverschiedenheiten mit der Waffe löst. Hast du das verstanden?«

»Ja, so ungefähr. Aber was ist die zweite schlimme Denkweise?«

»Pazifismus«, antwortete Laura. »Das ist genau das Gegenteil der ersten schlimmen Denkweise. Pazifisten sind der Überzeugung, man solle niemals die Hand gegen einen Mitmenschen erheben - egal was er einem angetan hat oder offensichtlich antun will. Nehmen wir einmal an, ein Pazifist stünde neben seinem Bruder und sähe einen Mann kommen, der seinen Bruder ermorden will; dann würde er seinen Bruder zum Weglaufen drängen - aber er würde keine Waffe in die Hand nehmen, um den Killer zu erledigen.«

»Er würde seinen Bruder nicht verteidigen?« fragte Chris erstaunt.

»Richtig. Schlimmstenfalls würde er lieber seinen Bruder ermorden lassen, als gegen seine Grundsätze zu verstoßen und selbst zum Mörder zu werden.«

»Das ist verrückt.«

Die Straße führte um einen Felsvorsprung herum und senkte sich ins nächste Tal hinab. Die Kiefernäste hingen so tief herunter, daß sie das Dach des Jeeps streiften; Schneeklumpen fielen auf Motorhaube und Windschutzscheibe.

Laura schaltete die Scheibenwischer ein, starrte angestrengt nach vorn und benützte den Wechsel der Szenerie als Ausrede, um nicht weitersprechen zu müssen, bevor sie sich überlegt hatte, wie sie den Punkt, auf den es ihr ankam, am deutlichsten herausarbeiten konnte. In der vergangenen Stunde hatte sie viel Gewalt erlebt; in Zukunft würden sie vielleicht noch mehr Gewalt erleben, und es kam ihr darauf an, Chris die richtige Einstellung dazu zu vermitteln. Er sollte nicht glauben, Muskeln und Schußwaffen seien ein annehmbarer Ersatz für Vernunft. Andererseits sollten ihre Erlebnisse kein Trauma hervorrufen und bewirken, daß er Gewalt fürchtete, nur weil er überleben wollte, wenn es ihn seine persönliche Würde kostete. »Manche Pazifisten sind getarnte Feiglinge«, sagte Laura schließlich, »aber andere glauben tatsächlich, es sei besser, die Ermordung eines Unschuldigen zuzulassen, als selbst zu töten, um diesen Mord zu verhindern. Aber das ist falsch, denn wer nicht gegen das Böse kämpft, macht mit ihm gemeinsame Sache. Er ist ebenso schlimm wie der Mann, der den Abzug betätigt. Vielleicht ist das jetzt noch zu hoch für dich, vielleicht mußt du noch viel darüber nachdenken, bevor du’s verstehst, aber es ist wichtig, daß du erkennst, daß es einen Mittelweg zwischen Killern und Pazifisten gibt. Man bemüht sich, Gewalt zu vermeiden. Man greift niemals als erster zu diesem Mittel. Aber sobald jemand Gewalt anwendet, verteidigt man sich, seine Angehörigen, seine Freunde und jeden anderen Gefährdeten. Ich habe darunter gelitten, diese beiden Männer im Haus erschießen zu müssen. Ich bin keine Heldin. Ich bin nicht stolz darauf, sie erschossen zu haben - aber ich schäme mich auch nicht, es getan zu haben. Ich will nicht, daß du deswegen stolz auf mich bist oder glaubst, der Tod dieser Männer sei befriedigend für mich, weil Rache mich Daddys Ermordung leichter ertragen läßt. Das ist keineswegs so.«

Chris gab keine Antwort.

»Habe ich dir zuviel zugemutet?« fragte sie besorgt.

»Nein, aber ich muß erst darüber nachdenken«, antwortete er. »Im Augenblick denke ich noch böse, glaube ich. Weil ich allen, die etwas mit ... mit Daddys Ende zu tun haben, den Tod wünsche. Aber ich verspreche dir, daran zu arbeiten, Mom. Ich will versuchen, ein besserer Mensch zu werden.«

Sie lächelte. »Das wirst du bestimmt, Chris.«

Während sie nach ihrem Gespräch beide minutenlang schwiegen, wurde Laura das Gefühl nicht los, ihnen drohe weiterhin unmittelbare Gefahr. Sie waren ungefähr zehn Kilometer auf der Bergstraße gefahren und hatten noch knapp zwei Kilometer bis zu dem asphaltierten Straßenstück, das zur Staatsstraße 38 führte. Je länger sie fuhr, desto gewisser wurde ihre Ahnung, sie habe irgend etwas übersehen und müsse auf die nächste Krise gefaßt sein.

Laura hielt plötzlich auf der Kuppe, nach der die Straße sich ins Tal senkte, stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus.

»Was ist los?« fragte Chris.

»Nichts. Ich muß nur überlegen und nach unserem Mitfahrer sehen.«

Sie stieg aus und ging um den Jeep herum nach hinten. Als sie die Heckklappe öffnete, brachen Teile der zerschossenen Scheibe heraus und fielen ihr vor die Füße. Laura kletterte auf die Ladefläche, streckte sich neben ihrem Beschützer aus und fühlte nach dem Puls des Verletzten. Er schlug noch immer schwach, vielleicht schwächer als zuvor, aber wenigstens gleichmäßig. Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn und merkte, daß er nicht mehr eiskalt war, sondern von innen heraus zu glühen schien. Chris reichte ihr die Taschenlampe aus dem Handschuhfach nach hinten. Sie schlug die Decken zurück, um nachzusehen, ob der Verletzte etwa wieder stärker blutete. Seine Schußwunde sah schlimm aus, aber sie schien nur mehr wenig geblutet zu haben, obwohl der Mann auf der Ladefläche hin und her geworfen worden war. Sie deckte ihn wieder zu, gab Chris die Taschenlampe zurück, kletterte aus dem Jeep und schloß die Heckklappe.

Laura brach die restlichen Glassplitter aus dem Heckfenster und dem kleineren Seitenfenster hinten auf der Fahrerseite. Ohne jegliches Glas war der Schaden weniger auffällig, so daß die Wahrscheinlichkeit geringer war, daß ein Cop oder sonst jemand darauf aufmerksam wurde.

Sie blieb eine Zeitlang in der Kälte neben dem Jeep stehen, starrte in die lichtlose Wildnis und bemühte sich, eine Verbindung zwischen Instinkt und Vernunft herzustellen: Weshalb war sie so überzeugt, eine weitere Krise meistern zu müssen, bei der es wieder gewalttätig zugehen würde?

In der Höhe riß ein starker Westwind die Wolken auf und trieb sie vor sich her nach Osten, aber der Höhenwind hatte sich noch nicht bis zum Boden durchgesetzt, wo es eigenartig windstill blieb. Durch diese unregelmäßigen Wolkenlöcher fiel Mondschein und tauchte die verschneite Landschaft mit Hügeln und Tälern, nachtschwarzen Kiefern und hellen zusammengedrängten Felsformationen in silberglänzendes, fast unheimliches Licht.

Laura blickte nach Süden, wo die Bergstraße nach wenigen Kilometern in die Staatsstraße 38 einmündete, und konnte nichts Bedrohliches erkennen. Sie schaute nach Osten und Westen und zuletzt nach Norden, wo sie hergekommen waren; überall schienen die San Bernardino Mountains völlig unbewohnt zu sein - ohne ein einziges Licht, das ihre aus Urzeiten bewahrte Reinheit und Stille gestört hätte.

Sie stellte sich dieselben Fragen und erhielt dieselben Antworten, die seit einem Jahr Bestandteil eines inneren Dialogs gewesen waren. Woher kamen die Männer mit den Gürteln? Von einem anderen Planeten, aus einer anderen Galaxie? Nein, sie waren so menschlich wie sie selbst. Vielleicht kamen sie aus der Sowjetunion. Vielleicht fungierten die Gürtel als Materietransmitter - wie die Teleportationskammern in dem Science-fiction-Film, den sie einmal gesehen hatte. Das hätte eine Erklärung für den Akzent ihres Beschützers sein können - falls er durch Teleportation aus der Sowjetunion kam -, aber es erklärte nicht, weshalb er in einem Vierteljahrhundert nicht gealtert war. Außerdem glaubte Laura nicht im Ernst, daß die Russen oder sonst jemand seit ihrem achten Lebensjahr über einsatzreife Materietransmitter verfügten. Blieben also nur Zeitreisen übrig.

Mit dieser Möglichkeit spielte Laura schon seit einigen Monaten, obwohl sie sich ihrer Sache bisher nicht einmal so sicher war, daß sie sie Thelma gegenüber erwähnt hätte. War ihr Beschützer jedoch als Zeitreisender in entscheidenden Augenblicken ihres Lebens aufgekreuzt, dann konnte er alle seine Reisen binnen einer Woche oder eines Monats seiner eigenen Zeit durchgeführt haben, während für sie viele Jahre verstrichen waren, so daß er dabei nicht gealtert war. Bis sie ihn ausfragen und sich die Wahrheit erzählen lassen konnte, war die Zeitreisetheorie die einzig logische: Ihr Beschützer war aus einer zukünftigen Welt zu ihr gekommen, und diese Zukunft schien sehr unerfreulich zu sein, denn als sie über den Gürtel gesprochen hatten, hatte er ernst und bedrückt gesagt: »Du würdest nicht hinwollen, wohin er dich bringen würde.«

Sie hatte keine Ahnung, weshalb ein Zeitreisender aus der Zukunft zurückkehren sollte, um ausgerechnet sie vor bewaffneten Junkies und schleudernden Lastwagen zu retten, aber darüber konnte sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen.

Die Nacht war dunkel, still und kalt.

Vor ihnen lauerten irgendwelche Gefahren.

Das wußte Laura, aber sie wußte nicht, woher sie kommen und woraus sie bestehen würden.

»He, was ist jetzt wieder los?« fragte Chris, als sie einstieg.

»Du stehst doch auf >Raumschiff Enterprisec, >Krieg der Sterne< und ähnliches Zeug - daher könntest du in diesem Punkt mein Fachberater sein, wenn ich einen neuen Roman schreibe. Du bist sozusagen mein Experte fürs Unheimliche.«

Der Motor blieb abgestellt, das Innere des Jeeps war lediglich durch wolkenverhangenes Mondlicht erhellt. Trotzdem sah Laura das Gesicht des Jungen ziemlich deutlich, weil ihre Augen sich draußen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Chris blinzelte und starrte sie verwirrt an. »Was soll das heißen, Mom?«

»Chris, ich habe dir versprochen, dir alles über den Mann zu erzählen, der schon mehrmals auf seltsame Weise in mein Leben getreten ist und nun verletzt dort hinten liegt, aber dafür haben wir im Augenblick keine Zeit. Fang also nicht an, mich mit Fragen zu löchern, okay? Aber nehmen wir mal an, mein Beschützer - so denke ich von ihm, weil er mich in der Vergangenheit aus schrecklichen Gefahren gerettet hat, sooft er konnte - ist ein Zeitreisender aus der Zukunft. Nehmen wir weiterhin an, er braucht dazu keine umständliche große Maschine. Nehmen wir an, die ganze Maschine ist ein Gürtel, den er unter seiner Kleidung trägt und mit dem er sich plötzlich in unserer Zeit materialisieren kann. Hast du das alles verstanden?«

Chris starrte sie mit großen Augen an. »Ist er das?«

»Ein Zeitreisender? Ja, vielleicht.«

Der Junge löste seinen Sitzgurt, drehte sich kniend nach dem Mann auf der Ladefläche um und starrte ihn an. »Ohne Scheiß?«

»Angesichts der besonderen Umstände«, sagte Laura, »bin ich bereit, deine Ausdrucksweise zu überhören.«

Chris warf ihr einen verlegenen Blick zu. »Entschuldige, Mom. Aber ein Zeit reisender?«

Wäre Laura ärgerlich gewesen, ihr Zorn wäre verflogen, denn sie sah Chris jetzt unter einem Ansturm jugendlicher Erregung und der Fähigkeit zu staunen - etwas, was sie seit einem Jahr nicht mehr bei ihm erlebt hatte, nicht einmal zu Weihnachten, als er sich so gut mit Jason Gaines amüsiert hatte. Die Aussicht, einem Zeitreisenden zu begegnen, erfüllte ihn sofort mit Abenteuergeist. Das war das herrliche am Leben: Trotz aller Grausamkeit war es voller Überraschungen und Wunder; und die Überraschungen konnten ihrerseits kleine Wunder bewirken, indem sie einem Verzweifelten neuen Lebensmut gaben, einen Zyniker unerwartet von seinem Zynis-mus heilten oder, wie im Fall dieses Jungen, in einem zutiefst Verletzten den Willen zur Gesundung weckten und Medizin gegen seine Schwermut waren.

»Okay, nehmen wir mal an«, fuhr Laura fort, »er brauchte nur auf einen Knopf seines Spezialgürtels zu drücken, um aus unserer Zeit in seine zurückzukehren.«

»Darf ich den Gürtel sehen?«

»Später. Denk daran, daß du versprochen hast, jetzt nicht allzu viele Fragen zu stellen.«

»Okay.« Chris starrte den Beschützer erneut an, bevor er sich abwandte und sich auf seine Mutter konzentrierte. »Was passiert, wenn er auf diesen Knopf drückt?«

»Er verschwindet einfach.«

»Wow! Und wenn er aus der Zukunft kommt, taucht er einfach aus dem Nichts auf?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe ihn noch nie ankommen gesehen. Aus irgendwelchen Gründen scheint seine Ankunft von Blitzen und Donner begleitet zu sein ...«

»Das Gewitter von heute nacht!«

»Ja. Aber es blitzt nicht immer. Gut, nehmen wir mal an, er wäre in unsere Zeit zurückgekommen, um uns zu helfen und uns vor bestimmten Gefahren zu beschützen ...«

»Zum Beispiel vor dem schleudernden Lastwagen.«

»Solange er’s uns nicht erzählt, wissen wir nicht, weshalb er uns beschützen will. Weiterhin können wir annehmen, daß es in der Zukunft Menschen gibt, die uns nicht beschützt sehen wollen. Auch ihre Motive sind uns unbekannt. Aber einer von ihnen ist Kokoschka gewesen - der Mann, der Daddy erschossen hat ...«

»Und die Kerle, die heute bei uns aufgekreuzt sind«, warf Chris ein, »sind auch aus der Zukunft!«

»Ja, das glaube ich auch. Sie wollten meinen Beschützer, dich und mich umbringen. Statt dessen haben wir zwei von ihnen erschossen und zwei oder drei weitere im Mercedes hinter uns zurückgelassen. Aber ... was haben sie als nächstes vor, Kleiner? Du bist mein Fachmann fürs Unheimliche. Hast du irgendeine Idee?«

»Laß mich nachdenken.«

Mondlicht schimmerte matt auf der Motorhaube des Jeeps.

Im Wagen wurde es allmählich kalt; ihr Atem wurde sichtbar, die Fenster beschlagen. Laura ließ den Motor an und schaltete die Heizung, aber nicht das Licht ein.

»Da ihr Unternehmen fehlgeschlagen ist, werden sie nicht lange hier rumhängen«, stellte Chris fest. »Wahrscheinlich gehen sie in die Zukunft zurück, aus der sie gekommen sind.«

»Du meinst die Männer in unserem Auto?«

»Ja. Vermutlich haben sie bereits auf die Knöpfe an den Gürteln der von dir Erschossenen gedrückt und die Leichen in die Zukunft geschickt. Das heißt, daß es bei uns zu Hause keine Toten, keinen Beweis für die Anwesenheit von Zeitreisenden gibt. Außer vielleicht einige Blutflecken. Und als die zwei oder drei anderen mit dem Mercedes steckengeblieben sind, haben sie vermutlich aufgegeben und sind heimgekehrt.«

»Sie sind also gar nicht mehr hier? Sie würden nicht vielleicht nach Big Bear marschieren, dort ein Auto stehlen und uns zu finden versuchen?«

»Nö. Das wäre zu anstrengend. Ich meine, sie können uns einfacher finden als normale Killer, die tatsächlich rumfahren und uns suchen müßten.«

»Wie denn?« fragte Laura gespannt.

Der Junge kniff die Augen zusammen, während er durch die Windschutzscheibe in die mondhelle Landschaft hinausstarrte. »Die Sache ist folgendermaßen, Mom: Sobald wir sie abgehängt haben, drücken sie auf die Knöpfe an ihren Gürteln, kehren in die Zukunft zurück und machen dann eine weitere Reise in unsere Zeit, um uns eine weitere Falle zu stellen. Sie wissen, daß wir diese Straße benützen. Deshalb unternehmen sie vermutlich eine weitere Reise und stellen uns am anderen Ende dieser Straße eine Falle. Ja, so muß es sein! Darauf gehe ich jede Wette ein!«

»Aber könnten sie nicht zu einem viel früheren Zeitpunkt zurückkommen und uns schon vor der Ankunft meines Beschützers zu Hause überfallen?«

»Paradox«, sagte Chris nur. »Weißt du, was das bedeutet?«

Dieses Wort erschien Laura für einen Jungen in seinem Alter zu schwierig, aber sie antwortete: »Ja, ich weiß, was ein Paradox ist. Alles, was widersprüchlich, aber vielleicht doch wahr ist.«

»Siehst du Mom, das interessante an Zeitreisen ist, daß sie voller möglicher Paradoxe stecken. Voller Dinge, die nicht wahr sein können, nicht wahr sein dürfen - und vielleicht trotzdem wahr sind.« Chris sprach ebenso erregt, wie wenn er ihr Szenen aus seinen Lieblingsfilmen schilderte. »Nehmen wir mal an, du würdest in die Vergangenheit zurückreisen und dort deinen Großvater heiraten. Siehst du, dann wärst du deine eigene Großmutter. Wären Zeitreisen möglich, könntest du das vielleicht tun - aber wie wärst du jemals geboren worden, wenn deine wirkliche Großmutter niemals deinen Großvater geheiratet hätte? Ein Paradox! Oder was wäre, wenn du bei einer Reise in die Vergangenheit deiner Mutter als Kind begegnen und sie versehentlich umbringen würdest? Wäre deine Existenz damit beendet - peng! -, so als wärst du nie geboren worden? Aber wie hättest du dann überhaupt in die Vergangenheit zurückgehen können? Paradox! Paradox!«

Laura, die Chris in dem durch den wolkenverhangenen Mond nur unzulänglich erhellten Inneren des Jeeps anstarrte, hatte das Gefühl, einen ganz anderen Jungen vor sich zu sehen. Natürlich hatte sie schon immer von seiner Vorliebe für Sien-cefiction-Geschichten gewußt, die er mit den meisten Jungen seines Alters bis hinauf zu Teenagern gemeinsam zu haben schien. Aber sie hatte bisher noch keinen tieferen Einblick in einen von solchen Einflüssen geformten Verstand tun können.

Im ausgehenden 20. Jahrhundert führten amerikanische Kinder offenbar nicht nur ein reicheres Phantasieleben als die meisten Kinder vor ihnen, sondern schienen daraus auch einen Vorteil zu ziehen, den die Elfen, Feen, Kobolde und Gespenster, mit denen frühere Kindergenerationen sich amüsiert hatten, nicht hatten bieten können: die Fähigkeit, über abstrakte Begriffe wie Raum und Zeit weit ernsthafter nachzudenken, als es ihrem emotionalen und intellektuellen Alter entsprochen hätte. Laura hatte das eigenartige Gefühl, zu gleicher Zeit mit einem kleinen Jungen und mit einem Weltraumforscher zu sprechen, die gemeinsam in diesem einen Körper existierten.

»Weshalb haben diese Männer keine weitere Zeitreise machen können, nach dem es ihnen bei der ersten nicht gelungen ist, uns zu erledigen?« fragte sie verständnislos. »Weshalb sind sie nicht früher zurückgekommen, bevor mein Beschützer uns gewarnt hat?«

»Paß auf: Dein Beschützer war bereits im Zeitstrom aufgetaucht, um uns zu warnen. Wären sie also zurückgekommen, bevor er uns warnte - wie hätte er uns dann überhaupt warnen können, wie wären wir dann lebend hier? Paradox!«

Er klatschte lachend in die Hände wie ein Gnom, der über eine besonders amüsante Nebenwirkung eines Zauberbanns kichert.

Im Gegensatz zu seiner guten Laune bekam Laura allmählich Kopfschmerzen, während sie sich bemühte, die komplizierten Aspekte dieses Themas auseinanderzuhalten.

»Manche Leute halten Zeitreisen wegen dieser vielen Paradoxe sogar für unmöglich«, sagte Chris. »Andere sind der Meinung, sie seien möglich, solange eine Reise in die Vergangenheit kein Paradox erzeugt. Falls das zutrifft, können die Killer nicht zu einem früheren Zeitpunkt wiederkommen, weil zwei von ihnen bereits auf der ersten Reise umgekommen sind. Aber die Männer, die du nicht erschossen hast, und möglicherweise ein paar neue Zeitreisende könnten zurückkommen und uns am Ende der Straße auflauern.« Er beugte sich nach vorn, um erneut durch die teilweise vereiste Windschutzscheibe zu blicken. »Deshalb sind vorhin, als die anderen uns beschossen haben, im Süden so viele Blitze zu sehen gewesen -weil weitere Männer aus der Zukunft gekommen sind. Ja, ich wette, daß sie uns irgendwo dort unten auflauern.«

Laura massierte sich die Schläfen mit den Fingerspitzen. »Kehren wir jetzt um, anstatt in die vor uns aufgebaute Falle zu tappen, dann merken sie, daß wir diesmal zu clever gewesen sind. Folglich unternehmen sie eine dritte Reise in die Vergangenheit, kehren zu dem Mercedes zurück und erschießen uns, wenn wir daran vorbei zurückzufahren versuchen. Sie erledigen uns, wohin wir auch fahren.«

Chris schüttelte energisch den Kopf. »Nein, denn bis sie merken, daß wir ihre Absichten durchschaut haben - ungefähr in einer halben Stunde -, sind wir bereits wieder an dem Mercedes vorbei.« Der Junge hopste jetzt vor Aufregung auf seinem Sitz auf und nieder. »Versuchen sie dann, eine dritte Zeitreise zu machen, um uns am Anfang dieser Straße abzufangen, ist das unmöglich, weil wir bereits an dieser Stelle vorbei und in Sicherheit sind. Paradox! Siehst du, sie müssen sich an die Spielregeln halten, Mom. Auch sie besitzen keine Zauberkräfte. Sie müssen die Regeln beachten und können deshalb geschlagen werden!«

In ihren 33 Jahren hatte Laura noch nie Kopfschmerzen wie diese gehabt, die sich so rasch von einem leichten Pochen zu einem dröhnenden Schädelspalter entwickelt hatten. Je länger sie versuchte, die Probleme zu lösen, die sich daraus ergaben, daß sie vor einer Horde zeitreisender Killer flüchten mußten, desto stärker wurden diese Schmerzen.

»Ich gebe auf«, sagte sie schließlich. »Um damit zurechtzukommen, hätte ich all diese Jahre wahrscheinlich damit verbringen müssen, mir >Raumschiff Enterprise< anzusehen und Robert Heinlein zu lesen, anstatt eine ernsthafte Erwachsene zu sein. Deshalb verlasse ich mich darauf, daß du cleverer bis als sie. Du mußt versuchen, unseren Vorsprung zu halten. Sie wollen uns ermorden. Wie können sie das, ohne eines dieser Paradoxe zu erzeugen? Wo tauchen sie als nächstes auf ... und als übernächstes? Wir fahren jetzt am Mercedes vorbei die gleiche Strecke zurück, und wenn du recht hast, lauert uns dort niemand auf. Aber wo erscheinen sie danach? Sehen wir sie heute nacht wieder? Denk darüber nach, Chris, und laß mich wissen, was dir dazu einfällt.«

»Wird gemacht, Mom.« Er sackte auf seinem Sitz zusammen, grinste einen Augenblick breit und biß sich dann auf die Unterlippe, während er sich aufs Spiel konzentrierte.

Aber es war natürlich kein Spiel. Ihr Leben war tatsächlich in Gefahr. Sie befanden sich auf der Flucht vor Killern mit fast übermenschlichen Fähigkeiten und setzten ihre ganzen Überleben shoffnungen auf nichts als den Phantasiereichtum eines Achtjährigen.

Laura ließ den Motor des Jeeps an, legte den Rückwärtsgang ein und stieß einige hundert Meter weit zurück, bis sie eine etwas breitere Stelle fand, wo sie wenden konnte. Dann fuhren sie die gleiche Strecke zurück auf den steckengebliebenen Mercedes zu in Richtung Big Bear City.

Sie war außerstande, Entsetzen zu empfinden. Ihre Situation enthielt so zahlreiche unbekannte - und unerklärliche - Elemente, daß kein anhaltendes Entsetzen aufkommen konnte. Entsetzen war etwas anderes als Glück oder Niedergeschlagenheit; es war ein akuter Zustand, der seinem Wesen nach nur für kurze Zeit anhalten konnte. Entsetzen welkte rasch. Oder es steigerte sich, bis man ohnmächtig wurde oder daran starb. Laura hatte trotz ihrer Kopfschmerzen nicht das Gefühl, an ihrer Angst sterben zu müssen. Statt dessen empfand sie eine kaum über starke Besorgnis hinausgehende gedämpfte stete Angst.

Was für ein Tag war dies gewesen. Was für ein Jahr. Was für ein Leben.

Exotische Nachrichten.

2

Sie fuhren an dem festsitzenden Mercedes vorbei bis zum Nordende der Bergstraße, ohne auf Männer mit Maschinenpistolen zu stoßen. Laura hielt an der Einmündung zur Seeuferstraße und sah fragend zu Chris hinüber. »Na?«

»Solange wir rumfahren,« erklärte er ihr, »solange wir zu Orten unterwegs sind, an denen wir noch nie oder nur selten gewesen sind, kann uns nicht viel passieren. Sie können uns nicht finden, wenn sie keine Ahnung haben, wo wir sein könnten. Da geht’s ihnen nicht besser als ganz normalen Drecksäk-ken.«

Drecksäcke? dachte Laura. Was erlebe ich hier - eine Kombination aus H. G. Wells und >Hill Street Blues<?

»Hör zu, Mom«, sagte Chris, »weil wir ihnen jetzt entwischt sind, gehen diese Kerle in die Zukunft zurück, um in ihren Unterlagen über dich nachzuschlagen. Aus deiner Lebensgeschichte sehen sie, wo du wieder zu finden sein wirst - beispielsweise, ab wann du wieder im Haus lebst. Oder ob du dich ein Jahr versteckt und ein Buch geschrieben hast, für das du auf Tour gehst. Dann werden sie in einer Buchhandlung aufkreuzen, in der du Bücher signierst, weil es darüber in der Zukunft Unterlagen gäbe; sie würden wissen, daß du an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit in dieser Buchhandlung anzutreffen bist.«

Sie runzelte die Stirn. »Du meinst, daß ich ihnen für den Rest meines Lebens nur entkommen kann, indem ich einen anderen Namen annehme, ständig auf der Flucht bin und keinerlei Spuren in allgemein zugänglichen Aufzeichnungen hinterlasse? Indem ich ab sofort untertauche und aus der Öffentlichkeit verschwinde?«

»Ja, das würdest du schätzungsweise tun müssen«, bestätigte Chris aufgeregt.

Er war clever genug, eine Möglichkeit zu finden, wie man einer Horde zeitreisender Killer entkommen konnte, aber nicht erwachsen genug, sich vorzustellen, wie schwierig es für sie wäre, auf ihren gesamten Besitz zu verzichten und lediglich mit dem Geld, das sie in der Tasche hatten, ein neues Leben anzufangen. In gewisser Beziehung glich er einem schwachsinnigen Gelehrten: auf einem eng begrenzten Fachgebiet erstaunlich begabt und weitblickend, aber in allen übrigen Bereichen naiv und ernstlich behindert. In bezug auf die theoretischen Grundlagen von Zeitreisen war er tausend Jahre alt, ansonsten wurde er erst neun.

»Ich kann niemals mehr ein Buch schreiben«, stellte Laura fest, »weil ich mit Agenten und Lektoren verhandeln müßte -und sei es nur am Telefon. Auch darüber gäbe es Aufzeichnungen, die sich zu mir verfolgen ließen. Und ich kann keine Honorare kassieren, weil ich das Geld trotz aller Strohmänner, trotz verschiedener Bankkonten irgendwann persönlich abheben müßte, worüber es einen Beleg gäbe. Mit Hilfe dieses Belegs könnten sie mich aufspüren und in der Bank auf mich warten, um mich dort zu erledigen. Wie soll ich an das Geld herankommen, das wir bereits haben? Wie kann ich einen Scheck einlösen, ohne eine Spur zu hinterlassen, die in der Zukunft sichtbar ist?« Sie schüttelte den Kopf. »Großer Gott, Chris, wir stecken in einer Zwickmühle!«

Jetzt war der Junge ratlos. Der Blick, mit dem er sie anstarrte, verriet, daß er nicht allzu viel Verständnis dafür hatte, woher Geld kam, wie es für zukünftige Verwendung aufbewahrt wurde oder wie schwierig es zu beschaffen war. »Na ja, wir könnten ein paar Tage rumfahren, in Motels schlafen und ...«

»In Motels können wir nur schlafen, wenn ich bar bezahle. Eine Kreditkartenabrechnung würde schon genügen, um sie auf unsere Spur zu bringen. Dann würden sie nachts ins Motel kommen und uns dort ermorden.«

»Okay, okay, dann zahlen wir eben bar. He, wir könnten immer bei McDonald’s essen! Das kostet nicht viel und schmeckt klasse.«

Sie fuhren aus den Bergen, aus dem Schnee hinunter nach San Bernardino, einer Stadt mit etwas 300 000 Einwohnern, ohne unterwegs auf Killer zu stoßen. Laura mußte ihren Beschützer zu einem Arzt bringen - nicht nur, weil er ihr das Leben gerettet hatte, sondern auch, weil sie ohne ihn vielleicht nie erfahren würde, was wirklich gespielt wurde und wie sie aus dieser Zwickmühle entkommen konnten.

Sie durfte ihn nicht in ein Krankenhaus bringen, denn Krankenhäuser führten Aufzeichnungen, die Lauras Feinden in der Zukunft die Möglichkeit geben würden, sie aufzuspüren. Deshalb mußte sie ihn heimlich von einem Arzt versorgen lassen, der weder ihren Namen noch irgend etwas über den Verletzten erfuhr.

Kurz vor Mitternacht hielt Laura bei einer Telefonzelle neben einer Shell-Tankstelle. Das Glashäuschen stand an einer Ecke des Betriebsgrundstücks, was ideal war, weil Laura nicht riskieren durfte, daß der Tankwart auf die fehlenden Scheiben des Jeeps oder auf den Bewußtlosen auf der Ladefläche aufmerksam wurde.

Trotz aller Aufregung und obwohl Chris zuvor schon eine Stunde geschlafen hatte, war der Junge eingenickt. Auch Lauras Beschützer schlief, aber sein Schlaf war weder natürlich noch erholsam. Der Verletzte murmelte nicht mehr viel vor sich hin, seine Atemzüge waren zwischendurch minutenlang ein beängstigendes Pfeifen und Rasseln.

Sie ließ den Motor des Jeeps laufen, betrat die Telefonzelle, schlug das Telefonbuch auf und riß die Seiten mit den Ärzten einfach heraus.

Nachdem sie in der Tankstelle einen Stadtplan von San Bernardino gekauft hatte, machte sie sich im Jeep sitzend auf die Suche nach einem Arzt, der nicht in einer Gemeinschaftspraxis oder in einem Ärztehaus praktizierte, sondern die Praxis im eigenen Haus hatte, wie es früher in Kleinstädten und selbst in größeren Städten allgemein üblich gewesen war, obwohl heutzutage nur noch wenige Ärzte zu Hause praktizierten. Sie war sich bewußt, daß die Überlebenschancen ihres Beschützers sanken, je länger sie brauchte, um Hilfe zu finden.

Gegen 0.45 Uhr hielt Laura in einer ruhigen Wohnstraße mit älteren Häusern vor einem einstöckigen, weißen viktorianischen Haus, das aus einer anderen Ära - einem versunkenen Kalifornien - vor dem Siegeszug der Fertigputze stammte. Es stand mit seiner Doppelgarage auf einem Eckgrundstück unter Erlen, die jetzt im Winter unbelaubt waren, so daß der Eindruck entstand, das aus Haus und Grundstück bestehende Ensemble sei so von der Ostküste importiert worden. Laut Telefonbuch mußte hier Dr. Garter Brenkshaw wohnen, und das an der Einfahrt zwischen zwei schmiedeeisernen Pfosten hängende Namensschild bestätigte diesen Eintrag.

Laura fuhr zur nächsten Kreuzung weiter und parkte in der Querstraße. Sie stieg aus, griff sich eine Handvoll Erde aus der Rabatte der nächsten Einfahrt und machte damit die Autokennzeichen, so gut es ging, unleserlich.

Als sie wieder einstieg, nachdem sie sich die Hände mit Gras abgewischt hatte, war Chris wach, aber nach über zweistündigem Schlaf benommen und desorientiert. Sie tätschelte sein Gesicht, strich ihm die Haare aus der Stirn und redete rasch auf ihn ein, bis er ganz wach war. Auch die durch die zersplitterten Scheiben hereinfließende kalte Nachtluft trug dazu bei.

»Okay«, sagte Laura, als sie bestimmt wußte, daß er wach war, »hör mir jetzt gut zu, Partner. Ich habe einen Arzt gefunden. Kannst du dich krank stellen?«

»Klar.« Er verzog würgend und ächzend das Gesicht, als müsse er sich gleich übergeben.

»Übertreib’s nicht!« Sie erklärte ihm, was sie vorhatte.

»Guter Plan, Mom.«

»Nein, er ist verrückt. Aber mir fällt kein anderer ein.«

Sie wendete und fuhr zu Dr. Brenkshaws Haus zurück, wo sie in der Einfahrt vor dem Tor der zurückgesetzten Doppelgarage parkte. Chris rutschte zur Fahrertür hinüber, und Laura hielt ihn links an sich gedrückt, während sein Kopf an ihrer Schulter ruhte. Er klammerte sich an sie, so daß sie nur einen Arm brauchte, um ihn festzuhalten, obwohl er ziemlich schwer war; ihr Baby war eben kein Baby mehr. In der freien rechten Hand hielt sie einen Revolver.

Während sie Chris im rötlichen Quecksilberdampflicht einer der in weiten Abständen aufgestellten Straßenlampen unter den kahlen Erlen hindurch zur Haustür trug, konnte sie nur hoffen, daß niemand sie aus den Fenstern der Nachbarhäuser beobachtete. Andererseits war es vielleicht nicht ungewöhnlich, daß der Arzt nachts von kranken Patienten aus dem Bett geklingelt wurde.

Laura hastete die Stufen zur Haustür hinauf, blieb unter dem Vordach stehen und klingelte dreimal rasch hintereinander, wie es jede verzweifelte Mutter getan haben würde. Sie wartete nur wenige Sekunden, bevor sie erneut dreimal klingelte.

Nach einer Minute, als sie ein drittes Mal geklingelt hatte und bereits zu fürchten begann, Dr. Brenkshaw sei nicht zu Hause, ging das Licht über der Tür an. Laura sah, daß ein Mann sie durch das aus drei Scheiben bestehende fächerförmige Fenster im oberen Drittel der Haustür betrachtete.

»Bitte!« sagte sie drängend und achtete darauf, daß ihr Revolver nicht zu sehen war. »Mein Junge ... er hat was Giftiges geschluckt!«

Der Mann öffnete die Tür nach innen, aber die vorgesetzte Sturmtür war nach außen zu öffnen, so daß Laura zwei Schritte zurücktreten mußte.

Der weißhaarige Mittsechziger sah wie ein Ire aus, hatte allerdings eine kräftige Adlernase und braune Augen. Er trug einen braunen Bademantel, einen weißen Schlafanzug und Lederpantoffeln. Jetzt starrte er Laura über den Rand seiner Schildpattbrille hinweg forschend an und fragte: »Was ist passiert?«

»Ich wohne zwei Straßen weiter, und Sie sind der nächste Arzt, und mein Junge - Gift!« Auf dem Höhepunkt ihrer gespielten Hysterie ließ sie Chris los, der sich sofort wegduckte, während sie dem Weißhaarigen die Mündung ihres Revolvers in den Bauch rammte. »Wenn Sie um Hilfe rufen, sind Sie ein toter Mann!«

Sie hatte nicht die Absicht, ihn zu erschießen, aber es mußte überzeugend geklungen haben, denn er nickte und hielt den Mund.

»Sind Sie Doktor Brenkshaw?« Als er nochmals nickte, erkundigte Laura sich: »Wer ist noch im Haus, Doktor?«

»Niemand. Ich bin allein.«

»Und Ihre Frau?«

»Ich bin Witwer.«

»Kinder?«

»Längst erwachsen und außer Haus.«

»Lügen Sie mich nicht an!«

»Ich habe mein Leben lang nie gelogen«, versicherte der Arzt ihr. »Das hat mich manchmal in Schwierigkeiten gebracht, aber stets die Wahrheit zu sagen macht das Leben im allgemeinen leichter. Hören Sie, hier ist’ s kühl, und mein Bademantel ist nicht allzu warm. Drinnen können Sie mich ebensogut einschüchtern.«

Laura trat über die Schwelle, ließ den Revolver an seinen Magen gedrückt und schob ihn damit rückwärts vor sich her. Chris folgte ihr. »Schatz«, flüsterte sie ihm zu, »du kontrollierst das Haus. Ganz leise. Fang oben an und laß kein Zimmer aus. Solltest du jemand finden, behauptest du, der Doktor habe einen Notfall zu versorgen und brauche Hilfe.«

Während Chris nach oben verschwand, blieb Laura mit Carter Brenkshaw in der Diele zurück und bedrohte ihn weiter mit ihrer Pistole. Irgendwo im Hintergrund tickte eine alte Standuhr.

»Wissen Sie,« sagte der Arzt plötzlich, »ich habe schon immer gern Thriller gelesen.«

Sie runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«

»Na ja, ich denke an die altbekannte Szene, in der die bildhübsche Verbrecherin den Helden mit einer Waffe bedroht. Sobald es ihm gelungen ist, sie zu überwältigen, ergibt sie sich dem unvermeidlichen männlichen Triumph, und die beiden lieben sich wild und leidenschaftlich. Weshalb muß ich schon zu alt sein, um die zweite Hälfte unseres kleinen Showdowns zu genießen, wenn ich endlich mal in eine solche Situation gerate?«

Laura verkniff sich ein Lächeln, weil sie nicht gefährlich aussah, sobald sie lächelte. »Maul halten!«

»Sie können doch bestimmt auch ganz anders.«

»Maul halten, sonst knallt’s!«

Er wurde weder blaß, noch begann er zu zittern. Er lächelte.

Chris kam von oben zurück. »Nirgends jemand, Mom.«

»Ob’s viele Revolverladies gibt, die so kleine Komplizen haben, die >Mom< zu ihnen sagen?« fragte Brenkshaw.

»Unterschätzen Sie mich nicht, Doktor. Ich bin in verzweifelter Lage.«

Chris durchsuchte die Räume im Erdgeschoß und machte dabei überall Licht.

Laura wandte sich erneut an den Arzt. »Im Auto habe ich einen Verletzten .«

»Natürlich mit einer Schußwunde.«

». den Sie behandeln sollen, ohne einer Menschenseele davon zu erzählen. Und wenn Sie nicht den Mund halten, komme ich eines Nachts vorbei und lege Sie um.« »Herrlich!« meinte er belustigt.

Chris kam zurück und machte dabei das Licht wieder aus. »Nirgends jemand, Mom.«

»Haben Sie eine Tragbahre?« fragte Laura den Arzt.

Brenkshaw starrte sie an. »Soll das heißen, daß Sie wirklich einen Verletzten im Auto haben?«

»Was täte ich sonst hier, verdammt noch mal?«

»Hmmm, eigenartig. Gut, okay, wie stark blutet er?«

»Nicht mehr so stark wie zuvor. Aber er ist bewußtlos.«

»Wenn die Blutung nicht mehr so stark ist, können wir ihn anders transportieren. Im Sprechzimmer habe ich einen klappbaren Rollstuhl. Darf ich mir einen Mantel überziehen?« fragte er und deutete mit dem Kopf zum Garderobenschrank in der Diele hinüber.

»Oder machen Gangsterbräute wie Sie sich ein Vergnügen daraus, einen alten Mann im Schlafanzug bibbern zu lassen?«

»Holen Sie sich einen Mantel, Doktor, aber unterschätzen Sie mich nicht, verdammt noch mal!«

»Lieber nicht«, sagte Chris. »Sie hat heute nacht schon zwei Kerle erschossen.« Er ahmte einen Feuerstoß aus einer Maschinenpistole nach. »Sie haben nicht die geringste Chance gehabt; sie hat sie einfach umgelegt.«

Die Stimme des Jungen klang so ernst, daß Brenkshaw Laura erstmals besorgt anstarrte. »Im Schrank hängen nur Mäntel und ein Schirm. Ich bewahre dort keine Pistole auf.«

»Seien Sie trotzdem vorsichtig, Doktor. Keine hastigen Bewegungen.«

»Keine hastigen Bewegungen - ja, ich hab’ gewußt, daß Sie das sagen würden.« Obwohl der Arzt die Situation noch immer halbwegs amüsant zu finden schien, war er nicht mehr so unbekümmert wie zuvor.

Nachdem Dr. Brenkshaw einen Mantel angezogen hatte, ging er durch eine Tür links der Diele voraus. Er verließ sich auf den aus der Diele hereinfallenden Lichtschein, um Laura und Chris durch das ihm vertraute Wartezimmer zu führen, das mit Stühlen und einigen niedrigen Tischen möbliert war. Die nächste Tür führte ins Sprechzimmer - ein Schreibtisch, drei Stühle, medizinische Fachbücher -, wo er Licht machte. Hinter einer offenen weiteren Tür lag ein Untersuchungsraum.

Laura hatte erwartet, einen Untersuchungstisch und medizinische Geräte zu sehen, die seit über dreieinhalb Jahrzehnten in Gebrauch und trotzdem noch gut erhalten waren - eine altväterliche Praxis geradewegs aus einem Gemälde von Norman Rockwell -, aber alles schien neu zu sein. Brenkshaw hatte sogar ein EKG-Gerät, und an einer weiteren Tür las sie die Warnung: RÖNTGENRAUM - IM BETRIEB GESCHLOSSEN HALTEN!

»Sie haben ein eigenes Röntgengerät?« fragte sie ihn.

»Klar. Die Geräte sind nicht mehr so teuer wie früher. Jede größere Praxis hat heutzutage eines.«

»Ja, jede größere Praxis, aber Sie sind doch nur ...«

»Hören Sie, ich sehe vielleicht wie Barry Fitzgerald aus, der in einem alten Film einen Arzt spielt, und halte an der altmodischen Sitte fest, zu Hause zu praktizieren, aber ich behandle meine Patienten nicht mit überholten Methoden, nur um kauzig zu wirken. Ich wage zu behaupten, daß ich als Arzt mehr ernst zu nehmen bin als Sie als Desperada.«

»Wetten Sie lieber nicht drauf«, wehrte Laura unfreundlich ab, obwohl sie es allmählich satt hatte, die Eisenharte zu spielen.

»Keine Angst, ich spiele mit«, versicherte er ihr. »Das scheint amüsanter zu sein.« Er wandte sich an Chris. »Ist dir im Sprechzimmer der rote Keramiktopf auf meinem Schreibtisch aufgefallen? Er ist voller kandierter Orangenschnitten und Tootsie Pops, falls du welche möchtest.«

»Wow, danke!« sagte Chris. »Äh ... darf ich ein Stück essen, Mom?«

»Eines oder zwei«, antwortete sie, »aber nicht zu viele, sonst wird dir schlecht.«

»Wenn’s um Süßigkeiten für kleine Patienten geht, bin ich altmodisch, schätze ich«, stellte Brenkshaw fest. »Bei mir gibt’s keinen zuckerfreien Kaugummi. Wer könnte sich darüber freuen? Das Zeug schmeckt wie Plastik. Wenn sie nach einem Besuch bei mir schlechte Zähne kriegen, soll ihr Zahnarzt sich darum kümmern.«

Während er sprach, holte er einen zusammenklappbaren Rollstuhl aus der Ecke, klappte ihn auseinander und fuhr ihn in die Mitte des Untersuchungsraums.

»Schatz, du bleibst hier, wenn wir jetzt zum Jeep rausgehen«, wies Laura ihren Sohn an.

»Okay«, sagte Chris von nebenan, wo er in den roten Keramiktopf schaute, um sich eine Süßigkeit auszusuchen.

»Steht Ihr Wagen in der Einfahrt?« fragte Brenkshaw. »Dann nehmen wir den Hinterausgang. Weniger auffällig, glaube ich.«

Laura, die ihn weiter mit ihrem Revolver bedrohte, aber sich dabei lächerlich vorkam, folgte ihm durch den Nebenausgang des Untersuchungsraums, vor dem eine Rampe zur Einfahrt hinabführte.

»Der Eingang für Behinderte«, erklärte Brenkshaw ihr halblaut, während er den Rollstuhl auf dem ums Haus führenden Weg vor sich herschob. Seine Lederpantoffeln schlurften über den Beton.

Das Grundstück des Arzthauses war groß, so daß das Nachbarhaus nicht unmittelbar neben ihnen aufragte. Statt der Erlen im Vorgarten wuchsen neben dem Haus Feigen und Kiefern. Trotz des schützenden Blätterdachs und der Dunkelheit erkannte Laura die unbeleuchteten Fenster des Nachbarhauses und wußte, daß sie von dort aus ebenfalls beobachtet werden konnten, falls jemand aus dem Fenster schaute.

Rundum herrschte die für die Zeit zwischen Mitternacht und Morgengrauen charakteristische Stille. Auch wenn Laura nicht gewußt hätte, daß es schon fast zwei Uhr war, hätte sie die Uhrzeit auf eine halbe Stunde genau schätzen können. Obwohl aus der Ferne schwache Großstadtgeräusche zu hören waren, hätte die Friedhofsruhe um Laura herum ihr selbst dann, wenn sie mit dem Mülleimer zum Müllcontainer unterwegs gewesen wäre, suggeriert, sie habe einen Geheimauftrag zu erfüllen.

Der Weg führte ums Haus herum und kreuzte einen anderen, der den rückwärtigen Teil des Grundstücks erschloß. Sie gingen an der Veranda hinter dem Haus vorbei, passierten einen Torbogen zwischen Hauptgebäude und Garage und erreichten die Einfahrt.

Brenkshaw blieb hinter dem Jeep stehen und lachte leise in sich hinein. »Mit Erde unkenntlich gemachte Nummernschilder«, flüsterte er. »Sehr überzeugend!«

Nachdem Laura die Heckklappe geöffnet hatte, kletterte er in den Jeep, um nach dem Verletzten zu sehen.

Laura blickte auf die Straße hinaus, die still und unbelebt blieb.

Wenn ein Streifenwagen der San Bernardino Police vorbeikam, würde die Besatzung bestimmt nachsehen, weshalb in der Praxis des guten alten Doc Brenkshaw um diese Zeit noch Licht brannte .

Der Arzt kam bereits wieder aus dem Jeep gekrochen. »Großer Gott, dort drinnen liegt wirklich ein Verletzter!«

»Warum überrascht Sie das so, verdammt noch mal? Glauben Sie etwa, ich sei zum Vergnügen hier?«

»Kommen Sie, wir müssen ihn reinbringen«, forderte Brenkshaw sie auf. »Schnell!«

Er konnte ihren Beschützer nicht allein aus dem Wagen holen und in den Rollstuhl setzen. Um ihm dabei helfen zu können, mußte Laura ihren Revolver in den Hosenbund ihrer Jeans stecken.

Brenkshaw versuchte nicht, wegzulaufen oder sie niederzuschlagen und sich der Waffe zu bemächtigen. Statt dessen schob er den Rollstuhl mit dem Bewußtlosen sofort durch den Torbogen und ums Haus zum Behinderteneingang. Laura griff nach einer der zwischen den Sitzen liegenden Maschinenpistolen. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie die Uzi brauchen würde, aber mit ihr in den Händen war ihr einfach wohler.

Eine Viertelstunde später wandte Dr. Brenkshaw sich von den entwickelten Röntgenaufnahmen ab, die in einer Ecke seines Untersuchungsraums vor einer Lichttafel hingen. »Die Kugel ist nicht zersplittert und glatt ausgetreten. Sie hat keine Knochen verletzt, so daß wir uns keine Sorgen wegen Splittern zu machen brauchen.«

»Klasse!« sagte Chris aus der anderen Ecke, in der er zufrieden einen Tootsie Pop lutschte. Trotz der Wärme im Haus trug er wie Laura weiter seine Jacke, damit sie notfalls sofort aufbruchsbereit waren.

»Liegt er in einer Art Koma?« fragte Laura den Arzt.

»Ja, sein Zustand ist komatös. Allerdings nicht wegen Fiebers nach einer schlimmen Wundinfektion. Dazu ist’s noch zu früh. Und nachdem er jetzt behandelt worden ist, tritt wahrscheinlich gar keine Infektion auf. Nein, das ist ein traumatisches Koma - weil er angeschossen worden ist, wegen des Blutverlusts und so weiter. Er hätte nicht transportiert werden dürfen, wissen Sie.«

»Mir ist nichts anderes übriggeblieben. Wacht er bald wieder auf?«

»Vermutlich. In seinem Fall arbeitet der Körper im Koma sozusagen auf Sparflamme, um Energie zu sparen und die Heilung zu erleichtern. Er hat nicht so viel Blut verloren, wie man glauben könnte; sein Puls ist gut, so daß dieser Zustand nicht lange anhalten dürfte. Sieht man seine blutgetränkten Kleidungsstücke, glaubt man, er müßte literweise Blut verloren haben, aber das stimmt nicht. Andererseits hat er auch nicht nur ein paar Teelöffel voll verloren. Zum Glück für ihn sind keine Hauptblutgefäße zerrissen, sonst wäre sein Zustand viel ernster. Trotzdem gehört er eigentlich ins Krankenhaus.«

»Darüber haben wir schon gesprochen«, wehrte Laura ungeduldig ab. »Wir können in kein Krankenhaus fahren.«

»Welche Bank haben Sie denn überfallen?« fragte der Arzt lächelnd, aber das klang merklich gezwungener als seine anfänglichen Scherze.

Während der Entwicklung der Röntgenaufnahmen hatte Brenkshaw die Wunde gesäubert, sie mit Jod bepinselt und mit antibiotischem Wundpuder bestäubt und einen Verband vorbereitet. Jetzt holte er eine Nadel, Klammern, eine Art Zange und dicken Faden aus einem Wandschrank und legte sie auf das Stahltablett, das er in eine Halterung am Untersuchungstisch eingehängt hatte. Der Bewußtlose lag, durch mehrere Schaumstoffkissen gestützt, auf der rechten Seite.

»Was haben Sie vor?« fragte Laura.

»Die beiden Löcher sind ziemlich groß - vor allem die Austrittswunde. Wenn Sie darauf bestehen, sein Leben dadurch zu gefährden, daß Sie ihn nicht ins Krankenhaus bringen, braucht er wenigstens ein paar Stiche.«

»Gut, meinetwegen, aber beeilen Sie sich!«

»Rechnen Sie damit, daß die Tür jeden Augenblick von FBI-Agenten aufgebrochen werden könnte?«

»Schlimmer«, sagte sie nur. »Viel schlimmer!«

Seit ihrer Ankunft in Dr. Brenkshaws Praxis rechnete sie mit plötzlich vom Nachhimmel herabzuckenden Blitzen, Donner wie dem Hufschlag apokalyptischer Reiter und dem Hereinstürmen weiterer bis an die Zähne bewaffneter Zeitreisender. Während der Arzt vor einer Viertelstunde den Oberkörper ihres Beschützers geröntgt hatte, hatte sie geglaubt, in weiter Ferne eben noch wahrnehmbaren Donner zu hören. Sie war ans nächste Fenster geeilt, um den Himmel nach fernem Wetterleuchten ab zusuchen, hatte jedoch nichts gesehen - vielleicht weil der Nachhimmel über San Bernardino zu hell war, vielleicht weil sie sich den Donner nur eingebildet hatte. Sie war schließlich der Meinung gewesen, sie habe nur ein Düsenflugzeug gehört und dieses Geräusch in ihrer Panik fälschlich für entfernten Donner gehalten.

Brenkshaw flickte seinen Patienten zusammen, schnitt den Faden ab, der später vom Körper absorbiert werden würde, und befestigte die Mullpolster mit breitem Heftpflaster von einer Rolle, die er mehrmals um Brust und Rücken von Lauras Beschützer führte.

Im Untersuchungsraum roch es so intensiv nach Desinfektionsmitteln, daß Laura gegen einen Brechreiz ankämpfen mußte. Chris schien der Geruch nicht zu stören. Er hockte in seiner Ecke und lutschte begeistert einen weiteren Tootsie Pop.

Während Brenkshaw auf die Röntgenaufnahmen wartete, hatte er dem Bewußtlosen auch eine Penicillinspritze gegeben. Jetzt trat er an einen der hohen weißlackierten Stahlschränke im Sprechzimmer und füllte zwei Tablettenfläschchen mit Kapseln aus zwei großen Packungen. »Ich habe die wichtigsten Medikamente hier, um sie an ärmere Patienten zu Selbstkosten abgeben zu können, damit sie keine Apothekenpreise zu bezahlen brauchen.«

»Was für Kapseln sind das?« fragte Laura, als er an den Untersuchungstisch zurückkam und ihr die beiden kleinen Plastikflaschen gab.

»Das hier sind Penicillinkapseln. Täglich drei zu den Mahlzeiten - falls er essen kann. Ich glaube, daß er bald wieder zu sich kommen wird. Sollte er bewußtlos bleiben, muß er intravenös Flüssigkeit zugeführt bekommen, sonst verdurstet er. Solange er im Koma liegt, dürfen Sie nicht versuchen, ihn trinken zu lassen - er würde daran ersticken. Die anderen Kapseln sind ein starkes Schmerzmittel. Bei Bedarf höchstens zwei pro Tag einnehmen.«

»Geben Sie mir mehr davon! Am besten gleich alle!« Laura deutete auf die beiden Behälter, die jeweils Hunderte von Kapseln enthielten.

»Solche Mengen braucht er nicht. Er ...«

»Nein, die braucht er nicht«, bestätigte Laura. »Aber ich weiß nicht, welche anderen Schwierigkeiten uns noch bevorstehen. Vielleicht brauchen wir Penicillin und ein Schmerzmittel für mich - oder meinen Jungen.«

Brenkshaw starrte sie für einen langen Augenblick an. »Um Himmels willen, wo sind Sie da hineingeraten? Das alles könnte aus einem Ihrer Bücher stammen.«

»Geben Sie mir einfach die ...« Laura machte eine Pause, als ihr klar wurde, was der Arzt gesagt hatte. »Das alles könnte aus einem meiner Bücher stammen? Aus einem meiner Bücher? Großer Gott, Sie wissen also, wer ich bin!«

»Natürlich. Das habe ich gleich gewußt, als Sie vor meiner Tür standen. Wie ich schon gesagt habe, lese ich gern Thriller, und obwohl Ihre Romane eigentlich nicht in diese Kategorie fallen, sind sie sehr spannend. Ich habe sie ebenfalls gelesen und dabei Ihr Photo auf der Umschlagrückseite gesehen. Glauben Sie mir, Mrs. Shane, kein Mann könnte Ihr Gesicht jemals vergessen - auch wenn er es nur auf einem Photo gesehen hat -und ein alter Knabe ist wie ich.«

»Aber warum haben Sie dann nichts ...«

»Ich habe die Sache anfangs für einen Scherz gehalten. Ihr melodramatisches nächtliches Erscheinen vor meiner Haustür, die Bedrohung mit der Waffe, Ihre knappen, unfreundlichen Anweisungen - das alles ist mir wie ein Witz vorgekommen. Glauben Sie mir, ich habe Freunde, die sich so was ausdenken könnten und denen ich sogar zutrauen würde, Sie zum Mitmachen zu überreden.«

Laura deutete auf ihren Beschützer. »Aber als Sie ihn dann gesehen haben .«

»Da habe ich gewußt, daß die Sache bitterernst ist«, bestätigte der Arzt.

Chris trat rasch neben seine Mutter und nahm den Tootsie Pop aus dem Mund. »Mom, wenn er uns verrät ...«

Laura hatte ihren Revolver aus dem Hosenbund gezogen. Sie hob die Waffe und ließ sie dann wieder sinken, als ihr klar wurde, daß Brenkshaw sich dadurch jetzt nicht mehr einschüchtern ließ - ja niemals Angst vor dem Revolver gehabt hatte. Erstens war er kein Mann, der sich von irgend jemandem einschüchtern ließ, und zweitens konnte sie jetzt nicht mehr überzeugend die gefährliche Verbrecherin spielen, da er doch wußte, wer sie wirklich war.

Auf dem Untersuchungstisch stöhnte ihr Beschützer und versuchte, sich in seinem unnatürlichen Schlaf zu bewegen, aber Dr. Brenkshaws Hand auf seiner Brust brachte ihn dazu, wieder stillzuliegen.

»Hören Sie, Doktor, wenn Sie irgend jemandem erzählen, was sich heute nacht hier ereignet hat, wenn Sie meinen Besuch nicht für den Rest Ihres Lebens geheimhalten können, bedeutet das den sicheren Tod für mich und meinen Jungen.«

»Sie wissen doch, daß Ärzte gesetzlich verpflichtet sind, von ihnen behandelte Schußwunden zu melden?«

»Aber hier handelt’s sich um einen Sonderfall«, sagte Laura drängend. »Ich bin nicht auf der Flucht vor der Polizei, Doktor.«

»Vor wem sonst?«

»Eigentlich . vor denselben Männern, die meinen Mann -Chris’ Vater - ermordet haben.«

Brenkshaw starrte sie überrascht und mitleidig an. »Ihr Mann ist ermordet worden?«

»Davon müssen Sie in der Zeitung gelesen haben«, antwortete sie verbittert. »Der Fall ist letztes Jahr sensationell aufgebauscht worden - ein gefundenes Fressen für die Medien.«

»Tut mir leid, aber ich lese keine Zeitungen und sehe mir keine Fernsehnachrichten an«, sagte Brenkshaw. »Überall bloß Brände, Unfälle und blutrünstige Terroristen. Statt richtiger Nachrichten bringen sie nur Blut, Tragödien und Politik. Das mit Ihrem Mann tut mir aufrichtig leid. Und wenn diese Leute, die ihn ermordet haben, jetzt hinter Ihnen her sind, sollten Sie sofort zur Polizei gehen.«

Laura gefiel dieser Mann, mit dem sie vermutlich viele Ansichten und Überzeugungen gemeinsam hatte. Er wirkte freundlich und vernünftig. Trotzdem machte sie sich wenig Hoffnung, Brenkshaw dazu überreden zu können, den Mund zu halten. »Die Polizei kann mich nicht vor ihnen schützen, Doktor. Außer mir - und vielleicht dem Mann, dessen Wunden Sie gerade genäht haben - kann mich niemand vor ihnen schützen. Diese Leute, die hinter uns her sind . sind brutal und unversöhnlich und stehen außerhalb des Gesetzes.«

Er schüttelte den Kopf. »Niemand steht außerhalb des Gesetzes.«

»Auf die trifft das zu, Doktor. Ich würde eine Stunde brauchen, um Ihnen zu erklären, wer sie sind, und Sie würden mir vermutlich trotzdem nicht glauben. Aber wenn Sie unseren Tod nicht auf dem Gewissen haben wollen, bitte ich Sie inständig, keinem zu erzählen, daß wir hier gewesen sind. Nicht nur ein paar Tage, sondern Ihr Leben lang.«

»Nun, ich ...«

Während Laura ihn prüfend betrachtete, merkte sie, daß es zwecklos war. Sie erinnerte sich an etwas, das er zuvor in der Diele gesagt hatte, als sie ihn davor gewarnt hatte, in bezug auf die Anwesenheit weiterer Hausbewohner zu lügen: Er lüge nie, hatte er gesagt, weil das Leben - trotz gelegentlicher Schwierigkeiten - einfacher sei, wenn man stets die Wahrheit sage. Für ihn sei das zu einer lebenslänglichen Gewohnheit geworden. Kaum eine dreiviertel Stunde später kannte Laura ihn bereits so gut, daß sie ihn für einen ungewöhnlich wahrheitsliebenden Mann hielt. Selbst jetzt, wo sie ihn bat, ihren Besuch geheimzuhalten, war er außerstande, die Lüge über die Lippen zu bringen, die sie beschwichtigt und zum Gehen veranlaßt hätte.

Brenkshaw starrte sie schuldbewußt an und war nicht imstande, eine Unwahrheit auszusprechen. Sobald Laura gegangen war, würde er seine Pflicht tun: Er würde den Fall der Polizei melden. Die Cops würden sie in ihrem Haus bei Big Bear suchen und dort das Blut, aber nicht die Leichen der Zeitreisenden sowie Hunderte von leeren Patronenhülsen, zersplitterte Fenster und Einschüsse in den Wänden entdecken. Morgen oder spätestens übermorgen würde die Story in ganz Amerika Schlagzeilen machen .

Vielleicht hatte es das Verkehrsflugzeug, das Laura vor über einer halben Stunde zu hören geglaubt hatte, doch nicht wirklich gegeben. Vielleicht hatte sie das gehört, was sie ursprünglich vermutet hatte: sehr fernen Donner, 20 bis 30 Kilometer entfernt.

Erneut Donner in einer Nacht ohne Regen.

»Helfen Sie mir jetzt, ihn anzuziehen, Doktor«, forderte sie Brenkshaw auf, indem sie zu ihrem Beschützer auf dem Untersuchungstisch hinüberdeutete. »Wenigstens das können Sie für mich tun, da Sie mich später ohnehin verraten werden.«

Bei dem Wort verraten zuckte er sichtbar zusammen.

Zuvor hatte Laura Chris mit dem Auftrag losgeschickt, aus Brenkshaws Schlafzimmer ein Hemd, einen Pullover, eine Jacke, eine Hose, Socken und ein Paar Schuhe zu holen. Der Arzt war nicht so sportlich schlank wie ihr Beschützer, aber die beiden waren etwa gleich groß.

Im Augenblick trug der Verletzte nur seine blutgetränkte Hose, aber Laura wußte, daß sie nicht mehr genug Zeit hatten, ihn vollständig anzuziehen. »Helfen Sie mir bloß, ihm die Jacke überzuziehen, Doktor. Die restlichen Sachen nehme ich mit und ziehe sie ihm später an. Die Jacke genügt vorerst als Schutz gegen die Kälte.«

»Eigentlich ist er nicht transportfähig«, sagte der Arzt, während er den Verletzten auf dem Untersuchungstisch widerstrebend in sitzende Stellung brachte.

Laura ignorierte Brenkshaws Worte, mühte sich ab, den rechten Arm des Verletzten in den Ärmel der warm gefütterten Cordsamtjacke zu stecken, und gab ihrem Sohn Anweisungen: »Chris, du gehst ins Wartezimmer, ohne dort Licht zu machen. Stell dich ans Fenster, beobachte die Straße und laß dich um Himmels willen nicht sehen!«

»Glaubst du, daß sie hier sind?« fragte der Junge ängstlich.

»Falls nicht, kommen sie bestimmt bald«, antwortete sie und steckte den linken Arm ihres Beschützers in den zweiten Jak-kenärmel.

»Wovon reden Sie überhaupt?« fragte Brenkshaw, als Chris ins Sprechzimmer lief und von dort aus ins dunkle Wartezimmer weiterhastete.

Laura gab keine Antwort. »Kommen Sie, wir müssen ihn in den Rollstuhl setzen.«

Gemeinsam hoben sie den Verletzten vom Untersuchungstisch, setzten ihn in den Rollstuhl und ließen den Bauchgurt einschnappen.

Während Laura die übrigen Kleidungsstücke und die beiden Pillenbehälter in das Hemd legte und ein Bündel daraus machte, kam Chris aus dem Wartezimmer zurückgerannt. »Mom, sie fahren gerade vor, das müssen sie sein, zwei Autos voller Männer auf der anderen Straßenseite, wenigstens sechs oder acht Mann! Was tun wir jetzt?«

»Scheiße«, sagte sie, »jetzt kommen wir nicht mehr zum Jeep. Und wir können das Haus nicht durch den Nebenausgang verlassen, weil sie uns von der Straße aus sehen würden.«

Brenkshaw war bereits ins Sprechzimmer unterwegs. »Ich alarmiere die Polizei .«

»Nein!« Laura legte ihrem Beschützer das Bündel mit Kleidung und Medikamenten auf den Schoß, stopfte ihre Handtasche dahinter und griff sich die Uzi und den Chief’s Special Kaliber 38. »Das dauert zu lange, verdammt noch mal! Die Kerle sind in ein paar Minuten hier - und sie haben’s auf uns abgesehen! Sie müssen mir helfen, den Rollstuhl durch den Hinterausgang aus dem Haus zu schaffen.«

Ihre Angst schien nun auch den Arzt zu überzeugen, denn er zögerte keine Sekunde lang und versuchte nicht mehr, seine Idee durchzusetzen. Statt dessen ergriff er den Rollstuhl und schob ihn rasch durch die Verbindungstür zwischen dem Untersuchungsraum und dem nach rückwärts führenden Korridor. Laura und Chris folgten ihm durch den nur schwach beleuchteten Flur in die Küche, in der die einzigen Lichtquellen die Digitaluhren an Herd und Mikrowelle waren. Der Rollstuhl polterte über die Türschwelle zwischen Küche und rückwärtiger Veranda und schüttelte den Bewußtlosen durch, der aber schon Schlimmeres überstanden hatte.

Laura hängte sich die Uzi um, steckte den Revolver in ihren Hosenbund und hastete an Brenkshaw vorbei die Verandatreppe hinunter. Sie packte den Rollstuhl vorn und half dem Arzt, ihn über die Stufen an die Betonplatten des Gartenweges hinunterzulassen.

Sie schaute zu dem Torbogen zwischen Haus und Garagen hinüber und rechnete fast damit, im nächsten Augenblick Bewaffnete hindurchstürmen zu sehen. »Sie müssen mitkommen«, flüsterte sie Brenkshaw zu. »Die Kerle bringen Sie um, wenn Sie hier bleiben, das weiß ich genau!«

Auch diesmal widersprach er nicht, sondern folgte Chris, als der Junge auf dem Weg vorausging, der über den Rasen zu dem Tor im Bretterzaun an der Rückseite des langgestreckten Grundstücks führte. Laura, die ihre Uzi jetzt in beiden Händen hielt, deckte ihren Rückzug und war bereit, beim geringsten Laut aus dem Haus das Feuer zu eröffnen.

Als Chris das Gartentor erreichte, wurde es vor ihm geöffnet, und ein Mann in Schwarz kam von der Wohnstraße hinter dem Grundstück in den Garten. Bis auf sein mondblasses Gesicht und seine weißen Hände war er schwärzer als die Nacht - und mindestens so überrascht wie die drei. Er war durch die schmale Wohnstraße gekommen, um den Hinterausgang des Hauses zu überwachen. In der rechten Hand hielt er eine dunkelglänzende Maschinenpistole - noch nicht schußbereit, aber er war dabei, sie hochzureißen -, und Laura konnte ihn nicht erschießen, ohne dabei auch ihren Sohn zu durchsieben. Chris reagierte jedoch, wie Henry Takahami ihn in monatelanger Ausbildung zu reagieren gelehrt hatte. Er warf sich herum, traf mit einem gezielten Tritt den rechten Arm des Killers, schlug ihm die Maschinenpistole aus der Hand - die Waffe prallte dumpf und mit leisem Klirren auf dem Rasen auf - und trat seinen Gegner dann in den Unterleib, so daß der Mann in Schwarz schmerzlich grunzend gegen den Torpfosten zurücksank.

Inzwischen war Laura um den Rollstuhl herum nach vorn gelaufen und zwischen Chris und den Killer getreten. Sie drehte die Uzi um, schwang sie wie eine Keule, schlug dem Mann die Schulterstütze auf den Kopf, holte wieder aus und schlug erneut mit aller Kraft zu. Der Killer brach auf dem Rasen zusammen, ohne einen Laut von sich gegeben zu haben.

Die Ereignisse überstürzten sich jetzt geradezu. Chris schlüpfte bereits durchs Gartentor, deshalb folgte Laura ihm, und sie überraschten dort einen zweiten Mann in Schwarz mit Augen wie Löchern in einem weißen Gesicht. Dieser war jedoch außer Reichweite eines Karatetritts, so daß Laura das Feuer eröffnen mußte, bevor der Killer selbst schoß. Der Feuerstoß aus ihrer Maschinenpistole ging eng gebündelt über Chris’ Kopf hinweg, zerfetzte Brust, Kehle und Hals des Mannes in Schwarz und enthauptete ihn buchstäblich, bevor er rückwärts aufs Pflaster der Wohnstraße geworfen wurde.

Brenkshaw, der noch immer den Rollstuhl schob, war hinter ihnen durchs Tor gekommen. Laura hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn nicht vor solchen Gefahren gewarnt hatte, aber nun konnten sie nicht mehr zurück. Die schmale Wohnstraße war auf beiden Seiten von Gartenzäunen begrenzt; auf den Grundstücken dahinter waren im Licht der Lampen in den Querstraßen einige Garagen und Ansammlungen von Mülltonnen zu erkennen.

Laura wandte sich an Brenkshaw. »Fahren Sie ihn auf der anderen Straßenseite ein paar Grundstücke weiter. Suchen Sie ein offenes Tor, durch das Sie ihn in einen fremden Garten schieben können. Chris, du gehst mit dem Doktor.«

»Und du?«

»Ich komme gleich nach.«

»Mom .«

»Los, Chris!« forderte sie ihn auf, denn der Arzt hatte bereits zehn Meter Vorsprung und schob den Rollstuhl schräg über die schmale Straße.

Während der Junge widerstrebend Brenkshaw folgte, kehrte Laura ans offene Tor im Bretterzaun zurück. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um zwei dunkle Gestalten 30 Meter entfernt durch den Torbogen zwischen Haus und Garage kommen zu sehen. Die beiden waren kaum auszunehmen und nur zu erkennen, weil sie sich bewegten. Einer von ihnen rannte geduckt auf die Veranda hinter dem Haus zu; der andere kam ebenfalls in geduckter Haltung über den Rasen, weil sie nicht genau wußten, woher die Schüsse gekommen waren.

Laura trat durchs Tor auf den Weg, eröffnete das Feuer, bevor die beiden sie sahen, und überschüttete die Rückwand des Hauses mit einem Kugelhagel. Obwohl sie nicht nahe genug stand, waren 30 Meter auch keine allzu große Entfernung, und die beiden warfen sich in Deckung. Sie wußte nicht, ob sie getroffen hatte, und durfte nicht weiterschießen, weil selbst ein Magazin mit 400 Schuß auch bei kurzen Feuerstößen schnell leergeschossen und diese Uzi jetzt ihre einzige Maschinenpistole war. Sie zog sich rückwärtsgehend durchs Tor zurück und rannte hinter Brenkshaw und Chris her.

Die beiden verschwanden eben durch ein schmiedeeisernes Tor, das in den Zaun des übernächsten Hauses auf der anderen Straßenseite eingelassen war. Als Laura es schweratmend erreichte und das Grundstück betrat, stellte sie fest, daß die auf beiden Seiten am Zaun entlang angepflanzten alten Eugenien zu einer dichten Hecke zusammengewachsen waren. Dahinter war sie unsichtbar, solange jemand nicht direkt vor dem Tor stand.

Der Arzt hatte den Rollstuhl mit dem Bewußtlosen bereits bis an die Rückseite des Hauses geschoben. Es war im Tudorstil erbaut, keine viktorianische Villa wie das Haus Brenkshaws, aber ebenfalls mindestens vier, fünf Jahrzehnte alt. Nun war der Arzt im Begriff, um das Gebäude herum die Einfahrt zu erreichen, die auf die nächste breitere Straße hinausführte.

Überall in den Nachbarhäusern ging jetzt Licht an. Laura war davon überzeugt, daß auch hinter den Fenstern, die vorerst dunkel blieben, Gesichter an die Scheiben gedrückt waren. Aber sie bezweifelte, daß die Neugierigen viel erkennen würden.

Sie holte Chris und Brenkshaw vor dem Haus ein und hielt die beiden im Schatten hoher Stauden an. »Doc, ich möchte, daß Sie mit Ihrem Patienten hier warten«, flüsterte sie Dr. Brenkshaw zu.

Er zitterte sichtbar, und sie konnte nur hoffen, daß er keinen Herzanfall bekam. Aber er machte weiter mit. »Okay, ich bleibe hier.«

Sie nahm Chris mit auf die nächste Straße hinaus, wo bis zur nächsten Querstraße auf beiden Straßenseiten etwa zwei Dutzend Autos parkten. Im bläulichen Licht der Straßenlampen sah der Junge schlimm aus, aber nicht so schlimm, wie Laura befürchtet hatte, und nicht so ängstlich wie Brenkshaw. »Hör zu, wir suchen jetzt unversperrte Autotüren. Du übernimmst diese Straßenseite, ich übernehme die andere. Findest du eine offene Tür, kontrollierst du, ob der Zündschlüssel steckt; ist das nicht der Fall, siehst du unter dem Fahrersitz und hinter der Sonnenblende nach.«

»Wird gemacht.«

Bei den Recherchen für ein Buch mit einem Autodieb in einer Nebenrolle hatte Laura unter anderem die Tatsache ausgegraben, daß jeder siebzehnte Fahrer nachts die Autoschlüssel stecken ließ. Jetzt hoffte sie, daß dieses Verhältnis in einer ruhigen Stadt wie San Bernardino noch mehr zu ihren Gunsten ausfallen würde. Schließlich ließen in New York, Chicago, Los Angeles und ähnlichen Großstädten nur Masochisten ihre Autoschlüssel stecken, so daß es anderswo doch wesentlich mehr vertrauensselige Amerikaner geben mußte, damit dieser statistische Durchschnitt erreicht wurde.

Während sie an den Türen der Autos auf der anderen Straßenseite rüttelte, versuchte sie, Chris im Auge zu behalten, aber er verschwand bald aus ihrem Blickfeld. Vier der ersten acht Fahrzeuge waren unversperrt, aber in keinem waren die Schlüssel zu finden.

In der Ferne ertönte Sirenengeheul.

Das würde die Männer in Schwarz wahrscheinlich vertreiben. Außerdem suchten sie vermutlich noch immer die Wohnstraße hinter Brenkshaws Grundstück ab, bewegten sich mit Vorsicht und rechneten damit, wieder beschossen zu werden.

Laura bewegte sich dagegen ganz offen, ohne sich darum zu kümmern, ob sie aus den Nachbarhäusern gesehen wurde. Die Straße war mit ausgewachsenen, aber künstlich niedriggehaltenen Dattelpalmen gesäumt, die viel Deckung boten. Und wer in dieser Nacht aufgeschreckt worden war, stand vermutlich eher an einem Fenster im ersten Stock und bemühte sich, über die Palmen hinweg zu Dr. Brenkshaws Haus hinüberzusehen, wo vorhin geschossen worden war.

Das neunte Auto war ein Oldsmobile Cutlass, dessen Schlüssel unter dem Fahrersitz lagen. Als Laura eben den Motor anließ und die Fahrertür zuknallte, öffnete Chris die Beifahrertür und zeigte ihr einen Schlüsselbund, den er entdeckt hatte.

»Ein ganz neuer Toyota«, sagte er.

»Dieser hier reicht«, entschied Laura.

Die Sirenen kamen näher.

Chris warf die Toyotaschlüssel weg, stieg ein und fuhr mit Laura zu dem noch immer dunklen Haus auf der anderen Straßenseite zurück, in dessen Vorgarten der Arzt mit dem Bewußtlosen auf sie wartete. Vielleicht hatten sie Glück; vielleicht war dort wirklich niemand zu Hause. Sie hoben Lauras Beschützer aus dem Rollstuhl und streckten ihn auf dem Rücksitz des Cutlass aus.

Die Sirenen waren jetzt schon sehr nahe, auf der nächsten Querstraße raste ein Streifenwagen mit roten Blinklichtern vorbei, der zu Brenkshaws Haus unterwegs war.

»Bei Ihnen alles in Ordnung, Doc?« fragte Laura, nachdem sie die hintere Autotür zugeworfen hatte.

Er hatte sich erschöpft in den Rollstuhl gesetzt. »Keine Angst, ich habe keinen Schlaganfall. Was ist bloß mit Ihnen los, Mädchen?«

»Keine Zeit, Doc. Ich muß die Mücke machen.«

»Hören Sie«, sagte er noch, »vielleicht erzähle ich denen überhaupt nichts.«

»Doch, das tun Sie«, widersprach Laura. »Sie bilden sich vielleicht ein, es nicht tun zu wollen, aber Sie werden der Polizei alles sagen. Täten Sie’s nicht, gäbe es keinen Polizeibericht und keine Zeitungsmeldungen - und ohne diese in der Zukunft bekannten Unterlagen hätten die Killer mich heute nacht nicht aufspüren können.«

»Was brabbeln Sie da?«

Laura beugte sich vor und küßte ihn auf die Backe. »Keine Zeit für Erklärungen, Doc. Besten Dank für Ihre Hilfe. Tut mir leid, aber den Rollstuhl muß ich auch noch mitnehmen.«

Er klappte ihn zusammen und legte ihn ihr in den Kofferraum.

Die Nacht war jetzt voller Sirenen.

Laura stieg ein und knallte die Fahrertür zu. »Anschnallen, Chris.«

»Angeschnallt«, bestätigte er.

Sie bog aus der Einfahrt nach links auf die Straße ab - von Brenkshaws Haus weg in Richtung Querstraße, auf der vorhin der mit Blinklicht fahrende Streifenwagen vorbeigeflitzt war.

Die auf eine gemeldete Schießerei hin zusammenströmenden Fahrzeuge kamen aus verschiedenen Stadtteilen, aus verschiedenen Streifenbezirken, so daß vielleicht kein zweiter Wagen diese Route benützen würde. Die Querstraße mündete in eine um diese Zeit wenig befahrene Hauptstraße, auf der Laura keine Wagen mit aufgesetzten roten Blinkleuchten sah. Sie bog nach rechts ab, entfernte sich immer mehr von Brenkshaws Haus, durchquerte San Bernardino und fragte sich, wo sie letztlich Zuflucht finden würden.

3

Kurz nach 3.15 Uhr erreichte Laura Riverside, stahl in einer ruhigen Seitenstraße einen Buick, brachte ihren Beschützer im Rollstuhl zu dem neuen Fahrzeug und ließ den Cutlass stehen. Chris schlief während der gesamten Unternehmung fest und mußte von einem Wagen zum anderen getragen werden.

Eine halbe Stunde später war Laura erschöpft und todmüde in einer anderen Seitenstraße unterwegs: diesmal mit einem Schraubenzieher aus der Werkzeugtasche des Buicks, mit dem sie jetzt die Kennzeichen eines Nissans abschraubte. Die gestohlenen Nummernschilder kamen an den Buick, dessen Schilder in den Kofferraum wanderten, weil dieses Kennzeichen demnächst auf der Fahndungsliste der Polizei erscheinen würde.

Vielleicht dauerte es ein paar Tage, bis dem Nissan-Besitzer auffiel, daß seine Nummernschilder gestohlen waren, und selbst wenn der Diebstahl angezeigt wurde, würde er die Polizei weniger interessieren als ein Autodiebstahl. Diebstähle von Kennzeichen waren im allgemeinen Dumme-Jungen-Streiche oder die Tat von Vandalen, ihre Wiederbeibringung hatte bei den überlasteten Polizeidienststellen, die kaum wußten, wie sie die Ermittlungen in wirklichen Verbrechensfällen bewältigen sollten, keinen allzu hohen Stellenwert. Das gehörte zu den nützlicheren Tatsachen, die Laura bei den Recherchen für einen Roman erfahren hatte, in dem ein Autodieb eine Nebenrolle spielte.

Sie nahm sich auch noch die Zeit, ihrem Beschützer Socken, Schuhe und einen Pullover anzuziehen, damit er sich nicht erkälte. Dabei schlug er einmal die Augen auf, blinzelte und flüsterte heiser ihren Namen. Sie glaubte schon, er erwache aus seiner Bewußtlosigkeit, aber er versank wieder darin und murmelte etwas in einer Sprache, die sie nicht erkennen konnte, weil sie keines seiner Worte deutlich genug verstand.

Von Riverside aus fuhr Laura nach Yorba Linda im Orange County, wo sie um 4.50 Uhr in einer Ecke des Parkplatzes von Ralph’s Supermarket hinter einem der Altglascontainer parkte. Sie stellte den Motor ab, schaltete die Scheinwerfer aus und löste ihren Sicherheitsgurt. Chris blieb angeschnallt; er lehnte fest schlafend an der Beifahrertür. Ihr Beschützer war noch immer bewußtlos, aber er atmete nicht mehr ganz so keuchend wie vor ihrem Besuch in Dr. Brenkshaws Praxis. Laura bezweifelte, daß sie hier Schlaf finden würde; sie wollte sich nur sammeln und ihre Augen ausruhen - aber dann war sie binnen weniger Minuten doch eingeschlafen.

Nachdem sie drei Männer erschossen hatte, selbst mehrmals beschossen worden war, zwei Autos gestohlen und eine durch drei Counties führende Verfolgungsjagd überlebt hatte, wäre zu erwarten gewesen, daß sie vom Tod, von Blut und zerfetzten Menschenleibern träumen würde, einen Alptraum, dessen Hintergrundmusik das kalte Hämmern von Maschinenwaffen war. Sie hätte träumen können, Chris zu verlieren, der mit Thelma zu den beiden einzigen ihr verbliebenen Lichtblicken im Leben gehörte. Statt dessen träumte sie jedoch von Danny, und es war ein schöner Traum, kein Alptraum. Danny war wieder lebendig und erlebte mit ihr, wie die Rechte von »Shadrach« für über eine Million Dollar verkauft wurden. Aber Chris war auch da und acht Jahre alt, obwohl Chris damals noch gar nicht auf der Welt gewesen war, und sie feierten Lauras Erfolg in Disneyland, wo sie sich zu dritt mit Mickey Mouse fotografieren ließen. Und im Carnation Pavillon versprach Danny ihr, sie bis in alle Ewigkeit zu lieben, während Chris vorgab, sich in einer aus Grunzern bestehenden Schweinchensprache verständigen zu können, die er von Carl Dockweiler gelernt habe, der mit Nina und Lauras Vater am nächsten Tisch saß. Und an einem weiteren Tisch saßen die Ackerson-Zwillinge und aßen Erdbeereisbecher ...

Laura wachte nach über drei Stunden um 8.26 Uhr auf und fühlte sich nach diesem durch ihr Unterbewußtsein bewirkten Aufenthalt in vertrauter Gemeinschaft ebenso erfrischt wie durch den Schlaf selbst. Der Morgenhimmel war wolkenlos, das Sonnenlicht glitzerte auf dem Chrom des Wagens und fiel als breiter gelblicher Streifen durchs Heckfenster. Chris döste noch immer. Der Verletzte auf dem Rücksitz war weiterhin bewußtlos.

Sie riskierte es, rasch zu einer Telefonzelle neben dem Supermarkt hinüberzugehen, von der aus sie den Wagen im Auge behalten konnte. Mit Kleingeld aus ihrer Handtasche rief sie Chris’ Privatlehrerin Ida Palomar in Lake Arrowhead an, um ihr mitzuteilen, daß sie für den Rest der Woche verreist sein würden. Sie wollte nicht, daß die arme Ida ahnungslos in das von Kugeln durchsiebte Haus mit den unerklärlichen Blutspuren kam, mit denen sich bestimmt schon Spurensicherungsteams der Polizei befaßten. Sie erzählte Ida nicht, von wo aus sie anrief; sie wollte ohnehin nicht mehr lange in Yorba Linda bleiben.

Wieder im Auto saß Laura gähnend hinterm Steuer, reckte sich und massierte sich den Nacken, während sie die ersten Kunden beobachtete, die den etwa 100 Meter entfernten Supermarkteingang passierten. Als Chris keine zehn Minuten später mit verquollenen Augen und schlechtem Mundgeruch aufwachte, gab sie ihm Geld, damit er im Supermarkt süßes Gebäck und zwei Tüten Orangensaft einkaufen konnte - nicht gerade etwas zur vernünftigen Ernährung, aber stärkende Kost.

»Was ist mit ihm?« fragte Chris und zeigte dabei auf Lauras Beschützer.

Sie erinnerte sich an Dr. Brenkshaws Warnung vor dem Verdursten. Aber sie wußte auch, daß sie nicht versuchen durfte, ihm etwas einzuflößen, solange er komatös war - daran konnte er ersticken. »Hmmm . bring einen dritten Orangensaft mit. Vielleicht kriege ich ihn wach.« Als Chris ausstieg, fügte sie hinzu: »Am besten kaufst du uns auch was zum Mittagessen, was nicht verdirbt - vielleicht ein Brot und ein Glas Erdnußbutter. Und wir brauchen einen Deo-Stift und ein Haarwaschmittel.«

Der Junge grinste. »Warum darf ich mich zu Hause nicht so ernähren?«

»Weil du gesunde Nahrung brauchst, damit dein Verstand nicht noch mehr Schaden nimmt als bisher schon, Kleiner.«

»Mich wundert nur, daß du nicht sogar auf der Flucht vor angeheuerten Killern daran gedacht hast, deine Mikrowelle, frisches Gemüse und eine Packung Vitaminpillen mitzunehmen.«

»Soll das heißen, daß ich eine gute Mutter bin, aber die Gesundheitsmasche übertreibe? Okay, ich werd’s mir merken. Geh jetzt!«

Er wollte seine Tür schließen.

»Noch was, Chris ...«, begann Laura.

»Ich weiß«, sagte der Junge. »Vorsichtig sein.«

Während Chris fort war, stellte Laura das Autoradio an, um sich die Neun-Uhr-Nachrichten anzuhören. Sie hörte Meldungen über sich selbst - einen Bericht aus ihrem Haus bei Big Bear, einen weiteren über die Schießerei in San Bernardino. Beide Meldungen waren erwartungsgemäß vage und nicht sonderlich aufschlußreich. Aber sie bestätigten, daß die Polizei jetzt in ganz Südkalifornien nach ihr fahndete. Wie der Reporter berichtete, rechnete die Polizei damit, sie bald ausfindig zu machen, weil sie als Schriftstellerin eine doch sehr bekannte Persönlichkeit war.

Sie war vergangene Nacht erschrocken, als Dr. Brenkshaw sie sofort als die Schriftstellerin Laura Shane erkannt hatte. Dabei hielt Laura sich nicht für eine Berühmtheit; sie war lediglich eine Erzählerin, eine Geschichtenschreiberin, die am Webstuhl der Sprache arbeitete und Wortgewebe wob. Sie war lediglich für einen ihrer ersten Romane auf Tournee gegangen, hatte diese mühsame Reise abscheulich gefunden und hatte sich zu keiner zweiten überreden lassen. Sie war kein regelmäßiger Gast bei Fernseh-Talkshows. Sie hatte nie in TV-Werbespots für irgendein Produkt geworben, sich nie öffentlich für einen Politiker eingesetzt und im allgemeinen stets versucht, nicht in den großen Medienzirkus hineingezogen zu werden. Sie war mit dem traditionellen Photo auf der Rückseite von Schutzumschlägen einverstanden gewesen, weil es ihr harmlos vorkam, und konnte als 33jährige ohne falschen Stolz zugeben, daß sie ungewöhnlich attraktiv war - aber sie hätte niemals geglaubt, eine »doch sehr bekannte Persönlichkeit« zu sein, wie die Polizei es ausdrückte.

Laura war nicht nur betrübt, weil der Verlust ihrer Anonymität sie zu einer leichteren Beute für die Polizei machte, sondern auch, weil sie wußte, daß Berühmtheit im heutigen Amerika zugleich den Verlust selbstkritischer Fähigkeiten und einen gravierenden Niedergang künstlerischer Schaffenskraft bedeutete. Einigen wenigen gelang es, prominent zu sein und schriftstellerisch Erfolg zu haben, aber die meisten ihrer Kollegen schienen durch die Aufmerksamkeit, die die Medien ihnen schenkten, korrumpiert zu werden.

Mit einiger Überraschung wurde ihr plötzlich klar, daß ihre Sorge, sie könnte berühmt und dadurch künstlerisch steril werden, offenbar bedeutete, daß sie noch immer an eine sichere Zukunft glaubte, in der sie Bücher würde schreiben können. In manchen Nächten hatte sie sich geschworen, bis zum Tode zu kämpfen, bis zum blutigen Ende durchzuhalten, um ihren Sohn zu beschützen - stets aber mit dem Gefühl, ihre Lage sei praktisch hoffnungslos, weil der Gegner zu stark und für sie unerreichbar sei. Aber jetzt hatte ihre Einstellung sich irgendwie verändert, war in schwachen, vorsichtigen Optimismus umgeschlagen.

Vielleicht hatte der Traum den Ausschlag gegeben.

Chris kam mit einer großen Packung Zimtrollen mit Zuckerguß, drei Tüten Orangensaft und den sonstigen Einkäufen zurück. Sie aßen Gebäck, tranken den Saft dazu und hatten das Gefühl, noch nie besser gefrühstückt zu haben.

Als Laura fertig war, stieg sie hinten ein und versuchte, ihren Beschützer aus seiner Bewußtlosigkeit zu wecken. Aber ihre Bemühungen blieben ohne Erfolg.

Sie gab Chris die dritte Tüte Orangensaft. »Heb sie für ihn auf«, sagte sie dabei. »Wahrscheinlich kommt er bald wieder zu sich.«

»Wenn er nicht trinken kann, kann er auch kein Penicillin einnehmen«, stellte Chris fest.

»Das hat noch ein paar Stunden Zeit. Doktor Brenkshaw hat ihm eine ziemlich starke Spritze gegeben; die wirkt noch eine Zeitlang.«

Trotzdem machte Laura sich Sorgen. Wenn er nicht wieder zu sich kam, würden sie vielleicht niemals über das lebensgefährliche Labyrinth aufgeklärt werden, in dem sie sich gegenwärtig verirrt hatten - und vielleicht niemals einen Ausweg finden.

»Und wie geht’s weiter?« erkundigte Chris sich.

»Wir fahren zur nächsten Tankstelle, benützen die Toiletten und halten dann bei einem Waffengeschäft, um Munition für die Uzi und den Revolver zu kaufen. Danach ... suchen wir uns ein Motel - ein für unsere Zwecke geeignetes Motel, in dem wir unterschlüpfen können.«

Sobald sie irgendwo unterkamen, würden sie mindestens 100 Kilometer von Dr. Brenkshaws Haus entfernt sein, wo ihre Feinde sie zuletzt aufgespürt hatten. Aber was bedeuteten Entfernungen für Männer, die auf ihren Reisen nicht in Kilometern, sondern in Tagen und Jahren rechneten?

In Teilen von Santa Ana, in manchen Vierteln im Süden von Anaheim und in den benachbarten Gebieten gab es die meisten Motels des Typs, nach dem Laura Ausschau hielt. Sie wollte keinen modernen, glitzernden Red Lion Inn oder ein Howard Johnson’s Motor Lodge mit Farbfernseher, hochflorigem Teppichboden und beheiztem Swimmingpool, weil man sich in guten Motels ausweisen und eine der großen Kreditkarten vorlegen können mußte. Sie durfte nicht riskieren, eine Spur aus Papier zu hinterlassen, die zuletzt die Polizei oder die Killer auf ihre Fährte bringen konnte. Statt dessen suchte sie ein Motel, das nicht mehr sauber, nicht mehr gut genug erhalten war, um Touristen anzuziehen - einen heruntergekommenen Betrieb, in dem sie froh waren, Gäste zu haben, bereitwillig Bargeld kassierten und garantiert keine Fragen stellten, die bestimmte Gäste vertrieben.

Laura wußte, daß es nicht leicht sein würde, ein Zimmer zu finden, und wunderte sich nicht darüber, daß die ersten zwölf Motels, bei denen sie nachfragte, nicht bereit oder außerstande waren, ihr ein Zimmer zu geben. Die einzigen Gäste dieser heruntergekommenen Motels schienen junge Mexikanerinnen mit Säuglingen auf dem Arm oder Kleinkindern an den Rockschößen sowie junge Mexikaner oder Männer in mittleren Jahren zu sein, die Tennisschuhe, Leinenhosen, Flanellhemden und leichte Cordsamt- oder Jeansjacken trugen. Manche hatten Cowboyhüte aus Stroh auf, andere bevorzugten Baseballmützen - aber alle starrten Laura mißtrauisch und wachsam an.

Die meisten dieser heruntergekommenen Motels dienten als Unterkünfte für illegale Einwanderer, von denen sich allein im Orange County Hunderttausende niedergelassen hatten. Ganze Familien hausten in einem einzigen Raum: Fünf, sechs oder sieben Menschen lebten dort in drangvoller Enge, teilten sich ein altes Doppelbett, zwei Stühle und ein gerade noch funktionierendes Bad und zahlten dafür mindestens 150 Dollar die Woche - ohne Bettwäsche, ohne Zimmerreinigung, ohne sonstige Leistungen, aber dafür mit Tausenden von Kakerlaken. Trotzdem waren sie eher bereit, unter diesen Verhältnissen zu leben und sich als unterbezahlte Arbeitskräfte auf empörende Weise ausbeuten zu lassen, als in ihre Heimat zurückzukehren und unter der Herrschaft einer »revolutionären Volksregierung« zu leben, deren Versprechungen seit Jahren und Jahrzehnten unerfüllt geblieben waren.

Der Besitzer des 13. Motels mit dem poetischen Namen »The Bluebird of Happiness« machte sich anscheinend noch Hoffnungen auf Touristen, die preiswerte Zimmer brauchten, und war noch nicht der Versuchung erlegen, bettelarmen Einwanderern Reichtümer abzupressen. Einige der 24 Zimmer waren offenbar an Illegale vermietet, aber die Direktion sorgte noch für täglichen Bettwäschewechsel, Zimmerreinigung, Farbfernseher und zwei zusätzliche Kopfkissen in jedem Kleiderschrank. Doch die Tatsache, daß der junge Mann an der Rezeption Bargeld nahm, keinen Ausweis verlangte und Lauras Blick bewußt auswich, war trauriger Beweis genug, daß »The Blue-bird of Happiness« binnen einem Jahr zu einem weiteren Denkmal politischer Dummheit und menschlicher Geldgier verkommen würde - und das in einer Welt, in der solche Denkmäler dicht an dicht wie Grabsteine auf einem überfüllten Großstadtfriedhof standen.

Das Motel bestand aus drei U-förmig angeordneten Gebäudeteilen, die den Parkplatz umschlossen, und ihr Zimmer bildete die rechte Ecke des Querflügels. Dicht vor der Tür ihres Zimmers wucherte eine riesige Fächerpalme, deren Wachstum weder der Smog noch das winzige Fleckchen Erde zwischen so viel Beton und Asphalt behindern zu können schienen. Die Palme trug selbst im Winter kräftige neue Triebe, als habe die Natur sie dazu bestimmt, auf subtile Weise ihre Absicht zu verkünden, die ganze Erde wieder zu übernehmen, sobald die Menschheit abgetreten sein werde.

Laura und Chris klappten den Rollstuhl auseinander, setzten den Verletzten hinein und machten keinerlei Geheimnis daraus, als betreuten sie lediglich einen Behinderten. Vollständig bekleidet und ohne sichtbare Schußwunde konnte Lauras Beschützer sehr wohl ein Querschnittgelähmter sein - einzig der kraftlos nach vorn hängende Kopf paßte nicht ins Bild.

Ihr Zimmer war klein, aber annehmbar sauber. Der an einigen Stellen abgetretene Teppichboden war vor kurzem gereinigt worden, und die beiden Staubflusen in der Ecke neben dem Bett waren nicht größer als Tischtennisbälle. Die braunkarierte Tagesdecke auf dem französischen Bett hatte ausgefranste Kanten und war an zwei Stellen geflickt, aber die Bettwäsche war sauber und duftete schwach nach Waschmittel. Laura und Chris hoben ihren Beschützer aus dem Rollstuhl ins Bett und stopften ihm zwei Kissen unter den Kopf.

Der Fernseher mit 43-cm-Bildschirm war auf einem Tischchen festgeschraubt, dessen Beine wiederum auf dem Fußboden festgeschraubt waren. Die kunststoffbeschichtete Platte des Tischchens zeigte Brandspuren von Zigaretten. Chris ließ sich in einen der nicht zueinander passenden Sessel fallen, schaltete das Gerät ein und betätigte auf der Suche nach einer Cartoonshow oder einer Serienwiederholung den Kanal wähl schal ter, von dem ein Teilchen abgesplittert war. Er entschied sich für »Get Smart«, beklagte sich aber darüber, die Sendung sei »zu dumm, um lustig zu sein«, und Laura fragte sich, ob wohl viele seiner Altersgenossen ähnlich dachten.

Sie setzte sich in den anderen Sessel. »Willst du nicht duschen, Chris?« »Um dann wieder diese Sachen anzuziehen?« fragte er zweifelnd.

»Ich weiß, daß das verrückt klingt, aber ich garantiere dir, daß dir danach auch ohne frische Sachen wohler ist.«

»Aber soll ich mir wirklich so viel Mühe machen, um nachher wieder verknitterte Sachen anzuziehen?«

»Seit wann bist du so ein Modenarr, daß dich ein paar Falten stören?«

Chris stand grinsend auf und stolzierte so ins Bad, wie er sich den Gang eines hoffnungslosen Gecken vorstellte. »Der König und die Königin wären entsetzt, wenn sie mich in diesem Zustand sähen.«

»Wir verbinden ihnen die Augen, wenn sie uns besuchen kommen«, schlug Laura vor.

Sekunden später kam Chris aus dem Bad zurück. »In der Kloschüssel liegt ein toter Käfer. Ein Kakerlak, glaube ich -aber ich bin mir meiner Sache nicht ganz sicher.«

»Spielt die Gattung eine Rolle? Verständigen wir die Angehörigen?«

Er lachte. Gott, wie sie dieses Lachen liebte! »Was soll ich tun - ihn runterspülen?«

»Es sei denn, du willst ihn rausfischen, in eine Zündholzschachtel legen und draußen im Blumenbeet begraben.«

Chris lachte erneut. »Nö, ich bin für Seebestattung.« Im Bad summte er den Zapfenstreich, bevor er die Spülung betätigte.

Während der Junge duschte, ging »Get Smart« zu Ende; danach folgte der Film »Die Harlem Globetrotters auf Gilligan’s Island«. Laura ließ den Fernseher nur an, um sich abzulenken, aber es gab Grenzen für das, was selbst eine Frau auf der Flucht ertragen konnte, deshalb schaltete sie rasch auf Kanal elf zum »Tagesmagazin« um.

Eine Zeitlang beobachtete sie ihren Beschützer. Sein unnatürlicher Schlaf war bedrückend. Von ihrem Platz aus griff sie mehrmals nach den Vorhängen und öffnete sie einen Spalt weit, um den Parkplatz des Motels absuchen zu können, obgleich sie genau wußte, daß niemand sie hier vermuten würde und daß sie nicht in unmittelbarer Gefahr schwebte. Obwohl die Sendung sie eigentlich nicht interessierte, starrte Laura wieder den Fernsehschirm an, bis sie fast wie in Hypnose war. Der Moderator interviewte einen jungen Schauspieler, der monoton und nicht immer zusammenhängend von sich erzählte, und nach einer Weile bekam sie vage mit, daß er etwas von Wasser sagte, aber da döste sie bereits, denn sein ständiges Gerede von Wasser war einschläfernd und ärgerlich zugleich.

»Mom?«

Laura blinzelte, setzte sich auf und sah Chris an der Tür zum Bad stehen. Er hatte feuchtes Haar und trug nur seine Unterhose. Der Anblick seines schmächtigen, knabenhaften Körpers -nichts als Knie, Rippen und Ellbogen - griff ihr ans Herz, so unschuldig und verletzlich sah er aus. Chris war so klein und zerbrechlich, daß sie sich fragte, wie sie ihn jemals beschützen sollte, und neue Angst in sich aufsteigen fühlte.

»Er redet, Mom«, sagte Chris und zeigte auf den Mann auf dem Bett. »Hast du es nicht gehört? Er spricht!«

»Wasser«, sagte ihr Beschützer heiser. »Wasser.«

Sie trat rasch ans Bett und beugte sich über ihn. Er war zu sich gekommen und versuchte sogar, sich aufzusetzen, aber er hatte keine Kraft. Seine blauen Augen standen offen, und obwohl sie blutunterlaufen waren, richteten sie sich wach und aufmerksam auf Laura.

»Durst«, sagte er.

»Chris!« rief sie halblaut.

Er brachte bereits ein Glas Wasser aus dem Bad.

Laura setzte sich neben ihren Beschützer auf die Bettkante, stützte seinen Kopf, ließ sich von Chris das Glas geben und half dem Verletzten trinken. Sie gestattete ihm nur kleine Schlucke, damit er sich nicht verschluckte. Seine Lippen waren aufgesprungen wie bei einem Fieberkranken, und auf seiner Zunge war ein weißer Belag zu sehen. Er trank über ein Drittel des Wassers, bevor er ihr zu erkennen gab, daß er genug habe.

Als sein Kopf wieder auf dem Kissen lag, legte sie ihm eine Hand auf die Stirn. »Längst nicht mehr so heiß.«

Er bewegte den Kopf von links nach rechts, als versuche er, den Raum in sich aufzunehmen. Trotz des Wassers klang seine Stimme trocken, ausgebrannt. »Wo sind wir?«

»In Sicherheit«, antwortete sie.

»Nirgends . sicher.«

»Wahrscheinlich wissen wir mehr über diese verrückte Geschichte, als du ahnst«, erklärte sie ihm.

»Richtig!« bestätigte Chris und setzte sich zu seiner Mutter aufs Bett. »Wir wissen, daß du ein Zeitreisender bist!«

Der Mann starrte den Jungen an, rang sich ein schwaches Lächeln ab und zuckte vor Schmerzen zusammen.

»Ich habe Medikamente«, sagte Laura. »Auch ein Schmerzmittel.«

»Nein, nicht jetzt«, wehrte er ab. »Vielleicht später ... Mehr Wasser?«

Laura stützte ihn erneut. Diesmal leerte er das Glas fast ganz. Das Penicillin fiel ihr ein, und sie schob ihm eine Kapsel zwischen die Zähne. Er spülte sie mit den beiden letzten Schlucken hinunter.

»Von wann kommst du?« fragte Chris gespannt und ohne auf das Wasser zu achten, das aus seinem nassen Haar tropfte und ihm übers Gesicht lief. »Von wann?«

»Er ist sehr schwach, Schatz«, wandte Laura ein, »und ich halt’s für falsch, ihn jetzt mit Fragen zu belästigen.«

»Aber soviel kann er uns doch wenigstens verraten, Mom.« Chris fragte den Mann erneut: »Von wann kommst du?«

Während er zuerst Chris und dann Laura anstarrte, trat wieder der gehetzte Ausdruck in seine Augen.

»Von wann kommst du, he? Aus dem nächsten Jahrtausend? Aus dem Jahr dreitausend?« »Neunzehnhundertvierundvierzig«, antwortete ihr Beschützer mit papiertrockener Stimme.

Schon diese geringe Aktivität hatte ihn offenbar ermüdet, denn seine Lider schienen schwer zu werden, seine Stimme war leiser geworden, so daß Laura nicht daran zweifelte, daß er wieder in Bewußtlosigkeit fiel.

»Von wann?« wiederholte Chris, den diese Antwort verblüfft hatte.

»Neunzehnhundertvierundvierzig.«

»Ausgeschlossen!« behauptete Chris.

»Berlin«, sagte ihr Beschützer.

»Er hat Fieberphantasien«, erklärte Laura ihrem Sohn.

Seine Stimme klang müde und schwach, aber was er sagte, war eindeutig: »Berlin.«

»Berlin?« wiederholte Chris. »Du meinst Berlin in Deutschland?«

Der Verletzte sank wieder in Schlaf - nicht in den unnatürlichen Schlaf eines Komas, sondern in einen erholsamen Schlaf, in dem er sofort leise zu schnarchen begann. Aber bevor er einschlief, sagte er noch: »Nazideutschland«.

4

Im Fernsehen lief »On Life to Live«, aber weder sie noch Chris achteten darauf. Sie hatten die beiden Sessel näher ans Bett gerückt, um den Schlafenden beobachten zu können. Chris war jetzt wieder angezogen, und sein Haar war nur noch im Nacken feucht. Laura hätte am liebsten ebenfalls geduscht, aber sie wollte zur Stelle sein, falls ihr Beschützer wieder etwas sagte. Sie und der Junge unterhielten sich im Flüsterton.

»Weißt du, was ich mir eben überlegt habe, Chris? Nehmen wir einmal an, diese Leute kämen aus der Zukunft - hätten sie dann nicht Laserwaffen oder sonst was Futuristisches bei sich?«

»Sie würden nicht wollen, daß jemand merkt, daß sie aus der Zukunft kommen«, sagte Chris. »Sie würden Waffen und Kleidungsstücke mitbringen, die hier nicht auffallen würden. Aber er hat gesagt, daß er ...«

»Ich weiß, was er gesagt hat. Das ist unsinnig, stimmt’s? Wenn es 1944 Zeitreisen gegeben hätte, würden wir unterdessen davon wissen, nicht wahr?«

Kurz nach 13.30 Uhr wachte ihr Beschützer auf und schien im ersten Augenblick desorientiert zu sein. Er bat erneut um Wasser, und Laura half ihm trinken. Er sagte, er fühle sich etwas besser, aber sehr schwach und immer noch schlafbedürftig. Dann bat er um weitere Kissen. Chris holte die beiden zusätzlichen Kopfkissen aus dem Schrank und half seiner Mutter, den Verletzten in fast sitzende Haltung zu bringen.

»Wie heißt du?« fragte Laura ihn.

»Stefan. Stefan Krieger.«

Sie wiederholte den Namen halblaut. Er war in Ordnung -nicht melodisch, aber ein solider, männlich klingender Name. Es war nur kein Name für einen Schutzengel, und Laura fand es belustigend, daß sie nach so vielen Jahren - darunter auch zwei Jahrzehnte, in denen sie behauptet hatte, nicht mehr an ihn zu glauben - noch immer erwartete, sein Name müsse schön und außerirdisch klingen.

»Und du kommst wirklich aus dem Jahr ...?«

»Neunzehnhundertvierundvierzig«, wiederholte er nachdrücklich. Allein die Anstrengung, in sitzende Haltung zu gelangen, hatte ihm kleine Schweißperlen auf die Stirn getrieben - oder waren daran Erinnerungen an Zeitpunkt und Ausgangsort seiner Reise schuld? »Aus Berlin, der Hauptstadt des Dritten Reiches. Damals hat es einen brillanten polnischen Wissenschaftler namens Wladimir Penlowski gegeben: von manchen für verrückt gehalten - wahrscheinlich wirklich verrückt -, aber zugleich ein Genie. Bevor Deutschland und Rußland sich 1939 darauf einigten, Polen zu zerschlagen, hatte er in Warschau gelebt und über fünfundzwanzig Jahre lang an bestimmten Theorien über das Wesen der Zeit gearbeitet ...«

Nach Stefan Kriegers Darstellung war Penlowski ein verkappter Faschist gewesen, der den Einmarsch von Hitlers Wehrmacht begrüßte. Vielleicht wußte er, daß Hitler seine Forschungsarbeit großzügiger fördern würde, als es die rationaleren Finanziers taten, die er bis dahin anzuzapfen versucht hatte. Unter Hitlers persönlicher Ägide war Penlowski mit Wadislaw Janusky, seinem engsten Mitarbeiter, nach Berlin übersiedelt und hatte dort ein Institut für Zeitforschung gegründet, das so geheim war, daß es keinen Namen erhielt. Es hieß einfach »das Institut«. In Zusammenarbeit mit nicht weniger fanatischen und weitblickenden deutschen Wissenschaftlern und mit Unterstützung durch die scheinbar unbegrenzten finanziellen Mittel des Dritten Reiches hatte Penlowski eine Möglichkeit gefunden, in die Arterie der Zeit einzudringen und sich in dieser Blutbahn aus Tagen, Wochen, Monaten und Jahren zu bewegen.

»Blitzstraße«, fügte Stefan erklärend hinzu. »Die Straße durch die Zeit. Die Straße in die Zukunft.«

Eigentlich hätte sie »Zukunftsstraße« heißen müssen, erläuterte Stefan, denn Wladimir Penlowski war es nicht gelungen, mit seiner Zeitmaschine Menschen in die Vergangenheit zu schicken. Sie konnten lediglich in die Zukunft reisen und von dort in ihre eigene Zeit zurückkehren.

»Es scheint irgendeinen kosmischen Mechanismus zu geben, der Zeitreisende daran hindert, an ihrer eigenen Vergangenheit herumzupfuschen, um ihre gegenwärtigen Lebensumstände zu verändern. Eine theoretisch mögliche Reise in die eigene Vergangenheit würde vor allem eines entstehen lassen ...«

»Paradoxe!« rief Chris aufgeregt.

Stefan war sichtlich überrascht darüber, daß der Junge dieses Wort kannte.

»Wie ich dir schon gesagt habe«, sagte Laura lächelnd, »haben wir ziemlich eingehend über deine mögliche Herkunft diskutiert und sind dabei auf Zeitreisen als die logischste Möglichkeit gekommen. Und in Chris hast du meinen Experten für Unheimliches vor dir.«

»Paradoxe«, bestätigte Stefan. »Könnte ein Zeitreisender in seine eigene Vergangenheit zurückkehren und dort irgendwelche Veränderungen bewirken, wären die Konsequenzen unvorhersehbar. Dadurch würde die Zukunft verändert, aus der er kommt. Deshalb könnte er nicht mehr in dieselbe Welt zurückkehren, die er verlassen hat ...«

»Paradox!« warf Chris begeistert ein.

»Richtig«, sagte Stefan. »Die Natur verabscheut offenbar Paradoxe und läßt im allgemeinen nicht zu, daß der Zeitreisende solche in die Welt setzt. Und dafür müssen wir Gott danken, denn ... Nehmen wir beispielsweise einmal an, Hitler hätte einen Attentäter in die Vergangenheit zurückschicken können, um Winston Churchill und Franklin Roosevelt ermorden zu lassen, bevor sie in hohe Staatsämter gelangten. In England und den Vereinigten Staaten wären dann andere Männer gewählt worden: Männer, die vielleicht weniger brillant und leichter zu manipulieren gewesen wären, so daß Hitler vielleicht schon Anfang der vierziger Jahre triumphiert hätte.«

Er sprach jetzt mit einer Leidenschaftlichkeit, die seinen geschwächten Körper übermäßig anstrengte, und Laura konnte beobachten, wie jedes einzelne Wort seinen Tribut forderte. Die Schweißperlen, die anfangs auf seiner Stirn gestanden hatten, waren in der Zwischenzeit fast abgetrocknet - aber jetzt zeigte sich auf Stefans blassem Gesicht erneut ein Schweißfilm. Und die Ringe unter seinen Augen schienen noch dunkler geworden zu sein. Aber Laura konnte ihn nicht auffordern, eine Pause zu machen und sich auszuruhen. Sie wollte und mußte alles hören, was er zu erzählen hatte - und außerdem würde er sich nicht den Mund verbieten lassen.

»Stell dir vor, der Führer könnte Killer in die Vergangenheit zurückschicken, um Dwight Eisenhower, George Patton und Feldmarschall Montgomery umbringen zu lassen, sie in der Wiege ermorden zu lassen . um die begabtesten Heerführer der Alliierten ausschalten zu lassen. Dann wäre er 1944 bereits auf dem Weg zur Weltherrschaft gewesen. Das würde auch bedeuten, daß diese Zeitreisenden in die Vergangenheit hätten zurückkehren können, um Männer zu liquidieren, die schon lange tot waren und keine Gefahr mehr darstellten. Wieder ein Paradox, seht ihr. Zum Glück läßt die Natur keine Paradoxe dieser Art, keine Manipulation der eigenen Vergangenheit zu, sonst hätte Adolf Hitler die ganze Welt in ein Vernichtungslager, in ein einziges großes KZ verwandelt.«

Sie schwiegen eine Zeitlang, während sie über die Schrecken einer solchen Hölle auf Erden nachdachten. Selbst Chris reagierte auf das von Stefan entworfene Bild einer veränderten Welt, denn er war ein Kind der achtziger Jahre, in denen die Schurken in Filmen und Fernsehstücken meistens gefräßige Außerirdische oder Nazis waren. Hakenkreuzfahnen, schwarze SS-Uniformen mit silbernen Totenköpfen und der dämonische Fanatiker mit dem Schnurrbärtchen waren für Chris Symbole des Schreckens, da sie Bestandteil der medienerzeugten Mythologie waren, mit der er aufwuchs. Laura wußte, daß in die Mythologie eingegangene reale Personen und Ereignisse für ein Kind irgendwie realer waren als sein täglich Brot.

»Aus dem Institut konnten wir also nur in die Zukunft reisen«, berichtete Stefan. »Aber auch das hatte seine Vorteile. Wir konnten einige Jahrzehnte weiter springen, um festzustellen, ob Deutschland sich in der dunkelsten Zeit des Krieges gehalten und irgendwie dann doch den Endsieg errungen hatte. Dabei zeigte sich natürlich, daß dieser Fall nicht eingetreten war - daß das Dritte Reich besiegt worden war. Aber ließ sich diese Niederlage nicht doch vermeiden, indem man das gesamte Wissen der Zukunft nutzte? Für Hitler mußte es Möglichkeiten geben, das Dritte Reich noch 1944 zu retten. Es gab Dinge, die aus der Zukunft mitgebracht werden konnten, um einen deutschen Sieg sicherzustellen ...«

»Zum Beispiel Atombomben!« warf Chris ein.

»Oder die Konstruktionspläne dafür«, stellte Stefan richtig. »Im Dritten Reich hat es bereits ein Atomforschungsprogramm gegeben, und wenn der entscheidende Schritt zur Bombe früher gelungen wäre .«

»Dann hätten die Deutschen den Krieg gewonnen!« ergänzte Chris.

Stefan bat erneut um Wasser und trank diesmal ein halbes Glas auf einmal. Er wollte das Glas dabei selbst halten, aber seine Hand zitterte zu stark: Wasser schwappte auf seine Bettdecke, und Laura mußte ihm helfen.

Als er dann weitersprach, schwankte seine Stimme gelegentlich. »Da der Zeitreisende während seiner Reise außerhalb Zeit existiert, kann er sich nicht nur zeitlich, sondern auch geografisch bewegen, als würde er ortsfest über der Erde schweben, die sich unter ihm weiterdreht. Das tut er natürlich nicht, aber diese Vorstellung macht die Sache verständlicher, als wenn man sich vorstellt, er schwebe in einer anderen Dimension. Da die Erde sich gewissermaßen unter ihm dreht, entscheidet seine Reisedauer darüber, ob er sich beispielsweise in Berlin wiederfindet, das er vor Jahren oder Jahrzehnten verlassen hat. Verkürzt oder verlängert er seine Reise jedoch um ein paar Stunden, hat die Erde sich kürzer oder länger gedreht, so daß er an einem anderen Ort ankommt. Die für eine präzise Ortsbestimmung erforderlichen Berechnungen sind in meiner Zeit - im Jahre 1944 - ungeheuer schwierig ...«

»Aber heutzutage wären sie einfach - mit Computern«, sagt Chris.

Stefan veränderte unbehaglich seine Haltung in den Kissen, die ihn stützten, und legte seine zitternde Rechte auf die verletzte linke Schulter, als könne er seine Schmerzen durch diese Berührung lindern. »Von Gestapo-Männern begleitete Teams deutscher Physiker sind in verschiedene europäische und amerikanische Städte des Jahres 1985 entsandt worden«, berichtete er dann weiter, »um entscheidend wichtige Informationen über den Bau von Atomwaffen zu sammeln. Die Unterlagen, auf die sie’s abgesehen hatten, waren weder als geheim eingestuft, noch schwer zu finden. Auf der Grundlage ihrer eigenen Forschungsergebnisse haben sie sich den Rest aus Fachbüchern und wissenschaftlichen Veröffentlichungen zusammensuchen können, die 1985 in jeder größeren Universitätsbibliothek standen. Vier Tage vor meiner letzten Zeitreise hierher sind diese Teams im März 1944 mit Material aus dem Jahre 1985 zurückgekommen, mit dem das Dritte Reich bis zum Herbst die erste Atommacht werden kann. Sie wollten das Material einige Wochen lang im Institut studieren, um dann zu entscheiden, wo und wie es ohne Hinweis auf seine Herkunft ins deutsche Atomforschungsprogramm eingeschleust werden könnte. Das hat mich endgültig in meinem Vorhaben bestärkt, das Institut mitsamt allen Wissenschaftlern und Unterlagen zu vernichten, um eine von Adolf Hitler gestaltete Zukunft zu verhindern.«

Stefan Krieger berichtete Chris und Laura, die gespannt zuhörten, wie er im Jahre 1944 die Sprengladungen im Institut angebracht, Penlowksi, Janusky und Wolkow erschossen und das Zeittor so programmiert hatte, daß es ihn zu Laura ins heutige Amerika brachte.

Aber vor Stefans Abreise war in letzter Minute etwas schiefgegangen. Die RAF hatte Berlin immer öfter und mit immer nachhaltigerer Wirkung bombardiert, US-Bomber hatten am 6. März den ersten Tagesangriff geflogen, so daß die Stromversorgung häufig unterbrochen war - nicht nur durch Luftangriffe, sondern auch durch Sabotageakte. Um vor solchen Stromausfällen sicher zu sein, wurde das Tor durch einen eigenen Generator versorgt. Als Stefan an jenem Tag von Kokoschka angeschossen in den Stahlzylinder gekrochen war, hatte er nichts von einem Bombenangriff gehört, so daß der Stromausfall wohl auf Sabotage zurückzuführen gewesen war.

»Dadurch ist der Zeitzünder stromlos geworden. Das Tor ist intakt geblieben: Es steht weiterhin offen, und sie können uns hierher verfolgen. Und sie ... sie können den Krieg noch immer gewinnen.«

Lauras Kopfschmerzen meldeten sich zurück. Sie preßte ihre Fingerspitzen an die Schläfen. »Augenblick! Hitler kann es nicht gelungen sein, Atombomben zu bauen und den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen, weil wir nicht in einer Welt leben, in der das geschehen ist. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen, Stefan. Trotz aller Informationen, die sie zurückgebracht haben, ist es ihnen offenbar doch nicht gelungen, Atomwaffen zu entwickeln.«

»Nein«, widersprach er. »Sie haben bisher keinen Erfolg gehabt, aber wir dürfen nicht annehmen, daß ihre Mißerfolge sich fortsetzen werden. Wie ich bereits festgestellt habe, ist die Vergangenheit für die Männer, die 1944 in Berlin im Institut tätig sind, unveränderbar. Sie können nicht zurückreisen und ihre eigene Vergangenheit ändern. Aber sie können ihre - und unsere - Zukunft ändern, weil die Zukunft eines Zeitreisenden durch gezielte Maßnahmen veränderbar ist.«

»Aber seine Zukunft ist meine Vergangenheit«, wandte Laura ein. »Und wie soll er meine Vergangenheit ändern können, wenn sie unveränderbar ist?«

»Richtig«, stimmte Chris zu. »Paradox.«

»Hör zu, Stefan«, fuhr Laura fort, »ich bin in keiner von Adolf Hitler und seinen Erben beherrschten Welt aufgewachsen - folglich hat Hitler trotz eurer Zeitmaschine nicht gesiegt.«

Stefan schüttelte traurig den Kopf. »Würde die Zeitmaschine jetzt, im Jahre 1989, erfunden werden, wäre diese Vergangenheit, von der du sprichst - mit dem Zweiten Weltkrieg und allen seinen Folgen -, unveränderbar. Du könntest sie nicht ändern, denn die Natur verhindert Reisen in die Vergangenheit, durch die du Zeitreiseparadoxe auslösen könntest. Aber die Zeitmaschine ist nicht hier entdeckt oder wiederentdeckt worden. Die Zeitreisenden des Jahres 1944 aus dem Berliner Institut können offenbar ihre Zukunft verändern, und obwohl sie damit auch deine Vergangenheit verändern, gibt es kein Naturgesetz, das sie daran hindern könnte. Das ist das größte Paradox überhaupt - und zugleich das einzige, das die Natur aus irgendeinem Grund zu gestatten scheint.«

»Soll das heißen«, fragte Laura, »daß sie mit den Informationen aus dem Jahre 1985 noch immer Atomwaffen bauen und den Krieg gewinnen können?«

»Ja - es sei denn, das Institut würde zuvor zerstört werden.«

»Und was dann? Um uns herum wäre plötzlich alles anders, weil wir unter dem Nationalsozialismus leben würden?«

»Ja. Aber du würdest nichts von dieser Veränderung merken, weil du ein völlig anderer Mensch wärst als jetzt. Deine gesamte Vergangenheit hätte es nie gegeben. Du hättest eine völlig andere Vergangenheit und würdest dich an nichts aus diesem Leben erinnern, weil es niemals existiert hätte. Du würdest glauben, die Welt sei schon immer so gewesen, und könntest dir keine vorstellen, in der Hitler den Krieg verloren hat.«

Die aufgezeigten Möglichkeiten erschreckten und ängstigten Laura, weil sie das Leben noch unsicherer erscheinen ließen, als es ihr schon immer vorgekommen war. Die Erde unter ihren Füßen erschien ihr plötzlich nur noch als eine Traumwelt, die sich ohne Vorwarnung auflösen und sie in ein riesiges schwarzes Nichts stürzen lassen konnte.

»Wenn sie die Welt ändern könnten, in der ich aufgewachsen bin«, sagte sie mit zunehmendem Entsetzen, »wäre ich Danny vielleicht nie begegnet, hätte ihn nie geheiratet.«

»Und ich wäre vielleicht nie geboren worden«, fügte Chris hinzu.

Sie legte Chris eine Hand auf den Arm - nicht nur, um ihn zu beruhigen, sondern um sich auch zu vergewissern, daß er in dieser Welt wirklich existierte. »Vielleicht wäre auch ich nie geboren worden. Was ich bisher erlebt habe, das Gute und Schlechte der Welt seit 1944 ... alles würde wie eine riesige Sandburg weggeschwemmt und durch eine neue Realität ersetzt werden.«

»Durch eine neue und schlimmere Realität«, sagte Stefan, den die notwendigen langen Erklärungen sichtlich angestrengt hatten.

»In dieser neuen Welt hätte ich meine Romane vielleicht nie geschrieben.«

»Und wenn du sie geschrieben hättest«, ergänzte Stefan, »wären sie anders als deine jetzigen: groteske Werke einer in einer Diktatur und unter der eisernen Faust der Nazi-Zensur arbeitenden Schriftstellerin.«

»Wenn diese Kerle 1944 die Atombombe bauen«, warf Chris ein, »zerfallen wir alle zu Staub und werden weggeblasen.«

»Nicht buchstäblich - aber wie Staub, ja«, bestätigte Stefan Krieger. »Spurlos verschwunden, als hättet ihr nie existiert.«

»Wir müssen sie stoppen!« sagte Chris.

»Wenn wir können«, stimmte Stefan zu. »Aber zuerst müssen wir in dieser Realität am Leben bleiben, was vielleicht gar nicht einfach sein wird.«

Stefan mußte auf die Toilette, und Laura half ihm mit der nüchternen Selbstverständlichkeit einer im Umgang mit Patienten erfahrenen Krankenschwester ins Bad ihres Motelzimmers. Als sie ihn endlich wieder im Bett hatte, machte sie sich erneut Sorgen um Stefan: Trotz seines immer noch kräftigen Körperbaus fühlte er sich schlaff und feuchtkalt an und war erschrek-kend schwach.

Sie berichtete ihm kurz von der Schießerei hinter Brenkshaws Haus, während der er im Koma gelegen hatte. »Woher wissen diese Killer, wo wir zu finden sind, wenn sie aus der Vergangenheit statt aus der Zukunft kommen? Wie konnten sie 1944 wissen, wann wir fünfundvierzig Jahre später bei Doktor Brenkshaw aufkreuzen würden?«

»Um dich zu finden, haben sie zwei Reisen gemacht«, erklärte Stefan ihr. »Als erstes sind sie ein paar Tage weiter in die Zukunft gereist - vielleicht zum kommenden Wochenende -, um zu sehen, ob du irgendwo auftauchen würdest. Falls nicht - und du scheinst nicht aufgetaucht zu sein -, haben sie angefangen, öffentlich zugängliche Quellen auszuwerten. Vor allem Zeitungen. Sie haben die Meldungen über eine Schießerei in deinem Haus gelesen und sind dann darüber informiert worden, daß du mit einem Verletzten bei Doktor Brenkshaw in San Bernardino aufgekreuzt bist. Deshalb sind sie einfach ins Jahr 1944 zurückgekehrt und haben eine weitere Zeitreise gemacht - diesmal zum frühen Morgen des Elften zu Brenkshaws Praxis.«

»Sie können uns jederzeit überspringen«, sagte Chris zu Laura. »Sie können vorausspringen, nachsehen, wo wir auftauchen, und sich dann eine Stelle im Zeitstrom aussuchen, an der wir am leichtesten zu überfallen sind. Sozusagen als ob ... als ob wir die Cowboys wären und die Indianer alle hellsehen könnten.«

»Wer war Kokoschka?« erkundigte Chris sich. »Wer war der Mann, der meinen Vater ermordet hat?«

»Der Chef des Sicherheitsdienstes des Instituts«, antwortete Stefan. »Er behauptete, mit Oskar Kokoschka, dem berühmten österreichischen Expressionisten, entfernt verwandt zu sein, aber das bezweifle ich, denn unser Kokoschka hatte gar nichts Künstlerisches an sich. Standartenführer - das bedeutet SS-Oberst - Heinrich Kokoschka war ein sehr tüchtiger GestapoKiller.«

»Gestapo?« wiederholte Chris fast ehrfürchtig. »Geheimpolizei?«

»Geheime Staatspolizei«, stellte Stefan richtig. »Ihre Existenz ist allgemein bekannt, aber ihre Arbeit bleibt geheim. Als er auf dieser Bergstraße im Jahre 1988 aufkreuzte, war ich so überrascht wie ihr, denn ich hatte keine Blitze gesehen. Er muß dreißig, vierzig Kilometer von uns entfernt in einem anderen Tal der San Bernardino Mountains angekommen sein, so daß uns die Blitze nicht auffielen.« Stefan erläuterte, daß die Blitze im Zusammenhang mit Zeitreisen stets ein eng begrenztes lokales Phänomen seien, und fuhr fort: »Nachdem Kokoschka dort aufgetaucht war, befürchtete ich, bei meiner Rückkehr das ganze Institut in heller Empörung wegen meines Verrats vorzufinden - aber in Wirklichkeit wurde ich kaum beachtet. Das hat mich ziemlich verwirrt! Als ich dann im Hauptlabor meine letzte Reise in die Zukunft vorbereitete, nachdem ich Penlowski und die anderen erschossen hatte, kam Heinrich Kokoschka hereingestürmt und schoß mich an. Er war also nicht tot, war nicht auf dieser Bergstraße im Jahre 1988 umgekommen! Erst dann wurde mir klar, daß er meinen Verrat erst dadurch entdeckte, daß er die von mir Erschossenen auffand. Kokoschka ist später ins Jahr 1988 gereist, um zu versuchen, mich ... uns alle umzubringen. Das bedeutete, daß das Tor offenbleiben würde - daß mein Versuch, es zu zerstören, scheitern würde. Zumindest dieser eine Versuch.«

»Gott, diese Kopfschmerzen!« sagte Laura. Chris schien dagegen keine Mühe zu haben, sich in dem von Stefan Krieger beschriebenen Zeitreiselabyrinth zurechtzufinden. »Kokoschka ist also ins Jahr 1988 gereist, nachdem du gestern zu uns gekommen bist, und hat meinen Daddy ermordet. Mann! Eigentlich hast du Kokoschka vierundvierzig Jahre nach eurer Schießerei im Hauptlabor erledigt ... und trotzdem hast du ihn erschossen, bevor er auf dich geschossen hat. Das sind wilde Sachen, stimmt’s, Mom? Aufregend, nicht wahr?«

»Und wie!« bestätigte Laura. Sie wandte sich wieder an Stefan. »Woher wußte Kokoschka, wo du auf der Bergstraße anzutreffen sein würdest?«

»Nachdem Kokoschka festgestellt hatte, daß ich Penlowski und die beiden anderen erschossen hatte, und nach meiner Flucht in die Zukunft muß er die Sprengladungen auf dem Dachboden und im Keller des Instituts entdeckt und dann die automatisch aufgezeichneten Betriebszeiten des Tores ausgewertet haben. Für die Überwachung dieser Zeiten war früher ich zuständig gewesen, deshalb merkte niemand, wie oft ich deinetwegen in die Zukunft gereist war. Jedenfalls muß Kokoschka selbst einige Zeitreisen gemacht haben - wahrscheinlich sogar viele -, um festzustellen, wo ich mich aufhielt und wie ich in dein Schicksal eingegriffen habe. Er muß mir nachspioniert haben, als ich bei der Beerdigung deines Vaters auf dem Friedhof war und als ich Sheener verprügelte, aber ich habe ihn nie gesehen. Als er dann wußte, wann ich dich nur beobachtete und wann ich handelte, um dich zu retten, wählte er sich einen Zeitpunkt und Ort aus, um uns alle zu erschießen. Mich wollte er als Verräter liquidieren; dich und deine Angehörigen wollte er umbringen, weil ... nun, weil er wußte, wie wichtig du mir warst.«

Weshalb? dachte sie. Warum bin ich dir so wichtig, Stefan Krieger? Weshalb hast du dich in mein Schicksal eingemischt und versucht, mir ein besseres Leben zu verschaffen?

Sie hätte ihm diese Fragen am liebsten gleich gestellt, aber er schien noch mehr über Kokoschka erzählen zu wollen. Er wurde offenbar rasch schwächer und hatte sichtlich Mühe, bei seiner Schilderung nicht den Faden zu verlieren. Laura wollte ihn nicht durch Zwischenfragen verwirren.

»Kokoschka dürfte mein letztes Ziel - gestern abend, dein Haus - mit Hilfe der automatisch registrierten Einstellwerte des Programmierpults ermittelt haben«, berichtete Stefan weiter. »Eigentlich hatte ich, wie versprochen, in der Nacht des Tages zurückkehren wollen, an dem Danny erschossen worden war; statt dessen bin ich ein Jahr später zurückgekommen, weil ich bei der Eingabe der errechneten Werte irgendeinen Fehler gemacht habe. Nachdem ich verletzt in die Zukunft geflüchtet war, muß Heinrich Kokoschka meine Berechnungen gefunden haben. Er muß meinen Fehler erkannt und gewußt haben, wo ich nicht nur gestern abend, sondern auch in der Nacht, in der Danny ermordet worden ist, zu finden sein würde. Als ich letztes Jahr versuchte, dich vor dem schleudernden Kleinlaster zu retten, habe ich in gewisser Beziehung Dannys Mörder mitgebracht. Dafür fühle ich mich verantwortlich, obwohl Danny diesen Unfall ohnehin nicht überlebt hätte. Wenigstens sind Chris und du am Leben geblieben. Zumindest fürs erste.«

»Weshalb hat Kokoschka dich nicht ins Jahr 1989 verfolgt -zum Beispiel letzte Nacht zu meinem Haus? Er hat gewußt, daß du als Verletzter eine leichte Beute sein würdest.«

»Er hat aber auch gewußt, daß ich erwarten würde, von ihm verfolgt zu werden, und befürchten müssen, ich sei bewaffnet und auf sein Kommen vorbereitet. Deshalb ist er für mich unerwartet ins Jahr 1988 gereist, um das Überraschungsmoment für sich zu nutzen. Außerdem hat Kokoschka vermutlich gehofft, daß ich nicht würde ins Institut zurückkehren und Pedowski erschießen können, wenn er mich ins Jahr 1988 verfolgte und dort erschoß. Bestimmt glaubte er, die Zeit durch einen Trick zu überlisten, diese Morde ungeschehen machen und dadurch den Projektleiter retten zu können. Aber das konnte er natürlich nicht, weil er dadurch seine eigene Vergangenheit verändert hätte, was unmöglich ist. Penlowski und die anderen waren inzwischen bereits tot und würden es bleiben. Hätte Kokoschka die für Zeitreisen gültigen Gesetzmäßigkeiten besser begriffen, dann hätte er gewußt, daß sein Anschlag im Jahre 1988, zumindest was meine Person betraf, gescheitert sein mußte, denn als er diese Reise unternahm, war ich bereits unversehrt aus den San Bernardino Mountains ins Institut zurückgekehrt!«

»Alles in Ordnung, Mom?« erkundigte Chris sich besorgt.

»Gibt’s Excedrin auch in Einpfundtabletten?« fragte sie.

»Ich weiß, daß das ein bißchen viel auf einmal ist«, bestätigte Stefan. »Aber du wolltest wissen, wer Heinrich Kokoschka ist

- oder gewesen ist. Er hat die von mir angebrachten Sprengladungen entschärft. Seinetwegen - und wegen des unglückseligen Stromausfalls, der den Zeitzünder lahmgelegt hat - steht das Institut noch, ist das Tor weiterhin offen und versuchen Gestapoleute jetzt, uns in dieser Zeit aufzuspüren ... und zu liquidieren.«

»Warum?« fragte Laura.

»Aus Rache«, sagte Chris.

»Sie reisen fünfundvierzig Jahre weit in die Zukunft, nur um uns aus Rache zu ermorden?« Laura schüttelte den Kopf. »Dahinter muß mehr stecken.«

»Richtig«, bestätigte Stefan. »Sie wollen uns ausschalten, weil sie uns für die einzigen Menschen halten, denen zuzutrauen ist, daß sie eine Möglichkeit finden, das Tor zu schließen, bevor sie den Krieg gewinnen und damit ihre Zukunft verändern. Und mit dieser Annahme haben sie recht.«

»Wie?« fragte sie erstaunt. »Wie können wir das Institut vor fünfundvierzig Jahren zerstören?«

»Das weiß ich noch nicht«, gab Stefan zu. »Aber ich werde darüber nachdenken.«

Sie wollte ihm weitere Fragen stellen, aber Stefan schüttelte den Kopf. Er sei zu erschöpft, um weiterzureden, sagte er und schlief wenig später wieder ein.

Aus seinen Einkäufen im Supermarkt nahm Chris ein verspätetes Mittagessen, bestehend aus Weißbrot mit Erdnußbutter, ein. Laura hatte keinen Appetit.

Da abzusehen war, daß Stefan ein paar Stunden lang schlafen würde, ging sie unter die Dusche. Danach fühlte sie sich erheblich wohler, auch wenn sie keine Kleidungsstücke zum Wechseln hatte.

Das Fernsehprogramm blieb den ganzen Nachmittag unerbittlich idiotisch: Seifenopern, Quizshows, weitere Melodramen, Wiederholungen alter Serien und Phil Donahue, der durchs Studio hastete und seine Gäste aufforderte, doch einmal über die einzigartige Notlage transvestitisch veranlagter Zahnärzte nachzudenken und Mitleid mit ihnen zu haben.

Laura füllte das Magazin ihrer Uzi mit der Munition auf, die sie vormittags in einem Waffengeschäft gekauft hatten.

Gegen Abend zogen draußen immer dunklere Wolken auf, bis kein Stückchen blauer Himmel mehr zu sehen war. Die Fächerpalme neben dem gestohlenen Buick schien ihre Wedel in Erwartung eines Sturms zu schließen.

Laura ließ sich in einen der Sessel fallen, legte ihre Füße aufs Bett, schloß die Augen und döste eine Zeitlang. Sie schrak aus einem Alptraum auf, in dem sie entdeckt hatte, daß sie aus Sand bestehe und sich in einem Gewitterregen rasch auflöse. Chris schlief in dem anderen Sessel, und Stefan schnarchte leise im Bett.

Draußen hatte es zu regnen begonnen. Der Regen trommelte aufs Moteldach und prasselte in die Pfützen auf dem Parkplatz

- ein Geräusch wie stark erhitztes Fritierfett. Diese Art Regenguß war für Südkalifornien charakteristisch: stark und ergiebig, aber ohne Blitz und Donner, die hier seltener als in anderen Teilen der Welt auftraten. Laura hatte jetzt besonderen Anlaß, für diese klimatische Tatsache dankbar zu sein, denn sie hätte bei Blitz und Donner schon wieder vor der Frage gestanden, ob sie natürliche Ursachen hatten oder das Kommen von Gestapoleuten aus einer anderen Zeit ankündigten ...

Chris wachte gegen 17.20 Uhr auf, Stefan Krieger war fünf Minuten später wieder wach. Beide sagten, sie seien hungrig, und Stefan ließ darüber hinaus Anzeichen weiterer Besserung erkennen. Seine Augen waren blutunterlaufen und wäßrig gewesen; jetzt waren sie wieder klar. Er konnte sich mit Hilfe seines gesunden Armes ohne Lauras Beistand im Bett aufsetzen. Seine linke Hand, die kraft- und gefühllos gewesen war, hatte sich wieder so weit erholt, daß er die Finger, deren Tast-sinn zurückgekehrt war, bewegen und sogar zu einer schwachen Faust ballen konnte.

Statt eines Abendessens hätte Laura lieber weitere Fragen beantwortet bekommen, aber ihr Leben hatte sie unter anderem gelehrt, geduldig zu sein. Als sie an diesem Morgen kurz nach 11 Uhr ihr Motelzimmer bezogen hatten, war Laura auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein chinesisches Restaurant aufgefallen. Obwohl sie Chris und Stefan nicht gern allein ließ, wagte sie sich jetzt in den Regen hinaus, um Essen aus dem Restaurant zu holen.

Laura trug den Revolver Kaliber 38 unter ihrer Jacke und ließ die Uzi auf Stefans Bett zurück. Chris würde nicht mit der Maschinenpistole schießen können, aber Stefan war vielleicht imstande, sich gegen das Kopfende seines Betts zu stemmen und lediglich mit der rechten Hand einen Feuerstoß abzugeben, obwohl der Rückstoß seine Wunde bestimmt wieder aufbrechen lassen würde.

Als Laura völlig durchnäßt zurückkam, stellte sie die Behälter aus Wachskarton - mit Ausnahme der beiden Eierblumensuppen für Stefan, die auf den Nachttisch gestellt wurden -aufs Fußende des Betts. Beim Betreten des Restaurants mit seinen aromatischen Düften hatte sie ihren Appetit wiedergefunden und natürlich viel zuviel bestellt: Brathuhn mit Zitrone, Rindfleisch mit Orangenscheiben, Krabben in süß-saurer Sauce, Schweinefleisch mit Bambussprossen, Fleischklößchen süßsauer und zwei Behälter Reis.

Während Chris und sie mit Plastikgabeln alle Gerichte versuchten und dazu Cokes tranken, die Laura aus dem Automaten an der Rezeption geholt hatte, schlürfte Stefan seine Suppe. Er hatte geglaubt, nichts Festes essen zu können, aber als er mit der Suppe fertig war, kostete er vorsichtig auch von den Fleischklößchen und vom Huhn mit Zitrone.

Auf Lauras Bitte hin erzählte er während des Essens von sich selbst. Stefan Krieger war 1909 in Gittelde im Harz zur Welt gekommen und somit 35 Jahre alt. (»Naja«, sagte Chris, »zählt man andererseits die fünfundvierzig Jahre dazu, die du durch deine Zeitreise von 1944 bis 1989 übersprungen hast, dann bist du in Wirklichkeit achtzig!« Er lachte. »Mann, für ‘nen achtzigjährigen alten Knacker hast du dich aber gut gehalten!«) Nachdem die Familie gegen Ende des Ersten Weltkriegs nach München umgezogen war, hatte Franz Krieger, Stefans Vater, schon im Jahr 1919 zu den frühesten Anhängern Adolf Hitlers gehört, als dieser seine politische Laufbahn in der Deutschen Arbeiterpartei begann. Gemeinsam mit Hitler und Anton Drex-ler hatte Krieger sogar an dem Programm mitgearbeitet, durch das die Partei, die anfangs eher ein Debattierklub gewesen war, in eine regelrechte politische Partei umgewandelt wurde, aus der sich später die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei entwickelte.

»Als Siebzehnjähriger bin ich 1926 einer der ersten Hitlerjungen gewesen«, berichtete Stefan weiter. »Dann ein Jahr später bin ich in die Sturmabteilung der SA eingetreten - die Braunhemden, die Kampftruppe der Partei, buchstäblich eine Privatarmee. Ab 1928 habe ich dann der Schutzstaffel angehört .«

»Der SS!« sagte Chris in einer Mischung aus Abscheu und Faszination, als wäre die Rede von Vampiren oder Werwölfen. »Du bist SS-Angehöriger gewesen? Du hast die schwarze Uniform mit dem silbernen Totenkopf und dem SS-Dolch getragen?«

»Darauf bin ich nicht stolz«, wehrte Stefan ab. »Oh, damals war ich natürlich stolz! Ich war dumm. Und mein Vater war ein Dummkopf. In der Anfangszeit war die SS eine kleine Elitegruppe, die den Auftrag hatte, den Führer notfalls unter Einsatz ihres eigenen Lebens zu schützen. Wir waren alle zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahren: junge, unerfahrene Heißsporne. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur vorbringen, daß ich weniger fanatisch war als meine Kameraden. Ich hatte lediglich getan, was mein Vater wollte, ohne weiter nach dem Sinn meines Tuns zu fragen.«

Vom Wind getriebener Regen klatschte gegen die Fensterscheiben und gurgelte durch ein Fallrohr an der Wand hinter dem Bett.

Nach seinem Nickerchen wirkte Stefan wieder kräftiger, und die heiße Suppe hatte ihm ebenfalls sichtlich gutgetan. Während er sich jetzt jedoch an seine in einem Hexenkessel aus Haß und Tod verbrachte Jugend erinnerte, wurde er erneut blaß, seine Augen schienen tiefer in ihre dunklen Höhlen zu sinken. »Ich bin nie aus der SS ausgetreten, weil die Stellung eines SS-Führers begehrt war - und weil ich nicht hätte ausscheiden können, ohne den Verdacht zu erwecken, ich hätte das Vertrauen zu unserem geliebten Führer verloren. Jahr für Jahr, Monat für Monat und zuletzt Tag für Tag hat mich alles, was ich um mich herum gesehen habe - den Wahnsinn und das Morden und den Terror -, immer mehr entsetzt.«

Weder die süß-sauren Krabben noch das Brathuhn mit Zitrone schmeckten noch besonders, und Lauras Mund war so ausgetrocknet, daß der Reis ihr am Gaumen klebte. Sie schob das Essen beiseite und trank einen Schluck Coke. »Aber wenn du nie aus der SS ausgetreten bist - wann hast du dann studiert, wie bist du dazu gekommen, in der Forschung tätig zu sein?«

»Oh«, sagte Stefan, »ich war nicht als Wissenschaftler im Institut. Ich habe auch nicht studiert, aber ... ich habe als Teilnehmer eines Projekts zur Einschleusung von Hunderten von Agenten nach England und Amerika in dreijähriger Intensivausbildung versucht, akzentfreies amerikanisches Englisch zu lernen. Aber ich konnte meinen Akzent nie ganz ablegen und wurde deshalb nicht ins Ausland geschickt. Da mein Vater aber einer der ersten Anhänger Hitlers gewesen war, galt ich stets als vertrauenswürdig und wurde deshalb anderweitig eingesetzt. Als SS-Führer zur besonderen Verwendung gehörte ich zum Stab des Führers und wurde mit allen möglichen Sonderaufgaben betraut. In dieser Stellung konnte ich den Engländern nützliche Informationen liefern, was ich ab 1938 getan habe.«

»Du bist ein Spion gewesen?« fragte Chris aufgeregt.

»In gewisser Beziehung. Nachdem ich bereitwillig mitgeholfen hatte, das Dritte Reich aufzubauen, mußte ich jetzt wenigstens zu seinem Sturz beitragen. Das war meine Form der Wiedergutmachung - obwohl eine vollständige Wiedergutmachung unmöglich zu sein schien. Und als Penlowskis Zeitmaschine dann im Herbst 1943 zu funktionieren begann, als er Tiere aus der Gegenwart verschwinden ließ und sie wieder zurückholte, wurde ich als persönlicher Vertreter des Führers ins Institut beordert. Aber auch als Versuchskaninchen - als erster Zeitreisender. Als es soweit war, daß ein Mensch in die Zukunft geschickt werden konnte, sollten weder Penlowski noch einer der anderen Wissenschaftler, deren Ausfall das Projekt hätte beeinträchtigen können, aufs Spiel gesetzt werden. Niemand wußte, ob ein Mensch ebenso zuverlässig wie die Tiere zurückkommen und die Zeitreise geistig und körperlich gesund überstehen würde.«

Chris nickte ernsthaft. »Klar, Zeitreisen hätten schmerzhaft sein oder zu Geistesverwirrung führen können. Wer hätte das im voraus wissen können?«

Richtig, wer hätte das wissen können? fragte Laura sich.

»Außerdem mußte der Zeitreisende zuverlässig und imstande sein, seinen Auftrag streng geheimzuhalten. Aus dieser Sicht war ich die Idealbesetzung gewesen.«

»SS-Führer, Spion und erster Chrononaut!« sagte Chris beeindruckt. »Wow, ein faszinierendes Leben!«

»Gott gebe dir ein weit weniger bewegtes Leben«, wehrte Stefan Krieger ab. Er starrte Laura intensiver als zuvor an. Aus dem Blick seiner leuchtendblauen Augen sprach eine gequälte Seele. »Laura ... was hältst du jetzt von deinem Beschützer? Kein Engel, sondern ein Handlanger Hitlers, ein SSVerbrecher.«

»Kein Verbrecher!« widersprach Laura. »Dein Vater, deine Zeit und deine Gesellschaft haben versucht, einen Verbrecher aus dir zu machen, aber du bist im Innersten unbeugsam geblieben. Du bist kein Verbrecher, Stefan - du nicht!«

»Aber auch kein Engel«, stellte er fest. »Bestimmt kein Engel, Laura. Am Tag des Jüngsten Gerichts werden meine Untaten mir einen eigenen kleinen Platz in der Hölle einbringen.«

Der aufs Dach trommelnde Regen erschien Laura wie verrinnende Zeit: Millionen und Abermillionen kostbarer Minuten, Stunden und Tage, die durch Gullies und Fallrohre abliefen, versickerten, ungenutzt blieben.

Nachdem Laura die Essensreste weggetragen und in einen Müllbehälter hinter der Rezeption gekippt und mit drei weiteren Cokes aus dem Automaten zurückgekommen war, stellte sie ihrem Beschützer endlich die Frage, die ihr auf der Zunge lag, seitdem er aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht war: »Weshalb? Warum hast du dich auf mich, auf mein Leben konzentriert, warum wolltest du mir ab und zu aus der Klemme helfen? Um Himmels willen, wie hängt mein Schicksal mit Nazis, Zeitreisenden und der Zukunft der Welt zusammen?«

Stefan erklärte ihr, daß er auf seiner dritten Zeitreise im Kalifornien des Jahres 1984 gewesen sei, weil die beiden vorigen Reisen - zwei Wochen im Jahre 1954, zwei Wochen im Jahre 1964 - ihm gezeigt hätten, daß Kalifornien das künftige Kultur- und Wissenschaftszentrum der fortschrittlichsten Nation der Welt sein werde. Unterdessen war er nicht mehr der einzige Zeitreisende: Seit Ausflüge in die Zukunft sich als ungefährlich erwiesen hatten, hatte er vier Kollegen bekommen. Auf dieser dritten Reise hatte Stefan noch die Zukunft und Einzelheiten der Entwicklung im Krieg und in der Nachkriegszeit zu erkunden und sich außerdem damit zu befassen, welche wissenschaftlichen Fortschritte dieser vier Jahrzehnte sich ins Berlin des Jahres 1944 verpflanzen ließen, um Hitler zu helfen, den Krieg zu gewinnen - nicht weil er dazu beitragen wollte, sondern weil er hoffte, ihre Anwendung sabotieren zu können. Zu seiner Kundschaftertätigkeit gehörte, daß er Zeitungen las, fernsah, sich mit Amerikanern unterhielt und sich so einen Überblick über das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts machte.

Stefan lehnte sich jetzt in die Kissen zurück und schilderte seine dritte Kalifornienreise in ganz anderem Tonfall als zuvor die grimmige Zeit bis 1944. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie’s für mich gewesen ist, zum ersten Mal durch Los Angeles zu gehen! Wäre ich statt vierzig tausend Jahre in die Zukunft gereist, hätten die Eindrücke nicht erstaunlicher sein können. Die vielen Autos! Überall Autos - darunter viele deutsche Marken, was zu beweisen schien, daß das neue Deutschland nach dem Krieg nicht geächtet worden war. Das hat mich zutiefst gerührt.«

»Wir haben einen Mercedes«, warf Chris ein. »Große Klasse, aber mir gefällt der Jeep besser.«

»Die Autos«, sagte Stefan, »der Lebensstil, die erstaunlichen Fortschritte: Digitaluhren, Heimcomputer, Videorekorder für Filmvorführungen im eigenen Wohnzimmer! Auch nach fünf Besuchstagen hatte ich mich noch nicht von meinem angenehmen Schock erholt und war jeden Morgen begierig auf neue Wunder. Am sechsten Tag kam ich an einer Buchhandlung in Westwood vorbei und sah eine Schlange von Kunden davor, die sich einen eben gekauften Roman signieren lassen wollten. Ich ging hinein, um zu schmökern und zu sehen, was für ein Buch so erfolgreich war - auch ein Schritt zum besseren Verständnis der amerikanischen Gesellschaft. Und da hast du gesessen, Laura: an einem Tisch, auf dem sich Exemplare deines ersten Erfolgs >Riffe< türmten.«

Sie beugte sich vor. »>Riffe<? Aber ich habe nie ein Buch mit diesem Titel geschrieben!«

Auch diesmal begriff Chris rascher. »Dieses Buch hättest du in einem von Stefan unbeeinflußten Leben geschrieben ...«

»Als ich dich zum ersten Mal bei dieser Signierstunde in Westwood sah, warst du neunundzwanzig«, fuhr Stefan fort. »Du saßest mit gelähmten, verkrüppelten Beinen in einem Rollstuhl. Auch dein linker Arm war teilweise gelähmt.«

»Im Rollstuhl?« fragte Chris. »Mom ist schwerbehindert gewesen?«

Laura hockte jetzt voller nervöser Spannung ganz vorn auf der Sesselkante, denn obwohl das, was ihr Beschützer erzählte, zu phantastisch klang, um glaubhaft zu sein, spürte sie, daß es wahr war. Auf einer noch unterhalb des Instinkts angesiedelten Bewußtseinsebene erkannte sie die Richtigkeit dieses Bildes, das sie gelähmt im Rollstuhl zeigte - vielleicht als schwaches Echo eines dann doch abgewendeten Schicksals.

»Du warst so geboren worden, Laura«, erklärte Stefan ihr.

»Weshalb?«

»Das habe ich erst später und nach langwierigen Recherchen herausbekommen. Der Arzt - ein gewisser Markwell -, der im Jahre 1955 in Denver, Colorado, dein Geburtshelfer gewesen war, war ein Trinker. Außerdem war deine Geburt ohnehin sehr schwierig ...«

»Meine Mutter ist dabei gestorben.«

»Ja, auch in jener Realität hat sie nicht überlebt. Aber da hat Markwell die Geburt verpatzt, so daß du schwerbehindert auf die Welt kamst.«

Laura spürte, daß ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Wie um sich zu beweisen, daß sie dem Leben, für das sie bestimmt gewesen, tatsächlich entronnen war, stand sie auf, trat ans Fenster und benützte dazu ihre Beine: ihre gesunden, herrlich brauchbaren Beine.

Stefan wandte sich an Chris. »Deine Mutter war wunderschön, als ich sie an diesem Tag im Rollstuhl sah«, sagte er. »Wirklich wunderschön! Sie hatte natürlich dasselbe Gesicht wie jetzt. Aber sie war nicht nur wegen ihres Gesichts schön.

Sie strahlte soviel Mut aus und war trotz ihrer schweren Behinderung so fröhlich ... Obwohl deine Mutter an den Rollstuhl gefesselt war, wirkte sie amüsant und unbekümmert. Ich beobachtete sie aus dem Hintergrund und war verzaubert und zutiefst gerührt wie nie zuvor.«

»Sie ist großartig«, stimmte Chris zu. »Mom hat vor nichts Angst.«

»Sie hat nur und vor allem Angst!« widersprach Laura. »Dieses verrückte Gespräch ängstigt sie halb zu Tode!«

»Du versteckst dich nie oder läufst vor etwas weg«, sagte Chris, sah zu ihr hinüber und wurde rot. »Du hast vielleicht Angst, aber du läßt sie dir nie anmerken.«

»An diesem Tag habe ich ein Exemplar von >Riffe< gekauft«, berichtete Stefan weiter, »ins Hotel mitgenommen und gleich in dieser Nacht verschlungen. Manche Stellen waren so schön, daß ich weinen mußte ... andere so amüsant, daß ich laut lachte. Gleich am nächsten Tag kaufte ich mir >Das silberne Schloß< und >Felder in der Nacht< - deine beiden ersten Bücher, die ebenso brillant und bewegend waren wie die berühmten >Riffe<«.

Für Laura war es merkwürdig, lobende Urteile über Romane zu hören, die sie in diesem Leben niemals geschrieben hatte. Der Inhalt der drei Bücher interessierte sie jedoch weniger als die Beantwortung einer wichtigen Frage, die ihr eben eingefallen war: »Bin ich in diesem anderen Leben, in diesem anderen 1984 ... verheiratet gewesen?«

»Nein.«

»Aber ich hatte Danny kennengelernt und ...«

»Nein. Du hattest Danny nie kennengelernt. Du warst ledig.«

»Ich wäre nie geboren worden!« rief Chris.

»Alles das hat sich ereignet«, berichtete Stefan, »weil ich im Jahre 1955 in Denver, Colorado, gewesen bin und Doktor Markwell daran gehindert habe, als Geburtshelfer zu fungieren. Auch der Arzt, der ihn vertrat, hat deine Mutter nicht retten können, aber er hat dich gesund und unversehrt zur Welt gebracht. Und von diesem Augenblick an lief dein gesamtes Leben anders ab. Gewiß, ich habe deine Vergangenheit verändert - aber sie war zugleich meine Zukunft und deshalb veränderbar. Dem Himmel sei Dank für diese Besonderheit von Zeitreisen, denn sonst hätte ich dich nicht vor einem Leben im Rollstuhl retten können!«

Ein Windstoß ließ weitere Regentropfen gegen das Fenster prasseln, vor dem Laura stand.

»Danach habe ich dein Leben überwacht«, fuhr Stefan fort. »Von Mitte Januar bis Mitte März 1944 unternahm ich heimlich über dreißig Zeitreisen, um zu kontrollieren, wie es dir ging. Bei der vierten Reise ins Jahr 1964 entdeckte ich, daß du seit einem Jahr tot warst - daß der Junkie, der euer Geschäft überfiel, deinen Vater und dich erschossen hatte. Deshalb reiste ich ins Jahr 1963 und kam ihm zuvor.«

»Junkie?« fragte Chris verständnislos.

»Von dem erzähle ich dir später, Schatz.«

»Und bis Kokoschka dann eines Nachts auf dieser Bergstraße aufkreuzte«, berichtete Stefan weiter, »habe ich dir das Leben meiner Überzeugung nach ziemlich erfolgreich leichter gemacht. Trotzdem hat meine Einmischung deine künstlerischen Möglichkeiten nicht beeinträchtigt oder zu schlechteren Büchern als in dem anderen Leben geführt. Gut, du hast andere Romane geschrieben, die aber keineswegs schlechter sind, sondern Ausdruck derselben Kreativität.«

Laura, die weiche Knie hatte, kehrte zu ihrem Sessel zurück. »Aber weshalb? Warum hast du dir solche Mühe gegeben, mein Leben zu verändern?«

Stefan Krieger schaute kurz zu Chris hinüber, konzentrierte sich wieder auf Laura und schloß die Augen, als er dann antwortete. »Nachdem ich dich im Rollstuhl beim Signieren erlebt und deine Bücher verschlungen hatte, habe ich mich in dich verliebt ... hoffnungslos verliebt.«

Chris rutschte in seinem Sessel hin und her. Der Ausdruck solcher Gefühle machte ihn offensichtlich verlegen, wenn das Objekt der Zuneigung seine eigene Mutter war.

»Dein Geist ist noch schöner gewesen als dein Gesicht«, sagte Stefan leise. Seine Augen blieben geschlossen. »Ich habe mich in deinen großen Mut verliebt - vielleicht weil wahrer Mut in meiner Welt schneidiger uniformierter Fanatiker so selten war. Sie haben im Namen des deutschen Volkes Grausamkeiten verübt und das als Mut bezeichnet. Sie sind bereit gewesen, für ein unmenschliches totalitäres Ideal zu sterben, und haben das als Mut bezeichnet, obwohl es in Wirklichkeit haarsträubend dumm gewesen ist. Und ich habe mich in deine Würde verliebt, weil ich selbst keine besaß - weil ich nichts von der Selbstachtung hatte, die du ausstrahltest. Ich habe mich in dein Mitgefühl verliebt, das aus deinen Büchern sprach, denn in meiner Welt war es verdammt selten zu finden. Ich habe mich in dich verliebt, Laura, und erkannt, daß ich für dich tun konnte, was alle Liebenden tun würden, wenn sie Götterkräfte besäßen: Ich habe mein Bestes getan, um dir die schlimmsten Schicksalsschläge zu ersparen.«

Er öffnete endlich wieder die Augen.

Sie waren wunderschön blau. Und wirkten gequält.

Laura war ihm unendlich dankbar. Sie liebte Stefan nicht, denn sie kannte ihn kaum. Aber indem er sich zu seiner Liebe, zu seiner Leidenschaft bekannt hatte, die ihn dazu veranlaßt hatte, in ihr Schicksal einzugreifen und das Meer der Zeit zu überwinden, um mit ihr Zusammensein zu können, hatte er die magische Aura, die ihn aus ihrer früheren Sicht umgeben hatte, zumindest teilweise wiederhergestellt. Stefan erschien ihr wieder übermenschlich groß: ein Halbgott, wenn nicht sogar ein Gott, den seine selbstlose Bereitschaft, sich für sie einzusetzen, über gewöhnliche Sterbliche hinaushob.

In dieser Nacht teilte Chris sich das knarrende Doppelbett mit Stefan Krieger, während Laura auf den zwei zusammengerückten Sesseln zu schlafen versuchte.

Das beruhigende Rauschen des gleichmäßig fallenden Regens ließ Chris bald einschlafen. Sie hörte ihn leise schnarchen.

»Schläfst du?« fragte sie leise, nachdem sie ungefähr eine Stunde in der Dunkelheit dagesessen hatte.

»Nein«, antwortete Stefan sofort.

»Danny«, sagte Laura, »Mein Danny .«

»Ja?«

»Weshalb bist du nicht ...?«

»Noch einmal in diese Nacht im Januar 1988 gereist, um Kokoschka zu erschießen, bevor er Danny umbringen konnte?«

»Ja. Warum hast du’s nicht getan?«

»Weil das ... Hör zu: Da Kokoschka ebenfalls aus dem Jahr 1944 gekommen ist, sind die Ermordung Dannys und sein eigener Tod auch Bestandteil meiner Vergangenheit, die ich nicht verändern kann. Hätte ich versucht, zu einem früheren Zeitpunkt dieser Januarnacht zurückzukehren, um Kokoschka abzufangen, bevor er Danny erschießen konnte, hätte ich mich augenblicklich im Institut wiedergefunden, ohne eine Zeitreise gemacht zu haben: Die paradoxen entgegenwirkenden Naturkräfte hätten diese spezielle Zeitreise wirksam verhindert.«

Laura schwieg.

»Hast du das verstanden?« fragte Stefan.

»Ja.«

»Akzeptierst du diese Erklärung?«

»Ich werde seinen Tod niemals akzeptieren.«

»Aber ... du glaubst mir?«

»Ja, das tue ich wohl.«

»Laura, ich weiß, wie sehr du Danny Packard geliebt hast. Hätte ich ihn retten können - selbst wenn es mich das Leben gekostet hätte -, hätte ich’s getan. Ich hätte keine Sekunde gezögert.«

»Ich glaube dir«, sagte Laura, »denn ohne dich ... hätte ich Danny überhaupt nicht gehabt.«

»Der Weiße Aal«, sagte sie.

»Das Schicksal bemüht sich, ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinien nachzuvollziehen«, antwortete Stefan aus dem Dunkel. »Als du acht Jahre alt warst, erschoß ich den Junkie, bevor er dich vergewaltigen und ermorden konnte - aber das Schicksal hat prompt einen weiteren Pädophilen aufgeboten, der zum Mörder werden sollte: Willy Sheener, den Weißen Aal. Aber das Schicksal hatte auch bestimmt, daß du trotz meiner Einmischung in dein Leben eine sehr erfolgreiche Schriftstellerin werden würdest. Das ist eine gute Entwicklungslinie. Die Art und Weise, wie irgendeine Kraft zunichte gemachte Absichten des Schicksals doch noch durchzusetzen versucht, ist erschreckend und beruhigend zugleich ... fast als ob das Universum von einem höheren Wesen geleitet würde, das wir trotz seines Beharrens darauf, uns leiden zu lassen, als Gott bezeichnen könnten.«

Sie hörten eine Zeitlang zu, wie Wind und Regen die Welt draußen säuberten.

»Aber warum hast du mir den Aal nicht vom Leibe gehalten?« erkundigte Laura sich dann.

»Ich habe ihm eines Nachts in seinem Haus aufgelauert ...«

»Du hast ihn schrecklich verprügelt. Ja, ich hab’ gewußt, daß du das gewesen warst.«

»Ich habe ihn verprügelt und aufgefordert, die Finger von dir zu lassen. Ich habe ihm angedroht, ihn beim nächsten Mal totzuschlagen.«

»Aber die Tracht Prügel hat ihn nur in seinem Entschluß bestärkt, mich zu vergewaltigen. Warum hast du ihn nicht umgebracht?«

»Ja, das hätte ich tun sollen. Aber ... ich weiß nicht recht. Vielleicht hatte ich die vielen Tode, die ich miterlebt und mitverschuldet hatte, so satt, daß ich ... daß ich einfach hoffte, diesmal werde kein Mord nötig sein.«

Sie dachte an seine Welt aus Krieg, Konzentrationslagern und Völkermord und verstand, weshalb er gehofft hatte, nicht morden zu müssen, obwohl Sheener es kaum verdient hatte, am Leben gelassen zu werden.

»Aber weshalb hast du nicht eingegriffen, als Sheener mir bei den Dockweilers auflauerte?«

»Bei meiner nächsten Kontrolle warst du dreizehn Jahre alt und hattest Sheener selbst umgebracht, ohne sichtbaren Schaden zu nehmen, deshalb beschloß ich, in diesen Fall nicht einzugreifen.«

»Ich hab’s überlebt«, stellte sie fest, »aber Nina Dockweiler nicht. Wenn sie nicht heimgekommen und das Blut und die Leiche gesehen hätte, wäre sie vielleicht ...«

»Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht auch nicht. Das Schicksal bemüht sich, den ursprünglichen Plan wiederherzustellen. Vielleicht wäre sie trotzdem gestorben. Außerdem hätte ich dich nicht vor jedem Schaden bewahren können, Laura. Dazu hätte ich zehntausend Zeitreisen machen müssen. Und soviel Einmischung wäre dir vielleicht nicht gut bekommen. Ohne die Widerstände, die du in deinem Leben hast überwinden müssen, wärst du vielleicht nicht die Frau geworden, in die ich mich verliebt habe.«

Dann herrschte Schweigen zwischen ihnen.

Sie horchte auf den Wind, den Regen.

Sie horchte auf ihren Herzschlag.

Schließlich sagte sie: »Ich liebe dich nicht.«

»Das verstehe ich.«

»Ich sollte dich aber lieben - wenigstens ein bißchen.«

»Du kennst mich eigentlich noch gar nicht.«

»Vielleicht kann ich dich niemals lieben.«

»Ja, ich weiß.«

»Obwohl du soviel für mich getan hast.«

»Ich weiß. Aber wenn wir diese Geschichte überleben ... nun, später haben wir noch viel Zeit.«

»Ja«, stimmte sie zu. »Wir haben noch viel Zeit.«

Gefährte der Nacht

1

Am 18. März 1944, einem Samstag, bereiteten SS-Obersturmführer Erich Klietmann und die zu seinem Trupp gehörenden drei Männer mit Spezialausbildung sich auf eine Reise in die Zukunft vor, um Krieger, die Frau und den Jungen zu liquidieren. Sie waren wie junge kalifornische Manager des Jahres 1989 angezogen: Anzüge mit Nadelstreifenmuster von Yves St. Laurent, weiße Hemden, dunkle Krawatten, schwarze Socken, schwarze Bally-Slipper und Ray-Ban-Sonnenbrillen, falls das Wetter sie erforderlich machte. Man hatte ihnen gesagt, dies werde in der Zukunft als »Power Look« bezeichnet, und obwohl Klietmann nicht genau wußte, was das bedeutete, gefiel ihm allein schon der Klang. Ihre Sachen waren von Mitarbeitern des Instituts auf früheren Reisen gekauft worden; sie hatten nichts Anachronistisches am Leib.

Darüber hinaus trug jeder der vier einen Mark-CrossAktenkoffer - ein elegantes Modell aus Kalbsleder mit vergoldeten Schlössern. Auch die Aktenkoffer waren wie die in ihnen enthaltenen Uzis mitsamt den Reservemagazinen aus der Zukunft mitgebracht worden.

Ein Forscherteam des Instituts hatte sich zufällig in den Vereinigten Staaten aufgehalten, als John Hinckley sein Attentat auf Ronald Reagan verübte. In Fernsehaufzeichnungen hatten ihnen die in Aktenkoffern mitgeführten kompakten Maschinenpistolen der Leibwächter des Präsidenten sehr imponiert. Die Geheimdienstagenten hatten nur wenige Sekunden gebraucht, um mit diesen Waffen feuerbereit zu sein. Also war die Uzi nicht nur bei Polizei und Streitkräften vieler Staaten des Jahres 1989 eingeführt, sondern auch die bevorzugte Waffe zeitreisender SS-Kommandos.

Erich Klietmann hatte viel mit der Uzi geübt. Er brachte dieser Waffe ebensoviel Zuneigung entgegen, wie er sie je einem menschlichen Wesen entgegengebracht hatte. Ihn störte lediglich, daß sie in Israel konstruiert worden war und dort hergestellt wurde: das Produkt einer Bande von Juden. Andererseits würde die neue Institutsleitung wahrscheinlich schon in den nächsten Tagen die Einführung der Uzi auch im Jahr 1944 genehmigen. Mit ihr ausgerüstete deutsche Soldaten würden dann noch besser imstande sein, die Horden von Untermenschen abzuwehren, die das Reich bedrohten.

Klietmann warf einen Blick auf die Uhr im Programmierpult und stellte fest, daß sieben Minuten verstrichen waren, seitdem das Forscherteam zum 15. Februar 1989 in Kalifornien aufgebrochen war. Dort sollten sie vor allem Zeitungsmeldungen einsehen, um festzustellen, ob Krieger, die Frau und der Junge in dem Monat nach den Schießereien bei Big Bear und in San Bernardino von der Polizei festgenommen und verhört worden waren. Danach würden sie ins Jahr 1944 zurückkehren, um Klietmann mitzuteilen, wann und wo Krieger und die Frau anzutreffen sein würden. Da jede Zeitreise unabhängig von der Verweildauer am Zielort genau elf Minuten dauerte, brauchten Klietmann und sein Trupp nur noch vier Minuten zu warten.

2

Der 12. Januar 1989, ein Donnerstag, war Lauras 34. Geburtstag, den sie in ihrem Zimmer im »The Bluebird of Happiness« verbrachten. Stefan brauchte einen weiteren Tag Erholung, um wieder zu Kräften zu kommen und das Penicillin wirken zu lassen. Außerdem brauchte er Zeit zum Nachdenken: Er mußte einen Plan zur Zerstörung des Instituts entwerfen, und dieses knifflige Problem war nur durch stundenlange Konzentration zu lösen.

Der Regen hatte aufgehört, aber die bleigrauen Wolken sahen noch immer regenschwer aus. Laut Wetterbericht sollte bis Mitternacht der nächste Sturm folgen.

Die Fernsehlokalnachrichten um 17 Uhr brachten einen Bericht über Laura und Chris und den geheimnisvollen Verletzten, mit dem sie bei Dr. Brenkshaw gewesen waren. Die Polizei fahndete noch immer nach ihr und vermutete, die Drogenhändler, die ihren Mann erschossen hatten, seien hinter ihr und ihrem Sohn her, weil sie Angst hatten, eines Tages doch bei einer Gegenüberstellung von ihr identifiziert zu werden - oder weil Laura selbst irgendwie in den Drogenhandel verwickelt war.

»Mom eine Dealerin?« fragte Chris aufgebracht. »Das können sich bloß Idioten ausdenken!«

Obwohl am Big Bear Lake und in San Bernardino keine Leichen aufgefunden worden waren, wies der Fall sensationelle Begleitumstände auf, die eine Garantie waren, daß das Interesse der Medien nicht so bald erlahmen würde. Die Reporter hatten erfahren, daß an beiden Orten ziemlich viel Blut gewesen war - und daß die Polizei hinter Brenkshaws Haus zwischen zwei Mülltonnen den abgetrennten Schädel eines Mannes gefunden hatte.

Laura erinnerte sich, wie sie durch das rückwärtige Tor von Carter Brenkshaws Grundstück getreten war, dort den zweiten Killer überrascht und sofort das Feuer eröffnet hatte. Der Feuerstoß aus ihrer Uzi hatte Kopf und Hals getroffen, und sie hatte im selben Augenblick gedacht, daß dieses konzentrierte Feuer eigentlich genügen mußte, um den Kopf vom Rumpf zu trennen.

»Die überlebenden SS-Männer haben auf den gelben Knopf am Gürtel des Toten gedrückt«, sagte Stefan, »und die Leichen auf diese Weise zurückgeschickt.«

»Aber warum nicht auch seinen Kopf« fragte Laura, die zu neugierig war, um dieses gräßliche Thema mit Stillschweigen zu übergehen.

»Er muß von der Leiche fort zwischen die Mülltonnen gerollt sein«, antwortete Stefan, »und sie haben ihn in den wenigen Sekunden, die ihnen noch blieben, nicht mehr gefunden. Hätten sie ihn entdeckt, hätten sie ihn auf die Leiche legen und mit den Händen des Toten bedecken können. Was ein Zeitreisender anhat oder bei sich trägt, nimmt er mit nach Hause. Aber die Polizeisirenen kamen rasch näher, und dort hinten war’s bestimmt finster ... so hatten sie keine Zeit mehr, den Kopf zu suchen.«

Chris, von dem eigentlich zu erwarten gewesen wäre, daß er diese grotesken Details genießen würde, hockte mit untergeschlagenen Beinen in seinem Sessel und schwieg. Vielleicht hatte ihm die schreckliche Vorstellung von einem abgetrennten Schädel die Realität des Todes eindringlicher vor Augen geführt als alle bisher gefallenen Schüsse.

Laura bemühte sich um Chris, nahm ihn in die Arme und versicherte ihm auf besonders liebevolle Art, daß sie gemeinsam und unverletzt aus dieser Sache herauskommen würden. Die Umarmungen waren jedoch ebenso für sie selbst bestimmt, ihren aufmunternden Worten fehlte die rechte Überzeugungskraft, denn Laura hatte sich noch nicht einreden können, daß sie tatsächlich am Ende triumphieren würden.

Das Mittag- und Abendessen holte sie wieder aus dem Chinarestaurant auf der anderen Straßenseite. Am Vorabend hatte keiner der chinesischen Angestellten sie als die bekannte Schriftstellerin oder die von der Polizei Flüchtige erkannt, so daß sie sich dort verhältnismäßig sicher fühlen konnte. Es wäre töricht gewesen, anderswo hinzugeben und zu riskieren, erkannt zu werden.

Während Laura nach dem Abendessen die Pappbehälter zusammenräumte, überraschte Chris sie mit zwei kleinen Napfkuchen mit Schokoladeguß, in denen je eine gelbe Kerze steckte. Die Kuchen und eine Schachtel Geburtstagskerzen hatte er am Morgen zuvor in Ralph’s Supermarket gekauft und bis jetzt versteckt gehalten. Jetzt trug er die Kuchen mit den zuvor im Bad angezündeten Kerzen feierlich herein, und der goldene Kerzenschein spiegelte sich in seinen Augen. Chris grinste, als er sah, wie überrascht und entzückt Laura war. Tatsächlich mußte sie sich zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie war gerührt, weil Chris trotz aller Angst, trotz aller Gefahren, an ihren Geburtstag gedacht und den Wunsch gehabt hatte, ihr eine Freude zu machen.

Sie aßen jeder ein keilförmiges Stück Napfkuchen. Außerdem waren Laura im Chinarestaurant fünf Horoskop-Plätzchen mitgegeben worden.

Stefan lehnte sich in die Kissen zurück und brach seinen Keks auf. »Schön wär’s ja: >Du wirst in Frieden und Überfluß leben.<«

»Vielleicht kommt alles noch«, meinte Laura. Sie brach ihren Keks auf und zog das Papierröllchen heraus. »Oh, vielen Dank, davon hab’ ich eigentlich schon genug: >Abenteuer werden deine Gefährten sein<.«

Als Chris seinen Keks aufbrach, fand er kein Papierröllchen

- kein Horoskop, keine Zukunft.

Laura lief ein kalter Schauer über den Rücken, als bedeute das leere Horoskop-Plätzchen tatsächlich, daß er keine Zukunft habe. Abergläubischer Unsinn! Trotzdem konnte sie ihre plötzlich aufflammende Angst nicht ganz unterdrücken.

»Hier«, sagte sie rasch und gab Chris die beiden letzten Kekse. »Daß du einmal kein Horoskop gefunden hast, bedeutet nur, daß dir zwei zustehen - für jede Zukunft eines.«

Chris brach den ersten auf, las das Horoskop, lachte und las es laut vor: »Du wirst Ruhm und Reichtum erlangen.« »Unterstützt du mich im Alter, wenn du später stinkreich bist?« fragte Laura.

»Klar, Mom. Nun ... solange du für mich kochst - vor allem deine Gemüsesuppe.«

Stefan Krieger lächelte über diese scherzhafte Diskussion zwischen Mutter und Sohn. »Ein eiskalter Bursche, was?«

»Bestimmt läßt er mich mit achtzig noch Fußböden schrubben«, behauptete Laura.

Chris brach den zweiten Keks auf »Du wirst die kleinen Freuden des Lebens genießen - Bilder, Bücher, Musik.«

Weder Chris noch Stefan schienen zu merken, daß die beiden Horoskope gegensätzliche Aussagen enthielten und sich damit praktisch aufhoben, was die bedrohliche Aussage des leeren ersten Horoskop-Plätzchens in gewisser Beziehung bestätigte.

He, du spinnst ja, Shane! warf Laura sich vor. Das sind doch bloß Horoskop-Plätzchen. Sie sagen nicht wirklich die Zukunft voraus.

Stunden später, als das Licht gelöscht und Chris längst eingeschlafen war, sprach Stefan Laura aus dem Dunkel an: »Ich habe einen Plan ausgearbeitet.«

»Wie sich das Institut zerstören läßt?«

»Ja. Aber er ist sehr kompliziert, und wir würden dazu alle möglichen Dinge brauchen. Ich weiß nicht ... aber ich vermute, daß manche davon für Privatpersonen nicht erhältlich sind.«

»Ich kann dir alles besorgen, was du brauchst«, versicherte sie ihm. »Ich habe gute Beziehungen. Alles!«

»Und wir werden eine Menge Geld brauchen.«

»Das ist schon schwieriger. Ich habe nur noch vierzig Dollar und kann kein Geld von meinem Konto abheben, weil dieser Vorgang registriert werden würde ...«

»Richtig, das würde sie geradewegs zu uns führen. Gibt’s jemanden, dem du vertrauen kannst und der dir vertraut, der dir eine Menge Geld leihen und niemandem verraten würde, daß du bei ihm gewesen bist?« »Du weißt alles über mich«, stellte Laura fest, »deshalb kennst du auch Thelma Ackerson. Aber ich will sie um Himmels willen nicht in diese Sache hineinziehen. Wenn Thelma etwas zustieße ...«

»Das ließe sich ohne Gefahr für sie arrangieren«, behauptete er.

Draußen begann das vorausgesagte Unwetter mit prasselndem Regen.

»Nein!« sagte Laura.

»Aber sie ist unsere einzige Hoffnung.«

»Nein!«

»Wo willst du sonst Geld auftreiben?«

»Wir müssen eine Möglichkeit finden, mit weniger Geld auszukommen.«

»Geld brauchen wir auf jeden Fall - mit oder ohne neuen Plan. Deine vierzig Dollar reichen nicht mal für morgen. Und ich habe keinen Cent.«

»Ich denke nicht daran, Thelma in Gefahr zu bringen!« sagte sie nachdrücklich.

»Das läßt sich, wie gesagt, arrangieren, ohne sie zu gefährden, ohne .«

»Nein!«

»Dann sind wir erledigt«, murmelte er deprimiert.

Sie horchte auf den Regen, der in ihrer Phantasie zum Orgeln schwerer Weltkriegsbomber wurde - und sich dann in das heisere Grölen aufgeputschter Massen verwandelte.

»Gut, nehmen wir mal an, die Sache ließe sich ohne Gefahr für Thelma arrangieren«, sagte sie schließlich. »Aber was ist, wenn die SS sie beschattet? Sie müssen wissen, daß Thelma meine beste Freundin ist - meine einzige wirkliche Freundin. Ist da nicht zu befürchten, daß sie eines ihrer Teams in die Zukunft schicken, um Thelma in der Hoffnung überwachen zu lassen, von ihr zu mir geführt zu werden?«

»Nein, das wäre unnötig viel Aufwand«, widersprach Stefan.

»Sie können Aufklärungstrupps in die Zukunft entsenden, um Monat für Monat alle Zeitungen daraufhin überprüfen zu lassen, wann du wieder aufgetaucht bis. Vergiß nicht, daß jede dieser Zeitreisen für sie nur elf Minuten dauert: Es ist nicht nur eine schnelle Methode, sondern sie muß irgendwann zum Erfolg führen, weil nicht anzunehmen ist, daß es uns gelingen wird, uns für den Rest unseres Lebens zu verstecken.«

»Nun .«

Stefan wartete lange. »Hör zu, ihr seid wie Schwestern, nicht wahr? Und wen willst du sonst um Hilfe bitten, wenn du dich in dieser Notlage nicht an eine Schwester wenden kannst, Laura?«

»Wenn wir uns Thelmas Unterstützung sichern können, ohne sie dabei zu gefährden ... Gut, wir müssen’s versuchen.«

»Gleich morgen früh«, sagte er.

Die Nacht blieb regnerisch, und Regen füllte Lauras Träume, in denen es auch blitzte und donnerte. Sie schrak entsetzt hoch, aber die Regennacht in Santa Ana wurde nicht von solchen gleißend hellen, ohrenbetäubend lauten Gefahrensignalen zerrissen. Das Unwetter war ein Platzregen ohne Blitz, Donner und Sturm. Aber sie wußte, daß dies nicht immer der Fall sein würde.

3

Die Apparaturen summten und klickten, Erich Klietmann schaute erneut auf die Uhr. In nur drei Minuten würde der Aufklärungstrupp ins Institut zurückkehren.

Zwei Wissenschaftler - die Nachfolger Penlowskis, Januskys und Wolkows - standen am Programmierpult und überwachten die zahllosen Anzeigen.

Der Raum war künstlich beleuchtet, denn die Fenster waren nicht nur verdunkelt, damit kein Lichtschein ins Freie fallen und feindliche Nachtbomber anlocken konnte, sondern aus Sicherheitsgründen sogar zugemauert. Die Luft roch abgestanden und leicht modrig.

SS-Obersturmführer Klietmann, der sich in einer Ecke des Labors bereithielt, sah seiner Zeitreise aufgeregt entgegen -nicht nur wegen der Wunder des Jahres 1989, sondern vor allem auch, weil dieser Auftrag ihm Gelegenheit gab, dem Führer zu dienen, wie nur wenige es konnten. Falls es ihm gelang, Krieger, die Frau und den Jungen unschädlich zu machen, winkte ihm ein persönliches Gespräch mit dem Führer, die Gelegenheit, den großen Mann aus nächster Nähe zu sehen, seinen Händedruck zu spüren und darin die gewaltige Macht des Deutschen Reichs, des deutschen Volks und seiner Geschichte zu führen. Für diese Chance, die Aufmerksamkeit des Führers auf sich zu lenken, hätte der Obersturmführer zehnmal, tausendmal den Tod riskiert: die Chance, Hitler auf sich aufmerksam zu machen, damit dieser ihn nicht nur als irgendeinen SS-Führer, sondern als Erich Klietmann, den Retter des Vaterlandes, zur Kenntnis nahm.

Klietmann entsprach nicht ganz dem arischen Ideal und war sich seiner Mängel schmerzhaft bewußt. Sein Großvater mütterlicherseits war Pole gewesen: ein slawischer Untermensch, so daß Klietmann nur zu drei Vierteln Deutscher war. Und obwohl seine übrigen Großeltern ebenso wie seine Eltern blond, blauäugig und nordisch gewesen waren, hatte Erich die braunen Augen, das dunkle Haar und die schwereren, sinnlicheren Gesichtszüge seines barbarischen Großvaters geerbt. Er haßte seine Erscheinung und versuchte diese körperlichen Mängel dadurch wettzumachen, daß er der fanatischste Nazi, der tapferste Soldat und der glühendste Anhänger Hitlers in der gesamten Schutzstaffel war, was wegen der starken Konkurrenz auf diesem Gebiet nicht einfach war. Manchmal hatte Klietmann fast daran gezweifelt, sich jemals Ruhm erwerben zu können. Aber er hatte nie aufgegeben und stand jetzt vor Heldentaten, die ihm den Einzug in Walhall sichern würden.

Stefan Krieger wollte er persönlich liquidieren - nicht nur um sich das Lob des Führers zu verdienen, sondern auch, weil Krieger dem arischen Ideal entsprach: Er war blond, blauäugig, nordisch und aus guter, erbgesunder Familie. Trotz all dieser Vorteile hatte Krieger den Führer verraten - und das machte Erich Klietmann wütend, weil er unter der Last unreiner Erbanlagen nach Größe streben mußte.

Jetzt - etwas über zwei Minuten vor der Rückkehr des Aufklärungstrupps aus dem Jahre 1989 - betrachtete Klietmann seine Untergebenen, die alle als Führungskräfte einer anderen Ära gekleidet waren, und empfand einen so wilden und sentimentalen Stolz auf sie, daß ihm fast Tränen in die Augen gestiegen wären.

Sie alle stammten aus einfachsten Verhältnissen. Unterscharführer Felix Hubatsch, Klietmanns Stellvertreter, war der Sohn eines trunksüchtigen Drehers und einer Schlampe, die er beide haßte; Rottenführer Rudolf Stein war der Sohn eines Kleinbauern, dessen lebenslängliches Versagen ihm peinlich war; und Rottenführer Martin Bracher war als Waise bei Verwandten aufgewachsen. Obwohl Oberleutnant Klietmann und seine drei Untergebenen aus entgegengesetzten Himmelsrichtungen des Reichs stammten, hatten sie etwas gemeinsam, das sie zu Brüdern machte: Sie wußten, daß die reinste und tiefste Beziehung eines Mannes nicht seiner Familie galt, sondern dem Staat, dem Vaterland und ihrem Führer, der das Vaterland verkörperte. Der Staat war die einzige wichtige Familie: Dieses schlichte Wissen erhob sie über andere und machte sie zu würdigen Vätern einer zukünftigen Rasse von Übermenschen.

Klietmann berührte seine Augenwinkel unauffällig mit dem Daumen und wischte die entstehenden Tränen weg, die er nicht ganz hatte unterdrücken können.

In einer Minute würde der Aufklärungstrupp zurückkehren.

Die Apparaturen klickten und summten.

4

Am 13. Januar 1989, einem Freitag, gegen 15 Uhr fuhr ein weißer Lieferwagen auf den regennassen Motelparkplatz, hielt auf die hinterste Ecke zu und parkte dort neben einem Buick, dessen Kennzeichen von einem Nissan stammten. Das Fahrzeug war fünf oder sechs Jahre alt. Die Beifahrertür war eingebeult und wies Roststellen auf. Der Autobesitzer schien dabei zu sein, den Lieferwagen Stück für Stück zu überholen, denn die Karosserie war an einigen Stellen abgeschliffen und grundiert, aber noch nicht wieder lackiert worden.

Laura beobachtete den Wagen durch einen Spalt zwischen den Vorhängen ihres Motelzimmers. Unterhalb des Fensterbretts hielt sie in ihrer rechten Hand die Uzi.

Die Scheinwerfer des Lieferwagens erloschen, seine Scheibenwischer wurden abgestellt. Im nächsten Augenblick stieg eine Blondine mit krauser Mähne aus und kam auf Lauras Zimmertür zu. Sie klopfte dreimal.

Chris, der neben der Tür stand, warf seiner Mutter einen fragenden Blick zu.

Laura nickte.

Er öffnete die Tür und sagte: »Hallo, Tante Thelma. Mann, ist das ‘ne scheußliche Perücke!«

Thelma kam herein und drückte Chris lachend an sich. »Vielen Dank auch! Und was würdest du sagen, wenn du von mir zu hören bekämst, daß du eine gräßliche Nase hast, die dir aber bleibt, während ich meine Perücke abnehmen kann? Na, was würdest du dazu sagen?«

Chris kicherte. »Nichts. Ich weiß, daß ich eine niedliche Nase habe.«

»Eine niedliche Nase? Großer Gott, Kleiner, du bist eingebildet wie ein Schauspieler.« Sie ließ ihn los, sah kurz zu Stefan Krieger hinüber, der in der Nähe des Fernsehers in einem Sessel saß, und wandte sich an Laura. »Shane, hast du die Rostlaube gesehen, mit der ich vorgefahren bin? Ist das nicht clever? Als ich in meinen Mercedes steigen wollte, habe ich mir gesagt: Thelma, hör zu, Thelma, erregt es nicht unerwünschte Aufmerksamkeit, wenn du in diesem schäbigen Motel mit einem Siebzigtausend-Dollar-Auto vorfährst? Ich wollte mir den Wagen des Butlers leihen, aber weißt du, was er fährt? Einen Jaguar! Ist Beverly Hills die Twilight Zone oder was? Zuletzt hab’ ich mir den Lieferwagen des Gärtners geliehen. Und jetzt bin ich hier - und wie findest du meine Aufmachung?«

Sie trug eine blonde Kraushaarperücke, auf der Regentropfen glitzerten, eine Hornbrille und aufgesetzte falsche Vorderzähne.

»So siehst du weit besser aus«, behauptete Laura grinsend.

Thelma nahm ihre falschen Zähne heraus. »Hör zu, nachdem ich mir einen Wagen beschafft hatte, der keine Aufmerksamkeit erregen würde, ist mir klargeworden, daß ich selbst als Star immer für Aufsehen sorge. Und da die Medien bereits ausgekundschaftet haben, daß wir Freundinnen sind, und auch versucht haben, mich nach der berühmten Schriftstellern Laura Shane alias MP-Laura auszufragen, beschloß ich, inkognito zu erscheinen.« Sie ließ das Gebiß und ihre Handtasche aufs Bett fallen. »Diese Aufmachung stammt noch aus meiner Nachtclubzeit, als ich ‘ne neue Figur ausprobieren wollte. Ich hab’ sie ungefähr achtmal im >Bally’s< in Vegas auf die Bühne gebracht. Ein Riesenflop, kann ich dir sagen! Das Publikum war widerlich, Shane, es hat ...«

Dann verstummte sie plötzlich mitten in ihrem Geplauder, brach in Tränen auf, stürzte auf Laura zu und schloß sie in die Arme. »Mein Gott, Laura, ich hab’ solche Angst gehabt, solche Angst! Als ich von San Bernardino, Maschinenpistolen und dem Zustand deines Hauses bei Big Bear hörte, hab’ ich gedacht, du ... oder vielleicht Chris ... Ich hab’ mir solche Sor-gen gemacht .«

Laura hielt ihre Freundin fest umarmt. »Ich erzähle dir alles noch, aber im Augenblick ist nur wichtig, daß wir heil und gesund sind - und vielleicht sogar einen Ausweg aus unserer gegenwärtigen Misere wissen.«

»Warum hast du mich nicht angerufen, du blöde Kuh?«

»Ich habe dich angerufen.«

»Aber erst heute morgen! Zwei Tage nachdem du Schlagzeilen gemacht hattest! Ich habe beinahe durchgedreht.«

»Entschuldige, Thelma. Ich hätte wirklich früher anrufen sollen. Aber ich wollte möglichst verhindern, daß du in diese Sache hineingezogen wirst.«

Thelma ließ sie widerstrebend los. »Ich bin unvermeidlich tief und hoffnungslos in diesen Fall verwickelt, weil er dich betrifft, Dummkopf!« Sie zog ein Kleenex aus einer Tasche ihrer Wildlederjacke und tupfte sich damit die Augen ab.

»Hast du noch eines?« fragte Laura.

Thelma gab ihr ein Kleenex, und sie putzten sich beide die Nase.

»Wir waren auf der Flucht, Tante Thelma«, meldete sich Chris zu Wort. »Auf der Flucht ist’s nicht leicht, Kontakt zu anderen Leuten zu halten.«

Thelma holte schaudernd tief Luft. »Wo bewahrst du also deine Sammlung abgetrennter Köpfe auf, Shane? Hier im Bad? Soviel ich weiß, hast du in San Bernardino einen zurückgelassen. Schlamperei. Ist das dein neues Hobby - oder hast du schon immer was für die Schönheit des menschlichen Kopfes ohne seine ganzen häßlichen Anhängsel übriggehabt?«

»Ich möchte dich mit jemandem bekannt machen«, sagte Laura. »Thelma Ackerson, das hier ist Stefan Krieger.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Thelma.

»Entschuldigen Sie bitte, daß ich nicht aufstehe«, antwortete Stefan, »aber ich bin noch ziemlich schwach auf den Beinen.«

»Wenn Sie diese Perücke entschuldigen können, kann ich alles entschuldigen.« Thelma sah fragend zu Laura hinüber. »Ist er der, für den ich ihn halte?«

»Ja.«

»Dein Beschützer?«

»Ja.«

Thelma trat auf Stefan zu und gab ihm zwei feuchte Wangenküsse. »Ich hab keine Ahnung, woher Sie kommen oder wer zum Teufel Sie sind, Stefan Krieger, aber ich liebe Sie dafür, daß Sie meiner Laura so oft geholfen haben.« Sie setzte sich neben Chris ans Bettende. »Shane, dieser Mann ist ein Prachtexemplar! Ich möchte wetten, daß du ihn angeschossen hast, damit er nicht mehr abhauen konnte. Er sieht genau so aus, wie ich mir einen Schutzengel vorstelle.« Stefan war sichtlich verlegen, aber Thema war nicht mehr zu bremsen. »Sie sehen wirklich verdammt gut aus, Krieger. Ich kann’s kaum erwarten, mehr über Sie zu hören. Aber hier ist erst mal das Geld, das ich mitbringen sollte, Shane.« Sie öffnete ihre geräumige Handtasche und zog einen dicken Packen Hundertdollarscheine heraus.

»Thelma, ich habe dich um viertausend gebeten«, sagte Laura, nachdem sie das Geld flüchtig gezählt hatte. »Das hier ist mindestens das Doppelte!«

»Zehn- oder zwölftausend, glaube ich.« Thelma blinzelte Chris zu. »Wenn meine Freunde auf der Flucht sind, bestehe ich darauf, daß sie Erster Klasse reisen.«

Thelma hörte sich die Geschichte ohne eine einzige ungläubige Zwischenfrage an. Als Stefan ihre Aufgeschlossenheit lobte, wehrte sie ab: »He, für jemand, der einmal im McIllroy Home und in Caswell Hall gelebt hat, enthält das Universum keine Überraschungen mehr. Zeitreisende aus dem Jahre 1944? Pah! Im McIllroy hätte ich dir ‘ne Frau so groß wie ein Sofa zeigen können, die Kleider aus scheußlichen Polsterstoffen trug und im öffentlichen Dienst ein hübsches Gehalt dafür bezog, daß sie Kinder wie Dreck behandelte. Das nenne ich überraschend!« Stefans Herkunft beeindruckte Thelma sichtlich, und ihr gruselte bei dem Gedanken an die Falle, in der sie steckten, aber selbst unter diesen Umständen blieb sie Thelma Ackerson, die allem etwas Komisches abzugewinnen versuchte.

Kurz nach 18 Uhr schob Thelma wieder die falschen Vorderzähne über ihre richtigen und ging los, um aus einem mexikanischen Restaurant in der Nähe Essen zu holen. »Auf der Flucht vor der Polizei braucht ihr Bohnen im Bauch - Essen für harte Männer.« Sie kam mit regennassen Tüten mit Tacos, Behältern mit Enchiladas, zwei Portionen Nachos, Burritos und Chimichangas zurück. Sie breiteten alles auf der unteren Betthälfte aus, Thelma und Chris setzten sich ans Kopfende, Laura und Stefan saßen am Fußende in den beiden Sesseln.

»Thelma«, sagte Laura, »das Essen reicht für zehn!«

»Nun, ich hab mir ausgerechnet, daß es für uns und die Schaben reichen dürfte. Wenn wir die Schaben nicht füttern, werden sie vielleicht böse, gehen ‘raus und stürzen den Wagen meines Gärtners um. Hier gibt’s doch Schaben, oder? Ich meine, ein Klassemotel wie dieses ohne Schaben wäre wie Beverly Hills ohne Baumratten.«

Während sie aßen, schilderte Stefan ihr seinen Plan zur Schießung des Tors und Zerstörung des Instituts. Thelma machte anfangs noch scherzhafte Zwischenbemerkungen, aber als er fertig war, war sie längst ernst geworden. »Das ist verdammt gefährlich, Stefan. So gewagt, daß es wahrscheinlich schon verrückt ist.«

»Es gibt keine andere Möglichkeit.«

»Das sehe ich ein«, bestätigte sie. »Wie kann ich euch behilflich sein?«

»Du mußt uns den Computer kaufen, Tante Thelma«, antwortete Chris, der sich eben eine Portion Mais-Chips in den Mund schieben wollte.

»Den besten PC von IBM, mit dem ich auch zu Hause arbei-te, weil ich bei dem weiß, wie die Software anzuwenden ist«, sagte Laura. »Wir haben keine Zeit, uns ins Betriebsverfahren eines unbekannten Geräts einzuarbeiten. Ich habe dir alles aufgeschrieben. Mit dem Geld, das du mitgebracht hast, könnte ich den PC selbst kaufen, aber ich möchte mich nicht zuviel in der Öffentlichkeit zeigen.«

»Und wir brauchen ein Versteck.«

»Hier können wir nicht bleiben«, warf Chris ein, der offenbar stolz darauf war, an der Diskussion teilnehmen zu dürfen, »wenn wir mit dem Computer arbeiten wollen. Das Zimmermädchen würde ihn sehen, auch wenn wir versuchen würden, ihn zu verstecken, und darüber reden, weil’s irgendwie verrückt ist, wenn Leute sich mit einem Computer in ein Motel zurückziehen.«

»Laura hat mir erzählt, daß ihr - dein Mann und du - ein zweites Haus in Palm Springs habt«, sagte Stefan.

»Wir haben ein Haus in Palm Springs, eine Eigentumswohnung in Monterey, eine weitere in Vegas ... und mich würd’s nicht wundern, wenn wir einen eigenen Vulkan auf Hawai -oder zumindest Zeitwohnrechte darin - besäßen. Mein Mann hat einfach zuviel Geld. Sucht euch was aus! Meine Häuser sind eure Häuser. Ich kann’s nur nicht leiden, wenn Gäste die Handtücher benützen, um die Radkappen ihrer Autos zu polieren, und wer Tabak kauen und auf den Boden spucken muß, wird gebeten, sich auf die Zimmerecken zu beschränken.«

»Das Haus in Palm Springs dürfte am besten geeignet sein«, entschied Laura. »Soviel du mir erzählt hast, liegt es ziemlich abgelegen.«

»Auf einem großen Grundstück mit vielen Bäumen«, bestätigte Thelma. »Und die Nachbarn sind im Show-biz tätig und so überbeschäftigt, daß nicht zu befürchten ist, sie könnten zu ‘ner Tasse Kaffee rüberkommen. Dort seid ihr völlig ungestört.«

»Gut«, sagte Laura. »Aber das ist leider noch nicht alles. Wir brauchen Kleidung, bequeme Schuhe und verschiedene andere Dinge. Ich habe eine Liste mit den entsprechenden Größen zusammengestellt. Und wenn dann alles vorbei ist, bekommst du das Geld zurück, das du für uns ausgelegt hast.«

»Worauf du dich verlassen kannst, Shane! Mit vierzig Prozent Zinsen. Pro Woche. Stündlich berechnet. Und dein Kind gehört mir!«

Chris mußte lachen. »Meine Tante Rumpelstilzchen.«

»Sobald du mein Kind bist, machst du keine frechen Bemerkungen mehr, Christopher Robin. Oder du nennst mich wenigstens Mutter Rumpelstilzchen, Sir!«

»Mutter Rumpelstilzchen, Sir!« wiederholte Chris millitä-risch grüßend.

Gegen 20.30 Uhr war Thelma mit den aufnotierten Details, den Computer betreffend, und Lauras Einkaufsliste abfahrtbereit. »Ich komme morgen nachmittag so früh wie möglich zurück«, versprach sie, während sie Laura und Chris zum letzten Mal umarmte. »Seid ihr hier wirklich sicher, Shane?«

»Bestimmt, Thelma. Hätten sie entdeckt, wo wir uns aufhalten, wären sie längst aufgekreuzt.«

»Vergiß nicht, daß wir’s mit Zeitreisenden zu tun haben, Thelma«, warf Stefan ein. »Wüßten sie, wo wir stecken, könnten sie eine Reise zum Zeitpunkt unserer Ankunft unternehmen. Sie hätten uns sogar auflauern können, als wir am Mittwoch hier ankamen. Die Tatsache, daß wir hier so lange unbe-lästigt geblieben sind, beweist ziemlich sicher, daß dieses Versteck niemals bekanntgeworden ist.«

»In meinem Kopf dreht sich alles«, sagte Thelma. »Und ich hab’ mir immer eingebildet, ein großer Filmvertrag sei kompliziert!«

Sie trat mit Hornbrille und Kraushaarperücke in die regnerische Nacht hinaus - die falschen Vorderzähne hatte sie in der Handtasche - und fuhr mit dem Wagen ihres Gärtners weg.

Laura, Chris und Stefan sahen ihr durchs große Fenster nach.

»Sie ist schon was Besonderes«, sagte Stefan.

»Ja, sehr,« bestätigte Laura. »Ich kann nur hoffen, daß ich sie nicht gefährdet habe.«

»Keine Angst, Mom«, sagte Chris. »Tante Thelma ist ‘n harter Knochen. Das sagt sie doch immer selber.«

Am gleichen Abend fuhr Laura gegen 21 Uhr zu Fat Jack nach Anaheim. Der Regen hatte nachgelassen und war zu einem stetigen Nieseln geworden. Die Asphaltdecken der Straßen glitzerten silbern-schwarz, und durch die Rinnsteine floß Regenwasser, das im eigenartigen Licht der Natriumdampflampen wie Öl aussah. Inzwischen war auch Nebel aufgekommen -nicht mit zarten Schleiern beginnend, sondern gleich in dichten Schwaden heranziehend.

Sie hatte Stefan nur ungern im Motel zurückgelassen. Aber in seinem geschwächten Zustand durfte er sich nicht in diese kühle, regnerische Januarnacht hinauswagen. Außerdem hätte er Laura ohnehin nicht helfen können.

Dafür hatte Laura Chris mitgenommen, denn sie wollte nicht so lange von ihm getrennt sein, als es dauern würde, den Waffenhandel abzuschließen. Chris hatte sie schon vor einem Jahr begleitet, als sie bei Fat Jack gewesen war, um umgebaute Uzis zu kaufen, so daß der Dicke sich nicht über seine Anwesenheit wundern würde. Fat Jack würde ungehalten sein, denn er hatte nichts für Kinder übrig, aber er würde Chris’ Anwesenheit akzeptieren.

Unterwegs sah Laura häufig in ihre drei Rückspiegel und beobachtete die anderen Autofahrer in ihrer Nähe mit einer Aufmerksamkeit, die dem Ausdruck »defensive Fahrweise« neue Dimension verlieh. Sie konnte es sich nicht leisten, von irgendeinem Trottel, der für diese Straßenverhältnisse zu schnell fuhr, gerammt zu werden. Die Polizei würde am Unfallort erscheinen und routinemäßig die Kennzeichen überprüfen, und noch bevor Laura festgenommen werden würde, würden Männer mit Maschinenpistolen aus dem Nichts auftauchen und sie und Chris erschießen.

Ihre eigene Uzi hatte sie trotz Stefans Protests im Motel zurückgelassen. Um sich notfalls verteidigen zu können, war sie jedoch mit dem Chiefs Special Kaliber 38 bewaffnet. Und in den Reißverschlußtaschen ihrer Daunenjacke steckten 50 Schuß Revolvermunition.

Als die neongrelle Phantasmagorie von »Fat Jack’s Pizza Party Palace« wie ein in »Unheimliche Begegnungen der dritten Art« in selbsterzeugten Wolken schwebendes Raumschiff aus dem Nebel auftauchte, atmete Laura erleichtert auf. Sie fuhr auf den überfüllten Parkplatz, fand eine Lücke und stellte den Motor ab. Die Scheibenwischer hörten zu arbeiten auf, und Regenwasser floß in Bächen über die Windschutzscheibe. Rote, blaue, orangerote, gelbe, grüne, weiße, purpurrote und rosa Reflexionen von Leuchtstoffröhren spiegelten sich in dieser fließenden Wasserschicht, so daß Laura das seltsame Gefühl hatte, im Inneren einer dieser altmodischen neonbunten Musicboxen aus den fünfziger Jahren zu sitzen.

»Fat Jack hat noch mehr Lichtreklamen als letztes Jahr«, stellte Chris fest.

»Da kannst du recht haben«, sagte Laura.

Sie stiegen aus und sahen zu der blinkenden, blitzenden, wabernden, zuckenden, schmerzhaft gleißenden Fassade von »Fat Jack’s Pizza Party Palace« auf. Nicht nur der Name des Lokals leuchtete in Neonbuchstaben, sondern Leuchtstoffröhren zeichneten auch die Linien des Gebäudes, das Dach, sämtliche Fenster und die Eingänge nach. Darüber hinaus war der vordere Giebel mit einer riesigen Neonsonnenbrille verziert, während auf dem hinteren ein gigantisches Neonraumschiff startbereit auf einem glitzernden und funkelnden Abgasstrahl stand. Die Neonpizza mit drei Meter Durchmesser war alt, aber das grinsende Neonclownsgesicht war neu hinzugekommen.

Das Neonlicht war so gleißend hell, daß jeder fallende Regentropfen bunt aufleuchtete, als wäre er ein Teil eines bei Einbruch der Dunkelheit zersplitterten Regenbogens. Die Pfützen schimmerten in sämtlichen Regenbogenfarben.

Die Gesamtwirkung war desorientierend - aber sie bereitete den Besucher aufs Innere von »Fat Jack’s Pizza Party Palace« vor, das an das Chaos erinnerte, aus dem vor Äonen das Universum entstanden sein mußte. Die Kellner und Serviererinnen waren als Clowns, Gespenster, Piraten, Raumfahrer, Hexen, Zigeuner und Vampire verkleidet, ein Gesangstrio im Bärenkostüm zog von Tisch zu Tisch und begeisterte die mit Pizzasauce bekleckerten kleinen Gäste. In Nischen an den Seiten des Hauptlokals saßen ältere Kinder vor langen Reihen von Videospielen, so daß das Piep-peng-zap-bong! dieser elektronischen Spiele das Hintergrundgeräusch für die singenden Bären und die kreischenden Kleinen bildete.

»Irrenhaus!« sagte Chris.

Hinter dem Eingang kam ihnen Dominick entgegen, Fat Jacks Geschäftsführer und stiller Teilhaber. Dominick war groß und sehr hager; er hatte traurige Augen und schien inmitten der allgemeinen Heiterkeit fehl am Platz zu sein.

Laura mußte laut sprechen, um verstanden zu werden. Sie fragte nach Fat Jack und fügte hinzu: »Ich habe vorhin angerufen. Ich bin eine alte Freundin seiner Mutter.« Damit deutete sie an, daß sie keine Pizza, sondern Waffen kaufen wollte.

Dominick hatte gelernt, sich verständlich zu machen, ohne schreien zu müssen. »Sie sind schon mal hier gewesen, glaub’ ich.«

»Tolles Gedächtnis«, sagte sie anerkennend. »Vor ungefähr einem Jahr.«

»Kommen Sie bitte mit«, verlangte Dominick mit Grabesstimme.

Sie brauchten nicht durch die schrille Hektik des Hauptlokals zu gehen, was nur gut war, weil Laura auf diese Weise nicht riskierte, von irgend jemandem erkannt zu werden. Eine Tür, zu der nur Dominick einen Schlüssel hatte, führte vom Vorraum in einen Seitenflur und an Küche und Kühlraum vorbei zu Fat Jacks Privatbüro. Dominick klopfte an, schob die beiden vor sich her über die Schwelle und sagte: »Alte Freunde deiner Mutter.« Dann zog er sich zurück und ließ Laura und Chris mit dem Dicken allein.

Fat Jack nahm seinen Spitznamen ernst und bemühte sich, ihm zu entsprechen. Er war 1,75 Meter groß und wog gut 160 Kilogramm. In seiner riesigen grauen Trainingshose und dem hauteng sitzenden Sweatshirt sah er wie der Dicke auf dem gummierten Photo aus, das Diätwillige kauften und zur Abschreckung an ihren Kühlschrank klebten. Tatsächlich sah er wie der Kühlschrank aus.

Er thronte in einem Ledersessel hinter einem seiner Leibesfülle entsprechenden Schreibtisch und blieb sitzen. »Hören Sie sich diese kleinen Bestien an!« Er ignorierte Chris und sprach nur mit Laura. »Ich habe mein Büro in den hintersten Teil des Gebäudes verlegt und eigens gegen Schall dämmen lassen -und trotzdem höre ich sie dort draußen kreischen und quietschen. Als ob ich mein Büro gleich neben der Hölle hätte!«

»Das sind nur Kinder, die sich amüsieren«, sagte Laura, die mit Chris vor seinem Schreibtisch stand.

»Und Mrs. Leary ist bloß ‘ne alte Dame mit ‘ner dummen Kuh gewesen, aber sie hat trotzdem Chicago angezündet«, sagte Fat Jack verdrießlich. Er aß einen Mars-Riegel. Im Hintergrund schwollen die durch Schalldämmaterial stark gedämpften Kinderstimmen zu einem dumpfen Crescendo an, und der Dicke sagte, als spreche er mit dieser unsichtbaren Menge: »Ah, ersticken sollt ihr daran, ihr kleinen Kobolde!«

»Das reinste Tollhaus dort draußen«, warf Chris ein.

»Wer hat dich gefragt?«

»Niemand, Sir.«

Fat Jack hatte einen pockennarbigen Teint und stechende graue Augen, die fast in seinem Puffotterngesicht verschwanden. Jetzt nickte er Laura zu und erkundigte sich: »Haben Sie mein neues Neon gesehen?«

»Der Clown ist neu, stimmt’s?«

»Genau! Ein Klassestück, was? Ich hab’ ihn selbst entworfen und mitten in der Nacht anbringen lassen, damit am nächsten Morgen keiner mehr ‘ne Einstweilige Verfügung erwirken konnte, um die Anbringung zu verhindern. Die gottverdammten Stadträte hat beinah der Schlag getroffen - alle auf einmal!«

Mit Stadtrat und Stadtverwaltung von Anaheim lag Fat Jack seit über einem Jahrzehnt im juristischen Clinch. Die zuständigen Stellen mißbilligten seine grellen Leuchtreklamen - vor allem in letzter Zeit, seitdem das Gebiet um Disneyland städtebaulich aufgewertet werden sollte. Fat Jack hatte Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende für Gerichtsverfahren ausgegeben, hatte Geldstrafen bezahlt, war verklagt worden, hatte seinerseits geklagt und war wegen Mißachtung des Gerichts sogar zu Haftstrafen verurteilt worden. Er war ein ehemaliger Liberaler, der jetzt ein Anarchist zu sein behauptete und als freidenkendes Individuum keinerlei Beeinträchtigung seiner - wirklichen oder nur angemaßten - Rechte hinnahm.

Sein illegaler Waffenhandel basierte auf den gleichen Motiven wie die Errichtung von Leuchtreklamen ohne städtische Genehmigung: Beides war ein Aufbegehren gegen staatliche Bevormundung, eine Schlacht im Kampf für die Rechte des einzelnen. Fat Jack konnte stundenlang über die Nachteile jeglicher Form von Regierung dozieren, und als Laura vor einem Jahr mit Chris bei ihm gewesen war, um die umgebauten Uzis zu kaufen, hatte sie sich erst einen längeren Vortrag darüber anhören müssen, warum der Staat nicht einmal berechtigt sei, Gesetze gegen Tötungsdelikte zu erlassen.

Laura empfand keine besonderen Sympathien für Regierungen, wie sie in Moskau oder Washington saßen, aber sie konnte auch nichts mit Fat Jacks Überzeugungen anfangen. Er leugne-te die Legitimität jeglicher Autorität, jeglicher bewährten Einrichtung, sogar der Familie.

Nachdem sie Fat Jack ihre neue Einkaufsliste hingereicht, er den Gesamtpreis genannt und ihr Geld gezählt hatte, führte er sie und Chris durch eine Geheimtür aus seinem Büro und über eine enge Wendeltreppe - auf der er wahrscheinlich eines Tages steckenbleiben würde - in den Keller hinunter, in dem er sein illegales Waffenlager eingerichtet hatte. Im Gegensatz zu dem wilden Durcheinander oben im Restaurant herrschte hier unten pedantische Ordnung: In Metallregalen lagerten nach Preis und Kaliber geordnete Kartons mit Waffen aller Art, von Pistolen bis zu Sturmgewehren; im Keller von »Fat Jack’s Pizza Party Palace« waren ständig mindestens 1000 Schußwaffen gelagert.

Er konnte ihr zwei umgebaute Uzis - »eine seit dem versuchten Attentat auf Reagan unwahrscheinlich beliebte Waffe«, stellte Fat Jack fest - und einen weiteren Chiefs Special Kaliber 38 liefern. Stefan hatte gehofft, eine Colt Commander 9-mm-Parabellum mit neunschüssigem Magazin und einem für die Anbringung eines Schalldämpfers vorbereiteten Lauf zu bekommen. »Habe ich nicht«, sagte Fat Jack, »aber ich kann Ihnen eine Colt Commander Mark IV in 38 Super geben -ebenfalls mit neunschüssigem Magazin -, und zwei davon sind für den Schalldämpferanbau vorbereitet. Schalldämpfer habe ich auch reichlich da.« Laura wußte bereits, daß sie bei ihm keine Munition kaufen konnte, aber während er seinen MarsRiegel auffutterte, erklärte er ihr trotzdem: »Habe weder Munition noch Sprengstoff auf Lager. Wissen Sie, ich bin gegen jegliche Form von Autorität, aber ich bin nicht völlig verantwortungslos. Ich habe hier drüber ein ganzes Restaurant voll kreischender, rotznäsiger Bälger, die ich nicht in die Luft jagen darf, selbst wenn das der Welt etwas mehr Frieden bringen würde. Außerdem würde ich damit auch meine schönen Neons zerstören.«

»Gut«, sagte Laura und legte Chris einen Arm um die Schulter, damit er an ihrer Seite blieb. »Und was ist mit dem Gas auf meiner Liste?«

»Wissen Sie bestimmt, daß Sie nicht Tränengas meinen?«

»Nein, nein, ich brauche Vexxon.«

Den Namen dieses Kampfstoffs hatte sie von Stefan. Das Gas gehörte zu den chemischen Waffen auf der Wunschliste des Instituts, die dieses ins Jahr 1944 zurückzubringen und ins deutsche Arsenal einzugliedern hoffte. Jetzt konnte es vielleicht gegen die Nazis eingesetzt werden. »Wir brauchen was, das schnell tödlich wirkt.«

Fat Jack lehnte sich mit seinem Hintern gegen den Metalltisch in der Mitte des Raums, auf den er die Uzis, den Revolver, die Pistole und die Schalldämpfer gelegt hatte. Der Tisch knarrte bedrohlich. »Hören Sie, wir reden hier von Kriegswaffen, von streng kontrolliertem Zeug.«

»Sie können’s nicht liefern?«

»Oh, klar kann ich Ihnen Vexxon besorgen«, stellte Fat Jack fest. Er verließ seinen Platz am Tisch, der erleichtert knarrte, als er sein Gewicht nicht mehr zu tragen hatte, und trat ans nächste Regal, wo er aus einem Geheimversteck zwischen Waffenkartons zwei Hershey-Riegel hervorholte. Anstatt den zweiten Chris anzubieten, steckte er ihn in die Hosentasche und begann den ersten zu essen. »Solchen Scheiß hab’ ich nicht auf Lager; der ist so gefährlich wie Sprengstoff. Aber ich kann das Zeug bis morgen nachmittag besorgen, wenn Sie so lange warten können.«

»Einverstanden«, sagte Laura.

»Es kostet aber ‘ne Kleinigkeit.«

»Das weiß ich.«

Fat Jack grinste. Zwischen seinen Zähnen hafteten Schokoladebrocken. »Dieses Zeug wird nicht viel verlangt - nicht von Kleinkunden wie Ihnen. Ich find’s amüsant, mir vorzustellen, was Sie damit vorhaben könnten. Ich erwarte allerdings nicht, daß Sie’s mir verraten. Aber im allgemeinen werden diese neuroaktiven und respiraktiven Gase von Großkunden aus Südamerika oder dem Nahen Osten gekauft. Der Irak und der Iran haben sie in den letzten Jahren viel eingesetzt.«

»Neuroaktiv, respiraktiv? Worin besteht der Unterschied?«

»Respiraktiv bedeutet, daß das Gas eingeatmet werden muß; es wirkt sekundenschnell tödlich, sobald es über die Lungen ins Blut gelangt. Wer es freisetzt, muß zu seinem eigenen Schutz eine Gasmaske tragen. Neuroaktive Kampfstoffe wirken noch schneller - allein durch Hautkontakt -, und bei bestimmten Mitteln wie Vexxon braucht man selbst weder Gasmaske noch Schutzkleidung, weil man vor der Anwendung ein paar Pillen schlucken kann, die im voraus als Gegengift wirken.«

»Richtig, diese Pillen sollte ich ja auch besorgen«, sagte Laura.

»Vexxon. Das am leichtesten einsetzbare Gas auf dem Markt. Sie sind wirklich ‘ne clevere Kundin«, meinte Fat Jack anerkennend.

Er hatte den Schokoriegel bereits aufgegessen und schien in der halben Stunde, seitdem Laura und Chris sein Büro betreten hatten, merklich zugenommen zu haben. Sie erkannte, daß Fat Jacks Vorliebe für politische Anarchie sich nicht nur in der Atmosphäre seiner Pizzeria, sondern auch in seiner Leibesfülle widerspiegelte, denn sein Körper wuchs ohne Behinderung durch gesellschaftliche oder medizinische Rücksichten weiter. Darüber hinaus schien er sein Dicksein zu genießen, denn er rieb sich oft den Magen, knetete die Fettpolster an seinen Hüften fast zärtlich und bewegte sich mit aggressiver Arroganz, als wolle er die Welt mit seinem Bauch beiseite schieben. Sie stellte sich vor, wie Fat Jack weiter zunahm, auf 200, sogar 250 Kilogramm, während die wild ausufernden Leuchtreklamen auf seinem Gebäude immer bizarrer wurden, bis das Dach eines Tages einstürzte - und Fat Jack im selben Augenblick zerplatzte.

»Das Gas kriege ich morgen bis siebzehn Uhr«, sagte er, während er die Uzis, den Chiefs Special, die Colt Commander und die Schalldämpfer in einen Karton mit der Aufschrift »Alles für die Geburtstagsparty« legte, der vermutlich Papierhüte oder Lärmmacher enthalten hatte. Er setzte den Dek-kel darauf und bedeutete Laura, sie solle den Karton nach oben tragen; unter anderem hielt Fat Jack nichts von Ritterlichkeit.

Als Chris seiner Mutter die Tür von Fat Jacks Büro aufhielt, freute Laura sich über das Kreischen der Kinder in der Pizzeria. Es war das erste erfreuliche, normale Geräusch, das sie seit über einer halben Stunde hörte.

»Hören Sie sich die kleinen Kretins an!« sagte Fat Jack. »Das sind keine Kinder, sondern rasierte Affen, die sich als Kinder ausgeben.« Er warf seine schallgedämpfte Bürotür hinter Laura und Chris ins Schloß.

Chris wartete, bis sie auf der Rückfahrt ins Motel waren, bevor er fragte: »Was hast du mit Fat Jack vor, wenn diese ganze Sache erst mal hinter uns liegt?«

»Ich gebe den Cops einen Tip«, antwortete Laura. »Allerdings anonym.«

»Gut! Der Kerl ist verrückt.«

»Er ist schlimmer als ein Verrückter, Schatz. Er ist ein Fanatiker.«

»Was ist ein Fanatiker eigentlich genau?«

Sie dachte kurz nach, bevor sie antwortete: »Ein Fanatiker ist ein Verrückter, der etwas hat, woran er glaubt.«

5

SS-Obersturmführer Erich Klietmann beobachtete den Sekundenzeiger der Uhr des Programmierpults. Als der Zeiger sich der Ziffer 12 näherte, hob er den Kopf und schaute zu der Zeitmaschine hinüber. In dem vier Meter langen Stahlzylinder schimmerte etwas: ein verschwommener grauschwarzer Fleck, der sich zur Silhouette eines Mannes verdichtete, dann zu drei weiteren Männern, einer hinter dem anderen. Der Aufklärungstrupp trat aus dem Zylinder ins Hauptlabor, in dem er von den drei Wissenschaftlern, die das Programmierpult überwacht hatten, empfangen wurde.

Die aus dem Februar 1989 zurückgekehrten Zeitreisenden lächelten, was Klietmann Herzklopfen verursachte, weil sie nicht gelächelt hätten, wenn es ihnen nicht gelungen wäre, Krieger, die Frau und den Jungen zu finden. Die beiden ersten in die Zukunft entsandten Mordkommandos - der Trupp, der das Haus bei Big Bear überfallen hatte, und der zweite, der in San Bernardino gewesen war - waren Gestapobeamte gewesen. Ihr Versagen hatte den Führer zu dem Befehl veranlaßt, das dritte Kommando aus SS-Männern zusammenzustellen, und für Klietmann bedeutete das Lächeln der Zurückkehrenden jetzt die Chance, mit seinem Trupp zu beweisen, daß die SS über besseres Menschenmaterial verfügte als die Gestapo.

Das Versagen der beiden vorigen Kommandos waren nicht die einzigen Minuspunkte der Gestapo bei der Behandlung dieses Falls. Auch Heinrich Kokoschka, der Leiter des Sicherheitsdienstes des Instituts, war ein Gestapobeamter gewesen -und offenbar zum Verräter geworden. Alles verfügbare Beweismaterial schien die Theorie zu untermauern, er sei vor zwei Tagen gemeinsam mit fünf weiteren Institutsangehörigen in die Zukunft desertiert.

Am Abend des 16. März hatte Kokoschka allein eine Zeitreise in die San Bernardino Mountains unternommen: mit der erklärten Absicht, Stefan Krieger in der Zukunft aufzuspüren und zu liquidieren, damit er nicht ins Jahr 1944 und ins Institut zurückkehren und Penlowski erschießen könnte. Dadurch hätte der Tod der führenden Köpfe des Projekts verhindert werden sollen. Aber Kokoschka war nie zurückgekommen. Einige Wissenschaftler vermuteten, Krieger sei am Ende doch siegreich geblieben, und Kokoschka habe im Jahr 1988 den Tod gefunden. Aber das war keine Erklärung für das Verschwinden der fünf Männer, die sich an diesem Abend im Hauptlabor des Instituts aufgehalten hatten: der beiden Gestapobeamten, die auf Kokoschkas Rückkehr warten, und der drei Wissenschaftler am Programmierpult der Zeitmaschine. Die fünf Männer waren spurlos verschwunden - und mit ihnen fünf der für die Rückkehr aus der Zukunft erforderlichen Gürtel. Das alles ließ auf eine Gruppe von Verrätern innerhalb des Instituts schließen, die zu der Überzeugung gelangt waren, Hitler werde den Krieg selbst mit aus der Zukunft zurückgebrachten Geheimwaffen verlieren, und deshalb lieber in die Zukunft desertiert waren, als weiter in der zum Untergang verdammten Reichshauptstadt auszuharren.

Aber Berlin war keineswegs zum Untergang verdammt. Mit dieser Möglichkeit rechnete Klietmann überhaupt nicht. Berlin war das neue Rom; das Dritte Reich würde tausend Jahre lang bestehen. Jetzt, da die SS Gelegenheit erhielt, Krieger aufzuspüren und zu erledigen, würde der Traum des Führers sich erfüllen. Nach der Beseitigung Kriegers, der die größte Gefahr für die Zeitmaschine darstellte und dessen Exekution ihre vordringlichste Aufgabe war, würden sie sich darauf konzentrieren, Kokoschka und die übrigen Verräter aufzuspüren. Wohin diese Schweine auch geflüchtet sein mochten, an welchem Ort in welcher fernen Zukunft sie sich auch versteckt haben mochten -Klietmann und seine SS-Kameraden würden sie unerbittlich verfolgen und mit größtem Vergnügen liquidieren.

Dr. Theodor Jüttner, seit der Ermordung Penlowskis, Ja-nuskys und Wolkows der neue Direktor des Instituts, wandte sich jetzt an Klietmann. »Herr Obersturmführer, wir scheinen Krieger aufgestöbert zu haben. Sind Sie und Ihre Leute bereit?«

»Wir sind bereit, Herr Doktor«, antwortete Klietmann. Bereit für die Zukunft, dachte er, bereit für Krieger, bereit für Ruhm und Ehre.

6

Am Samstag, dem 14. Januar 1989, um 15.40 Uhr, kehrte Thelma nach etwas über 24 Stunden mit dem klapprigen Lieferwagen ihres Gärtners ins »Bluebird of Happiness« zurück. Sie brachte für jeden von ihnen einen Koffer mit zwei Garnituren Wäsche und Kleidung mit und hatte mehrere tausend Schuß Munition für die Uzis und die Revolver gekauft. Im Wagen hatte sie außerdem den IBM-Computer sowie einen Drucker, die bestellte Software, eine Box mit Disketten und alles sonstige Zubehör, das Laura brauchen würde, um das System in Betrieb zu nehmen.

Obwohl Stefan, dessen Schußverletzung erst vier Tage alt war, sich überraschend schnell erholte, durfte und konnte er noch nichts Schweres heben. Er blieb mit Chris im Motelzimmer und packte die Koffer, während Laura sind Thelma die Computerkartons im Kofferraum und auf dem Rücksitz des Buicks verstauten.

Das Unwetter hatte sich über Nacht verzogen. Am Himmel waren graue Wolkenfetzen zurückgeblieben, aber die Temperatur war auf 18° Celsius gestiegen, und die Luft roch frisch gewaschen.

»Bist du mit dieser Perücke, dieser Brille und diesen Zähnen beim Einkaufen gewesen?« fragte Laura, während sie den Kofferraumdeckel des Buicks zuknallte.

»Nö«, sagte Thelma, nahm die falschen Vorderzähne heraus und steckte sie in ihre Jackentasche, weil sie damit lispelte. »Aus der Nähe hätte mich ein Verkäufer erkennen können -und in dieser Verkleidung wären meine Einkäufe erst recht aufgefallen. Aber sobald ich alles hatte, bin ich in die hinterste Ecke des Parkplatzes eines anderen Einkaufszentrums gefahren und habe mich für den Fall, daß mich unterwegs jemand anstarrt, in eine Kreuzung aus Harpo Marx und Bucky Beaver verwandelt. Weißt du, Shane, diese Geheimnistuerei gefällt mir irgendwie. Vielleicht bin ich eine Reinkarnation der Mata Hari, denn bei dem Gedanken, Männer zu verführen, um sie auszuhorchen und ihre Geheimnisse an ausländische Regierungen zu verkaufen, laufen mir wundervolle Schauder über den Rük-ken.«

»Die kriegst du bei dem Gedanken, Männer zu verführen«, behauptete Laura, »nicht wegen der verkauften Geheimnisse. Du bist keine Spionin, sondern bloß geil.«

Thelma gab ihr die Schlüssel des Hauses in Palm Springs. »Dort gibt’s kein festes Personal. Wenn wir hinfahren, rufen wir ein paar Tage vorher einen Reinigungsdienst an, der das Haus putzt. Diesmal habe ich ihn natürlich nicht angerufen, deshalb mußt du mit etwas Staub rechnen, aber nicht mit wirklichem Schmutz - und schon gar nicht mit den abgetrennten Schädeln, die du meistens hinterläßt.«

»Du bist ein Schatz.«

»Dort gibt’s einen Gärtner. Allerdings keinen fest angestellten wie bei uns in Beverly Hils. Dieser Mann kommt nur einmal in der Woche, dienstags, um den Rasen zu mähen, die Hecke zu beschneiden und ein paar Blumen zu zertrampeln, damit er uns neue in Rechnung stellen kann. Ich würde euch raten, an Dienstagen die Fenster zu meiden und in Deckung zu bleiben, bis er wieder fort ist.«

»Wir verstecken uns unter den Betten.«

»Wenn du unter dem Bett einen Haufen Ketten und Peitschen findest, brauchst du nicht zu glauben, Jason und ich seien pervers. Die Ketten und Peitschen haben seiner Mutter gehört, und wir bewahren sie aus rein sentimentalen Gründen auf.«

Sie holten die gepackten Koffer aus dem Motelzimmer und stapelten sie mit den Kartons, die im Kofferraum des Buicks keinen Platz mehr gefunden hatten, auf dem Rücksitz des Wagens. Nach allseitigen Umarmungen sagte Thelma noch: »Shane, ich trete erst in drei Wochen wieder in einem Nachtklub auf. Solltest du mich also brauchen, bin ich Tag und Nacht in Beverly Hills zu erreichen. Ich bleibe dort am Telefon.« Dann fuhr sie widerstrebend davon.

Laura war erleichtert, als der Wagen im Verkehrsgewühl verschwand. Jetzt war Thelma aus dem Spiel, jetzt konnte ihr nichts mehr passieren. Sie gab die Zimmerschlüssel an der Rezeption ab und fuhr mit dem Buick davon - mit Chris auf dem Beifahrersitz und Stefan hinten beim Gepäck. Sie verließ »The Bluebird of Happiness« nur ungern, denn hier waren sie vier Tage lang sicher gewesen, während es sonst auf der Welt vielleicht niemals mehr einen sicheren Ort für sie geben würde.

Als erstes hielten sie vor einem Waffengeschäft. Da Laura möglichst wenig gesehen werden sollte, ging Stefan hinein, um eine Schachtel Munition für die Pistole zu kaufen. Diese Munition hatte nicht auf Thelmas Einkaufsliste gestanden, weil sie nicht gewußt hatten, ob sie die 9-mm-Parabellum bekommen würden, die Stefan haben wollte. Tatsächlich hatten sie statt dieser die Colt Commander Mark IV Kaliber 38 nehmen müssen.

Danach fuhren sie zu »Fat Jacks Pizza Party Palace« weiter, um zwei Behälter mit tödlichem Nervengas abzuholen. Stefan und Chris warteten draußen im Wagen unter den schon in der Abenddämmerung brennenden Neonreklamen, die ihre ganze Leuchtkraft jedoch erst nach Einbruch der Dunkelheit entfalten würden.

Die Kanister standen auf Fat Jacks Schreibtisch bereit. Sie hatten die Größe kleiner Haushaltsfeuerlöscher, waren nicht feuerrot lackiert, sondern aus rostfreiem Stahl hergestellt und trugen einen Aufkleber mit Totenschädel und gekreuzten Knochen und dem Text VEXXON/AEROSOL/WARNUNG -TÖDLICHES NERVENGAS/UNBEFUGTER BESITZ NACH U.S.-GESETZEN STRAFBAR, dem noch ein Dutzend Zeilen Kleingedrucktes folgten.

Fat Jack deutete mit seinem dicken Wurstfinger auf die in die Behälter ob er seiten eingelassenen halbdollargroßen Anzeigen. »Das hier sind Zeitschalter, die sich von einer bis sechzig Minuten einstellen lassen. Stellt man sie ein und drückt auf den Knopf in der Mitte, kann man das Gas mit Verzögerung ablassen - gewissermaßen wie ‘ne Zeitbombe. Wollen Sie’s jedoch manuell ablassen, nehmen Sie den Boden des Kanisters in eine Hand, diesen Pistolengriff in die andere und drücken einfach ab, als hätten Sie ‘ne Waffe in der Hand. Dieser Scheiß steht unter Druck und verteilt sich in eineinhalb Minuten in einem Gebäude von fünfhundert Quadratmeter Bodenfläche - und noch schneller, wenn Heizung oder Klimaanlage in Betrieb sind. Unter Einwirkung von Luft und Sonne zerfällt das Gas in ungiftige Verbindungen, bleibt aber trotzdem vierzig bis sechzig Minuten lang tödlich. Drei Milligramm auf der Haut genügen, um binnen dreißig Sekunden zu töten.«

»Das Gegengift?« fragte Laura.

Fat Jack tippte grinsend auf die versiegelten blauen Plastikbeutel, die an den Behältergriffen hingen. »Jeder Beutel enthält zehn Kapseln. Zwei davon genügen als Schutz für einen Menschen. Die Gebrauchsanweisung liegt bei. Soviel ich gehört habe, muß man das Mittel mindestens eine Stunde vor der Freisetzung des Gases schlucken. Dann schützen die Kapseln drei bis fünf Stunden lang.«

Er strich ihr Geld ein und legte die Vexxon-Kanister in einen Karton mit dem Aufdruck MOZZARELLA-KÄSE - KÜHL LAGERN. Während er den Deckel aufsetzte, lachte er vor sich hin und schüttelte den Kopf.

»Was ist los?« fragte Laura mißtrauisch.

»Ich find’s nur amüsant«, antwortete Fat Jack. »Eine bildhübsche Frau wie Sie, offensichtlich gebildet, mit einem kleinen Jungen ... Wenn jemand wie Sie in solchen Scheiß verwickelt ist, geht’s mit unserer Gesellschaft weit schneller zu Ende, als ich je zu hoffen gewagt hätte. Vielleicht erlebe ich den Tag noch, an dem das Establishment stürzt, die Anarchie herrscht und die einzigen Gesetze die sind, die einzelne untereinander vereinbaren und mit Handschlag besiegeln.«

Dann schien ihm noch etwas einzufallen. Er hob den Deckel hoch, nahm einige grüne Zettel aus einer Schreibtischschublade und ließ sie auf die Vexxon-Behälter fallen.

»Was sind das für Zettel?« wollte Laura wissen.

»Sie sind eine gute Kundin«, sagte Fat Jack, »deshalb kriegen Sie ein paar Gutscheine für eine Gratispizza als Draufgabe.«

Jasons und Thelmas Haus in Palm Springs lag tatsächlich sehr abseits. Es war eine merkwürdige, aber sehr attraktive Mischung aus spanischer und südwestlicher Lehmsteinarchitektur auf 4000 Quadratmeter Grund, der von einer gut zweieinhalb Meter hohen pfirsichfarben verputzten Mauer umgeben war, die lediglich einen Durchlaß für die kreisförmige Zufahrt hatte. Das dicht mit Feigen, Palmen und Oliven bewachsene parkartige Grundstück war auf drei Seiten zu den Nachbarn hin völlig abgeschirmt, und von der Straße aus war nur die Fassade des Hauses zu sehen.

Obwohl sie an diesem Samstagabend erst gegen 20 Uhr kamen, nachdem sie von Fat Jacks Pizzeria in Anaheim aus in die Wüste gefahren waren, waren Haus und Grundstück in allen Einzelheiten sichtbar, weil sie von geschickt eingebauten, über Photozellen gesteuerten Außenleuchten angestrahlt wurden, die für Ästhetik und Sicherheit zugleich sorgten. Farne und Palmwedel warfen aufregende Schatten auf verputzte Mauern.

Thelma hatte ihnen die Fernsteuerung für das Garagentor mitgegeben, deshalb fuhren sie den Buick in die Dreifachgarage und betraten das Haus durch die Verbindungstür zum Wirtschaftsraum - nachdem Laura die Alarmanlage mit dem Code, den Thelma ihr aufgeschrieben hatte, abgeschaltet hatte.

Das Haus war viel kleiner als der Palast des Ehepaars Gaines in Beverly Hills, aber mit zehn Zimmern und vier Bädern noch immer eine Luxusvilla. Die unverwechselbare Handschrift von Steve Chase, dem bekanntesten Innenarchitekten von Palm Springs, zeigte sich überall: exklusiv beleuchtete exklusive Räume; schlichte Farben - warme Aprikosentöne, mattes Lachsrot -, die hier und dort von Türkis unterstrichen wurden; wildlederbespannte Wände, Decken aus Zedernholz; hier Kupfertische mit reicher Patina, dort Granittische, die in interessantem Gegensatz zu luxuriösen Polstermöbeln mit allen nur denkbaren Bezugstoffen standen; elegant, aber sehr wohnlich.

In der Küche mußte Laura feststellen, daß die Speisekammer bis auf ein Regal mit Konservendosen leer war. Da sie alle zu müde waren, um noch zum Einkaufen zu fahren, begnügten sie sich an diesem Abend mit dem, was da war. Selbst wenn Laura hier mit Gewalt eingedrungen wäre, ohne zu wissen, wem diese Villa gehörte, hätte sie nach einem Blick in die Speisekammer auf Jason und Thelma getippt, denn sie konnte sich kein zweites Millionärspaar vorstellen, das im Herzen kindlich genug geblieben wäre, um Ravioli- und Spaghettibüchsen der Marke Chief Boyardee in seiner Speisekammer zu haben. Chris war natürlich begeistert. Als Nachtisch gab es zwei Schachteln mit Eiscreme-Nuggetts, die sie im ansonsten leeren Kühlschrank entdeckt hatten.

Laura und Chris teilten sich das übergroße französische Bett im Elternschlafzimmer, und Stefan bezog eines der gegenüberliegenden Gästezimmer. Obwohl Laura die Alarmanlage, die alle Türen und Fenster überwachte, wieder eingeschaltet, eine geladene Uzi auf dem Teppich neben ihrem Bett und einen geladenen Revolver auf dem Nachttisch liegen hatte und obwohl auf der ganzen Welt nur Thelma wissen konnte, daß sie hier waren, schlief Laura unruhig. Sie schrak bei jedem Aufwachen hoch, saß dann im Bett und horchte ins Dunkel hinein

- auf verstohlene Schritte, flüsternde Stimmen.

Als Laura gegen Morgen nicht wieder einschlafen konnte, starrte sie lange die nur schemenhaft erkennbare Zimmerdecke an und dachte über etwas nach, das Stefan vor ein paar Tagen über einige der komplizierteren Aspekte von Zeitreisen und die Möglichkeiten der Zeitreisenden, ihre eigene Zukunft zu verändern, gesagt hatte: Das Schicksal bemüht sich, ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinien durchzusetzen. Nachdem Stefan sie 1963 im Lebensmittelgeschäft ihres Vaters vor dem Junkie gerettet hatte, hatte das Schicksal 1967 mit Willy Sheener einen weiteren Pädophilen gegen sie aufgeboten. Sie hatte als Vollwaise aufwachsen sollen, deshalb hatte das Schicksal es verstanden, nach ihrer Aufnahme bei den Dockweilers dafür zu sorgen, daß Nina Dockweiler einem Herzschlag erlag, woraufhin Laura ins Waisenhaus zurück mußte.

Das Schicksal bemüht sich, ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinien durchzusetzen.

Welche als nächste?

In der ursprünglich vorgesehenen Entwicklungslinie wäre Chris niemals geboren worden. Würde das Schicksal daher dafür sorgen, daß er bald den Tod fand, um die von Stefan Krieger veränderte Entwicklungslinie nachträglich doch noch durchzusetzen? Und bevor Stefan damals Dr. Paul Markwell mit der Waffe bedroht und daran gehindert hatte, als ihr Geburtshelfer zu fungieren, war ihr ein Leben im Rollstuhl bestimmt gewesen. Vielleicht würde das Schicksal zur Durchsetzung der ursprünglichen Entwicklungslinie jetzt dafür sorgen, daß sie von Gestapoleuten angeschossen wurde und als Querschnittgelähmte zurückblieb .

Wie lange bemühten die Schicksalsmächte sich, einmal veränderte Entwicklungslinien doch wie ursprünglich vorgesehen durchzusetzen? Chris lebte nun schon seit über acht Jahren. Reichte das aus, um das Schicksal davon zu überzeugen, daß seine Existenz hinnehmbar war? Sie selbst lebte seit 34 Jahren außerhalb des Rollstuhls. Machte das Schicksal sich noch immer Sorgen wegen dieser widernatürlichen Veränderung des ursprünglichen Plans?

Das Schicksal bemüht sich, ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinien durchzusetzen.

Während die erste Morgendämmerung sich an den Rändern der Vorhänge ins Zimmer stahl, wälzte Laura sich schlaflos in ihrem Bett und war wütend, ohne recht zu wissen, gegen wen oder was sich ihr Zorn richten sollte. Was war das Schicksal? Wer war diese Kraft, die Entwicklungslinien festlegte und durchzusetzen versuchte? Gott? Sollte sie Gott zürnen - oder ihn bitten, ihren Sohn leben zu lassen und sie vor einem Behindertendasein zu bewahren? Oder war die Macht des Schicksals lediglich ein natürlicher Mechanismus, eine natürliche Gegebenheit wie die Schwerkraft oder der Erdmagnetismus?

Da es kein logisches Objekt gab, gegen das ihre Emotionen sich hätten richten können, spürte Laura, wie ihre Wut sich allmählich zu Angst wandelte. In der Villa des Ehepaars Gaines in Palm Springs schienen sie in Sicherheit zu sein. Nachdem sie hier eine ungestörte Nacht verbracht hatten, stand fast sicher fest, daß ihre Anwesenheit niemals öffentlich bekannt geworden war, denn sonst wären längst Killer aus der Vergangenheit eingetroffen. Trotzdem hatte Laura Angst.

Irgend etwas Schlimmes würde passieren. Etwas sehr Schlimmes.

Ihnen drohte Gefahr. Aber sie wußte nicht, aus welcher Richtung.

Blitze. Schon bald.

Schade, daß die alte Redensart nicht stimmte: Der Blitz schlug sehr wohl zweimal an derselben Stelle ein oder dreimal oder hundertmal, und sie war der zuverlässigste Blitzableiter, der ihn anzog.

7

Nachdem Dr. Jüttner am Programmierpult der Zeitmaschine die letzten Zahlen eingegeben hatte, erklärte er SS-Obersturmführer Klietmann: »Sie und Ihre Leute kommen im Januar 1989 bei Palm Springs in Kalifornien an.«

»Palm Springs?« Klietmann war überrascht.

»Ganz recht. Wir hatten natürlich erwartet, daß Ihr Ziel in Los Angeles oder im Orange County liegen würde, wo Ihre Aufmachung als Jungmanager besser hingepaßt hätte als in einen Fremdenverkehrsort, aber Sie werden trotzdem nicht auffallen. Immerhin ist’s dort jetzt Winter, und selbst in der Wüste werden der Jahreszeit entsprechend dunkle Anzüge getragen.« Jüttner gab Klietmann einen Zettel, auf dem er genaue Angaben notiert hatte. »Hier finden Sie die Frau und den Jungen.«

»Was ist mit Krieger?« fragte der SS-Führer, während er den Zettel zusammenfaltete und in die innere Brusttasche seiner Jacke steckte.

»Der Erkundungstrupp hat keine Spur von ihm gefunden«, antwortete Jüttner, »aber er muß bei der Frau und dem Jungen sein. Sollten Sie ihn nicht sehen, müssen Sie versuchen, die beiden gefangenzunehmen. Vielleicht erweist es sich als unumgänglich, die beiden zu foltern, um Kriegers Aufenthaltsort zu erfahren. Sollte auch das nicht zum Erfolg führen, legen Sie die beiden um. Vielleicht bringt das unseren Mann dazu, irgendwo entlang der Zeitlinie aufzutauchen.«

»Wir finden ihn, Herr Doktor!«

Klietmann, Hubatsch, Stein und Bracher trugen jeder den Kupfergürtel unter dem Anzug von Yves Saint-Laurent. Mit ihren Mark-Cross-Aktenkoffern in der Hand traten sie ans Tor, stiegen in den riesigen Stahlzylinder und bewegten sich auf den Zweidrittelpunkt zu, an dem sie in Sekundenbruchteilen von 1944 nach 1989 gelangen würden.

Der Obersturmführer verspürte Angst, aber auch überschäumenden Jubel. Er war die eiserne Faust Hitlers, der Krieger auch nicht 45 Jahre entfernt in der Zukunft entgehen würde.

8

Am Sonntag, dem 15. Januar 1989, ihrem ersten Tag in der Villa in Palm Springs, bauten sie den Computer auf, und Laura unterwies Stefan in seiner Bedienung. Das IBM-Betriebssystem und die für ihre Zwecke nötige Software waren extrem benutzerfreundlich, und obwohl Stefan abends noch weit davon entfernt war, ein Computerexperte zu sein, verstand er zumindest, wie das Gerät funktionierte und was man von ihm erwarten konnte. Allerdings würde er ohnehin nur selten am Computer sitzen; dafür war Laura zuständig, die schon Erfahrung mit diesem System hatte. Stefans Aufgabe würde es sein, ihr zu erklären, was das Ding auszurechnen hatte, um sie der Lösung der vielen vor ihnen liegenden Probleme näherzubringen.

Stefan hatte die Absicht, mit Hilfe des Kokoschka abgenommenen Gürtels ins Jahr 1944 zurückzukehren. Diese Gürtel waren keine Zeitmaschinen im Kleinformat; Transportmittel war das Tor selbst - und das Tor blieb stets im Jahre 1944. Die Gürtel waren auf die Zeitvibrationen des Tores abgestimmt und brachten den Reisenden lediglich zurück, sobald er die Verbindung per Knopfdruck herstellte.

»Wie bringt er dich zurück?« fragte Laura, als Stefan ihr den Gebrauch des Gürtels erklärte.

»Das weiß ich nicht. Weißt du vielleicht, wie der Mikrochip in deinem Computer funktioniert? Nein. Aber das hindert dich ebensowenig an der Benützung deines Computers, wie es mich am Gebrauch des Gürtels hindert.«

Nachdem Stefan ins Jahr 1944 zurückgekehrt und das Hauptlabor des Instituts unter seine Kontrolle gebracht haben würde, mußte er zwei entscheidende Zeitreisen unternehmen - beide in den März 1944, beide nur wenige Tage weit in die Zukunft -, um die Zerstörung des Instituts sicherzustellen. Diese beiden Reisen mußten sorgfältig geplant werden, damit er genau zur gewünschten Zeit an genau dem gewünschten Ort ankam. Daß so präzise Berechnungen im Jahre 1944 unmöglich waren, lag nicht nur an der fehlenden Computerunterstützung, sondern auch den ungenauen Werten für Rotationswinkel und Rotationsgeschwindigkeit der Erde sowie der Planetenfaktoren, die Einfluß auf solche Reisen hatten, so daß Zeitreisende des Instituts ihre Ziele oft um Kilometer und Minuten verfehlten. Mit den von dem PC errechneten Werten würde Stefan das Tor so programmieren können, daß es ihn auf den Meter und die Sekunde genau ablieferte.

Sie wälzten alle Bücher, die Thelma gekauft hatte. Dabei handelte es sich nicht nur um Mathematik- und Physikbücher, sondern auch um Darstellungen des Zweiten Weltkriegs, aus denen hervorging, wo die Hauptprotagonisten sich an bestimmten Tagen aufgehalten hatten.

Die komplizierten Berechnungen erforderten Zeit, und diese Zeit mußte Stefan auch Gelegenheit geben, sich von seiner Schußwunde zu erholen. Bei seiner Rückkehr ins Jahr 1944 würde er sich in die Höhle des Löwen wagen und trotz Nervengas und einer erstklassigen Pistole rasch und gewandt handeln müssen, um nicht erschossen zu werden. »In zwei Wochen«, meinte er. »Arm und Schulter dürften in zwei Wochen wieder so weit beweglich sein, daß ich’s riskieren kann.«

Ob er sich zwei oder zehn Wochen Zeit ließ, spielte keine Rolle, denn wenn er Kokoschkas Gürtel nahm, würde er auf jeden Fall nur elf Minuten nach Kokoschkas Abreise ins Institut zurückkehren. Das Datum seiner Abreise aus der Gegenwart hätte keinen Einfluß auf seine Rückkehr im Jahre 1944.

Ihre einzige Sorge war, die Gestapo könnte sie aufspüren und ein Mordkommando ins Jahr 1989 entsenden, um sie zu liquidieren, bevor Stefan in seine Zeit zurückkehren und seinen Plan in die Tat umsetzen konnte. Und diese einzige Sorge wog schwer genug.

Am Sonntagnachmittag legten sie eine Pause ein und fuhren sehr vorsichtig und stets auf plötzlich herabzuckende Blitze und Donnerschläge gefaßt zum Einkaufen.

Laura, der noch immer die Aufmerksamkeit der Medien galt, blieb im Auto, während Chris und Stefan durch den Supermarkt zogen. Zum Glück blieben die Blitze aus, und sie kehrten mit einem Kofferraum voller Lebensmittel in die Villa zurück.

Nach dem Abendessen wechselte Laura Stefans Verband. Die eindringende Kugel hatte auf seiner Brust einen riesigen Bluterguß mit der Eintrittswunde ungefähr in dessen Mitte hinterlassen, die Austrittswunde auf dem Rücken war von einem kleineren Bluterguß umgeben. Die Nahtfäden und die unterste Lage des alten Verbandes waren von getrockneter Wundflüssigkeit überkrustet. Auch nachdem Laura die Wunden so gut wie möglich gesäubert hatte, ohne diesen Schorf aufzuweichen, zeigten sich nirgends Eiterspuren, die auf eine schwere Infektion hätten schließen lassen. Natürlich konnte sich im Schußkanal ein Abszeß gebildet haben, aber das war wenig wahrscheinlich, weil Stefan kein Fieber hatte.

»Nimm weiter dein Penicillin«, sagte Laura, »dann kommt alles in Ordnung, glaube ich. Doc Brenkshaw hat gute Arbeit geleistet.«

Während Laura und Stefan am Montag und Dienstag endlos lange Stunden am Computer verbrachten, sah Chris fern, suchte in den Bücherregalen nach Lesestoff und beschäftigte sich im allgemeinen mit sich selbst. Er kam gelegentlich ins Arbeitszimmer, blieb ein paar Minuten hinter ihnen stehen und sah zu, wie sie am Computer arbeiteten. Bei einem dieser Besuche meinte er: »In >Zurück in die Zukunft< haben sie ein Zeitreiseauto gehabt, in dem sie bloß auf ein paar Knöpfe am Instrumentenbrett drücken mußten - und peng! waren sie unterwegs. Warum ist im richtigen Leben nichts so einfach wie im Film?«

Am Dienstag, dem 18. Januar 1989, ließen sie sich nicht blicken, während der Gärtner den Rasen mähte und einige Büsche stutzte. Er war seit vier Tagen der erste Mensch, den sie auf dem Grundstück sahen; bisher hatten keine Vertreter an der Haustür geklingelt - nicht einmal Zeugen Jehovas, um für ihre Zeitschrift »Wachtturm« zu werben.

»Hier sind wir sicher«, stellte Stefan fest. »Unser Aufenthalt in diesem Haus ist offenbar nicht bekanntgeworden - sonst hätten wir längst Besuch von der Gestapo bekommen.«

Trotzdem ließ Laura die Alarmanlage fast ununterbrochen eingeschaltet. Und nachts träumte sie, daß das Schicksal ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinien durchsetzte, Chris zu Tode kam und sie eines Tages erwachte und sich im Rollstuhl wiederfand.

9

Sie sollten um 8.00 Uhr ankommen, damit sie reichlich Zeit hätten, das Gebiet zu durchsuchen, in dem der Erkundungstrupp zwar nicht Krieger, aber die Frau und den Jungen aufgespürt hatte. Aber als Obersturmführer Klietmann sich blinzelnd in einer 45 Jahre von seiner Zeit entfernten Ära wiederfand, erkannte er sofort, daß sie einige Stunden Verspätung hatten. Die Sonne stand zu hoch über dem Horizont. Und die Temperatur betrug etwas 24° C - zu warm für einen frühen Wintermorgen in der Wüste.

Vom Himmel zuckte ein Blitzstrahl wie ein grellweißer Sprung in einer blauglasierten Schale. Weitere Sprünge öffneten sich, und über ihnen sprühten Funken, als wüte dort ein Elefant in irgendeinem himmlischen Porzellanladen.

Als der Donner verhallte, drehte Klietmann sich um, weil er sich davon überzeugen wollte, daß Stein, Bracher und Hubatsch sicher angekommen waren. Die drei standen wie erwartet da: jeder mit seinem Aktenkoffer in der Hand und seiner Sonnenbrille in der Brusttasche seines teuren Anzugs.

Trotzdem gab es ein Problem, denn keine zehn Meter hinter dem Unterscharführer und den beiden Rottenführern standen zwei weißhaarige Damen in pastellfarbenen Stretchhosen und pastellfarbenen Blusen neben einem in der Nähe des Seitenportals einer Kirche geparkten weißen Auto und starrten Klietmann und seine Leute verblüfft an. Die beiden alten Damen hielten mit Aluminiumfolie bedeckte Schüsseln in den Händen.

Klietmann sah sich um und stellte fest, daß sie auf dem Parkplatz hinter einer Kirche angekommen waren. Außer dem Wagen, der den alten Damen zu gehören schien, standen dort noch zwei Autos, aber es gab keine weiteren Augenzeugen. Der Parkplatz war von einer Mauer umgeben, so daß der einzige Weg ins Freie an den alten Damen vorbei und durchs Tor führte.

Getreu dem Motto »Frechheit siegt!« marschierte Klietmann geradewegs auf die Frauen zu, als wäre es ganz normal, sich aus dem Nichts zu materialisieren, und seine Männer folgten ihm. Die beiden alten Damen beobachteten die Näherkommenden wie hypnotisiert.

»Guten Morgen, Ladies.« Wie Krieger hatte Klietmann amerikanisches Englisch gelernt, um vielleicht eines Tages als Agent eingesetzt werden zu können, aber er war seinen deutschen Akzent trotz aller Bemühungen nie ganz losgeworden. Obwohl seine Uhr die hiesige Ortszeit anzeigte, wußte er, daß sie nachging, deshalb fragte er: »Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist?«

Die beiden starrten ihn an.

»Die Uhrzeit?« verdeutlichte er.

Die Dame in Pastellgelb verdrehte ihr Handgelenk, ohne die Schüssel loszulassen, und sah auf ihre Armbanduhr. »Äh, zehn Uhr vierzig.«

Also hatten sie zwei Stunden und vierzig Minuten Verspätung! Sie durften nicht erst Zeit mit der Suche nach einem Wagen verlieren, dessen Zündung sie kurzschließen konnten -vor allem nicht, wenn ein durchaus geeignetes Fahrzeug mit dem Zündschlüssel im Schloß bereits vor ihnen stand. Klietmann war bereit, die beiden Frauen zu ermorden, um sich den Wagen anzueignen. Aber er durfte ihre Leichen nicht auf dem Parkplatz zurücklassen; die Polizei würde alarmiert werden, sobald sie aufgefunden wurden, und dann nach ihrem Auto fahnden - eine häßliche Erschwernis. Sie würden die beiden Leichen in den Kofferraum stopfen und mitnehmen müssen.

»Warum seid ihr uns erschienen?« fragte die Dame in Pastellblau. »Seid ihr Engel?«

Klietmann überlegte, ob sie senil sei. Engel in Nadelstreifanzügen? Dann wurde ihm klar, daß sie neben einer Kirche standen und auf wundersame Weise erschienen waren, so daß ein frommer Mensch sie logischerweise unabhängig von ihrer Aufmachung für Engel halten konnte. Vielleicht würde es also doch nicht nötig sein, Zeit damit zu verlieren, die beiden zu ermorden. »Ja, Ma’am, wir sind Engel«, bestätigte er, »und Gott braucht Ihren Wagen.«

»Meinen Toyota hier?« fragte die Pastellgelbe.

»Ja, Ma’am.« Die Fahrertür stand offen, und Klietmann warf seinen Aktenkoffer auf den Vordersitz. »Wir sind mit einem dringenden Auftrag Gottes unterwegs, Sie haben uns vor Ihren Augen aus dem Himmelstor treten sehen, und wir brauchen einen Wagen.«

Bracher und Stein waren auf die andere Seite des Toyotas gegangen, hatten die Türen geöffnet und waren eingestiegen.

»Shirley, du bist auserwählt worden, deinen Wagen herzugeben«, sagte die Pastellblaue.

»Sie bekommen ihn von Gott zurück«, versprach Klietmann ihr, »sobald unser Werk auf Erden getan ist.« Weil er sich an die kriegsbedingte Benzinrationierung im Dritten Reich erinnerte und nicht wußte, ob Treibstoff im Jahre 1989 knapp war, fügte er hinzu: »Unabhängig davon, wieviel Benzin jetzt im Tank ist, bekommen Sie ihn natürlich voll zurück, und er wird niemals mehr leer sein. Sie wissen schon - wie bei der Speisung der Fünftausend.«

»Aber auf dem Rücksitz steht Kartoffelsalat für den KirchenBrunch«, sagte die Pastellgelbe.

Hubatsch hatte bereits die hintere Tür auf der Fahrerseite geöffnet und die Schüssel mit Kartoffelsalat gefunden, die er jetzt herausholte und vor die Pastellgelbe auf den Asphalt stellte.

Klietmann stieg ein, schloß die Fahrertür, hörte Hubatsch seine Tür schließen, fand den Zündschlüssel im Schloß, ließ den Motor an und fuhr über den Parkplatz davon. Als er kurz vor der Straße einen Blick in den Rückspiegel warf, standen die beiden alten Damen noch immer mit ihren Schüsseln in den Händen da und starrten ihnen nach.

10

Mit der Zeit wurden ihre Berechnungen immer genauer, und daneben trainierte Stefan seinen linken Arm und die Schulter, soweit er das wagen durfte, ohne daß der Arm beim Verheilen der Wunde steif wurde oder der Muskeltonus verlorenging. Als ihre erste Woche in Palm Springs sich am 21. Januar, einem Samstag, ihrem Ende näherte, schlossen sie ihre Berechnungen ab und hatten nun die genaue Zeit und die genauen Raum-ZeitKoordinaten zur Verfügung, die Stefan für die nach seiner Rückkehr ins Jahr 1944 geplanten Zeitreisen benötigen würde.

»Jetzt brauche ich nur noch etwas Zeit, bis die Wunde total abgeheilt ist«, sagte er, während er vom Computer aufstand und seinen linken Arm probeweise im Kreis bewegte.

»Du bist vor elf Tagen angeschossen worden«, stellte sie fest. »Hast du noch immer Schmerzen?«

»Gelegentlich. Tiefsitzende, dumpfe Schmerzen. Und nicht die ganze Zeit. Aber die Kraft ist noch nicht wieder da. Am besten warte ich noch ein paar Tage, glaube ich. Falls der Arm bis Mittwoch wieder einigermaßen in Ordnung ist, werde ich an diesem Fünfundzwanzigsten ins Institut zurückkehren. Jedenfalls nicht später als kommenden Mittwoch.«

In dieser Nacht schrak Laura aus einem Alptraum hoch, in dem sie wieder im Rollstuhl saß und das Schicksal in Gestalt eines gesichtslosen Mannes in schwarzer Robe emsig damit beschäftigt war, Chris aus der Realität auszuradieren, als wäre der Junge nur eine Bleistiftzeichnung auf einer Glasscheibe. Sie blieb in Schweiß gebadet einige Zeit im Bett sitzen und horchte angestrengt auf Geräusche im Haus, ohne etwas anderes zu vernehmen als das sanfte, gleichmäßige Atmen ihres Sohnes neben ihr im Bett.

Laura konnte nicht wieder einschlafen, lag wach im Bett und dachte über Stefan Krieger nach. Er war ein eigenartiger Mann: sehr verschlossen und manchmal schwer berechenbar.

Seit er ihr am Mittwoch vergangener Woche erklärt hatte, er sei ihr Beschützer geworden, weil er sich in sie verliebt und deshalb den Wunsch gehabt habe, das ihr vorbestimmte Leben zum Besseren zu korrigieren, hatte er nicht mehr von Liebe gesprochen. Er hatte sein Geständnis nicht wiederholt, ihr keine bedeutungsvollen Blicke zugeworfen und nicht die Rolle des schmachtenden Verehrers gespielt. Er hatte sein Anliegen vorgetragen und war bereit, ihr Zeit zu geben, über ihn nachzudenken und ihn kennenzulernen, bevor sie sich entschied. Sie hatte den Verdacht, daß er notfalls jahrelang warten würde, ohne sich jemals zu beschweren. Er besaß die aus extremen Widrigkeiten entstandene Geduld, die Laura aus eigener Erfahrung kannte.

Er war still, oft nachdenklich und manchmal regelrecht melancholisch, was sie auf die Schrecken zurückführte, die er in seinem längst versunkenen Deutschland erlebt hatte. Vielleicht basierte diese depressive Grundeinstellung auch auf Dingen, die er selbst getan und seither bereuen gelernt hatte - Dinge, die sich vielleicht nie wiedergutmachen ließen. Schließlich hatte er selbst gesagt, für ihn sei ein Platz in der Hölle reserviert. Von seiner Vergangenheit hatte er nur das preisgegeben, was er Chris und ihr vor über zehn Tagen in ihrem Motelzimmer erzählt hatte. Sie spürte jedoch, daß er bereit war, ihr rückhaltlos alles zu erzählen - für ihn vorteilhafte Einzelheiten ebenso wie nachteilige -, sobald sie selbst es so wollte.

Trotz seines Kummers besaß Stefan einen leisen Sinn für Humor. Er war nett zu Chris und verstand es, den Jungen zum Lachen zu bringen, was Laura ihm als Pluspunkt anrechnete. Sein Lächeln war warm und herzlich.

Sie liebte ihn noch immer nicht und bezweifelte, daß sie ihn jemals lieben würde. Sie fragte sich, worauf diese Gewißheit basierte. Tatsächlich lag sie über eine Stunde lang in ihrem dunklen Schlafzimmer und stellte sich diese Frage, bis sie schließlich zu vermuten begann, daß sie ihn deshalb nicht lieben konnte, weil er nicht Danny war. Ihr Danny war ein einzigartiger Mann gewesen, mit dem sie eine fast vollkommene Liebe erlebt hatte, soweit das möglich war. Wenn Stefan Krieger sich jetzt um sie bemühte, würde er ständig mit einem Geist konkurrieren müssen.

Sie erkannte die Tragik ihrer Lage und war sich trübe bewußt, daß ihre Einstellung ihr ewige Einsamkeit garantierte. Im Grunde ihres Herzens wollte sie lieben und geliebt werden, aber in ihrer Beziehung zu Stefan sah sie nichts als unerwiderte Leidenschaft auf seiner Seite, unerfüllte Hoffnungen auf der ihren.

Neben ihr murmelte Chris im Schlaf und seufzte dann.

Ich liebe dich, Schatz, dachte Laura. Ich liebe dich so sehr.

Ihr Sohn, das einzige Kind, das sie jemals haben würde, war jetzt und in absehbarer Zukunft der Mittelpunkt ihres Daseins, der Hauptgrund für ihr Weiterleben. Wenn ihm etwas zustieße, würde sie allen Sinn für die dunkle Komik des Lebens verlieren, und diese Welt, auf der Tragödie und Komödie allüberall nebeneinander auftraten, würde für sie zu einem ausschließlich tragischen Ort werden: zu düster und traurig, um noch länger ertragen zu werden.

11

Drei Straßenblocks von der Kirche entfernt bog Erich Klietmann vom Palm Canyon Drive ab und parkte den weißen Toyota in einer Seitenstraße des Geschäftsviertels von Palm Springs. Auf den Gehsteigen herrschte dichtes Gedränge aus Kauflustigen, die einen Schaufensterbummel machten. Einige der jüngeren Frauen trugen Shorts und freizügige Tops, die Klietmann nicht nur empörend unsittlich, sondern geradezu schamlos erschienen, weil ihre Trägerinnen sich ungeniert in einem Aufzug zeigten, der in seiner Zeit undenkbar gewesen wäre. Die NSDAP würde solche Schamlosigkeiten in Zukunft mit eiserner Faust unterdrücken; nach ihrem Endsieg würde eine andere Welt mit strikt erzwungener Sittlichkeit entstehen, in der diese barfüßigen, BH-losen Frauen Haftstrafen und Umerziehungsmaßnahmen riskierten, wenn sie sich so zur Schau stellten. Während Klietmann beobachtete, wie Gesäßbacken sich unter hautengen Shorts bewegten, Brüste unbehindert unter dünnen T-Shirts auf und ab hüpften, litt er jedoch am meisten darunter, daß er jede dieser hübschen Frauen begehrte, auch dann, wenn es sich um Vertreterinnen minderwertiger Rassen handelte, die der Führer zur Ausrottung bestimmt hatte.

SS-Rottenführer Stein, der neben Klietmann stand, hatte einen Stadtplan von Palm Springs auseinandergefaltet, den der Erkundungstrupp, der die Frau und den Jungen aufgespürt hatte, ihnen aus der Zukunft mitgebracht hatte. »Wo schlagen wir zu?« fragte er.

Klietmann zog den Zettel, den Dr. Jüttner ihm im Hauptlabor gegeben hatte, aus der Innentasche seiner Jacke und las den Text laut vor: »Am Freitag, dem 27. Januar, um 11.20 Uhr wird die Frau etwa zehn Kilometer nördlich der Stadtgrenze von Palm Springs City auf der Staatsstraße 111 von einem Beamten der California Highway Patrol festgenommen. Sie fährt einen schwarzen Buick Riviera. Der Junge befindet sich in ihrer Begleitung und wird in Schutzhaft genommen. Auch Krieger scheint mit ihr unterwegs gewesen zu sein; er konnte offenbar flüchten, aber wir wissen nicht, wie ihm das gelungen ist.«

Stein hatte bereits eine Route festgelegt, die sie aus Palm Springs hinaus und auf die Staatsstraße 111 führen würde.

»Wir haben noch einunddreißig Minuten Zeit«, sagte Klietmann mit einem Blick auf die Borduhr.

»Das schaffen wir leicht«, versicherte Stein ihm. »In einer Viertelstunde sind wir da.«

»Wenn wir früher da sind«, fuhr Klietmann fort, »können wir Krieger erledigen, bevor er dem Polizeibeamten entkommt. Jedenfalls müssen wir an Ort und Stelle sein, bevor die Frau und der Junge festgenommen werden, denn aus dem Gefängnis sind sie weit schwieriger rauszuholen.« Er drehte sich nach Bracher und Hubatsch auf dem Rücksitz um. »Kapiert?«

Die beiden nickten, aber dann tippte SS-Unterscharführer Hubatsch sich auf die Brusttasche seines Anzugs und wollte wissen: »Herr Obersturmführer, was ist mit unseren Sonnenbrillen?«

»Was soll mit denen sein?« fragte Klietmann ungeduldig.

»Sollen wir sie jetzt aufsetzen? Passen wir uns der hiesigen Bevölkerung dadurch besser an? Ich habe die Menschen auf der Straße beobachtet, und obwohl viele von ihnen Sonnenbrillen tragen, gibt’s auch viele, die keine haben.«

Klietmann betrachtete die Passanten, wobei er sich bemühte, sich nicht von spärlich bekleideten Frauen ablenken zu lassen, und stellte fest, daß Hubatsch recht hatte. Außerdem wurde ihm klar, daß kein einziger der Männer auf der Straße in dem von jungen Führungskräften angeblich so bevorzugten Power Look herumlief. Vielleicht saßen alle Jungmanager um diese Zeit in ihren Büros. Unabhängig von dem Grund für das Fehlen dunkler Anzüge und schwarzer Bally-Slipper im Straßenbild kam Klietmann sich auffällig vor, obwohl er und seine Männer in einem Auto saßen. Da viele Passanten Sonnenbrillen trugen, war es vielleicht besser, welche aufzusetzen, um wenigstens etwas mit einem Teil der Einheimischen gemeinsam zu haben.

Als der Obersturmführer seine Ray-Ban aufsetzte, folgten Bracher, Hubatsch und Stein seinem Beispiel.

»So, jetzt geht’s los!« sagte Klietmann.

Aber bevor er die Handbremse lösen und den Gang einlegen konnte, klopfte jemand ans Fenster der Fahrertür. Ein uniformierter Polizeibeamter.

12

Laura spürte, daß ihr Leidensweg auf irgendeine Weise bald zu Ende sein würde. Sie würden mit ihrem Plan, das Institut zu zerstören, Erfolg haben oder dabei den Tod finden, und Laura war fast an dem Punkt angelangt, an dem sie, unabhängig davon, wie es ausginge, nur noch ein Ende des Schreckens herbeisehnte.

Am Mittwoch, dem 25. Januar, war Stefans linke Schulter morgens noch etwas steif, aber er hatte keine akuten Schmerzen mehr. Die leichte Gefühllosigkeit von Hand und Arm hatte sich gegeben, was bedeutete, daß die Kugel keine Nerven verletzt hatte. Da er jeden Tag vorsichtig trainiert hatte, besaß sein linker Arm wieder mehr als die Hälfte seiner früheren Kraft - gerade genug, um ihn zuversichtlich sein zu lassen, daß er seinen Plan werde ausführen können. Aber Laura merkte ihm an, daß die bevorstehende Reise ihm Angst machte.

Er legte Kokoschkas Rückkehrgürtel an, den Laura in der Nacht, in der Stefan verletzt bei ihr erschienen war, aus ihrem Safe mitgenommen hatte. Seine Angst blieb unverkennbar, aber sobald er den Gürtel angelegt hatte, wurde sie von eiserner Entschlossenheit überlagert.

Um 10 Uhr schluckten sie alle - auch Chris - in der Küche je zwei der Kapseln, die sie vor der Wirkung des tödlichen Nervengases Vexxon schützen würden. Sie spülten das Gegenmittel mit je einem Glas Hi-C Orangendrink hinunter.

Die drei Uzis, einer der Revolver Kaliber 38, die Colt Commander Mark IV mit Schalldämpfer und ein kleiner Nylonrucksack mit Büchern lagen bereits im Auto.

Die beiden Vexxon-Druckbehälter aus rostfreiem Stahl befanden sich noch im Kofferraum des Buicks. Nach der Lektüre einer der Informationsbroschüren in den blauen Plastikbeuteln an den Behältern hatte Stefan beschlossen, nur einen der Kanister mitzunehmen. Vexxon war hauptsächlich für den Einsatz in geschlossenen Räumen entwickelt worden, es sollte den Gegner in Kasernen, Unterständen und Bunkern erledigen und war für die Anwendung im Freien weniger geeignet. Im Freien verflüchtigte sich das Gas zu sehr und zerfiel unter der Einwirkung von Sonnenlicht zu schnell, um außerhalb eines Radius von 200 Metern vom Abblaspunkt wirksam zu sein. Der Inhalt eines voll geöffneten Zylinders genügte jedoch, um ein Gebäude von 500 Quadratmeter Grundflächefläche in wenigen Minuten zu kontaminieren, was für Stefans Zwecke völlig ausreichte.

Um 10.35 Uhr verließen sie die Villa des Ehepaar Gaines, stiegen in den Buick und fuhren los. Ihr Ziel war das Wüstengebiet an der Staatsstraße 111 nördlich von Palm Springs. Als Laura sich vergewisserte, daß Chris angeschnallt war, sagte der Junge: »Siehst du, wenn du jetzt ein Zeitreise-Auto hättest, könnten wir bequem ins Jahr 1944 zurückfahren.«

Schon vor einigen Tagen waren sie nachts in der Wüste unterwegs gewesen, um einen geeigneten Ort für Stefans Abreise zu suchen. Sie mußten die geographischen Koordinaten dieses Punktes genau ermitteln, um die Berechnungen durchführen zu können, die Stefan nach Beendigung seiner Arbeit im Jahre 1944 eine unauffällige Rückkehr ermöglichen würden.

Stefan wollte das Ventil des Vexxon-Zylinders öffnen, bevor er auf den Knopf des Rückkehrgürtels drückte, damit das Nervengas bereits austrat, wenn er durch das Tor ins Institut zurückkehrte und alle tötete, die sich an diesem Tag des Jahres 1944 im Hauptlabor des Instituts aufhielten. Das bedeutete jedoch, daß er schon am Ausgangspunkt seiner Reise eine bestimmte Menge des tödlichen Kampfstoffs freisetzen würde, was nur in einem unbesiedelten Gebiet gefahrlos möglich war. Die Straße vor dem zur Villa gehörenden Grundstück und die Nachbarhäuser hätten im Wirkungsbereich des Nervengases gelegen, und Stefan wollte nicht am Tod Unbeteiligter schuld sein.

Darüber hinaus hatte Laura weitere Bedenken geäußert: Obwohl das Gas angeblich nur 40 bis 60 Minuten giftig war, befürchtete sie, von seinen Rückständen könnten langfristig unbekannte toxische Wirkungen ausgehen. Sie hatte nicht die Absicht, auf Jasons und Thelmas Grundstück irgendwelche gefährlichen Stoffe zurückzulassen.

Der Tag war sonnig und klar.

Sie waren erst einige Straßenblocks weit gefahren und befanden sich am Beginn einer Senke zwischen riesigen Dattelpalmen, als Laura glaubte, in dem Himmelssegment, das ihr der Rückspiegel zeigte, einen seltsamen Lichtreflex beobachtet zu haben. Wie würden Blitze bei wolkenlos blauem Himmel aussehen? Nicht so gleißend hell wie bei wolkenverhangenem Gewitterhimmel, denn sie würden mit der Helligkeit der Sonne konkurrieren müssen. Vermutlich würden sie der Erscheinung gleichen, die Laura gesehen zu haben glaubte: einem seltsamen Lichtreflex.

Sie bremste, aber der Buick hatte bereits den tiefsten Punkt der Senke erreicht, so daß im Rückspiegel nur noch die Straße zu sehen war. Sie glaubte, auch ein Grollen wie entfernten Donner gehört zu haben, aber sie war sich ihrer Sache wegen des lauten Brummens der Klimaanlage ihres Wagens nicht ganz sicher. Sie hielt rasch am Straßenrand und beugte sich vor, um die Belüftung abzustellen.

»Was ist los?« fragte Chris, als sie das Automatikgetriebe in Parkstellung brachte, ihre Tür auf stieß und aus dem Wagen sprang.

Auch Stefan öffnete seine hintere Tür und stieg aus. »Laura?«

Sie legte eine Hand über die Augen und suchte den beschränkt sichtbaren Himmel ab. »Hast du das gehört, Stefan?«

In der warmen, trockenen Wüstenluft verhallte langsam ein fernes Rumpeln.

»Könnte Düsenlärm gewesen sein«, meinte Stefan.

»Nein! Als ich zuletzt auf Düsenlärm getippt habe, sind sie gekommen!«

Das Licht des Himmels pulsierte ein letztes Mal. Sie sahen keinen richtigen Blitz, keine über den Himmel zuckende Lichtspur, sondern nur deren Reflex in den oberen Schichten der Atmosphäre: ein pulsierendes weißes Aufleuchten im Himmelsblau über ihnen.

»Sie sind da«, stellte Laura fest.

»Ja«, stimmte Stefan zu.

»Irgendwo auf der Fahrt zur Hundertelfer werden wir angehalten, vielleicht von einer Verkehrsstreife, oder wir haben einen Unfall, der von der Polizei aufgenommen wird ... und dann tauchen sie auf. Stefan, wir müssen umkehren, ins Haus zurückfahren!«

»Das wäre zwecklos«, behauptete er.

Auch Chris war ausgestiegen. »Er hat recht, Mom. Was wir jetzt tun, hat keinen Einfluß mehr. Diese Zeitreisenden sind hergekommen, weil sie schon einen Blick in die Zukunft geworfen haben und genau wissen, wo sie uns finden werden -vielleicht in einer halben Stunde, vielleicht schon in zehn Minuten. Ob wir ins Haus zurückfahren oder weiterfahren, spielt keine Rolle; sie haben uns bereits irgendwo gesehen -möglicherweise sogar wieder im Haus. Wir können tun, was wir wollen - unsere Wege kreuzen sich auf jeden Fall!«

Schicksal.

»Scheiße!« sagte sie und versetzte dem Auto einen Tritt, der nichts nützte und sie nicht einmal erleichterte. »Ich hasse dieses verdammte Spiel. Wie soll man gegen gottverdammte Zeitreisende gewinnen? Das kommt mir vor wie Blackjack mit Gott als Bankhalter.«

Die Blitze waren erloschen.

»Eigentlich ist das ganze Leben eine Partie Blackjack mit Gott als Bankhalter, stimmt’s?« fuhr Laura fort. »Schlimmer kann’s also kaum werden. Steig ein, Chris, wir müssen weiter.«

Auf der Fahrt durch die westlichen Außenbezirke der Fremdenverkehrsstadt waren Lauras Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie wußte, daß der Überfall ohne Vorwarnung erfolgen würde, dann, wenn sie ihn am wenigsten erwarteten, also war sie auf Gefahren von allen Seiten gefaßt.

Über den Palm Canyon Drive erreichten sie die Staatsstraße 111, ohne angehalten zu werden. Vor ihnen lagen 19 Kilometer einer hauptsächlich durch kahle Wüste führenden Strecke, bis die 111 auf die Interstate 10 stieß.

13

In der Hoffnung, eine Katastrophe verhindern zu können, kurbelte Oberführer Klietmann sein Fenster herunter und lächelte dem Polizeibeamten aus Palm Springs zu, der an die Scheibe geklopft hatte, um auf sich aufmerksam zu machen, und sich jetzt bückte und ihn prüfend anstarrte. »Was gibt’s Officer?« »Haben Sie den roten Randstein nicht gesehen, als Sie hier geparkt haben?«

»Den roten Randstein?« wiederholte Klietmann lächelnd, während er sich fragte, wovon zum Teufel der Cop redete.

»Hören Sie, Sir«, fragte der Uniformierte in spielerisch neugierigem Tonfall, »wollen Sie etwa behaupten, Sie hätten den roten Randstein nicht gesehen?«

»Doch, Sir, natürlich habe ich ihn gesehen!«

»Ihnen hätte ich auch nicht zugetraut, daß Sie schwindeln«, sagte der Cop, als kenne er Klietmann und vertraue auf seinen guten Ruf, was den Obersturmführer verblüffte. »Okay, Sir, warum haben Sie dann hier geparkt, wenn Sie den roten Randstein gesehen haben?«

»Ah, ich verstehe«, murmelte Klietmann, »rote Randsteine bedeuten Parkverbot. Ja, natürlich.«

Der Uniformierte blinzelte ihm zu. Er betrachtete Stein, der auf dem Beifahrersitz saß, und konzentrierte sich dann auf Bracher und Hubatsch auf den Rücksitzen, denen er lächelnd zunickte.

Klietmann brauchte nicht erst zu seinen Leuten hinüberzusehen, um zu wissen, wie nervös sie waren. Die Luft im Wagen knisterte förmlich vor Spannung.

Der Polizeibeamte wandte sich erneut an Klietmann und erkundigte sich lächelnd: »Leute, ihr seid alle vier Geistliche, stimmt’s?«

»Geistliche?« wiederholte Klietmann verständnislos.

»Ich kombiniere gern ein bißchen«, erklärte ihm der Cop. »Ich bin kein Sherlock Holmes, aber auf den Aufklebern an eurer Stoßstange steht >I love Jesus< und >Christ ist erstanden< und in Palm Springs findet ein Baptistenkongreß statt, und ihr tragt alle dunkle Anzüge.«

Deshalb hatte er zuvor angenommen, Klietmann werde garantiert nicht schwindeln: Er hielt sie für Baptistengeistliche.

»Sie haben recht«, bestätigte Klietmann sofort. »Wir sind zum Baptistenkongreß hier, Officer. Tut mir leid, daß wir im Parkverbot gestanden haben, aber bei mir zu Hause gibt’s keine roten Randsteine. Wenn Sie mich jetzt ...«

»Woher kommen Sie denn?« wollte der Uniformierte wissen. Es war nicht mißtrauisch, sondern durchaus freundlich gemeint. Klietmann wußte viel über die Vereinigten Staaten, aber nicht genug für ein Gespräch dieser Art, dessen Richtung er überhaupt nicht steuern konnte. Soviel er sich erinnerte, kamen die Baptisten aus dem Süden; da er nicht wußte, ob es sie auch im Norden, Osten oder Westen gab, versuchte er, sich an einen Staat im Süden zu erinnern. »Ich bin aus Georgia«, antwortete er, bevor ihm klarwurde, wie unwahrscheinlich diese Behauptung klingen mußte, wenn sie mit deutschem Akzent vorgebracht wurde.

Das Lächeln des Uniformierten wurde schwächer. Er sah an Klietmann vorbei zu Stein hinüber und fragte: »Und woher sind Sie, Sir?«

Stein folgte dem Beispiel seines Obersturmführers, aber sein Akzent war noch ausgeprägter, als er sagte: »Georgia.«

Und vom Rücksitz aus beteuerten Bracher und Hubatsch im Chor, bevor sie gefragt werden konnten: »Georgia, wir sind aus Georgia« - als wäre das ein Zauberwort, das den Polizeibeamten in Bann schlagen werde.

Der Cop lächelte jetzt nicht mehr. Statt dessen runzelte er die Stirn und forderte Klietmann auf: »Sir, steigen Sie bitte einen Augenblick aus?«

»Natürlich, Officer«, antwortete Klietmann und begann seine Tür zu öffnen. Dabei fiel ihm auf, daß der Uniformierte einige Schritte zurückgetreten war und seine Hand auf den Griff seines Dienstrevolvers gelegt hatte. »Aber wir müssen dringend zu einer Andacht und .«

Auf dem Rücksitz öffnete Hubatsch die Schlösser seines Aktenkoffers und riß die Uzi so schnell heraus, daß es jedem Leibwächter des amerikanischen Präsidenten zur Ehre gereicht hätte. Er kurbelte sein Fenster nicht erst herunter, sondern drückte die Mündung der Waffe an die Scheibe und eröffnete das Feuer auf den Cop, bevor der seinen Revolver ziehen konnte. Die Scheibe zerplatzte im Kugelhagel. Der von mindestens 20 Kugeln durchsiebte Polizist kippte rückwärts auf die Fahrbahn. Reifen quietschten, als ein Fahrer mit aller Kraft bremste, um den Erschossenen nicht zu überrollen, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite zersplitterten Schaufenster, als verirrte Geschosse den Laden eines Herrenausstatters trafen.

Geistesgegenwärtig und mit kühler Gelassenheit, die Klietmann stolz darauf machte, der SS anzugehören, war Bracher aus dem Toyota gesprungen und beschrieb jetzt mit hämmernder Uzi einen weiten Bogen, um das Chaos zu vergrößern und ihnen die Flucht zu erleichtern. Überall zersplitterten Schaufensterscheiben; nicht nur die von Boutiquen in der Seitenstraße, in der sie parkten, sondern sogar noch am Palm Canyon Drive jenseits der Kreuzung. Menschen kreischten, warfen sich auf den Gehsteigen zu Boden oder suchten in Hauseingängen Deckung. Klietmann sah, wie vorbeifahrende Autos auf dem Palm Canyon Drive getroffen wurden; anscheinend hatte es auch einige Fahrer erwischt, die aber vielleicht auch nur in Panik geraten waren und deshalb die Kontrolle über ihre Wagen verloren. Ein beiger Mercedes streifte die Flanke eines Lieferwagens, und ein schnittiger roter Sportwagen geriet auf den Gehsteig, schleuderte gegen den Stamm einer Palme und bohrte sich dann in die Auslage einer Geschenkboutique.

Klietmann knallte seine Tür zu und löste die Handbremse. Sobald er hörte, daß Bracher wieder eingestiegen war, legte er den Gang ein und gab Gas. Nach einer Linkskurve schoß der weiße Toyota in Richtung Norden auf den Palm Canyon Drive hinaus. Klietmann merkte sofort, daß er sich auf einer Einbahnstraße befand, die er in falscher Richtung befuhr. Er wich entgegenkommenden Fahrzeugen fluchend aus. Der Toyota schwankte wild, weil er schlechte Stoßdämpfer hatte, und das aufspringende Handschuhfach entleerte seinen Inhalt auf Steins Schoß. An der nächsten Kreuzung bog Klietmann rechts ab. Einen Straßenblock weiter überfuhr er eine rote Ampel, verfehlte mehrere Passanten auf dem Zebrastreifen nur knapp und bog nach links auf eine weitere breite Straßen ab, auf der nach Norden gefahren werden durfte.

»Uns bleiben nur noch einundzwanzig Minuten«, stellte Stein fest, indem er auf die Borduhr deutete.

»Sagen Sie mir lieber, wohin ich fahren soll«, verlangte Klietmann. »Ich hab’ mich total verfahren.«

»Nein, das haben Sie nicht«, widersprach Stein und wischte den Inhalt des Handschuhfachs - Autopapiere, Reserveschlüssel, Papierservietten, ein Paar weiße Handschuhe und ein halbes Dutzend Portionspackungen Ketchup und Senf - von dem Stadtplan, der noch immer auf seinen Knien lag. »Sie haben sich nicht verfahren. Diese Straße führt dorthin, wo der Palm Canyon Drive aufhört, Einbahnstraße zu sein. Von dort aus fahren wir geradeaus nach Norden weiter bis zur Staatsstraße hundertelf.«

14

Ungefähr zehn Kilometer nördlich von Palm Springs, wo weit und breit nichts als kahle Wüstenlandschaft zu sehen war, lenkte Laura den Wagen aufs Bankett. Sie ließ ihn einige hundert Meter langsam weiterrollen, bis sie an eine Stelle kam, wo das Bankett auf gleicher Höhe in die Wüste überging, so daß von ihm wie von einer Rampe in die Ebene hinausgefahren werden konnte. Außer einigen Gräsern, die hier in trockenen Klumpen wuchsen, und verkrüppelten Mesquitebüschen bestand die Vegetation lediglich aus Tumbleweeds: teils grün und noch verwurzelt, teils trocken und bei jedem Windstoß davonkollernd. Die noch grünen Tumbleweeds kratzten leise gegen die Unterseite des Buicks, während die vertrockneten im Fahrtwind des Wagens davonflogen.

Der Boden bestand aus hartem Schiefergrund, auf dem sich an einigen Stellen vom Wind herangetragener alkalischer Sand angesammelt hatte. Wie schon neulich, als sie nachts in der Wüste unterwegs gewesen waren, mied Laura die sandigen Stellen und hielt sich auf dem freiliegenden graurosa Schiefer. Sie hielt erst 300 Meter von der Staatsstraße entfernt, so daß die vielbefahrene Straße außerhalb des Vexxon-Wirkungsbereichs lag. Dort parkte sie nicht weit von einem Arroyo - einem sechs Meter breiten und fast zehn Meter tiefen natürlichen Wassergraben, den viele Tausende von Sturzfluten während der kurzen Regenzeiten in den Wüstenboden gefressen hatten. Als sie bei ihrem nächtlichen Ausflug in dieses Gebiet darauf angewiesen gewesen waren, sich im Scheinwerferlicht vorwärtszutasten, hatten sie Glück gehabt, daß sie nicht in diesen riesigen Graben gefahren waren.

Obwohl den Blitzen aus heiterem Himmel bisher noch keine bewaffneten Männer gefolgt waren, drängte die Zeit ganz offensichtlich: Laura, Chris und Stefan bewegten sich, als hörten sie das Ticken einer Uhr, die demnächst eine Detonation auslösen würde. Während Laura einen der fast 15 Kilogramm schweren Vexxon-Zylinder aus dem Kofferraum des Buicks holte, schlüpfte Stefan mit den Armen unter die Träger des kleinen grünen Nylonrucksacks voller Bücher, zog den Brustgurt zurecht und drückte die Klettverschlüsse zusammen. Chris trug eine der Uzis zum Mittelpunkt einer fast kreisrunden Fläche, deren Untergrund aus völlig kahlem Schiefer bestand und die als Absprungpunkt für Stefans Reise in die Vergangenheit dienen sollte. Laura folgte dem Jungen dorthin, und Stefan, der seine Colt Commander mit Schalldämpfer in der rechten Hand hielt, schloß sich ihr an.

Auf der Staatsstraße 111 nördlich von Palm Springs fuhr Klietmann mit dem Toyota so schnell wie möglich, was nicht schnell genug war. Der Wagen hatte über 40 000 Meilen auf dem Buckel, und die alte Dame war bestimmt nie über 80 Stundenkilometer gefahren, so daß der Wagen nicht gut auf Klietmanns Anforderungen reagierte. Sobald er über 100 Stundenkilometer zu fahren versuchte, begann der Toyota zu stottern, so daß er wieder etwas Gas wegnehmen mußte.

Trotzdem holten sie nur wenige Kilometer nach der Stadtgrenze von Palm Springs einen Streifenwagen der California Highway Patrol ein, und Klietmann wußte, daß dies der Polizeibeamte sein mußte, der Laura Shane und ihren Sohn überprüfen und festnehmen würde. Der Cop fuhr in einer 90-km-Zone knapp unter 90 Stundenkilometer.

»Abschießen«, befahl Klietmann über die Schulter hinweg Rottenführer Bracher, der hinten rechts saß.

Klietmann warf einen Blick in den Rückspiegel und sah keine anderen Fahrzeuge hinter ihnen; dem Gegenverkehr standen zwei nach Süden führende Fahrspuren zur Verfügung. Er wechselte auf die Überholspur und begann, mit 95 Stundenkilometern an dem Streifenwagen vorbeizufahren.

Hinten kurbelte Bracher sein Fenster herunter. Die Scheibe gegenüber fehlte bereits, weil Hubatsch sie bei der Konfrontation mit dem Cop in Palm Springs herausgeschossen hatte, so daß der Fahrtwind jetzt durch den rückwärtigen Teil des Toyota pfiff und der Stadtplan auf Steins Knien auf und nieder flatterte.

Der Beamte der Verkehrspolizei sah überrascht zu ihnen herüber, vermutlich weil Autofahrer nur selten wagten, einen Polizeibeamtem zu überholen, der schon fast die erlaubte Höchstgeschwindigkeit fuhr. Als Klietmann das Gaspedal durchtrat und den Toyota auf 100 Stundenkilometer brachte, schwankte der Wagen, und der Motor begann wieder zu stottern. Der Polizeibeamte nahm zur Kenntnis, daß dieser Fahrer entschlossen war, die Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten, und tippte kurz seine Sirene an, was offenbar als Zeichen für Klietmann gedacht war, zurückzubleiben und rechts heranzufahren.

Statt dessen brachte der Obersturmführer den protestierenden Toyota auf 105 Stundenkilometer: eine Geschwindigkeit, bei der dieser auseinanderzufallen drohte und die gerade ausreichte, um den verblüfften Beamten so weit zu überholen, daß Brachers Fenster auf gleicher Höhe mit dem Fahrerfenster das Streifenwagens war. Der Rottenführer riß seine Uzi hoch und eröffnete das Feuer.

Die Fenster des Streifenwagens zersplitterten, der Uniformierte war augenblicklich tot, mußte tot sein. Er hatte den Feuerüberfall nicht kommen sehen und war bestimmt von mehreren Kugeln in Kopf und Oberkörper getroffen worden. Der Streifenwagen geriet ins Schleudern, streifte den Toyota, ehe Klietmann ausweichen konnte, und geriet dann steuerlos aufs Bankett.

Klietmann bremste und blieb hinter dem außer Kontrolle geratenen Streifenwagen zurück.

Die vierspurige Staatsstraße verlief hier etwa drei Meter über der Wüste, und der Streifenwagen schoß über den nicht durch Leitplanken gesicherten Seitenstreifen hinaus. Er machte einen weiten Satz und knallte dann mit solcher Wucht auf, daß bestimmt einige seiner Reifen platzten. Die beiden vorderen Türen flogen auf.

Während Klietmann langsam auf der rechten Spur weiterfuhr, berichtete Stein: »Er ist über dem Lenkrad zusammengesackt. Von dem haben wir nichts mehr zu befürchten.«

Entgegenkommende Autofahrer hatten den spektakulären Flug des Streifenwagens beobachtet. Sie hielten auf dem Bankett ihrer Seite der Staatsstraße 111. Im Rückspiegel sah Klietmann sie aussteigen: barmherzige Samariter, die über die Fahrbahn hasteten, um dem Beamten zu Hilfe zu kommen.

Falls irgend jemand erkannte, weshalb der Streifenwagen verunglückt war, verzichtete er darauf, sie zu verfolgen und zu stellen - was nur klug war. Er gab wieder Gas, warf einen Blick auf den Tachometer und sagte: »Fünf Kilometer von hier hätte der Polizist die Frau und den Jungen festgenommen. Achtet also auf einen schwarzen Buick. Fünf Kilometer von hier.«

Laura stand in der hellen Wüstensonne auf dem vom Wind freigelegten Schiefergrund in der Nähe des Buick und beobachtete, wie Stefan sich die Uzi über die rechte Schulter hängte. Die Maschinenpistole hing frei herab, ohne seinen Bücherrucksack zu streifen.

»Ich frage mich allerdings, ob ich sie überhaupt mitnehmen soll«, sagte er. »Wenn das Nervengas wie erwartet wirkt, brauche ich wahrscheinlich nicht einmal die Pistole - und erst recht keine Maschinenpistole.«

»Nimm sie trotzdem mit«, riet Laura ihm mit grimmiger Miene.

Stefan nickte. »Stimmt. Wer weiß, wozu sie gut ist.«

»Schade, daß du nicht auch ein paar Handgranaten hast«, sagte Chris. »Handgranaten wären gut.«

»Na, so arg wird’s doch hoffentlich nicht werden«, meinte Stefan.

Er entsicherte seine Pistole und hielt sie in der rechten Hand. Dann packte er mit der Linken den an einen Feuerlöscher erinnernden Tragegriff des Vexxon-Behälters und hob ihn prüfend hoch, um zu sehen, wie seine kaum verheilte Schulter diese Belastung ertragen würde. »Schmerzt ein bißchen«, sagte er dabei. »Ziehende Schmerzen. Aber sie sind auszuhalten.«

Sie hatten den mit einer Plombe versehenen Sicherheitsdraht entfernt, so daß Stefan das Ventil manuell betätigen konnte. Jetzt schob er seinen Zeigefinger durch den Abzug, mit dem das Gas freigesetzt wurde.

Sobald Stefan seine Arbeit im Jahre 1944 erledigt haben würde, wollte er endgültig ins Jahr 1989 zurückkehren - nur wenige Minuten nach seinem Verschwinden. »Ich bin gleich wieder da«, versicherte er den Zurückbleibenden. »Ihr werdet kaum merken, daß ich fortgewesen bin.«

Laura überfiel plötzlich die Angst, er werde nie mehr zurückkehren. Sie berührte sein Gesicht mit einer Hand und küßte ihn auf die Wange. »Alles Gute, Stefan.«

Das war kein Kuß einer Liebenden, er enthielt nicht einmal das Versprechen zukünftiger Leidenschaft; es war lediglich der freundschaftliche Kuß einer Frau, die ihm ewige Dankbarkeit schuldete, ohne ihm zugleich ihr Herz zu schenken. Seinem Blick war anzumerken, daß er sich dieser Tatsache bewußt war. Trotz seines gelegentlich aufblitzenden Humors war Stefan im Grunde seines Herzens schwermütig, und Laura wünschte sich, sie könnte ihn glücklich machen. Sie bedauerte, nicht wenigstens so tun zu können, als empfinde sie mehr für ihn; sie wußte jedoch, daß er diese Vorspiegelung falscher Tatsachen durchschaut haben würde.

»Ich wünsche mir, daß du zurückkommst«, sagte sie. »Wirklich! Ich wünsche es mir sehr.«

»Das genügt mir.« Er nickte Chris zu. »Paß gut auf deine Mutter auf, solange ich fort bin.«

»Ich werd’s versuchen«, versprach Chris ihm. »Aber sie kann selber am besten auf sich aufpassen.«

Laura zog Chris an sich.

Stefan hob den 15 Kilogramm schweren Vexxon-Zylinder höher und betätigte das Ventil.

Während das unter hohem Druck stehende Gas mit einem Zischen wie von einem Dutzend Schlangen auszuströmen begann, wurde Laura von kurzer Panik erfaßt. Sie fürchtete, daß die eingenommenen Kapseln sie doch nicht vor dem Nervengas schützen würden - daß sie zusammenbrechen, sich in Muskelkrämpfen auf dem Erdboden winden und binnen 30 Sekunden sterben würden. Vexxon war farblos, aber nicht geruch- oder geschmacklos; selbst hier im Freien, wo es sich rasch verflüchtigte, roch sie den süßlichen Aprikosenduft und verspürte einen beißenden, Übelkeit erregenden Geschmack wie eine Mischung aus Zitronensaft und angesäuerter Milch. Trotz dieser Sinneswahrnehmungen waren jedoch keine schädlichen Wirkungen festzustellen.

Ohne die Pistole wegzustecken, griff Stefan mit der rechten Hand unter sein Hemd und drückte dreimal auf den gelben Knopf des Rückkehrgürtels.

Stein entdeckte den schwarzen Wagen, der einige hundert Meter östlich der Staatsstraße auf weißem Sand und hellem Schiefergrund stand, als erster. Er machte die anderen darauf aufmerksam.

Aus dieser Entfernung konnte Obersturmführer Klietmann die Automarke natürlich nicht erkennen, aber er war sicher, daß dies der gesuchte Wagen war. In seiner Nähe standen drei Personen beisammen; sie waren in dieser Entfernung kaum mehr als Strichmännchen und schienen in der Wüstensonne wie Luftspiegelungen zu flimmern, aber Klietmann sah immerhin, daß es sich um zwei Erwachsene und ein Kind handelte.

Plötzlich verschwand einer der Erwachsenen. Das war keine durch Wüstenluft und -sonne bewirkte Illusion. Die flimmernde Gestalt erschien nicht sofort wieder. Sie blieb verschwunden, und Klietmann wußte, daß das Stefan Krieger gewesen war.

»Er ist zurückgekehrt!« rief Bracher erstaunt aus.

»Warum sollte er zurückkehren«, fragte Stein, »wenn das ganze Institut darauf versessen ist, ihn zu erledigen?«

»Noch schlimmer«, sagte Hubatsch hinter dem Obersturmführer. »Er ist einige Tage vor uns ins Jahr 1989 gekommen, und wenn er jetzt zurückkehrt, bedeutet das, daß sein Gürtel ihn an den Tag zurückbringt, an dem er von Kokoschka angeschossen worden ist - nur elf Minuten nach der Schießerei im Hauptlabor. Trotzdem wissen wir, daß er an diesem Tag nicht zurückgekehrt ist ... Was geht hier vor, verdammt noch mal?«

Auch Klietmann machte sich Sorgen, aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Er hatte den Auftrag, die Frau und ihren Sohn zu liquidieren, wenn Krieger ihnen schon entwischt war. »Haltet euch bereit«, wies er seine Männer deshalb an und fuhr langsamer, um eine Stelle zu suchen, an der er von der Straße ins Gelände wechseln konnte.

Hubatsch und Bracher hielten ihre Uzis seit Palm Springs schußbereit auf den Knien. Jetzt holte auch Stein die Waffe aus seinem Aktenkoffer.

Beiderseits der Straße stieg das Gelände jetzt fast auf Fahrbahnniveau an. Klietmann bremste den Toyota ab, lenkte über den Seitenstreifen, holperte in die Wüste hinaus und hielt auf die Frau und den Jungen zu.

Sobald Stefan den Rückkehrgürtel aktivierte, wurde die Luft drückend schwer, und Laura hatte das Gefühl, ein unsichtbares Riesengewicht laste auf ihr. Sie verzog das Gesicht, als der mit Ozongeruch vermischte Gestank nach durchgeschmorten Kabeln und verbrannter Isolierung den Aprikosenduft von Vexxon überlagerte. Der Luftdruck nahm zu, das Farbenkaleidoskop wurde intensiver, und Stefan verließ ihre Welt mit einem lauten Plop! Einen Augenblick lang schien die Luft zum Atmen zu fehlen; dann füllte böig einströmende heiße Luft mit dem schwach wahrnehmbaren Alkaligeruch der Wüste dieses kurzzeitige Vakuum auf.

»Wow!« rief Chris aus, der dicht neben ihr stand und ihre Hand umklammerte. »Klasse, Mom, was?«

Laura gab keine Antwort, denn sie war auf ein weißes Auto aufmerksam geworden, das die Staatsstraße 111 verlassen hatte und in die Wüste hinausfuhr. Es kam auf sie zu und begann heftig zu schwanken, als der Fahrer Gas gab.

»Chris, geh hinter dem Kühler in Deckung! Bleib unten!«

Er sah das näherkommende Auto und gehorchte, ohne Fragen zu stellen.

Sie rannte zur offenen Tür des Buick und riß eine der Maschinenpistolen vom Sitz. Dann trat sie mit schußbereiter Waffe ans Heck, blieb neben dem offenen Kofferraum stehen und sah dem herankommenden Wagen entgegen.

Das Auto war keine 200 Meter mehr entfernt und kam rasch näher. Sonnenlicht ließ die Chromteile blitzen und spiegelte sich in der Windschutzscheibe.

Laura spielte kurz mit dem Gedanken, die Insassen dieses Wagens könnten keine deutschen Agenten aus dem Jahre 1944, sondern harmlose Unbeteiligte sein. Diese Möglichkeit war jedoch so unwahrscheinlich, daß sie sich nicht von ihr behindern lassen durfte.

Das Schicksal bemüht sich, ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinien durchzusetzen.

Nein. Verdammt noch mal, nein!

Als das weiße Auto auf etwa 70 Meter herangekommen war, jagte Laura ihm zwei kurze Feuerstöße aus der Uzi entgegen. Mehrere Kugeln durchschlugen die Windschutzscheibe, die sofort milchigweiß wurde.

Der Wagen - sie sah jetzt, daß es ein Toyota war - geriet ins Schleudern, drehte sich einmal um sich selbst, wobei er Wolken von Staub aufwirbelte, und entwurzelte einige grüne Tumbleweeds. Er drehte sich noch etwas weiter und kam rund 50 Meter von Laura entfernt so zum Stehen, daß er ihr seine Flanke zukehrte.

Die Türen auf der anderen Seite wurden aufgestoßen, und Laura wußte, daß die Insassen dort, wo sie nicht gesehen werden konnten, fluchtartig den Wagen verließen und dahinter in Deckung blieben. Sie eröffnete wieder das Feuer - nicht um vielleicht die Männer durch den Toyota hindurch zu treffen, sondern um den Benzintank zu durchlöchern. Wenn sie Glück hatte, erzeugte eine das Karosserieblech durchschlagende Kugel Funken, die das auslaufende Benzin in Brand setzten, so daß einer oder alle der hinter dem Auto in Deckung Liegenden von einem Feuerball erfaßt wurden. Aber sie schoß das Magazin der Uzi leer, ohne das Benzin in Brand setzen zu können, obwohl sie den Tank bestimmt getroffen hatte.

Laura ließ die Maschinenpistole fallen, riß die hintere Tür des Buicks auf und griff nach der zweiten Uzi mit vollem Magazin. Ohne den weißen Toyota länger als ein bis zwei Sekunden aus den Augen zu lassen, holte sie auch ihren geladenen Chiefs Spezial Kaliber 39 vom Vordersitz. Dabei wünschte sie sich, Stefan hätte die dritte Maschinenpistole doch dagelassen.

Aus seiner Deckung hinter dem 50 Schritt entfernten Toyota erwiderte jetzt einer der Männer das Feuer mit einer automatischen Waffe, womit alle Zweifel in bezug auf ihre Identität beseitigt waren. Während Laura hinter dem Buick kauerte, durchschlugen Kugeln den offenen Kofferraumdeckel, ließen die Heckscheibe zersplittern, durchlöcherten die hinteren Kotflügel, prallten als Querschläger von der Stoßstange ab, bohrten sich mit scharfem Knacken in den Schiefergrund und wirbelten kleine weiße Sandwolken auf.

Sie hörte einen Feuerstoß dicht über ihren Kopf hinweggehen

- ein tödliches, nicht einmal sehr lautes, aber sehr hohes Pfeifen -, setzte sich rückwärts kriechend den Buick entlang in Bewegung, blieb möglichst dicht neben dem Wagen und bemühte sich, ein möglichst kleines Ziel abzugeben. Sekunden später erreichte sie Chris, der vorn am Kühlergrill kauerte.

Der Schütze hinter dem Toyota stellte das Feuer ein.

»Mom?« fragte Chris ängstlich.

»Alles in Ordnung«, versicherte sie ihm und bemühte sich, selbst daran zu glauben. »Stefan kommt in weniger als fünf Minuten zurück, Schatz. Er hat eine weitere Uzi, und dann sind wir weniger unterlegen. Uns passiert nichts. Wir brauchen sie nur ein paar Minuten abzuwehren. Bloß ein paar Minuten.«

15

Kokoschkas Gürtel brachte Stefan augenblicklich ins Hauptlabor des Instituts zurück, wo er mit weit geöffnetem Vexxon-Behälter in dem Stahlzylinder erschien. Er hielt den Tragegriff und das Ventil so krampfhaft umklammert, daß seine Hand weh tat, und die Schmerzen begannen bereits den Arm hinauf bis zu seiner verletzten Schulter auszustrahlen.

Aus dem Halbdunkel des Zylinderinneren konnte er nur einen kleinen Teil des Labors überblicken. Er sah zwei Männer in dunklen Anzügen am anderen Ende des Zylinders stehen und hineinstarren. Sie schienen Gestapobeamte zu sein - diese Schweine sahen alle aus, als wären sie von derselben kleinen Gruppe perverser Fanatiker geklont worden -, und Stefan war erleichtert, weil er wußte, daß sie ihn weniger deutlich sahen als er sie; sie würden ihn zumindest im Augenblick für Kokoschka halten.

Er trat mit dem laut zischenden Vexxon-Behälter in der linken und seiner Pistole in der rechten Hand auf sie zu, und bevor die Männer im Labor merkten, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, begann das Nervengas zu wirken. Sie brachen zusammen, und als Stefan aus dem erhöht postierten Stahlzylinder stieg, wanden sie sich bereits im Todeskampf. Sie hatten sich explosiv erbrechen müssen. Aus ihren Nasen rann Blut. Einer von ihnen lag auf der Seite, strampelte mit den Beinen und krallte nach seiner Kehle; der andere war fetal zusammengerollt und zerkratzte sich mit zu Klauen verkrümmten Fingern das Gesicht. Drei weitere Männer in Laborkitteln - Stefan kannte ihre Namen: Höppner, Eicke und Schmauser - waren in der Nähe des Programmierpults zusammengebrochen. Auch sie krallten wie tollwütig in ihre Hälse. Alle fünf versuchten zu schreien, aber ihre Kehlen waren augenblicklich zugeschwollen; sie brachten nur schwache, gräßlich mitleiderregende Laute ähnlich dem Wimmern gequälter kleiner Tiere heraus.

Stefan stand körperlich unversehrt, aber zutiefst entsetzt und erschrocken unter ihnen, bis sie nach einer Dreiviertelminute endlich tot waren.

Der Einsatz von Vexxon gegen diese Männer war ein Akt grausamer ausgleichender Gerechtigkeit, denn das Forschungsvorhaben, das im Jahre 1936 zur synthetischen Herstellung des ersten Nervengases - eines als Tabun bezeichneten organischen Phosphoresters - geführt hatte, war von den Nazis finanziert worden. Praktisch alle später entwickelten Kampfstoffe, auch Vexxon, deren tödliche Wirkung auf der Störung der Übertragung elektrischer Nervenimpulse beruhte, basierten auf dieser chemischen Verbindung. Diese Männer waren im Jahre 1944 von einer futuristischen Waffe getötet worden, die im Grunde genommen aus ihrer eigenen grausamen, unmenschlichen Gesellschaft hervorgegangen war.

Trotzdem empfand Stefan beim Anblick der fünf Leichen keine innere Befriedigung. Er war in seinem Leben Augenzeuge so vieler Tode geworden, daß selbst die Liquidierung Schuldiger zum Schütze Unschuldiger, selbst Morde im Dienste der Gerechtigkeit ihn anwiderten. Aber nun konnte er tun, was er zu tun hatte.

Er legte seine Pistole auf einen der Arbeitstische. Dann ließ er die Uzi von seiner Schulter gleiten und legte sie daneben.

Aus einer Tasche seiner Jeans zog er ein Stück Draht, das er um das Ventil des Vexxon-Zylinders wickelte, um es offenzuhalten. Er trat in den Erdgeschoßflügel hinaus und stellte den Behälter mitten in diesen Korridor. Durch Treppenhäuser, Aufzugschächte und Lüftungsrohre würde das Gas sich in wenigen Minuten durch das ganze Gebäude ausbreiten.

Zu seiner Überraschung sah er, daß auf dem Korridor nur die Nachtbeleuchtung brannte und die übrigen Labors im Erdgeschoß menschenleer zu sein schienen. Während das Gas weiter ausströmte, trat er ans Programmierpult im Hauptlabor, um festzustellen, wann Kokoschkas Gürtel ihn zurückgebracht hatte. Es war 21.11 Uhr am 16. März 1944.

Ein ungewöhnlich glücklicher Zufall. Stefan hatte damit gerechnet, zu einem Zeitpunkt ins Institut zurückzukommen, an dem die meisten Wissenschaftler - von denen einige schon um 6 Uhr zur Arbeit kamen, andere oft bis 20 Uhr blieben - anwesend sein würden. Das hätte bedeutet, daß in dem dreistöckigen Gebäude bis zu 100 Menschen getötet worden wären, bei deren Auffindung man ohne jeden Zweifel gewußt hätte, daß nur Stefan Krieger, der mit Kokoschkas Gürtel aus der Zukunft zurückgekehrt war, für ihren Tod verantwortlich sein könnte, und nicht bloß zurückgekommen war, um möglichst viele Institutsangestellte zu ermorden, sondern etwas anderes im Schilde führte. Man hätte eine großangelegte Aktion gestartet, um seine Pläne aufzudecken und den angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Wenn aber das Gebäude tatsächlich fast leer war, konnte er die wenigen Leichen vielleicht auf eine Art und Weise beseitigen, die seine Anwesenheit nicht verriet und allen Verdacht auf diese Toten lenkte.

Nach fünf Minuten war der Vexxon-Behälter leer. Das Gas hatte sich im gesamten Institut ausgebreitet - mit Ausnahme der Wachräume an den beiden Eingängen, in die nicht einmal Lüftungsschächte aus dem Hauptgebäude führten. Auf der Suche nach weitern Opfern ging Stefan von Raum zu Raum und von Stockwerk zu Stockwerk. Die einzigen weiteren Toten, die er entdeckte, waren die Versuchstiere im Keller - die ersten Zeitreisenden -, und ihr mitleiderregender Anblick berührte ihn ebenso oder noch mehr wie die Leichen der fünf Gastoten.

Stefan kehrte ins Hauptlabor zurück, holte aus einem weißlackierten Schrank fünf der Spezialgürtel und schnallte sie den Toten über der Kleidung um. Er programmierte die Zeitmaschine rasch darauf, die Leichen etwa sechs Milliardenjahre weit in die Zukunft zu befördern. Er hatte irgendwo gelesen, daß die Sonne in sechs Milliarden Jahren erloschen oder als Nova aufgeflammt sein würde, und wollte die Toten dorthin schicken, wo niemand sie fand oder gar ihre Gürtel benützte, um ins Institut zurückzukehren.

Der Umgang mit den Toten in dem nächtlich stillen Gebäude war eine unheimliche Sache. Stefan erstarrte mehrmals, weil ihm vorkam, er habe leise Geräusche gehört. Zwischendurch machte er sich sogar wiederholt auf die Suche nach der Ursache vermeintlicher Geräusche, ohne jedoch etwas zu finden. Einmal starrte er einen der Toten an, weil er davon überzeugt war, die Leiche habe sich aufzurichten begonnen, und das leise Scharren, das er vernahm, sei eine kalte Hand, die nach einem Maschinenteil tastete, um sich daran hochzuziehen.

Stefan hievte die Gastoten einzeln in den Stahlzylinder, schob sie vor sich her bis zum Übergangspunkt und stieß sie über die Grenze des Energiefelds. Die Leichen fielen durchs unsichtbare Tor der Zeit und verschwanden. Sie würden an einem unvorstellbar fernen Zeitpunkt auftauchen - auf einer vereisten, längst nicht mehr belebten Erde oder in jenem Vakuum des Weltalls, wo dieser Planet einst existiert hatte, bevor seine Sonne explodiert war.

Er achtete sorgfältig darauf, die durch den Übergangspunkt führende imaginäre Grenze nicht zu überschreiten. Wäre er plötzlich sechs Milliardenjahre weit ins Vakuum des Weltalls transportiert worden, wäre er tot gewesen, bevor er eine Chance gehabt hätte, auf den Knopf seines Gürtels zu drücken und ins Institut zurückzukehren.

Bis Stefan die fünf Leichen abtransportiert und sämtliche Spuren ihres gewaltsamen Todes beseitigt hatte, war er total erschöpft. Zum Glück hinterließ das Nervengas keine sichtbaren Spuren, so daß keine Notwendigkeit bestand, etwaige Reste zu beseitigen. Die verletzte Schulter schmerzte so stark wie in den Tagen unmittelbar nach seiner Verletzung.

Zumindest hatte er seine Spuren verwischt. Am nächsten Morgen würde es so aussehen, als wären Kokoschka, Höppner, Eicke, Schmauser und die beiden Gestapobeamten von der Niederlage des Dritten Reichs überzeugt, in eine Zukunft desertiert, von der sie sich Frieden und Wohlstand versprachen.

Dann fielen Stefan die verendeten Tiere im Keller des Instituts ein. Falls er sie in ihren Käfigen ließ, würden sie zur Feststellung der Todesursache untersucht werden - und die Ergebnisse konnten Zweifel an der Theorie wecken, Kokoschka und die anderen seien durchs Tor in die Zukunft desertiert. Der Hauptverdächtige wäre dann automatisch wieder Stefan Krieger gewesen. Am besten ließ er die Tiere ebenfalls verschwinden. Das würde den Ermittlern Rätsel aufgeben, aber nicht unmittelbar auf die Wahrheit hinweisen, wie es der Zustand der Tierkadaver getan hätte.

Der heiße, pochende Schmerz in seiner Schulter wurde heißer, während Stefan frischgewaschene Laborkittel als Leichentücher benützte, jeweils mehrere Tiere zusammenlegte und sie mit Stricken verschnürte. Dann schnallte er auch um diese Pakete Gürtel und schickte sie sechs Milliarden Jahre weit in die Zukunft. Zuletzt holte er den leeren Nervengasbehälter aus dem Korridor und schickte in ebenfalls hinterher.

Dann war er endlich soweit, daß er die beiden entscheidend wichtigen Reisen unternehmen konnte, die hoffentlich zur völligen Zerstörung des Instituts und der sicheren militärischen Niederlage des Dritten Reichs führen würden. Stefan trat ans Programmierpult und zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Hüfttasche seiner Jeans; dieser Zettel enthielt die Ergebnisse der tagelangen Berechnungen, die Stefan und Laura in Palm Springs mit dem IBM-PC angestellt hatten.

Wäre er imstande gewesen, aus dem Jahre 1989 mit genügend Sprengstoff zurückzukehren, um das Institut in einen rauchenden Trümmerhaufen zu verwandeln, hätte er die Sache gleich hier und jetzt erledigt. Aber außer dem schweren Vex-xon-Zylinder, der Uzi und seiner Pistole hätte er jedoch höchstens 20 bis 25 Kilogramm Plastiksprengstoff mitnehmen können - bei weitem nicht genug für diesen Zweck. Seine im Keller und auf dem Dachboden des Instituts angebrachten Sprengladungen hatte Kokoschka vor einigen Tagen - nach hiesiger Zeit gerechnet - entschärft und ausgebaut. Stefan hätte mit ein paar Benzinkanistern aus dem Jahre 1989 zurückkommen und versuchen können, das Gebäude niederzubrennen; die wichtigsten Forschungsunterlagen wurden jedoch in feuerfesten Panzerschränken aufbewahrt, für die er keine Schlüssel hatte und die nur durch eine vernichtende Detonation aufgesprengt und in Brand gesetzt werden konnten.

Er konnte das Institut nicht mehr allein zerstören.

Aber er wußte, wer ihm dabei helfen konnte.

Stefan gab die mit Hilfe des Computers errechneten Zahlen ein und programmierte damit eine Zeitreise, die ihn vom Abend des 16. März 1944 dreieinhalb Tage weit in die Zukunft führen würde. Geographisch würde er auf britischem Boden in der Mitte des ausgedehnten Bunkersystems unter den Ministerien ankommen, die bei Storey’s Gate an den St. James’s Park angrenzten. Während der deutschen Luftangriffe auf London waren dort bombensichere Wohn- und Arbeitsräume für den Premierminister und seinen Stab errichtet worden, und der Lageraum befand sich noch immer dort. Genau gesagt: Stefan hoffte, um 7.30 Uhr in einem bestimmten Konferenzraum einzutreffen. Das war eine Zeitreise von solcher Präzision, daß sie ohne Benützung der im Jahre 1989 verfügbaren Computer zur Berechnung der Raum-Zeit-Koordination undenkbar gewesen wäre.

Diesmal ohne Waffen, aber mit seinem Bücherrucksack auf dem Rücken, betrat er den Stahlzylinder, ließ den Übergangspunkt hinter sich zurück und erschien in einer Ecke eines Konferenzraums mit niedriger Decke, dessen Einrichtung aus einem runden Tisch mit zwölf Stühlen bestand. Im Augenblick waren zehn der Stühle leer. In dem Raum hielten sich nur zwei Männer auf. Der erste war ein Sekretär in britischer Armeeuniform, der mit Stenoblock und Bleistift ein wichtiges Diktat aufnahm. Der zweite Mann war Winston Churchill.

16

Hinter dem Toyota kauernd, überlegte Klietmann, daß sie im Kostüm von Zirkusclowns auch nicht unpassender für diesen Einsatz hätten angezogen sein können. Die sie umgebende Wüste bestand hauptsächlich aus weißen, beigen, blaßrosa und aprikosenfarbenen Tönen mit spärlicher Vegetation und nur wenigen Deckung bietenden Felsformationen. Wenn sie in ihren dunklen Anzügen auszuschwärmen versuchten, um die Frau einzukreisen, waren sie so sichtbar wie Mistkäfer auf einer Hochzeitstorte.

Hubatsch, der von der Motorhaube aus den Buick mit kurzen Feuerstößen bestrichen hatte, duckte sich wieder. »Sie ist nach vorn zu dem Jungen verschwunden«, meldete er. »Nicht mehr zu sehen.«

»Die Polizei dürfte bald aufkreuzen«, meinte Bracher und blickte zuerst nach Westen, wo die Staatsstraße 111 lag, und dann nach Südwesten, wo sie etwa fünf Kilometer von hier den Polizeibeamten erschossen und den Streifenwagen von der Straße abgedrängt hatten.

»Zieht eure Jacken aus!« befahl Klietmann und schlüpfte aus seiner eigenen. »Weiße Hemden sind unauffälliger. Bracher, Sie bleiben hier und verhindern, daß die Hexe sich in Richtung Straße zurückzieht. Hubatsch und Stein, Sie versuchen, sie rechts zu umgehen. Bleiben Sie weit auseinander und verlassen Sie Ihre Deckung erst, wenn Sie die nächste ausgemacht haben. Ich versuche, sie links zu umgehen.«

»Legen wir sie um, ohne zu fragen, was Krieger vorhat?« erkundigte Bracher sich.

»Ja«, antwortete Klietmann sofort. »Sie ist zu schwer bewaffnet, als daß wir sie lebend fangen könnten. Außerdem gehe ich jede Wette ein, daß Krieger in ein paar Minuten zu den beiden zurückkommt, und wir werden leichter mit ihm fertig, wenn wir die Frau bis dahin schon erledigt haben. Los jetzt!«

Hubatsch und Stein verließen in Abständen von wenigen Sekunden ihre Deckung hinter dem Toyota und rannten geduckt nach Südosten davon.

Obersturmführer Klietmann machte sich mit seiner Maschinenpistole in der Rechten auf den Weg nach Norden und spurtete tief geduckt auf die unzulängliche Deckung zu, die ein ausgedehntes Mesquitegebüsch, in dem sich einige Tumble-weeds verfangen hatten, zu bieten schien.

Laura richtete sich etwas auf und schaute gerade noch rechtzeitig am vorderen Kotflügel des Buick vorbei, um zwei Männer in weißen Hemden und schwarzen Hosen beobachten zu können, die hinter dem Toyota hervorkamen und, offenbar in der Absicht, sie zu umgehen, nach Südosten davonrannten. Sie stand auf und schickte einen kurzen Feuerstoß hinter dem ersten Mann her, der auf einige aus dem Sand ragende Felszak-ken zusteuerte, hinter denen er sich unverletzt in Sicherheit brachte.

Als die Uzi loshämmerte, warf der zweite Mann sich in einer flachen Mulde zu Boden und blieb dort teilweise sichtbar. Wegen des ungünstigen Schußwinkels und der verhältnismäßig großen Entfernung bildete er jedoch ein schlechtes Ziel, und sie hatte nicht die Absicht, weitere Munition zu vergeuden.

Noch während Lara den zweiten Mann in Deckung gehen sah, eröffnete ein dritter Schütze, der sich hinter dem Toyota versteckt hielt, überraschend das Feuer. Kugeln schlugen in den Buick ein, verfehlten sie nur knapp und zwangen sie dazu, sich wieder hinzuwerfen.

Stefan würde in spätestens drei bis vier Minuten zurücksein.

Das war nicht lange, durchaus nicht lange, aber eine Ewigkeit.

Chris saß mit dem Rücken an die Stoßstange des Buick gelehnt da, hatte die Knie bis zur Brust hochgezogen, umklammerte sie mit den Armen und zitterte sichtbar.

»Wir schaffen’s, Kleiner!« versicherte Laura ihm.

Er starrte sie nur wortlos an. In all den Krisensituationen der letzten Wochen hatte sie ihn noch nie so entmutigt erlebt. Er war blaß, sein Gesicht verfallen. Er hatte plötzlich erkannt, daß ihr ganzes Verstecken spielen nur für ihn ein Spiel gewesen war und in der Realität nichts so einfach lief wie im Film, und diese erschreckende Einsicht hatte in ihm tiefe Resignation ausgelöst.

»Wir schaffen’s«, wiederholte sie und kroch dann rasch an Chris vorbei zum linken Kotflügel, um die Wüste nördlich von ihnen zu beobachten.

Laura fürchtete, weitere Männer könnten versuchen, sie dort zu umgehen. Das durfte sie unter keinen Umständen zulassen, weil dann der Buick als Deckung wertlos gewesen wäre: Dann hätten Chris und sie nur noch in die Wüste fliehen können, wo sie nach spätestens 50 Metern niedergeschossen worden wären. Der Buick war die einzig brauchbare Deckung in weitem Umkreis. Sie mußte dafür sorgen, daß er zwischen ihnen und den Männern blieb.

An ihrer Nordflanke war niemand zu sehen. In dieser Richtung war das Gelände stärker gegliedert, wies Felszacken, niedrige Dünen und bestimmt auch Mulden auf, in denen vielleicht schon jetzt ein weiterer Angreifer Deckung gefunden hatte. Aber dort bewegten sich nur drei trockene Tumbleweeds; der leichte, ungleichmäßige Wind trieb sie langsam, auf wechselnden Bahnen vor sich her.

Sie kroch an Chris vorbei auf die andere Seite zurück und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, daß die beiden Männer im Süden bereits wieder unterwegs waren. Sie waren noch etwa 35 Meter südlich von ihr, aber nur noch 20 Meter von der Kühlerfront des Buick entfernt - und kamen erschrek-kend schnell näher. Während der vordere Mann tief geduckt im Zickzack lief, war der andere kühner; vielleicht verließ er sich darauf, daß Laura sich auf seinen Vordermann konzentrieren würde.

Laura reagierte jedoch unerwartet: Sie stand auf, beugte sich so weit wie nötig über den Buick hinaus, benützte den Wagen trotzdem noch als Deckung und gab einen zwei Sekunden langen Feuerstoß ab. Der Bewaffnete hinter dem Toyota schoß wieder, um seinen Kameraden Feuerschutz zu geben, aber ihre MP-Garbe war zielsicher genug, um den zweiten Laufenden von den Beinen zu holen und in eine stachelige Manzanita zu werfen.

Der Getroffene war nicht tot, aber offenbar außer Gefecht. Seine Schreie waren so schrill und markerschütternd, daß kaum ein Zweifel bestand, daß er sterben würde.

Als Laura sich wieder in Deckung fallen ließ, merkte sie zu ihrer Überraschung, daß sie grimmig lächelte. Das Entsetzen und die Schmerzen, die aus den Schreien des Verletzten sprachen, verschafften ihr tiefe Befriedigung. Ihre Reaktion, die Gewalt ihres Blut- und Rachedursts verblüffte sie, aber sie unterdrückte sie nicht, denn sie spürte, daß sie besser und gerissener kämpfen würde, solange diese animalische Wut anhielt.

Einer war erledigt. Vielleicht waren nur noch zwei übrig.

Und Stefan würde bald zurückkehren. Er hatte die Zeitmaschine so programmiert, daß sie ihn unabhängig davon, wie lange er sich in der Vergangenheit aufhalten mußte, wenige Minuten nach seiner Abreise zurückbringen würde. In spätestens zwei bis drei Minuten war er wieder hier und würde auf ihrer Seite in den Kampf eingreifen.

17

Der Premierminister schaute zufällig in Stefans Richtung, als dieser sich materialisierte, der Uniformierte aber, ein Sergeant, bemerkte ihn nur wegen der elektrischen Entladungen, die seine Ankunft begleiteten. Tausende von blendendhellen Schlangen aus bläulichweißem Licht strahlten von Stefan aus, als erzeuge sein Körper sie. Die sonst üblichen Blitze und der Donner aus heiterem Himmel waren in diesen Bunkerräumen nicht wahrnehmbar, aber ein Teil der freigesetzten Energie war auch hier unten in Form elektrischer Entladungen sichtbar, die den Uniformierten erstaunt und erschrocken aufspringen ließen. Die zischenden Schlangen aus Elektrizität glitten über den Boden und die Wände hinauf, sammelten sich für kurze Zeit unter der Decke und lösten sich dann auf, ohne jemandem geschadet zu haben. Beschädigt war lediglich eine riesige Wandkarte von Europa, die jetzt an einigen Stellen versengt war.

»Wachen!« rief der Sergeant. Er selbst war unbewaffnet - aber er wußte offenbar, daß sein Ruf gehört werden und zu rascher Reaktion führen würde, denn er wiederholte ihn nur einmal und machte keine Anstalten, zur Tür zu laufen. »Wachen!«

»Bitte, Mr. Churchill«, sagte Stefan, ohne den Sergeanten zu beachten. »Ich bin nicht hier, um Ihnen etwas anzutun.«

Die Tür wurde aufgestoßen, und zwei britische Soldaten -einer mit einem Revolver, der andere mit einem Sturmgewehr bewaffnet - stürzten herein.

Stefan sprach hastig weiter, weil er fürchtete, erschossen zu werden. »Bitte, Sir, die Zukunft der Welt hängt davon ab, daß Sie mich ausreden lassen!«

Der Premierminister war während dieses Aufruhrs ruhig in seinem Lehnstuhl sitzengeblieben. Stefan glaubte, im Blick des großen Mannes Überraschung und vielleicht sogar etwas wie Angst aufblitzen gesehen zu haben, aber er hätte nicht darauf wetten wollen. Jetzt wirkte Churchill so nachdenklich und unversöhnlich wie auf allen Photos, die Stefan von ihm kannte. »Augenblick!« sagte er und hob eine Hand, um die Wachen zurückzuhalten. Als der Sergeant zu protestieren begann, stellte der Premierminister fest: »Hätte er mich umbringen wollen, hätte er’s gleich bei seiner Ankunft tun können.« Und zu Stefan sagte er: »Ein höchst wirkungsvoller Auftritt, Sir, eindrucksvoller als jeder, den wir im Old Vic von Olivier erlebt haben.«

Stefan mußte unwillkürlich grinsen. Er trat aus seiner Ecke, aber als er sich dem Tisch näherte, sah er die Wachen nervös werden, deshalb blieb er wieder stehen. »Sir, allein meine Ankunft muß Ihnen beweisen, daß ich kein gewöhnlicher Bote bin - und daß ich Ihnen ... Ungewöhnliches mitzuteilen habe. Darüber hinaus sind meine Informationen streng geheim und eigentlich nur für Sie bestimmt.«

»Wenn Sie glauben, daß wir Sie mit dem PM allein lassen«, sagte der Sergeant, »Sind Sie ... sind Sie verrückt!«

»Vielleicht ist er verrückt«, meinte Churchill, »aber er besitzt Flair. Das müssen Sie zugeben, Sergeant. Wenn die Wachen ihn durchsuchen und keine Waffen finden, bin ich bereit, mir anzuhören, was der Gentleman zu sagen hat.«

»Aber Sie kennen ihn doch gar nicht, Sir! Und Sie wissen nicht, was er ist. Wie er hier reingeplatzt ist ...«

Der Premierminister unterbrach ihn. »Ich weiß, wie er angekommen ist, Sergeant. Und denken Sie bitte daran, daß nur Sie und ich davon wissen. Ich erwarte, daß Sie in bezug auf Ihre Beobachtungen ebenso verschwiegen sind, als ob es um andere Geheiminformationen ginge.«

Der Sergeant trat resigniert beiseite und starrte Stefan aufgebracht an, während die Wachen eine Leibesvisitation vornahmen.

Sie fanden keine Waffen, nur die Bücher im Rucksack und verschiedene Papiere in Stefans Taschen. Nachdem sie die Papiere zurückgegeben hatten, stapelten sie die Bücher in der Tischmitte auf, und Stefan stellte belustigt fest, daß ihnen nicht aufgefallen war, welche Bücher sie in Händen gehabt hatten.

Der Sergeant nahm Stenoblock und Bleistift mit und ging widerstrebend mit den Wachen hinaus, wie Churchill befohlen hatte. Nachdem die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, bot der Premierminister Stefan mit einer knappen Handbewegung den freigewordenen Stuhl seines Sekretärs an. Sie saßen sich einen Augenblick schweigend gegenüber und musterten einander interessiert. Dann zeigte Churchill auf eine dampfende Kanne auf einem Tablett. »Tee?«

Zwanzig Minuten später, als Stefan erst etwa die Hälfte seiner stark gerafften Geschichte erzählt hatte, rief Churchill seinen Sekretär aus dem Korridor herein. »Wir haben noch einiges zu besprechen, Sergeant. Ich muß die Sitzung des Kriegskabinetts um eine Stunde verschieben, fürchte ich. Sorgen Sie dafür, daß alle benachrichtigt werden - mit der Bitte um Entschuldigung.«

Fünfundzwanzig Minuten danach war Stefan fertig.

Der Premierminister stellte ihm einige Zusatzfragen - erstaunlich wenige, aber durchdachte Fragen, die auf den Kern der Sache abzielten. »Für eine Zigarre ist’ s noch schrecklich früh, nehme ich an«, meinte er schließlich seufzend, »aber mir ist nach einer. Darf ich Ihnen auch eine anbieten?«

»Nein, danke, Sir.«

Während Churchill seine Zigarre rauchfertig machte, fragte er: »Welche Beweise haben Sie außer Ihrer spektakulären Ankunft - die eigentlich nur die Existenz einer revolutionären Fortbewegungsart beweist, die auf Zeitreisen basieren könnte -, um einen vernünftigen Menschen davon zu überzeugen, daß die Einzelheiten Ihrer Story war sind?«

Stefan hatte eine Testfrage dieser Art erwartet und war darauf vorbereitet. »Da ich in der Zukunft gewesen bin und Teile Ihrer Schilderung des Krieges gelesen habe, Sir, habe ich gewußt, daß Sie heute und zu diesem Zeitpunkt hier unten anzutreffen sein würden. Darüber hinaus habe ich gewußt, was Sie in der Stunde vor dem Zusammentreffen des Kriegskabinetts hier unten tun würden.«

Der Premierminister paffte seine Zigarre und zog die Augenbrauen hoch.

»Sie haben vorhin einen Funkspruch an General Alexander in Italien diktiert und Ihre Besorgnis über die Führung der Schlacht um die Stadt Cassino, die sich unter schweren Verlusten hinzieht, zum Ausdruck gebracht.«

Churchills Miene blieb undurchdringlich. Stefans Wissen mußte ihn verblüfft haben, aber er dachte nicht daran, ihn durch ein Nicken oder auch nur ein Zusammenkneifen der Augen zu ermutigen.

Stefan brauchte keine Ermutigung, denn er wußte, daß seine Behauptung stimmte. »Aus der Geschichte des Krieges, die Sie später schreiben werden, habe ich mir den Anfangssatz Ihres Funkspruchs an General Alexander gemerkt: >Ich wollte, Sie würden mir erklären, weshalb dieser Abschnitt beim Klosterberg Cassino et cetera - alles auf einer Frontlänge von zwei oder drei Meilen - der einzige Ort ist, gegen den Sie immer wieder anrennen müssen.««

Der Premierminister zog erneut an seiner Zigarre, blies einen Rauchring und betrachtete Stefan prüfend. Ihre Stühle waren kaum einen Meter voneinander entfernt, und Stefan fand Churchills nachdenkliche Begutachtung entnervender, als er sich vorgestellt hatte.

»Und das wissen Sie aus etwas, was ich in Zukunft schreiben werde?« fragte der Premierminister schließlich.

Stefan stand auf, griff nach den sechs dicken Bänden, die die Wachen aus seinem Rucksack geholt hatten - eine Taschenbuchausgabe der Houghton Mifflin Company zu 9,95 Dollar pro Band - und breitete sie vor Winston Churchill auf dem Tisch aus. »Dies ist Ihre sechsbändige Geschichte des Zweiten Weltkriegs, Sir, die als Standardwerk über diesen Krieg Bestand haben und als großes historisches und literarisches Werk anerkannt sein wird.« Er wollte hinzufügen, daß Churchill den Literaturnobelpreis des Jahres 1953 hauptsächlich wegen dieses Werks erhalten würde, aber dann verzichtete er doch auf diese Enthüllung. Ein Leben ohne große Überraschungen wie diese würde weit weniger spannend sein.

Der Premierminister begutachtete die Einbände aller sechs Bücher und gestattete sich ein Lächeln, während er den dreizeiligen Auszug aus der im »Times Literary Supplement« erschienenen Besprechung las. Dann blätterte er einen Band flüchtig durch, ohne sich jedoch die Zeit zu nehmen, darin zu lesen.

»Das sind keine raffinierten Fälschungen«, versicherte Stefan ihm. »Sie brauchen nur irgendeine Seite aufzuschlagen, um Ihren einzigartigen, unverwechselbaren Stil zu erkennen. Sie werden ...«

»Ich brauche sie nicht zu lesen. Ich glaube Ihnen, Stefan Krieger.« Er schob die Bücher weg und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Und ich glaube zu wissen, was Sie von mir wollen. Ich soll einen Luftangriff auf Berlin befehlen, dessen einziges Ziel der Stadtbezirk ist, in dem Ihr Institut liegt.«

»Genau, Sir! Es muß zerstört werden, bevor die dort arbeitenden Wissenschaftler die aus der Zukunft zurückgebrachten Informationen über Nuklearwaffen ausgewertet und sich auf ein Verfahren geeinigt haben, sie deutschen Atomforschern zugänglich zu machen - was in allernächster Zeit passieren könnte. Sir, Sie müssen handeln, bevor sie etwas aus der Zukunft holen, das den Krieg zu ihren Gunsten entscheiden könnte. Ich zeichne Ihnen die genaue Lage des Instituts auf. Schließlich haben amerikanische und britische Bomber seit Jahresbeginn Tag- und Nachtangriffe auf Berlin geflogen .«

»Im Unterhaus hat’s lautstarke Proteste gegen die Bombardierung von Städten gegeben«, stellte Churchill fest.

»Ja, aber Angriffe auf Berlin sind trotzdem möglich. Wegen des eng begrenzten Zielraums kommt natürlich nur ein Angriff bei Tag in Frage. Aber wenn es gelingt, diesen Straßenblock in Trümmer zu legen .«

»Wir müssen mehrere Blocks im Umkreis des Ziels vernichten«, sagte der Premierminister. »Unsere Treffsicherheit ist nicht so hoch, daß wir gewissermaßen nur einen Block herausoperieren könnten.«

»Ja, ich verstehe. Aber Sie müssen diesen Angriff befehlen, Sir! Auf den Bezirk mit dem Institut müssen in den kommenden Tagen mehr Bomben fallen, als auf jedes andere Ziel auf dem europäischen Kriegsschauplatz fallen werden. Vom Institut darf kein Stein auf dem anderen bleiben!«

Churchill schwieg ein, zwei Minuten lang, beobachtete den aus seiner Zigarre aufsteigenden dünnen blauen Rauchfaden und dachte nach. »Darüber muß ich natürlich mit meinen Beratern sprechen«, sagte er schließlich, »aber ich glaube, daß wir mindestens zwei Tage für die Angriffsvorbereitungen brauchen. Also nicht vor dem Zweiundzwanzigsten, vielleicht sogar erst am Dreiundzwanzigsten.«

»Das müßte reichen, glaube ich«, bestätigte Stefan aufatmend. »Aber nicht später! Um Himmels willen, Sir, nicht später!«

18

Während die Frau am linken vorderen Kotflügel des Buick kauerte und die Wüste nördlich ihrer Position absuchte, beobachtete Klietmann sie aus seinem Versteck hinter mit Tum-bleweeds verfilzten Mesquitebüschen. Sie sah ihn nicht. Sobald sie zum anderen Kotflügel hinüberkroch, sprang er auf und hastete tiefgeduckt zu der nächsten Deckung: einem vom Wind bizarr verformten Felsfinger, der schmäler war als sein Körper.

Der Obersturmführer verfluchte lautlos seine Bally-Slipper, deren Ledersohlen für diesen Einsatz viel zu glatt waren. Daß man die Angehörigen eines Mordkommandos wie Jungmanager - oder Baptistengeistliche - ausstaffiert hatte, erschien ihm jetzt närrisch. Wenigstens taugte die Ray-Ban-Sonnenbrille etwas. Das Sonnenlicht wurde von jedem Stein, von jeder schrägen Sandfläche gleißend hell zurückgeworfen; ohne die Sonnenbrille hätte er den Wüstenboden nicht so deutlich gesehen und wäre bestimmt mehr als einmal gestolpert und hingeknallt.

Als Klietmann sich eben wieder hinwerfen wollte, hörte er die Frau in die entgegengesetzte Richtung schießen. Das bewies, daß sie abgelenkt war - folglich rannte er weiter. Im nächsten Augenblick hörte er gellende Schreie, die kaum noch etwas Menschenähnliches an sich hatten: Es klang wie die Schreie eines Tieres, das bei lebendem Leib von einem Raubtier zerfleischt wurde.

Er warf sich erschrocken in eine lange schmale Felsmulde, in der ihn die Frau nicht sehen konnte, robbte bis ans Ende des felsigen Trogs und blieb dort schweratmend liegen. Als er langsam den Kopf hob, um über den Felsrand hinwegsehen zu können, stellte er fest, daß er sich etwa 15 Meter nördlich der hinteren Tür des Buicks befand. Gelang es ihm, noch ein paar Meter nach Osten zu voranzukommen, befand er sich genau hinter der Frau - in idealer Position, um sie zu erledigen.

Die Schreie wurden leiser, verstummten.

Da Laura vermutete, der vordere Mann südlich von ihr werde zunächst in Deckung bleiben, weil das Sterben seines Partners ein Schock für ihn sein mußte, kroch sie erneut zum anderen Kotflügel hinüber. »Zwei Minuten, Baby«, sagte sie, als sie an Chris vorbeikam. »Höchstens noch zwei Minuten.«

An die Kotflügelkante gepreßt im Sand kauernd beobachtete sie ihre Nordflanke. Die Wüste dort draußen schien nach wie vor unbelebt zu sein. Der leichte Wind hatte sich gelegt, so daß selbst die Tumbleweeds stillagen.

Wären die Angreifer nur zu dritt gewesen, hätten sie bestimmt keinen Mann beim Toyota zurückgelassen und zu zweit versucht, sie in gleicher Richtung zu umgehen. Wären sie nur zu dritt gewesen, hätten die zwei im Süden sich getrennt, damit einer von ihnen sie im Norden umgehen konnte. Das bedeutete, daß irgendwo zwischen Schiefer und Sand und Wüstenvegetation nordwestlich des Buick ein vierter Mann - vielleicht sogar ein fünfter - lauerte.

Aber wo?

19

Als Stefan dem Premierminister gedankt hatte und sich erhob, deutete Churchill auf die Bücher auf dem Tisch. »Vergessen Sie die lieber nicht«, sagte er. »Wenn Sie sie zurückließen -welche Versuchung, von mir selbst abzuschreiben!«

Churchill legte seine Zigarre in den Aschenbecher und stand ebenfalls auf. »Besäße ich diese Bücher jetzt, wie sie später erscheinen werden, wäre ich nicht damit zufrieden, sie ohne Überarbeitung erscheinen zu lassen. Ich würde bestimmt Dinge finden, die verbessert werden müßten, und die Jahre unmittelbar nach dem Krieg damit verbringen, endlos daran herumzupfuschen - nur um nach Fertigstellung und Erscheinen feststellen zu müssen, daß ich genau das rausgenommen oder geändert habe, was das Werk in der Zukunft zum Klassiker gemacht hat.«

Stefan lachte.

»Das ist mein Ernst«, versicherte Churchill ihm. »Sie haben mir erzählt, daß meine Geschichte das Standardwerk sein wird. Dieses Wissen genügt mir. Ich werde sie sozusagen schreiben, wie ich sie geschrieben habe, und nicht versuchen, mich selbst zu kommentieren.«

»Das ist vielleicht besser«, bestätigte Stefan.

Während Stefan die sechs Bücher in seinem Rucksack verstaute, stand Churchill mit auf den Rücken gelegten Händen neben ihm und wippte leicht auf den Zehenspitzen. »Es gibt so vieles, was ich Sie über die Zukunft fragen möchte, die ich jetzt mitgestalten helfe. Dinge, die mich mehr interessieren als die Frage, ob ich erfolgreiche Bücher schreiben werde.«

»Ich muß wirklich fort, Sir, aber ...«

»Ja, ich weiß«, sagte der Premierminister. »Ich will Sie nicht länger aufhalten. Aber eine Frage könnten Sie mir wenigstens noch beantworten ... Hmm, lassen Sie mich nachdenken. Gut, wie geht’s nach dem Krieg beispielsweise mit den Russen weiter?«

Stefan zögerte und zog erst den Reißverschluß seines Rucksacks zu, um Zeit zu gewinnen. »Tut mir leid, Sir, aber ich muß Ihnen mitteilen, daß die Sowjetunion weit mächtiger als Großbritannien und fast so mächtig wie die Vereinigten Staaten sein wird.«

Churchill wirkte erstmals überrascht. »Ihr verabscheuungswürdiges System wird tatsächlich zu wirtschaftlichem Erfolg, zu Wohlstand führen?«

»Nein, nein. Ihr System führt zu wirtschaftlichem Ruin -aber auch zu gewaltiger Militärmacht. Die Sowjets werden ihren gesamten Herrschaftsbereich rücksichtslos militarisieren und alle Andersdenkenden ausschalten. Nach Aussagen Sachkundiger machen ihre Konzentrationslager denen des Dritten Reiches Konkurrenz.«

Obwohl die Miene des Premierministers undurchdringlich blieb, konnte er die Besorgnis in seinem Blick nicht verbergen. »Aber sie sind doch jetzt unsere Verbündeten ...«

»Ganz recht, Sir. Und ohne sie würde der Krieg gegen das Dritte Reich vielleicht nicht gewonnen werden.«

»Oh, er würde gewonnen werden«, meinte Churchill zuversichtlich, »nur eben langsamer.« Er seufzte. »Die Politik bringt seltsame Bettgenossen zusammen, noch seltsamere Gespanne aber entstehen durch die Sachzwänge eines Krieges.«

Stefan war abreisebereit.

Sie schüttelten sich die Hand.

»Ihr Institut wird restlos in Trümmer gelegt«, sagte der Premierminister noch. »Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

»Das genügt mir völlig«, versicherte Stefan ihm.

Er griff unter sein Hemd und drückte dreimal auf den gelben Knopf, der den Rückholgürtel aktivierte.

Scheinbar im selben Augenblick fand er sich in Berlin im Institut wieder. Er verließ das zylinderförmige Tor und trat wieder ans Programmierpult. Die Uhr zeigte, daß genau elf Minuten vergangen waren, seitdem er von hier zu dem bombensicheren Bunker unter dem Londoner Pflaster abgereist war.

Seine Schulter tat noch immer weh, aber die Schmerzen waren nicht schlimmer geworden. Das unablässige Pochen ermüdete ihn jedoch so, daß er in den Programmierersessel sank, um sich kurz auszuruhen.

Danach programmierte Stefan das Tor mit den im Jahre 1989 von dem IBM-PC errechneten Zahlen für seine vorletzte Zeitreise. Diesmal würde er fünf Tage weit in die Zukunft reisen und am 21. März um 23 Uhr in einem anderen bombensicheren unterirdischen Bunker eintreffen - nicht in London, sondern hier in Berlin.

Sobald das Tor betriebsbereit war, betrat er den Stahlzylinder, ohne eine Waffe mitzunehmen. Auch Churchills sechsbändige Geschichte des Zweiten Weltkriegs blieb diesmal zurück.

Als er im Inneren des Stahlzylinders den Übergangspunkt passierte, drang das vertraute unangenehme Kribbeln von außen durch seine Haut ein, durchlief sein Fleisch und erreichte sein Knochenmark, um von dort aus augenblicklich wieder den umgekehrten Weg zu nehmen.

Der fensterlose unterirdische Raum, in dem Stefan ankam, wurde nur durch eine Lampe auf dem Schreibtisch in der Ecke und kurzzeitig durch die von ihm mitgebrachten elektrischen Entladungen erhellt. In diesem unheimlichen Lichtschein war Hitler deutlich zu erkennen.

20

Noch eine Minute.

Laura kauerte an den Buick gepreßt neben Chris. Ohne ihre Haltung zu verändern, blickte sie zuerst nach Süden, wo ein Mann in Deckung lag, wie sie genau wußte, dann nach Norden, wo vermutlich weitere Feinde lauerten.

Über die Wüste hatte sich eine übernatürliche Stille gelegt. Der windlose Tag besaß nicht mehr Atem als eine Leiche. Die Sonne hatte das ausgedörrte Land mit soviel Licht übergossen, daß es fast so hell war wie der Himmel: An den Rändern der Ebene unterschied der helle Himmel sich so wenig von der hellen Wüste, daß der Horizont praktisch verschwand. Obwohl die Temperatur lediglich etwas über 25° C betrug, schienen alle Gegenstände - jeder Fels und jede Pflanze und jeder Sandhügel - von der Hitze aneinandergeschweißt zu sein.

Noch eine Minute.

Bestimmt dauerte es nur noch eine Minute oder weniger, bis Stefan aus dem Jahre 1944 zurückkehrte, und er würde ihnen irgendwie sehr helfen nicht nur wegen seiner Uzi, sondern weil er ihr Beschützer war. Ihr Beschützer. Obwohl Laura jetzt wußte, woher er kam, und ihm keine übernatürlichen Fähigkeiten mehr zuschrieb, blieb er in ihren Augen in gewisser Beziehung eine überlebensgroße Gestalt, die imstande war, Wunder zu wirken.

Keine Bewegung im Süden.

Keine Bewegung im Norden.

»Sie kommen«, flüsterte Chris.

»Uns passiert nichts, Schatz«, sagte sie leise. Zugleich klopfte ihr Herz nicht nur vor Angst, sondern schmerzte im Gefühl eines Verlustes, als ahne sie auf irgendeiner Ebene ihres Unterbewußtseins, daß ihr Sohn das einzige Kind, das sie je haben würde, das Kind, das eigentlich nie hatte existieren sollen -bereits tot war: nicht wegen ihres Versagens als seine Beschützerin, sondern weil das Schicksal sich nicht überlisten ließ. Nein. Verdammt noch mal, nein! Diesmal würde sie das Schicksal besiegen. Sie würde ihren Jungen festhalten. Sie würde ihn nicht verlieren, wie sie im Laufe der Jahre so viele geliebte Menschen verloren hatte. Er gehörte ihr - nicht dem Schicksal. Chris gehörte ihr. »Uns passiert nichts, Schatz.«

Nur noch eine halbe Minute.

Plötzlich sah sie im Süden eine Bewegung.

21

In Hitlers Arbeitszimmer im Berliner Führerbunker schlängelte die durch Stefans Zeitreise verdrängte Energie sich von seinem Körper ausgehend in hellen, zischenden Flammenzungen davon: in Hunderten von bläulichen Feuerschlangen, die wie in dem unterirdischen Londoner Konferenzraum über den Fußboden und die Wände hinauf züngelten. Dieses grelle, lautstarke Phänomen lockte jedoch keine Wachen aus anderen Bunkerräumen herbei, denn im Augenblick hatte Berlin einen weiteren anglo-amerikanischen Bombenangriff durchzustehen. Der Führerbunker erzitterte unter den Detonationen schwerer Bomben in der Stadt, und selbst in dieser Tiefe überdeckte das Donnern des Bombenangriffs die Geräusche, von denen Stefans Ankunft begleitet war. Hitler drehte sich mit seinem Drehsessel nach Stefan um. Er ließ ebensowenig Überraschung erkennen wie Churchill; andererseits war er im Gegensatz zu dem britischen Premierminister natürlich über die Arbeit des Instituts informiert und begriff sofort, wie Stefan sich in seinem Arbeitszimmer materialisiert hatte. Außerdem kannte er Stefan als den Sohn eines seiner frühesten und treuesten Anhänger und als einen SS-Führer, der viele Jahre für die gemeinsame Sache gearbeitet hatte.

Obwohl Stefan nicht damit gerechnet hatte, Hitler werde überrascht sein, hatte er gehofft, diese Züge einmal angstverzerrt zu erleben. Falls der Führer die Gestapomeldungen über die neuesten Ereignisse im Institut gelesen hatte - was er bestimmt getan hatte -, wußte er, daß Stefan vorgeworfen wurde, Penlowski, Janusky und Wolkow vor sechs Tagen, am 15. März 1944, erschossen zu haben, bevor er selbst in die Zukunft geflüchtet war. Hitler glaubte vermutlich, Stefan habe auch diese Zeitreise unbefugt unternommen, bevor er die Wissenschaftler ermordet habe, und habe die Absicht, ihn nun ebenfalls zu erschießen. Trotzdem ließ er sich keine Angst anmerken: Er blieb sitzen, öffnete gelassen eine Schreibtischschublade und zog eine Luger hervor.

Noch während die letzten elektrischen Entladungen sich davonschlängelten, schlug Stefan die Hacken zusammen, hob den rechten Arm zum Deutschen Gruß und schmetterte markig: »Heil, mein Führer!« Um zu demonstrieren, daß er in friedlicher Absicht gekommen sei, ließ er sich auf ein Knie nieder, als kniee er vor einem Altar, und senkte den Kopf, so daß er ein leichtes, keinen Widerstand bildendes Ziel bildete. »Mein Führer, ich bin hergekommen, um meinen guten Namen reinzuwaschen und Sie vor Verrätern im Institut und unter den dorthin abkommandierten Gestapo-Beamten zu warnen.«

Der Diktator schwieg lange.

Die Druckwellen des nächtlichen Bombenangriffs pflanzten sich durch die Erde und die sechs Meter dicken Stahlbetonwände fort und füllten den Bunker unaufhörlich mit einem tiefen, bedrohlich klingenden Dröhnen. Bei jeder Detonation in Bunkernähe klapperten die drei Ölgemälde nach der Eroberung Frankreichs aus dem Louvre nach Berlin entführt an den Wänden, und aus dem großen Kupferkessel mit Bleistiften auf Hitlers Schreibtisch kam ein hohles, vibrierendes Geräusch.

»Stehen Sie auf, Stefan«, forderte Hitler ihn jetzt auf. »Nehmen Sie Platz.« Er deutete auf einen braunen Ledersessel, eines der nur fünf Möbelstücke in diesem beengten, fensterlosen Arbeitszimmer. Dann legte er die Luger auf seinen Schreibtisch - allerdings in bequemer Reichweite. »Ich hoffe nicht nur um Ihre Ehre, sondern auch um der Ihres Vaters und der Schutzstaffel willen, daß Sie so unschuldig sind, wie Sie behaupten.«

Stefan sprach energisch, weil er wußte, daß Hitler dafür empfänglich war; zugleich sprach er jedoch auch mit gespielter Ehrfurcht, als glaube er tatsächlich, sich in Gegenwart eines Mannes zu befinden, der das wahre Wesen des deutschen Volkes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verkörperte. Noch besser als energisches Auftreten gefiel Hitler nämlich die kriecherische Ehrfurcht, die bestimmte Gefolgsleute ihm entgegenbrachten. Die Gratwanderung zwischen diesen beiden Extremen war schwierig, aber für Stefan, war dies nicht das erste Gespräch mit dem Führer: Er hatte schon einige Übung darin, sich bei diesem Größenwahnsinnigen, dieser Viper in Menschengestalt einzuschmeicheln.

»Mein Führer, ich habe Wladimir Penlowski, Janusky und Wolkow nicht erschossen. Das ist Kokoschka gewesen. Er hat Hochverrat begangen. Ich habe ihn im Institutsarchiv ertappt, unmittelbar nachdem er Janusky und Wolkow ermordet hatte. Er hat auch auf mich geschossen.« Stefan legte seine Rechte aufs linke Schlüsselbein. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Wunde zeigen. Angeschossen bin ich dann vor ihm ins Hauptlabor geflüchtet. Ich war verwirrt, weil ich nicht beurteilen konnte, wie viele Institutsangehörige in diese Verschwörung verwickelt waren. Und da ich nicht wußte, wen ich um Hilfe hätte bitten können, hat es für mich nur eine Rettungsmöglichkeit gegeben -ich bin durchs Tor in die Zukunft geflüchtet, bevor Kokoschka mich einholen und mir den Rest geben konnte.«

»Der Bericht von Hauptkommissar Kokoschka lautet ganz anders. Er behauptet darin, Sie angeschossen zu haben, als Sie durchs Tor flüchten wollten, nachdem Sie Penlowski und die anderen ermordet hatten.«

»Wäre ich dann hierher zurückgekehrt, mein Führer?« fragte Stefan. »Wäre ich ein Verräter, der mehr Vertrauen zur Zukunft hat als zu Ihnen, dann wäre ich bestimmt in der Zukunft geblieben.«

»Aber sind Sie dort denn sicher gewesen Stefan?« erkundigte Hitler sich verschlagen lächelnd. »Soviel ich weiß, sind in der Zukunft zwei Gestapo-Trupps und später ein SS-Kommando auf Sie angesetzt worden.«

Bei der Erwähnung des SS-Kommandos erschrak Stefan, dann das mußte die Gruppe sein, die weniger als eine Stunde vor seiner Abreise in Palm Springs eingetroffen war - die Gruppe, deren Ankunft die Blitze aus heiterem Himmel angekündigt hatten. Weil er der SS weit mehr Pflichtbewußtsein und mörderische Fähigkeiten zutraute als der Gestapo, machte er sich plötzlich Sorgen um Laura und den Jungen.

Darüber hinaus aber erkannte er, daß man Hitler verschwiegen hatte, daß eine Frau die Gestapo-Trupps zurückgeschlagen hatte: Hitler, der nicht wußte, daß Stefan im Koma gelegen hatte, mußte glauben, er habe sie allein abgewehrt. Das paßte zu dem, was er erzählen wollte, deshalb sagte er: »Jawohl, mein Führer, ich habe mich guten Gewissens gegen diese Männer zur Wehr gesetzt, denn ich wußte, daß sie alle Verräter waren, die mich zum Schweigen bringen wollten, damit ich nicht zurückkommen und Sie vor den im Institut tätigen Verschwörern warnen könnte. Kokoschka und fünf weitere Männer aus dem Institut sind seither verschwunden, nicht wahr? Sie haben kein Vertrauen zur Zukunft des Reichs gehabt, und da sie fürchten mußten, ihre Beteiligung an den Morden vom 15. werde bald aufgedeckt werden, sind sie in die Zukunft geflohen, um sich in einer anderen Ära zu verstecken.«

Stefan machte eine Pause, um das bisher Gesagte einwirken zu lassen.

Während die Detonationen über ihnen abnahmen, als wäre der Bomberstrom versiegt, starrte Hitler seinen Besucher prüfend an. Sein Blick war ebenso direkt wie der Winston Churchills, aber aus ihm sprach nichts von der klaren, geradlinigen Einschätzung von Mann zu Mann. Statt dessen betrachtete Hitler Stefan aus der Perspektive des selbsternannten Gottes, eines bösartigen Gottes, der nicht seine Geschöpfe liebte, sondern nur deren Gehorsam.

»Gut, nehmen wir einmal an, es gäbe im Institut Verräter«, meinte Hitler schließlich. »Welche Absichten hätten sie?«

»Sie zu täuschen, mein Führer«, antwortete Stefan sofort. »In der Hoffnung, Sie dadurch zu militärischen Fehlentscheidungen provozieren zu können, legen sie Ihnen falsche Informationen aus die Zukunft vor. Sie haben Ihnen weiszumachen versucht, praktisch alle in den letzten eineinhalb Kriegsjahren von Ihnen getroffenen Entscheidungen würden sich als Fehler erweisen - aber das stimmt nicht! Nach dem jetzigen Stand der Dinge verlieren Sie den Krieg nur äußerst knapp. Schon geringfügige Abänderungen Ihrer Strategie könnten Ihnen den Sieg bringen!«

Hitler kniff die Augen zusammen, seine Miene verfinsterte sich - nicht aus Mißtrauen gegenüber Stefan, sondern weil er plötzlich allen im Institut mißtraute, die ihm verklausuliert mitgeteilt hatten, er werde in den kommenden Monaten fatale militärische Fehlentscheidungen treffen. Stefan ermutigte ihn, wieder an seine Unfehlbarkeit zu glauben, und der Verrückte war nur allzu gerne bereit, sich erneut auf sein vermeintliches Feldherrentalent zu verlassen.

»Mit geringfügigen Abänderungen meiner Strategie?« erkundigte Hitler sich. »Und woraus könnten diese bestehen?«

Stefan zählte rasch sechs Punkte auf, die seiner Meinung nach einige der wichtigsten zukünftigen Schlachten entscheiden würden; in Wahrheit aber würden gerade diese den Ausgang des Krieges nicht beeinflussen - die Schlachten, von denen er sprach, gehörten nicht zu den Entscheidungsschlachten der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs.

Hitler, der jedoch hören wollte, daß er beinahe gesiegt hätte, statt der sichere Verlierer zu sein, akzeptierte Stefans Ratschläge jetzt als die reine Wahrheit, weil sie kühne taktische Entscheidungen voraussetzten, die sich nur wenig von denen unterschieden, die der Diktator selbst treffen würde. Jetzt stand er auf und ging erregt in dem kleinen Bunkerraum auf und ab. »Schon bei den ersten mir vom Institut vorgelegten Berichten habe ich geahnt, daß sie die Zukunft irgendwie nicht richtig darstellten. Ich fühlte, daß es nicht sein konnte, daß ich diesen Krieg so lange so brillant führte - um dann plötzlich einen Mißerfolg nach dem anderen zu ernten. Gewiß, wir stecken gegenwärtig in einer Krise, aber auch die geht vorüber. Die langerwartete Invasion der Anglo-Amerikaner wird fehlschlagen; wir werden sie ins Meer zurückwerfen.« Er sprach beinahe flüsternd, aber mit der aus seinen vielen öffentlichen Reden wohlvertrauten hypnotischen Leidenschaftlichkeit. »Nach diesem fehlgeschlagenen Frontalangriff werden sie den größten Teil ihrer Reserven verbraucht haben; sie werden auf breiter Front zurückweichen müssen und viele Monate lang zu keinem neuen Invasionsversuch imstande sein. Bis dahin bauen wir unsere Herrschaft in Europa aus, schlagen die russischen Barbaren und sind dann stärker denn je zuvor!« Er blieb stehen, blinzelte, als wäre er aus einer selbst hervorgerufenen Trance erwacht, und fragte: »Ja, was ist mit der Invasion der Westalliierten? Mit ihrem D-Day, wie sie ihn nennen werden? Nach Berichten des Instituts sollen die Anglo-Amerikaner in der Normandie landen.«

»Lügen!« behauptete Stefan. Jetzt waren sie bei dem Thema, das der eigentliche Zweck seines Besuchs in dieser Märznacht im Führerbunker war. Aus dem Institut hatte Hitler erfahren, daß die Invasion in der Normandie stattfinden würde. In der vom Schicksal vorausbestimmten Zukunft würde Hitler die Absichten der Alliierten falsch einschätzen und anderswo Vorbereitungen zur Abwehr der Invasion treffen, so daß die Normandie ungenügend verteidigt wurde. Stefan mußte ihn ermutigen, auf dieser seiner Strategie zu beharren, als habe das Institut nie existiert. Hitler mußte, wie vom Schicksal vorgesehen, den Krieg verlieren, und Stefan hatte jetzt die Aufgabe, die Glaubwürdigkeit des Instituts zu untergraben und dadurch den Erfolg der alliierten Invasion in der Normandie sicherzustellen.

22

Klietmann hatte es geschafft, an dem Buick vorbei noch einige Meter nach Osten voranzukommen, wodurch er in den Rücken der Frau gelangt war. Er lag reglos hinter niedrigen Quarzzak-ken, die von hellblauen Adern durchzogen waren, und wartete darauf, daß Hubatsch sich im Süden von ihr zeigte. Sobald die Frau auf diese Weise abgelenkt war, würde Klietmann aufspringen und mit hämmernder Uzi auf sie losstürmen. Er würde sie durchsieben, bevor sie auch nur Zeit hatte, sich umzudrehen und einen Blick ins Gesicht ihres Mörders zu werfen.

Los, Scharführer, bleib nicht in Deckung wie ein feiger Judenlümmel! dachte Klietmann aufgebracht. Zeig dich, zieh ihr Feuer auf dich!

Sekunden später kam Hubatsch aus seiner Deckung, und die Frau sah ihn losrennen. Während sie sich auf ihn konzentrierte, sprang Klietmann hinter seinem blaugeäderten Quarzfelsen auf.

23

Im Führerbunker beugte Stefan sich im Ledersessel vor und wiederholte: »Lügen, nichts als Lügen, mein Führer. Dieser Versuch, Ihre strategischen Reserven in Richtung Normandie zu locken, ist der Kernpunkt des von den Verschwörern im Institut geschmiedeten Plans. So sollen Sie dazu veranlaßt werden, einen schweren Fehler zu machen, den Sie an sich nicht machen würden. Sie sollen sich auf die Normandie konzentrieren; in Wirklichkeit liegt das Invasionsgebiet jedoch bei .«

»Calais!« warf Hitler ein.

»Ganz recht.«

»Ich habe schon immer vermutet, daß die Landung im Gebiet um Calais stattfinden wird. Sie werden den Ärmelkanal an der engsten Stelle überqueren wollen.«

»Sie haben recht, mein Führer«, bestätigte Stefan.

»Allerdings kommt es am 7. Juni zu Landungen in der Normandie .«

In Wirklichkeit würde die Invasion am 6. Juni beginnen, aber am 6. würde das Wetter so schlecht sein, daß das deutsche Oberkommando ein alliiertes Landungsunternehmen für ausgeschlossen hielt ». aber das ist lediglich ein mit schwachen Kräften unternommenes Ablenkungsmanöver, um unsere besten Panzerdivisionen an die normannische Küste zu locken, während die eigentliche Invasionsfront fast gleichzeitig bei Calais eröffnet wird.«

Diese Informationen bestärkten den Diktator in seinen Vorurteilen und seinem Glauben an die eigene Unfehlbarkeit. Er ließ sich wieder in seinen Sessel fallen und schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte. »Ich hab’s gewußt! Was Sie sagen, klingt richtig, Stefan. Aber ... mir sind Dokumente - aus der Zukunft zurückgebrachte Fotokopien der entsprechenden Seiten aus Geschichtswerken - vorgelegt worden, die ...«

»Fälschungen«, behauptete Stefan, wobei er sich darauf verließ, daß die Paranoia des anderen diese Lüge plausibel erscheinen lassen würde. »Anstatt Ihnen echte Dokumente vorzulegen, hat man eigens Fälschungen hergestellt, um Sie irrezuführen.«

Mit etwas Glück würde die von Churchill zugesagte Bombardierung des Instituts morgen stattfinden und zur Vernichtung der Zeitmaschine, aller zu einem Neubau befähigten Wissenschaftler und sämtlichen aus der Zukunft mitgebrachten Materials führen. Danach würde Hitler keine Möglichkeit mehr haben, den Wahrheitsgehalt von Stefans Behauptungen überprüfen zu lassen.

Hitler saß etwa eine Minute lang schweigend da, starrte die Luger auf seinem Schreibtisch an und dachte angestrengt nach.

Über ihnen nahm der Luftangriff wieder an Intensität zu und ließ die Bilder an den Wänden und die Bleistifte in dem Kupferkessel klappern.

Stefan wartete ängstlich gespannt darauf, ob er Glauben finden würde.

»Wie sind Sie hierhergekommen?« wollte Hitler dann wissen. »Wie haben Sie das Tor jetzt noch benützen können? Soviel ich weiß, wird es streng bewacht, seitdem Kokoschka und die anderen fünf desertiert sind.«

»Ich bin nicht durchs Tor zu Ihnen gekommen«, antwortete Stefan. »Ich habe nur meinen Zeitreisegürtel benützt und bin geradewegs aus der Zukunft gekommen.«

Dies war die frechste seiner bisherigen Lügen, denn der Gürtel war keine Zeitmaschine, sondern lediglich ein Rückkehrgerät, das seinen Träger ins Institut zurückbrachte. Stefan vertraute darauf, daß Hitler zwar von der Zeitmaschine und ihrer Funktionsweise wußte, ihm aber vermutlich Detailkenntnisse fehlten. Vielleicht wußte er gar nicht, wie die Gürtel tatsächlich funktionierten.

Merkte Hitler jedoch, daß Stefan aus dem Institut gekommen war, dann würde ihm auch klarwerden, daß Kokoschka und die fünf anderen keine Deserteure waren. Damit brach das ganze Verschwörermärchen zusammen - und Stefan war ein toter Mann.

»Sie haben den Gürtel ohne die Maschine benützt?« fragte der Diktator stirnrunzelnd. »Ist das möglich?«

Stefans Kehle war vor Angst wie ausgedörrt, aber er sprach trotzdem überzeugend. »Ja, mein Führer, es ist ganz leicht, den Gürtel ... so einzustellen, daß er einen nicht ins Tor, sondern an einen beliebigen anderen Ort zurückbringt. Und wir können von Glück sagen, daß das der Fall ist, denn bei einer Rückkehr ins Institut wäre ich von den Juden, die bedauerlicherweise das Tor kontrollieren, am Herkommen gehindert worden.«

»Juden?« fragte Hitler verblüfft.

»Ja, mein Führer. Die Verschwörung innerhalb des Instituts ist meines Wissens nach das Werk jüdisch versippter Mitarbeiter, die es verstanden haben, ihre Abstammung zu verheimlichen.«

Die Miene des Geistesgestörten verhärtete sich in plötzlichem Zorn. »Juden! Immer das gleiche Problem! Jetzt auch im Institut.«

Als Stefan das hörte, wußte er, daß er gewonnen hatte und es ihm gelungen war, den Gang der Geschichte wieder in die rechte Bahn zu lenken.

Das Schicksal bemüht sich, ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinien durchzusetzen.

24

»Chris, kriech lieber unter den Wagen«, forderte Laura ihn auf.

Noch während sie sprach, kam der Bewaffnete südwestlich von ihr mit einem Sprung aus seinem Versteck, sprintete auf sie und den Rand des Arrayos zu und suchte offenbar den spärlichen Schutz einer weiteren niedrigen Sanddüne.

Sie richtete sich blitzschnell auf, vertraute darauf, daß der Buick ihr Deckung vor dem Mann hinter dem Toyota bieten würde, und eröffnete das Feuer. Das erste Dutzend Geschosse ließ Sand und Gesteinssplitter hinter den Füßen des Rennenden aufspritzen, aber der nächste Feuerstoß erwischte ihn an den Beinen. Der Mann brach schreiend zusammen und wurde auch am Boden noch mehrmals getroffen. Er wälzte sich zur Seite, verlor den Halt und fiel über die Felskante des an dieser Stelle mindestens zehn Meter tiefen Arroyos.

Noch während der Bewaffnete in die Tiefe stürzte, hörte Laura MP-Feuer - nicht aus der Richtung des Toyotas, sondern irgendwo hinter sich. Bevor sie sich herumwerfen und dieser neuen Gefahr begegnen konnte, wurde sie von einem Feuerstoß im Rücken getroffen, fiel nach vorn und blieb mit dem Gesicht nach unten auf dem harten Schiefergrund liegen.

25

»Juden!« wiederholte Hitler aufgebracht. Dann erkundigte er sich: »Was ist mit dieser Atomwaffe, die uns angeblich helfen soll, den Krieg zu gewinnen?«

»Eine weitere Lüge, mein Führer. Obwohl in der Zukunft immer wieder versucht werden wird, eine Waffe dieser Art zu entwickeln, wird es stets nur Mißerfolge geben. Die Sache ist ein Schwindel, den die Verschwörer ausgeheckt haben, um Forschungsmittel und -kapazitäten des Reichs durch ein sinnloses Projekt zu binden.«

Durch die Bunkerwände kam ein Rumpeln, als befänden sie sich nicht unter der Erde, sondern hoch in der Luft inmitten eines Gewitters.

Die schweren Bilderrahmen polterten gegen den Beton.

Die Bleistifte klapperten in ihrem Kupferkessel.

Hitler erwiderte Stefans Blick und starrte ihn lange prüfend an. »Wären Sie mir nicht treu ergeben«, meinte er dann, »hätten Sie einfach bewaffnet herkommen und mich im Augenblick Ihrer Ankunft erschießen können.«

Tatsächlich hatte Stefan mit diesem Gedanken gespielt, denn nur die Ermordung Adolf Hitlers hätte einige der Flecken von seiner eigenen Seele tilgen können. Aber es wäre eine egoistische Tat gewesen, denn mit dem Mord an Hitler hätte er den Gang der Geschichte radikal verändert und die ihm bekannte Zukunft extrem gefährdet. Er durfte nicht vergessen, daß seine Zukunft zugleich auch Lauras Vergangenheit war; falls er die vom Schicksal vorausbestimmten Entwicklungslinien durch seine Einmischung stark veränderte, konnte es geschehen, daß es der Welt im allgemeinen und Laura im besonderen viel schlechter ging. Wenn er Hitler hier ermordete, konnte es sein, daß er bei seiner Rückkehr ins Jahr 1989 eine drastisch veränderte Welt vorfand, in der es Laura nicht gab, nie gegeben hatte.

Er hätte diese Schlange in Menschengestalt am liebsten beseitigt, aber er konnte die Verantwortung für die daraus entstehende Welt nicht tragen. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, daß sie ohne Hitler eigentlich nur besser werden könne; andererseits wußte er, daß die Begriffe »Schicksal« und »gesunder Menschenverstand« einander ausschlossen.

»Richtig, mein Führer«, bestätigte er, »wäre ich ein Verräter, hätte ich genau das tun können. Und ich fürchte, daß die wahren Verräter im Institut eines Tages auf diese Attentatsmethode kommen werden.«

Hitler wurde sichtlich blaß. »Morgen lasse ich das Institut schließen!« knurrte er. »Das Tor wird versiegelt, bis ich sicher sein kann, daß der Mitarbeiterstab von Verrätern gesäubert ist.«

Vielleicht kommen Churchills Bomber dir zuvor, dachte Stefan.

»Wir werden siegen, Stefan, und wir werden den Sieg erringen, indem wir auf unser großes Schicksal vertrauen - nicht indem wir Wahrsager spielen. Wir werden siegen, weil wir vom Schicksal zu Siegern bestimmt sind.«

»Das ist unser Schicksal«, stimmte Stefan zu. »Wir stehen auf der Seite der Wahrheit.«

Endlich lächelte der Geistesgestörte. Von einer Sentimentalität erfaßt, die wegen des rasanten Stimmungswechsels um so eigenartiger war, sprach Hitler von Stefans Vater Franz und der ersten Zeit in München mit den Geheimtreffen in Anton Drex-lers Wohnung und den Kundgebungen im Eberlbräu und im Hofbräuhaus.

Stefan hörte eine Zeitlang scheinbar sehr interessiert zu, aber als Hitler ihm beteuerte, als Sohn Franz Kriegers genieße er nach wie vor sein unerschütterliches Vertrauen, nutzte Stefan diese Gelegenheit zum Aufbruch. »Und ich, mein Führer, glaube fest an Sie und bin für immer Ihr treuester Gefolgsmann.« Er war aufgestanden, hob die rechte Hand zum Deutschen Gruß und legte die linke unter seinem Hemd auf den Knopf des Gürtels. »Jetzt muß ich in die Zukunft zurück, um dort für Sie weiterzuarbeiten.«

»In die Zukunft?« fragte Hitler und stand auf. »Aber ... ich dachte, Sie würden jetzt in der Gegenwart bleiben? Was wollen Sie noch dort, nachdem Ihr guter Ruf doch wiederhergestellt ist?«

»Ich glaube zu wissen, wohin der Verräter Kokoschka sich abgesetzt, in welchem Winkel der Erde er Zuflucht gesucht hat. Ich muß ihn aufspüren und zurückbringen, denn vermutlich kennt Kokoschka die Namen der Verschwörer im Institut und kann dazu veranlaßt werden, sie preiszugeben.«

Er grüßte erneut, drückte dreimal auf den Knopf und verließ den Bunker, bevor Hitler antworten konnte.

Er kehrte am 16. März 1944 ins Institut zurück: am Abend des Tages, an dem Kokoschka in die San Bernardino Montains aufgebrochen war, um nie mehr zurückzukehren. Er hatte nach besten Kräften dafür gesorgt, daß das Institut vernichtet werden und Hitler allen von dort kommenden Informationen mißtrauen würde.

Hätte das SS-Kommando, das im Jahre 1989 offenbar Jagd auf Laura machte, ihm nicht so große Sorgen gemacht, wäre er von seinen Erfolgen begeistert gewesen. Am Programmierpult gab er die mit dem Computer errechneten Zahlen für seine letzte Zeitreise ein, die ihn in die Wüste außerhalb von Palm Springs führen würde, wo Laura und Chris am Morgen des 25. Januar 1989 auf ihn warteten.

26

Schon im Fallen wußte Laura, daß ihr Rückgrat von einer der Kugeln durchschlagen oder zerschmettert worden war, denn sie spürte keinerlei Schmerzen: Ihr gesamter Körper war vom Hals abwärts völlig gefühllos.

Das Schicksal versucht, ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinien durchzusetzen.

Die Schüsse hörten auf.

Laura konnte lediglich den Kopf bewegen - und nur so weit, daß sie Chris vor dem Buick stehen sah. Der Junge schien vor Entsetzen ebenso gelähmt zu sein, wie sie es durch die Kugel war, die ihr Rückgrat durchschlagen hatte. Und keine 15 Meter hinter Chris kam ein mit einer Maschinenpistole bewaffneter Mann mit Sonnenbrille, weißem Hemd und schwarzer Hose aus Norden herangetrabt.

»Chris«, sagte sie heiser, »lauf! Lauf!.«

Tiefster Schmerz verzerrte das Gesicht des Jungen, als wäre er sich darüber im klaren, daß er eine Sterbende zurücklasse. Dann rannte er nach Osten in die Wüste hinaus, so schnell seine kleinen Beine ihn tragen wollten, und war clever genug, dabei Haken zu schlagen, um ein möglichst schwieriges Ziel abzugeben.

Laura sah, wie der Killer seine Maschinenpistole hob.

Im Hauptlabor klappte Stefan die Abdeckung des automatischen Registriergeräts für Zeitreisen hoch.

Von dem fünf Zentimeter breiten Registrierstreifen ließ sich ablesen, daß an diesem Abend eine Zeitreise zum 10. Januar 1988 unternommen worden war: Heinrich Kokoschkas Reise in die San Bernardino Mountains, wo er Danny Packard erschossen hatte. Darüber hinaus hatte der Streifen acht Reisen ins Jahr 6 000 000 000 registriert: die fünf Männer und drei Bündel mit Versuchstieren. Ebenfalls festgehalten waren Stefans eigene Zeitreisen: zum 20. März 1944 mit den genauen Koordinaten des unterirdischen Lagezentrums am Londoner St. James’s Park, zum 21. März 1944 mit den genauen Koordinaten des Berliner Führerbunkers und das Ziel seiner letzten Reise, das er soeben eingegeben hatte - Palm Springs am 25. Januar 1989. Er riß den Registrierstreifen ab, steckte dieses Belastungsmaterial in die Tasche und spannte leeres Papier ein. Die Anzeigen des Programmierpults sprangen mit Beginn einer Zeitreise automatisch in Ausgangsstellung zurück. Die Wissenschaftler würden erkennen, daß jemand sich an dem Registriergerät zu schaffen gemacht hatte, aber sie würden glauben, das seien Kokoschka und die anderen Deserteure gewesen, die versucht hatten, ihre Spuren zu verwischen.

Stefan klappte den Gerätedeckel herunter und schlüpfte mit den Armen durch die Trageriemen des Rucksacks mit Churchills Büchern. Er hängte sich die Uzi über die Schulter und nahm die mit einem Schalldämpfer versehene Pistole vom Arbeitstisch.

Mit einem raschen Blick überzeugte er sich davon, daß er nichts zurückgelassen hatte, was seine Anwesenheit an diesem Abend hätte verraten können. Die IBM-Computerausdrucke steckten wieder zusammengefaltet in den Taschen seiner Jeans.

Und den Vexxon-Zylinder hatte er längst mit den Tieren in eine Zukunft geschickt, in der die Sonne erloschen war oder bald erlöschen würde. Soweit er es beurteilen konnte, hatte er nichts übersehen.

Stefan betrat das Tor und empfand bei der Annäherung an den Übergangspunkt mehr Hoffnung, als er seit vielen Jahren zu empfinden gewagt hatte. Durch serienweise machiavellisti-sche Manipulationen von Zeiten und Menschen war es ihm gelungen, die Zerstörung des Instituts und den Untergang des Dritten Reichs sicherzustellen - folglich würden Laura und er auch mit diesem SS-Mordkommando fertigwerden, das sich im Jahre 1989 irgendwo in Palm Springs herumtrieb.

»Nein!« kreischte Laura, gelähmt im Wüstensand liegend. Aber das Wort kam nur geflüstert heraus; sie besaß weder Atem noch Kraft genug, um es lauter hervorzustoßen.

Der Mann mit der Maschinenpistole eröffnete das Feuer auf Chris. Einen Augenblick lang war Laura davon überzeugt, daß der Junge hakenschlagend den Schußbereich verlassen habe -aber das war natürlich nur letztes verzweifeltes Wunschdenken, weil der Junge so klein war und so kurze Beine hatte. Chris befand sich sehr wohl im Schußbereich, als die Kugeln ihn fanden, eine blutige Spur über seinen schmalen Rücken zogen und ihn nach vorn in den Sand warfen, wo er in einer größer werdenden Blutlache reglos liegenblieb.

All die nicht wahrnehmbaren Schmerzen ihres ruinierten Körpers wären Laura im Vergleich zu den Qualen, die sie beim Anblick der leblosen Gestalt ihres kleinen Jungen empfand, wie kleine Nadelstiche vorgekommen. Bei keiner der Tragödien ihres Lebens hatte sie je solchen Schmerz empfunden. Es war, als kämen alle Verluste, die sie je erlitten hatte - der ihrer Mutter, die sie nie gekannt hatte, ihres liebevollen Vaters, Nina Dockweilers, der sanften Ruthie und Dannys -, nochmals geballt in dieser neuerlichen Brutalität, die das Schicksal ihr auferlegte, zurück, so daß Laura nicht nur den unbeschreibba-ren Schmerz über den Tod von Chris empfand, sondern erneut auch die Qualen aller vorangegangenen Tode erlebte. Sie lag gelähmt im Sand: körperlich gefühllos, aber geistig Höllenqualen erleidend - nicht mehr imstande, tapfer zu sein, zu hoffen, zu sorgen. Ihr kleiner Junge war tot. Sie hatte es nicht geschafft, ihn zu retten, und mit ihm war alle Freude gestorben. Sie fühlte sich in einem kalten, feindseligen Universum schrecklich allein und erhoffte sich jetzt nur noch den Tod, unendliche Leere oder zumindest das Ende aller Sehnsucht, aller Trauer.

Sie sah den Bewaffneten auf sich zukommen.

»Erschießen Sie mich, bitte, erschießen Sie mich, machen Sie Schluß mit mir ...«, sagte Laura, aber ihre Stimme war so schwach, daß er sie wahrscheinlich nicht hörte.

Was war der Sinn ihres Lebens gewesen? Wozu hatte sie alle Tragödien erduldet? Weshalb hatte sie gelitten und weitergelebt, wenn alles so enden mußte? Welches grausame Wesen lenkte das Universum, war imstande, sie zu zwingen, sich durch ein schwieriges Leben zu kämpfen, das sich zuletzt doch als sinn- und zwecklos erwies?

Christopher Robin war tot.

Laura spürte, daß ihr heiße Tränen übers Gesicht liefen, aber das war alles, was sie körperlich fühlen konnte - das und die Härte des Schiefergesteins unter ihrer rechten Gesichtshälfte.

Der Bewaffnete war mit wenigen raschen Schritten heran, stand über ihr und trat sie in die Rippen. Sie wußte, daß er sie getreten hatte, denn sie blickte an ihrem eigenen unbeweglichen Körper hinunter und sah, wie seine Schuhspitze ihre Rippen traf. Aber sie spürte nicht das geringste.

»Erschießen Sie mich«, murmelte sie.

Laura hatte plötzlich schreckliche Angst, das Schicksal könnte versuchen, die ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinie allzu genau durchzusetzen, so daß sie vielleicht am Leben bleiben, aber an den Rollstuhl gefesselt sein würde, vor dem Stefan sie durch seine Einmischung vor ihrer Geburt gerettet hatte. Chris war das Kind, das nie im Plan des Schicksals vorgesehen gewesen war, und er war jetzt ausradiert worden. Aber sie würde vielleicht nicht ausradiert werden, denn ihr Schicksal war doch gewesen, als Schwerbehinderte zu leben.

Jetzt hatte sie eine Vision ihrer Zukunft: lebend, am ganzen Körper gelähmt, an den Rollstuhl gefesselt, gefangen in einem tragischen Leben, einem Dahinvegetieren mit bitteren Erinnerungen, nie endender Trauer und unerträglicher Sehnsucht nach ihrem Sohn, ihrem Mann, ihrem Vater und allen anderen, die sie verloren hatte ...

»O Gott, bitte, bitte, erschießen Sie mich.«

»Na, dann bin ich wohl ein Gottesbote«, sagte der über ihr stehende Killer grinsend. Er lachte häßlich. »Jedenfalls sorge ich dafür, daß Ihr Gebet in Erfüllung geht.«

Blitze zuckten, dann rollte Donner über die Wüste hinweg.

Dank der genauen Computerberechnungen kehrte Stefan exakt fünf Minuten nach seiner Abreise ins Jahr 1944 an genau die Stelle in der Wüste zurück, von der aus er seine Reise angetreten hatte. Im allzu hellen Wüstenlicht sah er als erstes Lauras blutende Gestalt und den über sie gebeugten SS-Schergen. Danach erkannte er Chris, der hinter den beiden lag.

Der Bewaffnete reagierte auf Blitz und Donner: Er begann, sich auf der Suche nach Stefan umzudrehen.

Stefan drückte dreimal den Knopf seines Rückkehrgürtels. Der Luftdruck erhöhte sich augenblicklich; die reine Wüstenluft roch plötzlich nach Ozon und verschmortem Isoliermaterial.

Der SS-Scherge sah ihn, riß seine Maschinenpistole hoch und eröffn ete das Feuer. Die Schüsse lagen zunächst weit neben dem Ziel, aber dann schwenkte der Bewaffnete die Mündung herum, bis sie genau auf Stefan gerichtet war.

Bevor die Kugeln trafen, verließ Stefan mit einem Plop! das Jahr 1989 und kehrte am Abend des 16. März 1944 in das Berliner Institut zurück.

»Scheiße!« sagte Klietmann, als Krieger unverletzt im Zeitstrom verschwand.

Bracher kam von dem Toyota herübergerannt und rief immer wieder: »Das ist er gewesen! Das ist er gewesen!«

»Ich weiß, daß er’s gewesen ist«, bestätigte Klietmann, als Bracher ihn erreichte. »Wer sollte es sonst gewesen sein - der wiederauferstandene Christus?«

»Was hat er vor?« fragte Bracher. »Was tut er in Berlin, wo hat er gesteckt, was geht hier vor?«

»Keine Ahnung«, antwortete Klietmann gereizt. Er starrte die Schwerverwundete an und sprach mit ihr: »Ich weiß bloß, daß er Sie und Ihren toten Jungen gesehen und nicht mal versucht hat, sich dafür an mir zu rächen. Statt dessen ist er abgehauen, um seine eigene Haut zu retten. Na, was halten Sie jetzt von Ihrem Helden?«

Sie bat nur weiter um ihren Tod.

Klietmann machte einige Schritte rückwärts. »Aus dem Weg, Bracher!« befahl er dem Rottenführer.

Bracher trat zur Seite, und Klietmann jagte einen Feuerstoß aus seiner MP, der die Frau durchsiebte und auf der Stelle tötete.

»Wir hätten sie verhören sollen«, wandte Bracher ein, »Sie hätte uns Auskunft über Krieger geben können, was er hier getan hat, wo er .«

»Sie war gelähmt«, unterbrach Klietmann ihn ungeduldig. »Sie spürte nichts. Ich hab’ sie in die Rippen getreten und ihr dabei bestimmt ein paar gebrochen, aber sie hat keinen Laut von sich gegeben. Wie wollen Sie aus einer Frau, die keine Schmerzen spürt, durch Gewalt Informationen rausholen?«

16. März 1944 im Institut:

Stefan, dessen Herz wie ein Schmiedehammer schlug, sprang aus dem Tor und rannte ans Programmierpult. Er zog die Liste mit den computerberechneten Zahlen aus der Tasche und breitete sie auf dem kleinen Schreibtisch in einer Nische zwischen den Geräten aus.

Er sank auf den Schreibtischstuhl, griff nach einem Bleistift und holte einen Schreibblock aus einer der Schubladen. Seine Hände zitterten so sehr, daß er den Bleistift zweimal fallen ließ. Die Zahlen, die ihn fünf Minuten nach seiner Abreise aus der Wüste dorthin zurückgebracht hatten, hatte Stefan bereits. Auf der Grundlage dieser Zahlen konnte er eine neue Kombination errechnen, die ihn vier Minuten und 55 Sekunden früher zurückbringen würde - nur fünf Sekunden nach seiner Trennung von Laura und Chris. Wenn er nur fünf Sekunden fort war, konnten die SS-Schergen sie und den Jungen bei seiner Rückkehr noch nicht ermordet haben. Stefan würde mit seiner Feuerkraft in den Kampf eingreifen und den Ausgang vielleicht zu ihren Gunsten beeinflussen können.

Die nötigen mathematischen Kenntnisse hatte Stefan sich angeeignet, nachdem er im Herbst 1943 ins Institut abkommandiert worden war. Er konnte diese Berechnungen selbständig durchführen. Die Aufgabe war lösbar, denn er brauchte nicht ganz von vorn anzufangen; er brauchte die Computerergebnisse lediglich so abzuändern, daß ein um wenige Minuten vorverlegter Zeitpunkt herauskam.

Aber er starrte das Papier an und konnte nicht denken, weil Laura tot war, weil Chris tot war.

Ohne sie hatte er nichts.

Du kannst sie zurückbekommen, sagte er sich. Reiß dich zusammen, verdammt noch mal! Du kannst die Tragödie verhindern, bevor sie eintritt.

Stefan machte sich verbissen an die Arbeit, für die er fast eine Stunde brauchte. Obwohl er wußte, wie unwahrscheinlich es war, daß jemand um diese Zeit ins Institut kommen und ihn hier überraschen würde, bildete er sich wiederholt ein, auf dem Korridor Schritte zu hören: das scharfe Klicken von SS-Stiefeln. Zweimal starrte er zu der Zeitmaschine hinüber, weil er irgendwie davon überzeugt war, die fünf zu neuem Leben erwachten Toten wären auf der Suche nach ihm aus dem Jahre 6 000 000 000 zurückgekommen.

Nachdem er die Zahlen errechnet und zweifach kontrolliert hatte, gab er sie am Programmierpult ein. Mit der Uzi in einer und der Pistole in der anderen Hand kletterte er in den Stahlzylinder, passierte den Übergangspunkt .

... und fand sich im Institut wieder.

Stefan blieb einen Augenblick überrascht und verwirrt stehen. Dann trat er nochmals in das Kraftfeld ...

... und fand sich im Institut wieder.

Die Erklärung dafür traf ihn mit solcher Gewalt, daß er sich zusammenkrümmte, als habe er einen Schlag in den Magen erhalten. Er konnte jetzt nicht mehr zu einem früheren Zeitpunkt in die Wüste zurückkehren, denn er war fünf Minuten nach seiner Abreise schon einmal dort gewesen; wäre er dorthin zurückgekehrt, wäre eine Situation entstanden, in der er sich bei seiner ersten Rückkehr hätte sehen müssen. Paradox! Der Mechanismus des Kosmos ließ nicht zu, daß ein Zeitreisender sich irgendwo entlang des Zeitstroms selbst begegnete; wurde ein Versuch dazu unternommen, schlug er unweigerlich fehl. Die Natur verabscheute Paradoxe.

Stefan glaubte Chris’ Stimme zu hören, als sie in ihrem schäbigen Motelzimmer erstmals über Zeitreisen diskutiert hatten. »Das sind wilde Sachen, Mom, stimmt’s? Aufregend, nicht wahr?« Und dann das begeisterte, mitreißende Lachen des Jungen.

Aber es mußte irgendeine Möglichkeit geben.

Er kehrte ans Programmierpult zurück, legte seine Waffen auf den Schreibtisch und nahm Platz.

Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Er fuhr sich mit einem Hemdärmel übers Gesicht.

Denk nach!

Er starrte die Uzi an und überlegte, ob er wenigstens sie zu Laura zurück schicken konnte. Vermutlich nicht. Da er bei seiner ersten Rückkehr mit MP und Pistole bewaffnet gewesen war, konnte er sie nicht vier Minuten und 55 Sekunden weiter zurückschicken, weil sie dann bereits existiert hätten, wenn er sie vier Minuten und 55 Sekunden später mitgebracht hätte. Paradox.

Aber vielleicht konnte er ihr etwas anderes schicken, das aus diesem Raum stammte und das er nicht bei sich gehabt hatte, so daß es kein Paradox auslösen würde?

Stefan schob die Waffen beiseite, griff nach einem Bleistift und schrieb eine kurze Warnung auf den Notizblock: Die SS ermordet Chris und dich, wenn ihr beim Auto bleibt. Flieht und versteckt Euch! Er machte eine Pause und dachte nach. Wo konnten die beiden sich in der fast ebenen Wüste verstecken? Er schrieb weiter: Vielleicht im Arroyo. Nachdem er das Blatt abgerissen hatte, fügte er hastig hinzu: Auch der zweite Vex-xon-Zylinder ist eine Waffe ...

In den Schubladen der Arbeitstische suchte er nach einer Glaskaraffe mit engem Hals, ohne jedoch fündig zu werden, da im Hauptlabor keine chemischen, sondern vor allem elektromagnetische Versuche angestellt worden waren. Er hastete den Korridor entlang von Labor zu Labor, bis er endlich fand, was er brauchte.

Im Hauptlabor betrat er dann mit der von einem Gürtel umschlungenen Glaskaraffe in der Hand das Tor und näherte sich dem Übertrittspunkt. Er warf den Gegenstand durchs Kraftfeld, als wäre er ein auf einer Insel gestrandeter Schiffbrüchiger, der eine Flaschenpost ins Meer warf.

Der Glasbehälter kam nicht zurück.

. dann füllte böig einströmende heiße Luft mit dem schwach wahrnehmbaren Alkaligeruch der Wüste dieses kurzzeitige Vakuum auf.

»Wow!« rief Chris aus, der dicht neben ihr stand und ihre Hand umklammerte. »Klasse, Mom, was?«

Laura gab keine Antwort, denn sie war auf ein weißes Auto aufmerksam geworden, das die Staatsstraße 111 verlassen hatte und in die Wüste hinausfuhr.

Herabzuckende Blitze und das Himmelsgewölbe erschütternder Donner erschreckte sie. Dann tauchte eine Glasflasche aus dem Nichts auf, fiel dicht vor ihnen zu Boden und zerschellte auf dem Schiefergrund. Laura sah, daß darin ein beschriebener Zettel gewesen war.

Chris hob das zwischen Glassplittern liegende Blatt auf.

»Das muß von Stefan sein!« behauptete er mit der für ihn charakteristisch raschen Auffassungsgabe in solchen Dingen.

Laura griff danach, las die kurze Nachricht und nahm zugleich aus dem Augenwinkel heraus wahr, daß der weiße Wagen auf sie zukam. Sie begriff nicht, wie und weshalb Stefan ihnen diese Warnung schickte, aber sie zweifelte keinen Augenblick an ihrem Wahrheitsgehalt. Noch bevor der letzte Blitz verglüht und der Donner verhallt war, hörte sie den Motor des weißen Autos aufheulen.

Sie sah auf und stellte fest, daß der Fahrer rücksichtslos Gas gab. Die Entfernung betrug noch fast 300 Meter, aber der Wagen kam so schnell näher, wie es das unebene Gelände zuließ.

»Chris, du bringst mir die beiden Uzis aus dem Wagen an den Rand des Arroyos. Beeil dich!«

Während der Junge zur offenen Tür des in der Nähe stehenden Buick spurtete, lief Laura zu dem offenen Kofferraum. Sie griff nach dem Vexxon-Zylinder, hob ihn heraus und holte Chris noch vor der Kante des tief in den Fels eingeschnittenen natürlichen Wasserlaufs ein, der bei Sturmfluten von reißenden Wassermassen angefüllt, aber jetzt ausgetrocknet war.

Das weiße Auto war keine 150 Meter mehr entfernt.

»Komm!« forderte sie Chris auf und ging nach Osten voran. »Wir müssen einen Weg nach unten finden.«

Die Felswände fielen leicht schräg zu dem zehn Meter unter ihnen liegenden Kanalboden ab - aber eben doch fast senkrecht. Erosion hatte unzählige vertikale Rinnen in die Wände gegraben, die in Breiten zwischen wenigen Zentimetern und über einem Meter zum Hauptkanal hinunterführten. Bei Unwettern lief das von der Wüste nicht aufgesogene Regenwasser durch diese Rinnen in den Arroyo, wo es sich in wirbelnden, schmutzigbraunen Fluten davonwälzte. In manchen Rinnen waren Felsblöcke freigespült worden, die den raschen Abfluß verhindern würden, während Teile von anderen durch robuste Mesquitebüsche blockiert wurden, die im Fels Wurzeln geschlagen hatten.

Kaum 100 Meter von ihnen entfernt geriet das weiße Auto auf sandigen Untergrund und blieb fast stecken.

Laura war dem Rand des Arroyos erst zwei Dutzend Schritte weit gefolgt, als sie eine breite Rinne entdeckte, die ins ausgetrocknete Flußbett hinunterführte, ohne durch Felsblöcke oder Mesquitebüsche blockiert zu sein. Im Grunde genommen hatte sie hier eine über einen Meter breite, zehn Meter lange und mit sandigem Geröll angefüllte Rutsche vor sich.

Sie ließ den Vexxon-Zylinder hineinfallen und sah zu, wie er die halbe Strecke hinunterrutschte, bevor er liegenblieb.

Dann nahm sie Chris eine der Maschinenpistolen ab, drehte sich nach dem Auto um, das bis auf knapp 70 Meter herangekommen war, und eröffnete das Feuer. Mehrere Kugeln durchschlugen die Verbundglas-Windschutzscheibe, die sofort milchigweiß undurchsichtig wurde.

Der Wagen - sie sah jetzt, daß es ein Toyota war - geriet ins Schleudern, kreiste einmal um sich selbst, wobei er Staubwolken aufwirbelte, drehte sich um weitere 90 Grad und entwurzelte zuvor einige noch grüne Tumbleweeds. Er kam etwa 40 Meter von dem Buick und 60 Meter von Laura und Chris entfernt mit nach Norden zeigender Motorhaube zum Stehen. Die Türen auf der anderen Seite wurden aufgestoßen. Laura wußte, daß die Insassen jetzt fluchtartig den Wagen verließen und dahinter in Deckung blieben.

Sie nahm Chris die zweite Uzi ab. »Du rutschst voraus, Kleiner«, wies sie ihn an, »und schiebst den Gasbehälter vor dir her, bis du ganz unten bist.«

Chris war mit einem Satz in der Rinne. Die Schwerkraft zog ihn nach unten, aber an einigen Stellen, wo die Reibung zu groß war, mußte er mit Händen und Füßen nachhelfen. Unter anderen Umständen hätte dieses gewagte Unternehmen eine Mutter in Angst und Schrecken versetzen müssen, aber diesmal feuerte Laura ihn sogar an.

Sie jagte mindestens 100 Schuß in den Toyota, weil sie hoffte, den Benzintank durchlöchern, den auslaufenden Treibstoff durch einen von einer Kugel erzeugten Funkten entzünden und so die hinter dem Wagen kauernden Schweinehunde rösten zu können. Aber sie schoß das Magazin ohne den gewünschten Erfolg leer.

Als Laura zu schießen aufhörte, erwiderte einer der Kerle das Feuer. Aber sie blieb nicht lange genug sichtbar, um ein gutes Ziel zu bieten. Sie hielt die zweite Uzi mit beiden Händen vor ihrem Körper fest und verschwand mit einem Satz in der schon von Chris benutzten Rinne. Sekunden später war sie auf dem Boden des Arroyos angelangt.

Der pulverfeine Sand im Bett des ausgetrockneten Flusses war mit über die Felskante gewehten Tumbleweeds bedeckt. Dazwischen lagen verkrümmte Treibholzstücke - von der Zeit angegraute Überreste einer alten Hütte - und einige Felsbrok-ken. Nichts davon war als Versteck geeignet oder konnte ihnen als Deckung vor den Schüssen dienen, die bald von oben kommen würden.

»Mom?« fragte Chris - und meinte damit: Was nun?

Der Arroyo hatte bestimmt Dutzende von Nebenläufen, die in die Wüste hinausgriffen, und viele der Nebenarme würden wiederum eigene Nebenläufe haben. Dieses Netzwerk aus Trockentälern glich einem Labyrinth. Sie konnten sich nicht unbegrenzt lange darin verstecken, aber indem sie ein paar Nebenarme zwischen sich und ihre Verfolger brachten, gewannen sie vielleicht Zeit für die Planung eines Hinterhalts.

»Lauf los, Baby!« forderte sie Chris auf. »Du folgst der Hauptschlucht, verschwindest im ersten Seitental rechts und wartest dort auf mich.«

»Was hast du vor?«

»Ich warte, bis sie dort oben über den Rand sehen«, antwortete Laura, »und versuche dann, sie abzuschießen. Lauf jetzt, lauf!«

Er rannte los.

Laura ließ den Vexxon-Zylinder gut sichtbar liegen und kehrte zu der Arroyoflanke zurück, die sie hinuntergerutscht waren. Sie ging jedoch zu einer tiefer in den Fels eingegrabenen anderen Rinne weiter, die weniger steil und im unteren Drittel durch einen Mesquitebusch halb blockiert war. Auf dem Boden dieses tiefen Einschnitts konnte sie sicher sein, daß der Busch sie vor den Blicken ihrer Verfolger am Rand des Arrayos schützte.

Östlich davon verschwand Chris hinter einem Felsvorsprung in einem Nebenarm des Hauptkanals.

Einen Augenblick später hörte sie Stimmen. Laura wartete so lange, bis die Kerle davon überzeugt sein konnten, Chris und sie seien weitergeflüchtet. Dann trat sie aus der Erosionsrinne in der Arroyowand, drehte sich um und bestrich die Felskante mit MP-Feuer.

Über ihr standen vier Männer, die in die Tiefe starrten. Laura erschoß die beiden ersten, aber der dritte und vierte warfen sich zurück, bevor ihr Feuer sie erreichte. Einer der Toten blieb so dicht am Abgrund liegen, daß ein Arm und ein Bein über die Felskante ragten. Der andere stürzte sich überschlagend in die Schlucht und verlor dabei seine Sonnenbrille.

16. März 1944 im Institut:

Als die Glaskaraffe mit der Warnung nicht vom Zeitstrom zurückgeschleudert wurde, hatte Stefan Grund zur Annahme, sie werde Laura wenige Sekunden nach seiner ersten Abreise ins Jahr 1944 erreichen, bevor sie erschossen wurde.

Jetzt setzte er sich wieder an den Schreibtisch und machte sich an die Arbeit, um eine Zahlenkombination zu berechnen, die ihn wenige Minuten nach seiner vorigen Ankunft in die Wüste zurückbringen würde. Diese Reise war möglich, weil er nach seinem hastigen Verschwinden eintreffen würde, so daß keine Gefahr bestand, sich selbst zu begegnen. Folglich war kein Paradox zu befürchten.

Auch diesmal waren die Berechnungen nicht weiter schwierig, denn er brauchte nur von den Zahlen auszugehen, die der IBM-PC ihm geliefert hatte. Obwohl Stefan wußte, daß es keinen Zusammenhang zwischen hier verbrachter Zeit und seiner scheinbaren Abwesenheit aus der Wüste des Jahres 1989 gab, hatte er es eilig, wieder zu Laura zu kommen. Auch wenn sie seinen Ratschlag befolgt hatte, auch wenn die Zukunft geändert worden war und Laura noch lebte, würde sie sich gegen die SS-Schergen wehren müssen und dabei Hilfe brauchen.

Nach 40 Minuten hatte er die Zahlen errechnet und programmierte das Tor neu.

Auch diesmal klappte Stefan die Abdeckung des Registriergeräts hoch und riß den verräterischen Papierstreifen ab.

Er nahm die Uzi und seine Pistole mit, biß die Zähne zusammen, weil der dumpfe Schmerz in seiner erst halbverheilten Schulterwunde schlimmer wurde, und betrat wieder das Tor.

Etwa 20 Meter von der Stelle entfernt, wo sie den Boden des Arroyos erreicht hatten, stieß Laura, die außer ihrer Uzi den Vexxon-Zylinder schleppte, in einem engeren Nebenarm des Haupttals auf Chris. Sie kauerte sich hinter einen Vorsprung am Ausgang der durch zwei Erdwälle gebildeten Schlucht und beobachtete den Hauptkanal, aus dem sie gekommen war.

In der Wüste über ihr stieß einer der überlebenden Killer den über die Felskante baumelnden Leichnam in die Tiefe - offenbar um zu testen, ob sie noch unter ihnen war und sich dazu provozieren ließ, das Feuer zu eröffnen. Als kein Schuß fiel, wurden die beiden Überlebenden kühner. Einer ging mit seiner MP am Rand der Schlucht in Stellung und gab dem anderen Feuerschutz, als dieser durch die Rinne abrutschte. Danach gab der erste Bewaffnete seinem herabrutschenden Kameraden Feuerschutz.

Als die beiden unten nebeneinander standen, trat Laura unerschrocken aus ihrem Versteck und gab einen zwei Sekunden langen Feuerstoß ab. Ihre Agressivität überraschte ihre Verfolger so sehr, daß sie das Feuer nicht erwiderten, sondern in die tiefen Erosionsrinnen in den Arroyoflanken flüchteten, um darin Schutz zu suchen - wie zuvor Laura, als sie auf eine Gelegenheit gewartet hatte, sie von der Felskante zu schießen. Nur einer der beiden schaffte es, in Deckung zu gelangen. Den anderen durchsiebte sie.

Laura trat hinter den Vorsprung zurück, hob den Zylinder mit Nervengas auf und sagte zu Chris: »Komm, wir haben’s eilig!«

Während sie dem Nebenarm folgten und nach einer tiefer ins Labyrinth führenden Abzweigung Ausschau hielten, spalteten Blitze und Donner das Himmelsblau über ihnen.

»Stefan!« rief Chris aus.

Sieben Minuten nach seiner ursprünglichen Abreise zu den Begegnungen mit Churchill und Hitler im Jahre 1944 und nur zwei Minuten nach seiner ersten Rückkehr, bei der er Laura und Chris von SS-Schergen ermordet gesehen hatte, kehrte Stefan in die Wüste zurück. Diesmal waren keine Leichen zu sehen - nur der Buick . und der von Kugeln durchlöcherte Toyota, jetzt an anderer Stelle.

Stefan, der jetzt zu hoffen wagte, daß sein Plan Erfolg gehabt haben könnte, rannte an den Rand des Arroyos, lief die Kante entlang und suchte jemand, irgend jemand, Freund oder Feind. Wenig später entdeckte er zehn Meter unter sich in dem ausgetrockneten Flußbett die drei Toten.

Irgendwo mußte noch ein vierter Mann sein. Kein SS-Kommando würde aus nur drei Männern bestehen. Irgendwo in diesem Gewirr aus Arroyos, die sich wie erstarrte Blitze über die Wüste ausbreiteten, befand Laura sich noch auf der Flucht vor dem vierten Mann.

In der Arroyoflanke entdeckte Stefan eine nach unten führende Rinne, die schon mehrmals benützt worden zu sein schien. Er ließ seinen Bücherrucksack oben liegen und rutschte hinunter. Dabei schrammte er mit dem Rücken über das Geröll und spürte siedendheiß den Schmerz in der erst teilweise verheilten Austrittswunde. Als er am Fuß der Rinne auf die Beine kam, fühlte er sich schwindlig und hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

Irgendwo in dem Labyrinth östlich von ihm hämmerten automatische Waffen.

Laura blieb unmittelbar hinter der Einmündung eines weiteren Nebenarms stehen und machte Chris ein Zeichen, er solle sich ruhig verhalten.

Sie atmete mit offenem Mund, während sie darauf wartete, daß der letzte Killer in der Schlucht auftauchte, die sie soeben verlassen hatten. Selbst im weichen Sand waren seine näherkommenden Schritte deutlich zu hören.

Laura beugte sich aus ihrer Deckung, um ihn niederzuschießen. Aber er war inzwischen sehr vorsichtig geworden und kam tief geduckt herangerannt. Als ihr MP-Feuer ihm ihre Position anzeigte, durchquerte er die Schlucht und preßte sich auf der Seite gegen die Wand, wo der Nebenarm einmündete, in dem Laura stand, so daß sie ihn nur treffen konnte, wenn sie aus der Einmündung trat, hinter der er auf sie wartete.

Sie versuchte es sogar und riskierte, von ihm getroffen zu werden, aber der Feuerstoß, den sie abgeben wollte, endete nach weniger als einer Sekunde. Die Uzi spuckte ihre letzten zehn oder zwölf Schuß aus und ließ sie dann im Stich.

Klietmann hörte ihre leergeschossene Maschinenpistole versagen. Er warf einen Blick aus der Spalte in der Arroyoflanke, die ihm Deckung bot, und sah sie die Waffe aufgebracht zu Boden werfen. Dann verschwand sie in dem Nebenarm, an dessen Ermündung sie auf der Lauer gelegen hatte.

Er dachte daran, was er oben in der Wüste in dem Buick gesehen hatte: einen auf dem Fahrersitz liegenden Revolver Kaliber 38. Wahrscheinlich hatte sie keine Zeit mehr gehabt, sich die Waffe zu greifen - oder sie hatte den Revolver vergessen, weil sie es so eilig hatte, den merkwürdigen Behälter aus ihrem Kofferraum zu holen.

Sie hatte zwei Uzis gehabt, die sie jetzt beide weggeworfen hatte. Konnte sie auch zwei Revolver gehabt und nur einen oben im Auto zurückgelassen haben?

Das glaubte er nicht. Zwei Maschinenpistolen waren zweckmäßig, weil sie für größere Entfernungen und eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten geeignet waren. Aber wenn sie nicht gerade eine Meisterschützin war, konnte ein Revolver ihr nur auf kurze Entfernungen nützen, wo sechs Schuß ausreichen mußten, um einen Angreifer zu erledigen - oder von ihm erledigt zu werden. Ein zweiter Revolver wäre überflüssig gewesen.

Was blieb ihr dann noch zur Selbstverteidigung? Der merkwürdige Zylinder? Das Ding hatte fast wie ein gewöhnlicher Feuerlöscher ausgesehen.

Klietmann nahm die Verfolgung auf.

Der neue Nebenarm war enger als der alte, der wiederum enger als der Hauptkanal gewesen war. Bei sieben bis acht Meter Tiefe war er an seiner Einmündung nur drei Meter breit und wurde seichter und um die Hälfte enger, während er sich durch die Wüste schlängelte. Nach weniger als 100 Metern hörte er schließlich ganz auf.

Dort suchte Laura nach einem Ausweg. Auf zwei Seiten bestanden die Steilwände der Schlucht aus weichem, bröseligen Material und waren deshalb nicht leicht zu ersteigen. Aber die Wand hinter ihr fiel weniger steil ab und war mit Mesquitebü-schen bewachsen, an denen man sich festhalten konnte. Laura wußte jedoch, daß sie sich erst auf halber Höhe befinden würden, wenn ihr Verfolger sie einholte; dort oben würden sie bequeme, praktisch unbewegliche Ziele abgeben.

Also mußte sie ihr letztes Gefecht hier unten liefern.

Sie kauerte sich auf den Boden dieses tiefen, natürlichen Grabens, blickte zu dem rechteckigen Himmelsausschnitt über sich und stellte sich vor, sie befinde sich in einem gigantischen Grab auf einem Friedhof für Riesen.

Das Schicksal versucht, ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinien durchzusetzen.

Sie schickte Chris in den hintersten Winkel dieses als Sackgasse endenden Arroyos. Vor sich hatte sie etwa zwölf Meter des Weges, den sie gekommen waren, bis zu der Stelle, wo der ausgetrocknete Wasserlauf nach links abbog. Dort würde der Killer in ein, zwei Minuten erscheinen.

Laura sank mit dem Vexxon-Zylinder auf die Knie und wollte den Sicherheitsdraht vom Handauslöser abreißen. Der Draht war jedoch nicht nur einmal durch die Ösen geführt und verdrillt; er war mehrfach hindurchgezogen und mit einer soliden Bleiplombe gesichert! Er ließ sich nicht einfach abreißen, er mußte zerschnitten werden, und sie hatte kein Werkzeug dafür.

Vielleicht genügte ein Stein? Vielleicht ließ der Draht sich mit einem scharfkantigen Stein zertrennen, wenn man ihn lange genug damit bearbeitete.

»Such mir einen Stein«, forderte sie den Jungen hinter sich drängend auf. »Einen Stein mit rauher, scharfer Kante.«

Während Chris den weichen, von Wasserfluten aus der Wüste herabgeschwemmten Boden nach einem geeigneten Stück Schiefer absuchte, untersuchte Laura den Zeitschalter des Zylinders, der eine weitere Möglichkeit bot, das Nervengas abzublasen. Der aus einer in Minuten unterteilten Skala bestehende Schalter war einfach zu bedienen: Wollte man ihn auf 20 Minuten einstellen, drehte man die Skala, bis die 20 der roten Randmarkierung gegenüberstand; das Uhrwerk begann zu laufen, sobald der Knopf in der Mitte gedrückt wurde.

Das Problem bestand darin, daß keine Zeit unter fünf Minuten eingestellt werden konnte. Ihr Verfolger würde sie früher einholen.

Trotzdem stellte Laura die Skala auf 5 und drückte den Knopf, der das Uhrwerk ticken ließ.

»Hier, Mom«, sagte Chris und hielt ihr ein klingenförmiges Stück Schiefer hin, das geeignet aussah.

Obwohl das Uhrwerk des Zeitschalters lief, machte Laura sich an die Arbeit und sägte mit verzweifelter Hast an dem fest verdrillten Draht, der den Handauslöser blockierte. In Abständen von wenigen Sekunden blickte sie auf, um zu kontrollieren, ob der Killer sie entdeckt hatte, aber der enge Arroyo vor ihnen blieb menschenleer.

Stefan folgte den Fußabrücken in dem weichen Sand, der das Bett des Arroyos bedeckte. Er konnte nicht beurteilen, wie weit er hinter ihnen sein mochte. Sie hatten nur wenige Minuten Vorsprung, aber sie kamen vermutlich schneller voran, weil seine Erschöpfung, seine Schwindelanfälle und die Schmerzen in seiner Schulter ihn behinderten.

Um die Pistole in den Hosenbund stecken zu können, hatte er den Schalldämpfer abgeschraubt und weggeworfen. Die Uzi hielt er schußbereit in beiden Händen.

Klietmann hatte seine Ray-Ban-Sonnenbrille weggeworfen, weil das Bett des Arroyos an vielen Stellen im Schatten lag -vor allem in den Nebenarmen, deren Wände so eng zusammenrückten, daß nur noch wenig Sonnenlicht den Boden erreichte.

Seine Bally-Slipper füllten sich mit Sand und boten hier unten so wenig Halt wie vorhin auf dem Schiefergrund der Wüste über ihm. Schließlich blieb er stehen, streifte die Schuhe ab, zog seine Socken aus und lief barfuß weiter, was erheblich besser ging.

Daß er bei der Verfolgung der Frau und des Jungen nicht so rasch vorankam, wie er sich gewünscht hätte, lag nur zum Teil an den Schuhen, die er ausgezogen hatte. Aufgehalten wurde er vor allem dadurch, daß er bei jedem Schritt den Bereich hinter sich kontrollierte. Er hatte die Blitze und den Donner von vorhin registriert und wußte, daß Krieger zurückgekommen sein mußte. So wie er die Frau und den Jungen verfolgte, wurde er jetzt wahrscheinlich von Krieger verfolgt. Und er hatte nicht die Absicht, zur Beute dieses Tigers zu werden.

Am Zeitschalter waren tickend zwei Minuten abgelaufen.

Laura sägte schon fast ebenso lange an dem Draht herum -anfangs mit dem Schieferstück, das Chris gefunden hatte, jetzt mit einem zweiten, das er ausgegraben hatte, nachdem das erste ihr unter den Fingern zerbröselt war. Der Staat konnte keine Briefmarke herstellen, die sicher auf einem Umschlag klebte, keinen Panzer bauen, der über einen Fluß fahren konnte, die Umwelt nicht wirkungsvoll schützen und die Armut breiter Bevölkerungsschichten nicht beseitigen, aber er verstand es erstaunlicherweise, unzerstörbaren Draht zu erzeugen. Dieses Zeug mußte irgendein für Raumfähren entwickeltes Wundermaterial sein, für das sich später ein prosaischerer Verwendungszweck gefunden hatte; das war der Spanndraht, den Gott verwenden würde, um die kippenden Säulen zu sichern, auf denen die Welt ruhte.

Laura hatte sich die Finger aufgerissen, der zweite Schieferstein war von ihrem Blut naß, als der barfüßige Mann im weißen Hemd und der schwarzen Hose zwölf Meter von ihr entfernt um die Biegung des engen Arroyos kam.

Klietmann trat wachsam näher und fragte sich, weshalb zum Teufel sie so verzweifelt an dem Feuerlöscher herummurkste. Glaubte sie wirklich, ein Strahl chemisch erzeugten Nebels könne ihn ablenken und sie vor MP-Feuer schützen?

Oder war der Feuerlöscher nicht, was er zu sein schien? Seit er vor weniger als zwei Stunden in Palm Springs angekommen war, hatte er mehrere Dinge gesehen, die etwas anderes waren, als sie zu sein schienen. Beispielsweise bedeutete ein roter Randstein nicht KURZPARKZONE, wie er gedacht hatte, sondern DURCHGEHENDES PARKVERBOT. Wer hätte das ahnen können? Und wer konnte beurteilen, was es mit diesem Behälter, an dem sie herumwerkte, auf sich hatte?

Sie hob den Kopf, schaute kurz zu ihm hinüber und fummelte dann weiter am Handgriff des Feuerlöschers herum.

Klietmann schob sich durch den Arroyo vorwärts, der jetzt nicht einmal mehr Platz für zwei Männer nebeneinander geboten hätte. Wäre der Junge zu sehen gewesen, wäre er nicht näher an die Frau herangegangen. Falls sie den Kleinen jedoch unterwegs in irgendeiner Spalte versteckt hatte, würde er sie zur Preisgabe seines Verstecks zwingen müssen, denn er hatte Befehl, sie alle zu liquidieren - Krieger, die Frau und den Jungen. Klietmann bezweifelte, daß der Junge eine Gefahr für das Reich darstellte, aber Befehl war Befehl.

Stefan fand ein ausgezogenes Paar Schuhe und zusammengeknüllte schwarze Socken voller Sand. Schon zuvor hatte er eine Sonnenbrille gefunden.

Er war noch nie einem Mann gefolgt, der sich unterwegs ausgezogen hatte, und das erschien ihm anfangs irgendwie komisch. Aber dann dachte er an die in den Romanen Laura Shanes geschilderte Welt, in der sich Komik und Entsetzen mischten, eine Welt mit Tragik in Augenblicken der Heiterkeit, und hatte plötzlich Angst vor den abgelegten Schuhen und Socken, weil sie komisch waren. Er hatte sogar den verrückten Gedanken, unter keinen Umständen lachen zu dürfen, weil sein Lachen Lauras und Chris’ Tod zur Folge haben würde.

Wenn sie diesmal starben, würde er sie nicht retten können, indem er in die Vergangenheit zurückreiste und ihnen eine weitere Warnung schickte, die früher ankommen mußte als die in der Glaskaraffe, denn dafür hätte nur eine Zeitspanne von fünf Sekunden zur Verfügung gestanden. Selbst mit einem IBM-PC ließ sich kein so feines Haar mehr spalten.

Im Sand des Flußbetts führten die Fußabdrücke des Barfüßigen zur Einmündung eines Nebenarms. Obwohl die Schmerzen in Stefans halbverheilter Schulter ihm den Schweiß auf die Stirn trieben und ihn benommen machten, folgte er der Fährte, wie Robinson Crusoe der Freitags gefolgt war - nur mit schlimmeren Vorahnungen.

Laura beobachtete mit wachsender Verzweiflung, wie der Nazi-Killer durch die Schatten am Boden der Erdschlucht näher kam. Seine Uzi war auf sie gerichtet, aber aus irgendeinem Grund hämmerte sie nicht sofort los. Sie benützte diese unerklärliche Galgenfrist, um fieberhaft weiter an dem Sicherheitsdraht um den Handgriff des Vexxon-Zylinders zu sägen.

Daß sie selbst unter diesen Umständen noch hoffen konnte, hing mit einem Gedanken aus einem ihrer Romane zusammen, an den sie sich soeben erinnert hatte: In Tragik und Verzweiflung, wenn eine endlose Nacht herabgesunken zu sein scheint, finden wir Hoffnung in der Erkenntnis, daß der Gefährte der Nacht keine weitere Nacht ist, daß der Gefährte der Nacht der Tag ist, die Dunkelheit stets dem Licht weicht und der Tod nur die eine Hälfte der Schöpfung regiert - und das Leben die andere.

Jetzt nur mehr sechs, sieben Meter von ihr entfernt, fragte der Killer: »Wo ist der Junge? Der Junge! Wo steckt er?«

Laura spürte Chris hinter ihrem Rücken, wo er im Schatten zwischen ihr und der Steilwand kauerte, die den Abschluß des Arroyos bildete. Sie fragte sich, ob ihr Körper ihn vor den Kugeln schützen und dieser Mann abziehen würde, nachdem er sie erschossen hatte, ohne zu merken, daß Chris in der dunklen Nische hinter ihr noch lebte.

Der Zeitschalter des Zylinders klickte. Aus der Düse strömte unter hohem Druck Nervengas mit reichem Aprikosenduft und dem widerlichen Geschmack eines Gemischs aus Zitronensaft und saurer Milch.

Klietmann sah nichts aus dem Behälter ausströmen, aber er hörte etwas wie das Zischen Dutzender von Schlangen.

Im nächsten Augenblick hatte er das Gefühl, eine Hand habe sich durch seine Bauchdecke gebohrt, mit eisenharten Fingern seinen Magen umklammert und ihn herausgerissen. Er krümmte sich zusammen und erbrach sich explosiv in den Sand und auf seine nackten Füße. Mit einem schmerzhaften Aufblitzen, das seine Augen von innen versengte, schien etwas in seinen Stirnhöhlen zu zerplatzen, ein Blutstrom schoß ihm aus der Nase. Während er auf dem Boden der Arroyos zusammenbrach, betätigte er reflexartig den Abzug der Uzi; weil er wußte, daß er starb und dabei jegliche Körperbeherrschung verlor, bemühte er sich mit letzter Willensanstrengung, auf die der Frau zugewandte Seite zu fallen, um sie durch diesen abschließenden Feuerstoß mit sich in den Tod zu nehmen.

Kurz nachdem Stefan den engsten aller Nebenarme betreten hatte, dessen Wände schräg nach innen geneigt zu sein schienen, anstatt wie in den anderen Schluchten oben auseinanderzuweichen, hörte er ganz in der Nähe einen langen Feuerstoß aus einer MP und hastete verzweifelt weiter. Er stolperte mehrmals, prallte von den Erdwänden ab, aber er folgte dem verwickelten Korridor bis zum Ende, wo er auf den durch Vexxon getöteten SS-Führer stieß.

Zehn Schritte dahinter hockte Laura mit gespreizten Beinen im Sand, hatte den Gasbehälter zwischen ihren Schenkeln und hielt ihn mit blutenden Händen umklammert. Ihr Kopf hing herab, ihr Kinn ruhte auf der Brust; sie wirkte schlaff und leblos wie eine Stoffpuppe.

»Laura, nein«, sagte er mit einer Stimme, die er kaum als seine erkannte. »Nein, nein!«

Sie hob den Kopf, starrte ihn blinzelnd an, fuhr zusammen und lächelte endlich schwach. Sie lebte.

»Chris?« fragte er und stieg über den Toten hinweg. »Wo ist Chris?«

Sie stieß den noch immer zischenden Nervengasbehälter von sich weg und rückte zur Seite.

Chris lugte aus der dunklen Nische hinter ihr und erkundigte sich: »Alles okay, Stefan? Du siehst beschissen aus. Entschuldigung, Mom, aber das stimmt wirklich.«

Zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren - oder zum ersten Mal seit über fünfundsechzig Jahren, wenn man die mitzählte, der er übersprungen hatte, um in Lauras Gegenwart zu kommen, weinte Stefan Krieger. Er staunte über seine Tränen, denn er hatte geglaubt, durch sein Leben im Dritten Reich unfähig geworden zu sein, jemals wieder um etwas oder jemanden zu weinen. Und was noch erstaunlicher war - diese ersten Tränen seit Jahrzehnten waren Freudentränen.

Bis an ihr seliges Ende

1

Als die Polizei über eine Stunde später vom Tatort des MP-Überfalls auf den Streifenpolizisten entlang der Staatsstraße 111 weiter nach Norden vorrückte, als sie den von Kugeln durchlöcherten Toyota fand und am Rand des Arroyos blutige Spuren im Sand und Schiefergrund sah, als sie die weggeworfene Uzi entdeckte und Laura und Chris in der Nähe des Buick mit den Nissan-Kennzeichen erschöpft aus der Schlucht heraufklettern sah, erwartete sie, die nähere Umgebung mit Leichen übersät vorzufinden, und wurde nicht enttäuscht. Die ersten drei lagen ganz in der Nähe auf dem Boden der Schlucht, die vierte fand sich in einem entfernten Nebenarm, zu dem die erschöpfte Frau sie führte.

An den darauffolgenden Tagen schien Laura mit den zuständigen Stellen der Ort-, Staats- und Bundespolizei rückhaltlos zusammenzuarbeiten - und trotzdem war keine von ihnen davon überzeugt, daß sie die volle Wahrheit sagte. Nach ihrer Aussage hatten die Drogenhändler, die vor einem Jahr ihren Mann erschossen hatten, nun auch sie durch angeheuerte Killer ermorden lassen wollen, weil sie offenbar fürchteten, sie könnten von ihr identifiziert werden. Lauras Haus bei Big Bear war so brutal überfallen worden, daß sie hatte flüchten müssen, und sie war nicht zur Polizei gegangen, weil sie befürchtet hatte, dort nicht ausreichend Schutz für sich und ihren Sohn zu finden. Seit jenem MP-Überfall am 10. Januar, dem ersten Jahrestag der Ermordung ihres Mannes, war sie 15 Tage lang auf der Flucht gewesen; trotz aller Vorsichtsmaßnahmen hatten die Killer sie in Palm Springs aufgespürt, auf der Staatsstraße 111 verfolgt, von der Fahrbahn in die Wüste abgedrängt und zu Fuß durch die Arroyos gehetzt, wo es Laura schließlich gelungen war, sie zu erledigen.

Diese Story - daß eine Frau vier erfahrene Killer und zumindest einen weiteren erledigt haben sollte, dessen Kopf hinter Brenkshaws Haus entdeckt worden war - hätte unglaublich geklungen, wenn Laura sich nicht als erstklassige Schützin, durchtrainierte Kampfsportlerin und Besitzerin eines illegalen Waffenlagers erwiesen hätte, um das manche Staaten der Dritten Welt sie hätten beneiden können. Bei einem Verhör, in dem es um ihre Bezugsquellen für illegal umgebaute Uzis und ein Nervengas ging, das die U.S. Army strengstens unter Verschluß hielt, sagte sie aus: »Ich schreibe Romane. Umfangreiche Recherchen gehören zu meinem Beruf. Ich habe gelernt, alles herauszubekommen, was mich interessiert, und mir alles zu verschaffen, was ich brauche.« Danach nannte sie ihnen Fat Jack, und die Durchsuchung seines »Pizza Party Palace« förderte alles zutage, was sie angegeben hatte.

»Ich nehme ihr nichts übel«, erklärte Fat Jack der Presse, als er dem Richter vorgeführt wurde. »Sie ist mir nichts schuldig. Keiner von uns ist jemandem was schuldig, das er ihm nicht schuldig sein will. Ich bin ein Anarchist. Ich mag Weibsbilder wie sie. Außerdem muß ich nicht ins Gefängnis. Ich bin zu fett und würde verhungern, und das wäre eine grausame, unübliche Strafe.«

Laura weigerte sich, den Namen des Mannes zu nennen, den sie in den frühen Morgenstunden des 11. Januar in Dr. Brenkshaws Haus gebracht hatte, damit der Arzt seine Schußwunde versorge. Sie sagte lediglich aus, er sei ein guter Freund, der sich zum Zeitpunkt des Feuerüberfalls in ihrem Haus bei Big Bear aufgehalten habe. Laura beteuerte, er sei ein unbeteiligter Außenstehender, dessen Leben zerstört sei, wenn sie ihn in diese schmutzige Sache hineinziehen, und deutete an, er sei ein verheirateter Mann, mit dem sie eine Liebesaffäre gehabt habe. Seine Genesung mache inzwischen gute Fortschritte, und er habe wirklich genug ausgestanden.

Polizei und Staatsanwaltschaft setzten ihr wegen dieses unbekannten Geliebten heftig zu, aber Laura gab nicht nach und konnte nur bedingt unter Druck gesetzt werden, zumal sie sich die besten Anwälte Amerikas leisten konnte. Die Behauptung, der geheimnisvolle Unbekannte sei ihr Geliebter gewesen, nahm ihr allerdings niemand ab. Schließlich bedurfte es keiner eingehenden Ermittlung, um festzustellen, daß sie und ihr Mann, der erst ein Jahr tot war, sich ungewöhnlich nahegestanden hatten und sie den Verlust ihres Mannes noch keineswegs so weit überwunden hatte, daß sie glaubhaft behaupten konnte, sie sei imstande gewesen, im Schatten der Erinnerung an Danny Packard eine Liebesaffäre zu haben.

Nein, sie könne nicht erklären, weshalb keiner der toten Killer einen Ausweis bei sich gehabt habe oder weshalb sie alle gleich gekleidet gewesen seien oder weshalb sie kein eigenes Auto gehabt hätten, so daß sie gezwungen gewesen waren, den Toyota der beiden Kirchgängerinnen zu stehlen, oder weshalb sie in Palm Springs in Panik geraten und den Polizeibeamten erschossen hätten. Am Bauch zweier Leichen waren Druckspuren wie von straffsitzenden Gürteln entdeckt worden, aber die beiden Toten hatten nichts dergleichen getragen, und Laura wußte auch davon nichts. Wer könnte wissen, so fragte sie, welche Gründe solche Männer für ihre antisozialen Taten hätten? Es blieb ein Geheimnis, das selbst die erfahrensten Kriminalisten und Soziologen nicht zu erklären wußten. Und wenn alle diese Experten die tiefsten und wahrsten Gründe für das Verhalten solcher Soziopathen nicht einmal annäherungsweise deuten könnten, wie solle dann sie eine Lösung für das prosaischere, aber um so bizarrere Rätsel der verschwundenen Gürtel anbieten können? Bei einer Gegenüberstellung mit den beiden Frauen, deren Toyota gestohlen worden war und die behaupteten, die Killer seien Engel gewesen, hörte Laura offensichtlich interessiert, sogar fasziniert zu, nur um sich danach bei den Vernehmungsbeamten zu erkundigen, ob sie etwa damit rechnen müsse, den verrückten Ideen aller an ihrem Fall interessierten Spinner ausgeliefert zu werden.

Sie war Granit.

Sie war Eisen.

Sie war Stahl.

Sie war nicht weichzukriegen. Die Behörden hämmerten schonungslos und mit der Kraft, mit der Thor seinen Hammer geschwungen hatte, auf sie ein, aber es nützte nichts. Nach einigen Tagen waren sie aufgebracht. Nach einigen Wochen waren sie wütend. Nach einem Vierteljahr haßten sie Laura und wollten sie dafür bestrafen, daß sie nicht vor ihnen zu Kreuze kroch. Nach einem halben Jahr wurden sie müde. Nach zehn Monaten waren sie gelangweilt. Und nach einem Jahr zwangen sie sich dazu, den Fall zu vergessen.

In der Zwischenzeit hatten sie ihren Sohn Chris natürlich für das schwächste Glied der Kette gehalten. Sie hatten ihn nicht wie Laura unter Druck gesetzt, sondern statt dessen mit gespielter Freundlichkeit, Tücke, Hinterlist, Täuschung und Scheinheiligkeit versucht, dem Jungen die Aussagen zu entlok-ken, die seine Mutter sich zu machen weigerte. Als sie ihn nach dem verschwundenen Verletzten befragten, erzählte er ihnen statt dessen jedoch alles über Indiana Jones und Luke Skywal-ker und Han Solo. Als sie sich bemühten, Klarheit über die Ereignisse in den Arroyos zu gewinnen, sprach er von Sir Tommy Toad, einem Abgesandten der Königin, der bei ihnen in Untermiete wohne. Als sie wenigstens einen Hinweis darauf zu erhalten versuchten, wo seine Mutter und er sich in den zwei Wochen vom 10. bis zum 25. Januar versteckt gehalten - und was sie dort getan - hatten, sagte der Junge aus: »Ich hab’ immer nur geschlafen, ich hab’ im Koma gelegen, ich hab’ wahrscheinlich Malaria oder sogar Marsfieber gehabt, wissen Sie, und jetzt leide ich an Gedächtnisverlust wie damals Wily Coyote, als Road Runner ihn mit einem Trick dazu gebracht hat, sich selbst einen Felsbrocken auf den Kopf zu werfen.« Und als ihre Unfähigkeit, zur Sache zu kommen, Chris frustrierte, sagte er schließlich: »Das sind Familiensachen, wissen Sie. Kennen Sie denn keine Familiensachen? Über diese Dinge kann ich nur mit meiner Mom reden, weil sie sonst keinen was angehen. Wohin soll man noch heim können, wenn man anfängt, mit Fremden über Familiensachen zu reden?«

Um den Fall für Polizei und Staatsanwaltschaft noch weiter zu komplizieren, entschuldigte Laura Shane sich öffentlich bei allen, deren Eigentum sie auf ihrer Flucht vor den angeheuerten Killern beschädigt oder mißbräuchlich benutzt hatte. Der Familie, deren Buick sie gestohlen hatte, schenkte sie einen neuen Cadillac. Der Mann, dessen Nissan-Kennzeichen sie entwendet hatte, bekam einen neuen Nissan. In sämtlichen Fällen leistete sie äußerst großzügig Schadenersatz und gewann sich damit überall neue Freunde.

Ihre alten Bücher erlebten mehrere Neuauflagen, einige davon erschienen jetzt - Jahre nach ihrem ursprünglichen Erschienen - als Taschenbücher wieder auf den Bestsellerlisten. Große Filmgesellschaften überboten einander, um die wenigen noch freien Filmrechte von Laura-Shane-Romanen zu erwerben. Nach vielleicht von ihrem Agenten in Umlauf gebrachten Gerüchten, die aber vermutlich stimmten, standen die Verlage Schlange, um die Chance zu erhalten, ihr für ihren nächsten Roman einen Rekordvorschuß zahlen zu dürfen.

2

In diesem Jahr hatte Stefan Krieger schreckliche Sehnsucht nach Laura und Chris, ansonsten aber war das Leben in der Villa des Ehepaars Gaines in Beverly Hills durchaus angenehm. Die Unterbringung war luxuriös, die Verpflegung hervorragend. Jason machte es Spaß, ihm an seinem Schneidetisch zu Hause beizubringen, was man mit Filmmaterial alles anfangen konnte, und Thelma war sowieso amüsant.

»Hör zu, Krieger«, sagte sie an einem Sommertag am Swimming-pool. »Vielleicht wärst du lieber mit den beiden zusammen, vielleicht hast du’s satt, dich hier verstecken zu müssen. Aber stell dir die Alternative vor! Du könntest jetzt in deinem eigenen Zeitalter festsitzen - ganz ohne Plastikmüllsäcke, Pop Tarts, Day-Glo-Unterwäsche, Thelma-Ackerson-Filme und Wiederholungen von >Gilligan’s Islande. Sei lieber dankbar dafür, daß du dich in diesem aufgeklärten Zeitalter wiedergefunden hast.«

»Ja, aber ...« Er starrte die glitzernden Lichtreflexe auf dem nach Chlor riechenden Wasser eine Weile an. »Nun, ich fürchte, in diesem Jahr der Trennung auch noch die winzige Chance zu vertun, die ich vielleicht gehabt hätte, sie für mich zu gewinnen.«

»Gewinnen kann man sie ohnehin nicht, Herr Krieger. Sie ist kein Hauptgewinn bei der Tombola einer Wohltätigkeitsveranstaltung. Eine Frau wie Laura gewinnt man nicht. Sie entscheidet selbst, wann sie sich jemandem schenken will, und damit hat sich die Sache.«

»Du machst mir nicht gerade Mut.«

»Mut zu machen ist nicht mein Job.«

»Ich weiß .«

»Mein Job ist ...«

»Ja, ja!«

». komisch zu sein. Wenngleich ich mit meinem tollen Aussehen vermutlich als reisende Nutte ebenso erfolgreich sein würde - zumindest in wirklich einsamen Holzfällerlagern.«

Die Weihnachten verbrachten Laura und Chris bei ihren Freunden in Beverly Hills, und Lauras Weihnachtsgeschenk für Stefan war eine neue Identität. Obwohl die Strafverfolgungsbehörden sie bis in den Spätherbst hinein ziemlich strikt hatten überwachen lassen, war es ihr gelungen, durch Strohmänner einen Führerschein, einen Sozialversicherungsausweis, Kreditkarten und einen amerikanischen Reisepaß auf den Namen Steven Krieger beschaffen zu lassen.

Diese Papiere überreichte sie Stefan am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags in einer Schachtel. »Alle Dokumente sind echt. In >Fluß ohne Ende< sind zwei meiner Romanhelden auf der Flucht und brauchen neue Papiere ...«

»Ich weiß«, sagte Stefan. »Ich hab’s gelesen. Dreimal.«

»Dasselbe Buch dreimal?« fragte Jason. Sie saßen alle um den Weihnachtsbaum herum, knabberten Süßigkeiten und tranken Kakao, und Jason war in bester Laune. »Laura, nimm dich vor diesem Mann in acht! Das sieht sehr nach Zwangsneurose aus.«

»Ja, natürlich!«, meinte Thelma. »Bei euch Hollywoodtypen gilt jeder, der irgendein Buch liest, als Geistesriese oder Psychopath. Sag mal, Laura, wo hast du bloß diese echt aussehenden gefälschten Papiere aufgetrieben?«

»Sie sind nicht gefälscht«, widersprach Chris. »Sie sind echt!«

»Richtig«, bestätigte Laura. »Der Führerschein und alles andere basiert auf amtlichen Unterlagen. Bei den Recherchen für >Fluß ohne Ende< habe ich rauskriegen müssen, wie man sich eine erstklassige neue Identität besorgen kann, und bin dabei auf diesen interessanten Mann gestoßen, der in San Francisco eine regelrechte Dokumentenindustrie aufgezogen hat. Seine Fälscherwerkstatt befindet sich im Keller unter einem Oben-ohne-Nachtklub .«

»Einem Nachtklub ohne Dach?« fragte Chris.

Laura zerzauste ihrem Jungen mit einer Hand das Haar und sprach weiter: »Ganz unten in der Schachtel findest du übrigens Sparbücher und Scheckhefte, Stefan. Ich habe unter deinem neuen Namen Konten bei der Security Pacific Bank und der Great Western Savings eröffnet.«

Er war sichtlich verblüfft. »Ich kann kein Geld von dir annehmen. Ich kann keine .«

»Du bewahrst mich vor dem Rollstuhl, rettest mir mehrmals das Leben, und ich darf dir kein Geld schenken, wenn mir danach zumute ist? Thelma, was ist los mit ihm?«

»Er ist ein Mann«, antwortete Thelma.

»Das dürfte alles erklären.«

»Behaart, neandertalhaft«, erläuterte Thelma, »wegen seines überhöhten Testosteronspiegels ständig halb verrückt, unter ererbten Erinnerungen an die verlorene Herrlichkeit einstiger Mammutjagden leidend - so sind sie alle.«

»Männer«, sagte Laura.

»Männer«, sagte Thelma.

Zu seiner Überraschung und fast gegen seinen Willen spürte Stefan Krieger, wie die Dunkelheit in seinem Inneren etwas abnahm und das Licht ein Fenster fand, durch das es in sein Herz scheinen konnte.

Ende Februar darauffolgenden Jahres, dreizehn Monate nach den Ereignissen in der Wüste nördlich von Palm Springs, schlug Laura vor, Stefan solle zu Chris und ihr ins Haus bei Big Bear ziehen. Er fuhr am nächsten Tag mit dem eleganten russischen Sportwagen hin, den er sich von einem Teil des Geldes gekauft hatte, das Laura ihm geschenkt hatte.

In den folgenden sieben Monaten schlief er im Gästezimmer. Mehr brauchte er nicht. Tag für Tag mit ihnen zusammenzuleben, von ihnen akzeptiert zu werden und in ihr Leben einbezogen zu sein, bedeutete schon so viel Liebe, wie er vorerst bewältigen konnte.

Mitte September, zwanzig Monate nachdem Stefan mit einer Schußwunde in der Brust auf ihrer Schwelle erschienen war, lud sie ihn in ihr Bett ein. Drei Nächte später fand er den Mut, ihre Einladung anzunehmen.

3

In dem Jahr, in dem Chris zwölf wurde, kauften Jason und Thelma sich ein Refugium in Monterey oberhalb der schönsten Küste der Welt und bestanden darauf, daß Laura, Stefan und Chris dort den August, in dem sie beide nicht mit Filmprojekten beschäftigt waren, bei ihnen verbrachten. Auf der Halbinsel Monterey waren die Morgen kühl und neblig, die Tage klar und warm und die Nächte trotz der Jahreszeit ausgesprochen kalt - ein täglicher Klimawechsel von äußerst belebender Wirkung.

Am zweiten Freitag des Monats machten Stefan und Chris mit Jason einen Strandspaziergang. Auf den Felsen in Küstennähe sonnten sich laut bellende Seelöwen. Der Seitenstreifen der Strandstraße war dicht mit Touristenautos verparkt; ihre Insassen bevölkerten den Strand und wagten sich sogar bis zum Wasser, um die sonnenanbetenden Tiere zu fotografieren.

»Jedes Jahr kommen mehr ausländische Touristen«, stellte Jason fest. »Eine regelrechte Invasion! Und wie du siehst, stellen Japaner, Deutsche und Russen die Hauptkontingente. Vor weniger als einem halben Jahrhundert haben wir gegen alle drei den größten Krieg der Weltgeschichte geführt, und jetzt sind sie alle reicher als wir. Japanische Autos und elektronische Geräte, russische Autos und Computer, deutsche Autos und Werkzeugmaschinen . Ganz ehrlich, Stefan, ich glaube, daß die Amerikaner ihre alten Feinde oft besser behandeln als ihre alten Freunde.«

Stefan blieb stehen, um die Seelöwen zu beobachten, die das Interesse der Touristen geweckt hatten, und dachte an den Fehler, den er während seiner Begegnung mit Winston Churchill gemacht hatte.

Aber eine Frage könnten Sie mir wenigstens noch beantworten ... Hmmm, lassen Sie mich nachdenken. Gut, wie geht’s nach dem Krieg beispielsweise mit den Russen weiter?

Der alte Fuchs hatte so beiläufig gesprochen, als wäre diese Frage ihm nur zufällig eingefallen, als hätte er ebensogut fragen können, ob die Herrenmode sich in Zukunft verändern werde; dabei war seine Frage genauestens überlegt und die Antwort höchst wichtig für ihn gewesen. Auf der Grundlage von Stefans Auskunft hatte Churchill die Westalliierten dazu gebracht, in Europa nach der Niederlage der Deutschen weiterzukämpfen. Unter dem Vorwand, eine weitere sowjetische Expansion in Osteuropa verhindern zu müssen, waren die westlichen Alliierten gegen die Russen angetreten, hatte sie in die Sowjetunion zurückgeworfen und zuletzt völlig besiegt. Tatsächlich waren die Russen im Krieg gegen Deutschland auf Nachschub und Waffenlieferungen aus den Vereinigten Staaten angewiesen gewesen; als ihnen diese Unterstützung entzogen wurde, brachen sie binnen weniger Monate zusammen, weil sie im Kampf gegen ihren ehemaligen Verbündeten Hitler ausgeblutet waren. Jetzt unterschied die heutige Welt sich erheblich von der vom Schicksal vorgesehenen - nur weil Stefan diese eine Frage Churchills beantwortet hatte.

Anders als Jason, Thelma, Laura und Chris war Stefan in dieser Zeit nicht zu Hause: ein Mensch, der eigentlich nicht dazu bestimmt war, in dieser Gegenwart zu leben; die Jahre seit den großen Kriegen waren seine Zukunft - und zugleich die Vergangenheit dieser Menschen; deshalb kannte er die Zukunft, die einst sein hätte sollen, und die Zukunft, die an ihre Stelle getreten war. Die anderen konnten sich jedoch an keine andere Welt als an die erinnern, in der sich keine Supermächte feindlich gegenüberstanden, keine riesigen Kernwaffenarsenale zur Vernichtung der Menschheit bereitlagen, die Demokratie auch in Rußland blühte und Frieden und Überfluß herrschten.

Das Schicksal bemüht sich, ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinien durchzusetzen. Aber manchmal gelingt ihm das zum Glück nicht.

Laura und Thelma blieben in Schaukelstühlen auf der Veranda sitzen und beobachteten, wie ihre Männer ans Meer hinuntergingen und dem Strand folgend nach Norden verschwanden.

»Bist du glücklich mit ihm, Shane?«

»Er ist ein Melancholiker.«

»Aber ein lieber Mensch.«

»Wie Danny wird er nie sein.«

»Aber Danny lebt nicht mehr.«

Laura nickte. »Er behauptet, ich hätte ihn erlöst«, sagte sie.

»Ein großes Wort, nicht wahr?«

Schließlich sagte Laura: »Ich liebe ihn.«

»Ich weiß«, sagte Thelma.

»Ich hätte nie geglaubt, daß ich’s noch mal tun würde ... Einen Mann auf diese Art zu lieben, meine ich.«

»Was für ‘ne Art ist das, Shane? Redest du von irgendeiner verrückten neuen Stellung? Du bist bald eine Frau mittleren Alters, Shane; in nicht allzu vielen Monden wirst du vierzig - wär’s da nicht Zeit, deine libidinösen Gewohnheiten abzulegen?«

»Du bist unverbesserlich!«

»Ich gebe mir Mühe, es zu sein.«

»Wie steht’s mit dir, Thelma? Bist du glücklich?«

Thelma tätschelte ihren angeschwollenen Bauch. Sie war im siebten Monat schwanger. »Sehr glücklich, Shane. Hab’ ich’s dir schon erzählt - vielleicht Zwillinge?«

»Ja, das hast du mir erzählt.«

»Zwillinge«, sagte Thelma, als erfülle diese Aussicht sie mit ehrfürchtiger Scheu. »Stell dir vor, wie Ruthie sich für mich freuen würde!«

Zwillinge.

Das Schicksal bemüht sich, ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinien durchzusetzen, dachte Laura. Und manchmal gelingt ihm das zum Glück.

Sie saßen eine Weile in geselligem Schweigen da, atmeten die gesunde Seeluft und hörten den Wind sanft in den Pinien und Zypressen Montereys seufzen.

Nach einiger Zeit fragte Thelma: »Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem ich zu dir in die Berge kam und du hinter dem Haus auf Zielscheiben geballert hast?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Du hast auf diese Mannscheiben geballert, mit knurrend hochgezogenen Lefzen, die ganze Welt zum Kampf herausfordernd, dein Haus ein Waffenlager. Damals hast du mir erklärt, du habest dein Leben damit zugebracht, alles zu erdulden, was das Schicksal dir zugedacht habe, aber nun seist du entschlossen, nicht länger zu erdulden - du würdest kämpfen, um Chris und dich zu beschützen. An diesem Tag bist du sehr zornig gewesen, Shane, und sehr verbittert.«

»Ja.«

»Hör zu, ich weiß, daß du noch immer eine Dulderin bist. Und ich weiß, daß du nach wie vor eine Kämpferin bist. Die Welt ist noch immer voller Tod und Tragödien. Aber trotzdem bist du irgendwie nicht mehr verbittert.«

»Nein.«

»Willst du mich in dein Geheimnis einweihen?«

»Ich habe eine dritte große Lektion gelernt, das ist alles. Als Kind habe ich Dulden gelernt. Nachdem Danny ermordet worden war, habe ich Kämpfen gelernt. Jetzt bin ich noch immer eine Dulderin und Kämpferin - aber ich habe auch Akzeptieren gelernt. Das Schicksal ist.«

»Klingt sehr nach fernöstlich-mystischem-transzendentalem Scheiß. Jesus, Shane! Das Schicksal ist. Als nächstes verlangst du, daß ich ‘ne Mantra runterleiere und Nabelschau betreibe.«

»Mit Zwillingen vollgestopft wie jetzt«, sagte Laura, »kannst du deinen Nabel nicht mal sehen.«

»O doch, das kann ich - wenn ich mich vor den Spiegel stelle.«

Laura lachte. »Ich liebe dich, Thelma.«

»Ich liebe dich, Schwesterherz.«

Sie schaukelten in ihren Stühlen.

Unten am Strand kam die Flut herein.