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Asmus hatte vor, Böhrnsen unverzüglich zu befragen. Er ließ sich von Ose beschreiben, wo er wohnte: im Süderende, im südlichsten Teil der Fischerstraße.
Der Hof stellte sich als recht neu heraus: Das Vorderhaus war stattlich mit einem breiten Backengiebel statt eines schmalen Spitzgiebels ausgerüstet. Im rechten Winkel dazu befand sich ein älterer Anbau, vermutlich Stall und Wagenremise, worauf Rad- und Hufspuren sowie in die Wand eingelassene Ringe zum Anbinden von Pferden hindeuteten.
Das Wohnhaus war durch ein Mäuerchen von der Straße getrennt, auf dessen Krone in regelmäßigen Abständen kurze Röhren aus Metall schräg einzementiert waren. Sie gaben Asmus zu denken, bis er auf die Lösung kam: Wahrscheinlich wurden hier zu bestimmten Anlässen Fähnchen hineingesteckt, eben solche, die er in der Schule gesehen hatte.
Vor dem Haus war hinter einem schwarz-weißen Kaltblüter eine schwere Kutsche angeschirrt, der Kutscher wippte ungeduldig mit seiner Gerte und wartete offenbar auf eine Anweisung.
Asmus stellte das Motorrad ab, stakste in seiner Zivilkleidung zur Kutsche, lupfte die Schirmmütze und sprach den Kutscher etwas unsicher an. »Moin, Sie sind nicht Boy Böhrnsen, oder?«
»Bestimmt nicht«, knurrte der Mann und zeigte mit einer kantigen Kopfbewegung zur Giebeltür. »Wenn Sie Kunde sind – da rein! Wenn nicht – hintenrum!«
Nun, Asmus hatte keinen Grund, sich als Knecht an die Hintertür verweisen zu lassen. Er dankte und schritt zum Giebelvorbau.
Die Tür wurde aufgerissen, bevor er ganz da war. Ein junges Mädchen im weißen Kleid tänzelte heraus und trat Asmus so unglücklich auf die Füße, dass er sie mit einer beherzten Umarmung vor dem Straucheln bewahren musste. Von der Stirn bis zum Hinterkopf bändigte ein schmales Band schulterlange goldblonde Haare, darauf saß ein modisches Strohhütchen.
»Moin, moin«, sang sie. Dann betrachtete sie Asmus mit keckem Lidschlag und schien bei seinem Anblick angenehm berührt. »Sie wollen sicher zu meinem Vater. Schade, dass er da ist, sonst hätten wir beide uns unterhalten können.«
»Oh, das können wir auch so«, bot Asmus bereitwillig an. »Ich habe es nicht eilig.«
»Das passt gut. Ich auch nicht. Dabei muss ich doch unbedingt meinen Freundinnen von einem gut aussehenden Neuzugang berichten. Kommen Sie! Wir setzen uns in die Kutsche. Die ist recht bequem.«
»Gerne.« Asmus half ihr hoch in die Kutsche, was sie zu erwarten schien, sprang dann selbst hinein und setzte sich ihr gegenüber. Unbekümmertes Geschwätz lieferte häufig brauchbare Informationen.
»Sind Sie schon länger auf Sylt?«, fragte sie.
»Acht Wochen ungefähr.«
Ihr gespitztes Mündchen signalisierte so etwas wie Anerkennung. »Und wie gefällt es Ihnen?«
»Gut. Sind Sie einheimisch?«, fragte Asmus sachlich.
Sie lachte glöckchenhell. »Aber sicher doch. Seit Hunderten von Jahren. Die Familie, meine ich. Und wo wohnen Sie?«
»Auf meinem Segelboot. Es liegt in Munkmarsch.«
»Donnerwetter, eine eigene Yacht. Mein Papa hat nur eine Jolle, mit der er Gäste zum Fischen oder zu den Seehunden segelt.« Ihre blauen Augen rundeten sich zu Kulleraugen, die zu denen eines Kindes gepasst hätten.
»Nein, nein«, wehrte Asmus rasch ab. »Das ist ein Missverständnis. Ich bin nicht als Gast auf Sylt, ich bin der neue Polizeiwachtmeister.«
Unbeeindruckt musterte sie ihn vom Kopf bis zu den Füßen. So schnell gab sie wohl nicht auf. »So sehen sie aber nicht aus.«
»Nun ja.«
»Wo waren Sie vorher?«
»In Rostock. Hören Sie …«
Sie unterbrach ihn resolut. »Ich glaube nicht, dass Sie dort Wachtmeister waren. Unser Matthiesen ist einer. Sie nicht.«
Asmus zuckte mit den Schultern. »Vieles ändert sich im Leben. Das werden auch Sie noch merken.«
»Das hoffe ich doch. Sind Sie ein strafversetzter Höherer?«
Asmus grunzte erbost. Dieser Göre gegenüber war er irgendwie wehrlos. Ohne jede Rücksichtsnahme – man konnte es auch Erziehung nennen – stellte sie Fragen, die sich unter erwachsenen zivilisierten Menschen nicht gehörten. »Ja.«
»Durch die neuen Sozialisten natürlich«, befand sie triumphierend und strahlte ihn so glücklich an, als hätte sie einen Strandfund gemacht.
Er überlegte, wie man sich als Bernstein im Sand fühlen mochte, und verkniff sich jede Antwort.
»Stimmt’s?«
»Geht vielen so.«
»Sicher. Dagegen kann man was tun. Wollen Sie deswegen mit meinem Vater sprechen? Er hat einigen Einfluss auf Sylt und anderswo.«
Er verstand. »Mit Ihrem Vater als Parteimitglied? Um eine mögliche Mitgliedschaft abzuklopfen? Nein«, sagte er abweisend. »Ich habe einen Grund, der in meine Polizeiarbeit fällt.«
Sie lehnte sich mit funkelnden Augen vor. »Ein Mord? Eine Gewalttat? Soll er aussagen? Weiß ich auch etwas darüber?« Plötzlich lag ihre Hand auf seinem Knie.
»Fräulein Böhrnsen, es wäre mir angenehm, wenn Sie mich jetzt meine Arbeit tun ließen.« Asmus hob mit zwei Fingern demonstrativ ihre Hand von seinem Bein und sprang aus der Kutsche.
»Schön, wenn Sie meinen«, versetzte die Böhrnsen-Tochter mit pikiert gekräuselter Oberlippe, tippte dem Kutscher auf die Schulter und ließ sich grußlos davonfahren.
Etwas ratlos sah Asmus ihr nach. Er hatte das dumme Gefühl, einen Zweikampf verloren zu haben.
Die Tür tat sich bei seinem Klopfen nicht auf. Beim zweiten Mal ertönte ein Brüllen. »So komm doch herein!«
Asmus trat in die Diele ein und streifte sich die Holzpantinen auf dem Terrazzoboden ab, bevor er sich in das Wohnzimmer begab, das hier Dörns genannt wurde, sofern es beheizbar war.
Jetzt erkannte er Böhrnsen auch ohne Armbinde wieder. Der Mann mit dem feisten Gesicht und einem kurzgeschnittenen schlohweißen Backenbart ruhte halb liegend wie in einem Krankenstuhl mit emporstehendem Spitzbäuchlein und auf einen Hocker hochgelegten Füßen, neben sich eine zierliche blaue Tasse, aus der es nach scharfem Alkohol roch, wahrscheinlich einem Pharisäer.
Böhrnsen dirigierte seinen Besucher mit der Hand zu einem mit rotem Samt bezogenen Stuhl. »Setzen Sie sich bitte, Herr. Benötigen Sie eine Kutsche für galante Ausflüge? Meine Kutscher sind sehr diskret. Ich habe die bequemsten Fahrzeuge der ganzen Insel, und wir fahren Sie, wohin immer Sie wollen. Sie können stunden-, tage- oder wochenweise mieten.«
»Nein, besten Dank, Herr Böhrnsen. Ich habe nur ein paar Fragen an Sie.«
»Wer sind Sie, und was wollen Sie?« Das Gesäusel von vorher war unvermittelt in einen barschen Ton übergegangen.
»Ich entschuldige mich. Ich bin Wachtmeister Asmus.«
»Ach, Sie sind Asmus!« Sein aufmerksamer Blick erfasste Asmus rundum. »Habe schon von Ihnen gehört. Sind Sie im Dienst?«
Keine dumme Frage. Diesem Mann gegenüber durfte er sich keine Blöße geben.
»Ich würde Ihnen in diesem Fall keinen Pharisäer anbieten …«
»Nicht richtig im Dienst. Ganz privat aber auch nicht«, bekannte Asmus bedauernd. »Ich bin inoffiziell hier. Ich hoffe auf Ihre Hilfe.«
»Oh.« Er war erkennbar überrascht.
»Man könnte auch sagen: Mitarbeit. Es spricht sich herum, dass Sie sich zuweilen als Mitglied der NSDAP betätigen.«
»Na und?«
»Die Partei ist verboten, wie Sie sicherlich wissen. Was Sie privat machen, geht die Polizei nichts an, aber wenn Sie im öffentlichen Raum agieren, müssen wir einschreiten.«
»Schreiten Sie denn gegen die Kommunistische Partei auch ein?«
»Sobald sie als solche öffentlich tätig wird, ja.«
»Und Ihr eigener Vorgesetzter? Was ist mit dem?«
»Er hütet sich, in seinen Reden und Vorträgen die erlaubte Grenze zu überschreiten. Seine persönliche Meinung darf er verkünden, sofern er nicht empfiehlt, sich der illegalen KPD anzuschließen.«
»Ach ja. Und ich nicht?«
»Die Weitergabe von NSDAP-Fähnchen für den Schulgebrauch ist etwas anderes. Nur so, als kleine Warnung.«
Böhrnsen richtete sich auf, die Hände auf die Armlehnen gestützt, ein Bild der Empörung. »Ich darf meinem Schwiegersohn keine Fähnchen für den privaten Gebrauch überlassen?«
Asmus ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Schwiegersohn? Diese Verbindung mit Böhrnsen hatte Honke Paulsen aber gut zu verstecken gewusst. »Die Fähnchen werden in der Schulsammlung aufbewahrt. Und Ihre Tochter ist also mit Herrn Paulsen verheiratet?«
Der Fuhrunternehmer sank zurück und machte es sich wieder bequem. »Noch nicht. Die Verlobung steht kurz bevor. Wir haben es bis jetzt geheim gehalten.«
»Sie sprechen also von der Verlobung des Lehrers mit der munteren jungen Dame, die vorhin auf die Kutsche flatterte?«
»Sie sind meiner Mausi begegnet? Ja, ja, gewiss.«
Mausi war Asmus unerwartet frivol erschienen. Jedenfalls fand er nicht, dass sie zu dem biederen Lehrer Paulsen passte. »Sie haben aber auch Enkel in der Keitumer Schule?«
»Mein Sohn wohnt dort.«
So erklärte sich das also. »Kennen Sie andere Kommunisten auf Sylt?«
Böhrnsen starrte ihn mit seinen ausdruckslosen hellblauen Fischaugen an. »Natürlich. Aber die sind alle miteinander harmlos. Bauern und Landarbeiter stellen keine politische Gefahr dar und sind obendrein lernbereit. Die Gefahr für Sylt, das sind die Fremden! Die gezielt herkommen, um ihre kommunistische Wühlarbeit zu verrichten, auch nachts.«
Asmus wurde hellhörig. »Ach ja?«
»Ja. Es gibt welche, denen Sinkwitz Logis bietet, und darin steckt doch wohl etwas mehr Kommunismus als in sozialistischen Reden, die im Wind verwehen. Oder? Das nenne ich jedenfalls eine kommunistische Verschwörung.« Böhrnsen erregte sich. Kleine Spucketropfen lösten sich von seinen Lippen und flogen wie Gischt in die Umgebung.
Asmus wischte sich unauffällig die Wange. »Meinen Sie jemanden Bestimmten?«
»O ja. Da war ein Flensburger …« Böhrnsen verstummte abrupt, als ob er schon zuviel gesagt hätte.
»Und was hat er getan, außer auf Sylt zu übernachten?«
»Er lief herum und bearbeitete die Leute einzeln. Wie schlecht es ihnen ginge, wie ungerecht Geld verteilt sei. Sie könnten ja auf ihrer eigenen Insel sehen, dass es stinkreiche Sommergäste gäbe, die mit Tausendern für Kaffee und Kuchen um sich werfen könnten, während sie selber schon wieder bei Steckrüben angelangt wären. Und immer hieß es: KPD wählen, die wird spätestens 1924 wieder zugelassen!«
»Nun ja. Damit ist jetzt Schluss. Dieser Flensburger fiel in der Sturmnacht einem Verkehrsunfall zum Opfer. Ich schreibe jetzt einen Abschlussbericht, und damit ist die Angelegenheit für uns beendet, denke ich.«
Böhrnsen nickte, als sei ihm Schröders Tod bekannt.
Asmus erhob sich mit Vertrauen erweckendem Lächeln und reichte dem Fuhrunternehmer die Hand, die dieser, inzwischen in Gedanken abwesend, nicht wahrnahm. »Tschüs, Herr Böhrnsen.«
Im Flur knipste Asmus sein künstliches Lächeln aus. Der Mann kannte Schröder, da war er sich ganz sicher.
Draußen stieg gerade Mausi in anmutiger Haltung aus der Kutsche, gestützt von der Hand des Kutschers. »Jetzt weiß ich, worum es Ihnen ging«, flötete sie Asmus entgegen. »Um diesen Kerl, der vom Wind vom Motorrad geweht wurde. Glauben Sie doch nicht, dass sich so etwas auf einer Insel wie Sylt geheim halten ließe! Sie hätten gar nicht so geheimnisvoll tun müssen. Dass mein Vater befragt wird, ist ja wohl selbstverständlich.«
»Wieso?«, erkundigte sich Asmus mit gespielter Verblüffung.
Mausi trat nah an ihn heran. »Es gibt nichts auf Sylt, von dem er keine Kenntnis hat. Selbst was in Berlin vor sich geht, weiß er.«
»Wie das?«
»Oh, er ist beliebt bei Berlinerinnen, die allein reisen … Vater hört viel … Er ist anders als andere in seinem Alter. Er hat einige Monate bei unseren Verwandten in Amerika gelebt. Ich bin stolz auf ihn. Er trifft auch galante Verabredungen wie ein Weltstädter.«
»Geht er denn abends lange aus?«
»In der Saison häufig. Und jetzt ist Hochsaison, selbst wenn Gäste wegen des Regens abreisen. Aber wenn er sich mit ihnen verabredet, überlegen sie es sich.«
»Ich hielt Ihren Vater für etwas siech«, bekannte Asmus. »So wie er auf dem Sessel lag.«
Mausi kicherte hemmungslos. »Wo denken Sie hin! Es ist nur wegen seines Rückens. Manchmal tanzt er die halbe Nacht durch und muss sich bei Tage schonen. Vor zwei Tagen hat er sich wohl übernommen.«
»Das beruhigt mich. Ich verabschiede mich, Fräulein Böhrnsen.« Asmus zog die Mütze und verbeugte sich.
Mausi sah ihm beim Starten des Motorrads mit mehr Interesse zu, als es sich für eine junge Frau schickte, die bald den Dorflehrer von Keitum heiraten sollte.
Am nächsten Morgen erstattete Asmus seinem Chef Bericht.
Sinkwitz versank in Nachdenken. »Sie meinen also, man sollte ihn zum Verhör laden? Mit Böhrnsen ist nicht gut Kirschen essen. Er hat die Kaufmannschaft von Westerland hinter sich.«
Das war es also. Auf der anderen Seite wollte Sinkwitz aus persönlichen Gründen Schröders Tod aufklären. »Als die Sprache auf Schröder kam, den Böhrnsen nur den Flensburger nannte, erregte er sich ziemlich. Und seine Tochter Mausi erzählte mir, dass er häufig nachts galante Verabredungen hat, auch vorgestern. Dieses alles würde ich gerne offiziell im Protokoll festhalten. In Zivil und inoffiziell, wie ich gestern war, hätte er mich ausgelacht, und sei es nur um zu beweisen, dass er seine Rechte kennt. Ich ziehe es vor, ihm mit der Vollmacht des Staates entgegenzutreten.«
»Das ist richtig.«
»Im Kurhaus war vorgestern Nacht Tanz«, fuhr Asmus fort. »Es könnte bei den Heimkehrern Zeugen dafür geben, was neben der Polizeistation passierte. Für den Anfang wäre durchaus Böhrnsen geeignet. Immerhin sollte er Auskunft geben können, wer außer ihm beim Tanzvergnügen war.«
»Ja, gut. Aber seien Sie um Himmels willen vorsichtig«, mahnte Sinkwitz. »Wir können uns einen Krieg zwischen Kaufleuten und Polizei nicht leisten.«
Natürlich nicht, dachte Asmus, lieber schauen wir bei ein bisschen Alkoholschmuggel beiseite oder auch bei ungeklärten Todesumständen wie in der Werft. Nur nichts aufrühren! »Ich mache mich sofort an die Arbeit«, verkündete er, und sah im Hinausgehen, dass Sinkwitz das Gesicht gegen die Decke gerichtet hatte. Was drückte sein seltsames Mienenspiel aus? Beunruhigung, Misstrauen, Angst oder Hoffnung?
Wachtmeister Jep Thamsen erklärte sich bereit, Böhrnsen die Vorladung als Zeuge zu überbringen, zumal er in dessen Nähe wohnte. Dafür durfte er einige Minuten früher Feierabend machen.
Um sechs Uhr ging auch Sinkwitz, und Asmus war allein in der Wache. Die anderen waren ohnehin schon fort.
Beste Gelegenheit für Asmus, nach dieser Anzeige wegen der Möweneier zu suchen. Der Zeitraum, um den es sich drehte, waren die letzte Maiwoche und der ganze Juni gewesen. Vorher hatte er sich um Naturschutz nicht gekümmert, danach waren viele Eier befruchtet, und man ließ die Vögel in Ruhe brüten.
Es sei denn, man war ein ganz gieriger Badegast ohne jegliche Ahnung. Dann schlug die Wirtin des Eiersammlers womöglich zehn Eier auf, um daraus Rührei zu bereiten, und fand acht davon besetzt mit kleinen unreifen Vögeln, die auf dem Misthaufen landeten. Vor solchen Fehlern hatte ihn Ose bewahrt.
Die abgeschlossenen Journale der vergangenen Monate befanden sich in Sinkwitz’ Büro. Asmus hatte schon damals das deutliche Gefühl gehabt, dass sein Chef ihn abgewimmelt hatte, damit er der Anzeige nicht nachging. Und später in der Fülle der anfallenden Pflichten vergaß.
Das Büro war entsprechend der Vorschrift nicht abgeschlossen – hier hingen noch die Ersatzschlüssel für das nicht mehr existierende Motorrad, für die Ausnüchterungsbzw. Gefängniszelle, für die Nebengebäude und einige Kellerräume, die jederzeit zugänglich sein mussten. Zum Glück.
Der Abend war so hell, dass Asmus ohne Lampe auskommen konnte. Auf Zehenspitzen trat er an das Regal an der Rückwand des Raums, in dem er die Journale vermuten musste, wachsam, die Ohren förmlich nach hinten angelegt. Nicht selten kam noch einer der Kollegen zurück, um eine vergessene Brotdose abzuholen, um einen versehentlich mitgenommenen Schlüssel abzuliefern oder um eine Akte mitzunehmen, die ihm am nächsten Morgen einen Umweg ins Dienstgebäude ersparte.
Die schwarz eingebundenen Büchlein waren nach Monaten nummeriert. In manchen Monaten gab es nur eine Kladde, in anderen zwei, als a) und b) bezeichnet. Eins bis vier für Januar bis April waren vorhanden. Die Nummern fünf und sechs fehlten, während Nummer sieben a) neben Nummer vier eingeordnet war. Sieben b), derzeit in Arbeit, lag vorne in der Wache.
Sinkwitz hatte also die Journale von Mai und Juni anderswo deponiert. Versteckt mochte Asmus noch nicht sagen. Nicht alle Anzeigen aus dem Mai waren im Juli schon erledigt. Auffällig war ihr Fehlen allerdings schon.
Asmus setzte sich an Sinkwitz’ Schreibtisch, die Hände flach auf der aufgeräumten Platte ausgebreitet, und dachte nach. Als er, ohne zu einem schlüssigen Ergebnis gekommen zu sein, endlich den Kopf hob und zum Fenster hinaussah, machte er eine Entdeckung.
Das Fenster ging auf die Gasse, in der Schröder zu Tode gekommen war. Der Gärtner hatte inzwischen den Baum in Hüfthöhe abgesägt, vielleicht in der Hoffnung, dass er wieder ausschlagen würde.
In dieser Nacht hatte Sinkwitz doch wohl nicht Dienst gehabt? In der Regel war er von der nächtlichen Routine ausgenommen, gelegentlich aber musste er einspringen. Und er hatte eingeräumt, dass Schröder mit ihm möglicherweise verwechselt worden war. War er tatsächlich diese ganze Nacht im Haus gewesen?
Das konnte Asmus gleich klären. Das musste in Nummer sieben b) erfasst worden sein. Er sprang auf und riss dabei versehentlich einen Stapel Unterlagen von der Ecke des Schreibtischs. Hefte des Polizeidienstes, kommunistische Traktate und Flugblätter verstreuten sich auf dem Fußboden. Und die Journale fünf und sechs. Die würde er sich gleich vornehmen. Asmus sammelte hastig alles zusammen, so wie er vermutete, dass sie gelegen hatten, packte sie auf den Schreibtisch zurück und eilte in den Wachraum.
Nummer sieben b), Sturmnacht. Leicht zu finden. Und natürlich hatte Sinkwitz Dienst gehabt. Ausgetragen war er morgens um 6.30 Uhr, als er zwar das Haus verlassen, aber dann Schröder entdeckt hatte. Asmus ärgerte sich, dass er diesem Detail noch nicht nachgegangen war. Sinkwitz hatte damals die Frage, ob Schröder ihn besucht hatte, nicht beantwortet. Ganz offensichtlich hatte er. Sinkwitz hatte Schröder den Schlüssel zum Motorrad ausgehändigt, damit der nicht im Sturm zu Fuß zu Sinkwitz’ Wohnung gehen musste. Sein Chef musste mitbekommen haben, was vor seinem Fenster vorgegangen war.
Eine weitere Bemerkung fand sein Interesse. Unter 0.30 Uhr stand: Es schüttet wie aus Eimern, selten ein solches Wetter gehabt.
Das erinnerte Asmus daran, mehr über das Wetter dieser Nacht in Erfahrung zu bringen. Das gehörte zu einer sachgemäßen, sorgfältigen Untersuchung.
Es knarrte. Die Außentür! Jemand kam.
Asmus schlug die letzte leere Seite auf und begann seinen Nachtdienst einzutragen.
In den Wachraum trat Sinkwitz, wischte sich den Schweiß vom ungewohnten Marsch von der Stirn und ließ sich auf einen Hocker sinken. »Alles ruhig, Asmus?«
»Ruhig wie im Storchennest bei Nacht.«
»Wie? Ach so. Störche, ja. Schön.«
»Aber es kann ja noch wirbeliger werden«, meinte Asmus und dachte an die Journale fünf und sechs, die er nachher überprüfen würde.
»Ja, bestimmt«, versicherte Sinkwitz zerstreut. »Ich habe etwas vergessen, muss zu Hause nacharbeiten.« Ächzend erhob er sich und schwankte in sein Büro.
Das musste ja sehr wichtig sein, dachte Asmus, während er ihm nachsah. Wanderungen, auch kleine, war der Polizeichef nicht gewohnt. Seine Wohnung im Norden von Westerland war ein ganzes Stück entfernt.
Kurze Zeit später kam Sinkwitz zurück, inzwischen sichtlich besser gelaunt. An Asmus vorbeimarschierend, hob er die Hand und verließ grußlos die Wache.
Asmus atmete auf und schob sich auf den Hocker am Tresen. Interesselos blätterte er im Journal, das er vor sich liegen hatte, dabei aufmerksam alle Geräusche verfolgend, die er von draußen wahrnahm. Sinkwitz’ Schuhe knirschten auf den drei Stufen vor dem Gebäude, dann entfernten sich seine Schritte Richtung Strand und Norden. Er war auf dem Heimweg.
Asmus wartete noch einige Minuten, dann schlich er in das Büro seines Chefs. Der Heftstapel lag auf der Schreibtischecke wie vorher, nur Licht hatte er nicht mehr ausreichend. Er nahm ihn mit hinüber in den Wachraum, wo die Lampe bereits brannte.
Polizeidienst, Fahndungen nach Personen, die sicher nicht auf Sylt waren, zwei kommunistische Flugblätter. Alles da. Nur nicht die Journale fünf und sechs, in denen sich die Anzeige gegen ihn hätte befinden müssen.
Asmus fluchte laut.
Er war zu spät gekommen.
Aber eines wusste er nun genau: Sein Chef war tief in diese Angelegenheit verwickelt.