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Das Kapitel Böhrnsen war leider am nächsten Morgen nicht beendet. Böhrnsens Arrestzelle war aufgebrochen, er selbst verschwunden.
Als Verantwortlicher wurde wiederum Asmus per Telefonanruf in die Wache beordert. Alarmiert durch Matthiesen, traf er ein, bevor Sinkwitz angekommen war.
Asmus machte ein fragendes Gesicht, als er es bemerkte.
Matthiesen zuckte voller Unschuld die Schultern. »Ich habe erst das Journal vervollständigt, bevor mir einfiel, dass Sinkwitz alarmiert werden muss. Es ist auch vernünftiger, ihn ausschlafen zu lassen, hier kann er ja doch nichts ausrichten.«
»Oh ja, da hast du recht.« Asmus grinste, und Matthiesen grinste zurück. »Wer kann Böhrnsen befreit haben?«
»Jeder, der durchs Tor in den Hinterhof marschiert. Wir haben vergessen, es abzuschließen.«
»Und wir haben nicht genügend Leute, um alle Boote zu bewachen, die auslaufen könnten: in Munkmarsch, Hörnum, List …«
»Du sagst es.«
»Es dürfte also zwecklos sein, auch nur den Versuch zu machen.«
»Genau.«
Asmus setzte sich an seinen Arbeitsplatz im Verhörzimmer, den er inzwischen annektiert hatte, und verfiel ins Grübeln. Die wichtigste Erkenntnis der letzten Tage waren die Stärke und Durchsetzungskraft der Kaufmannschaft, sobald es galt, ihre Interessen zu wahren. Böhrnsen durfte als der etwas grobgestrickte Ausführende des kaufmännischen Willens gelten, wozu der Anschlag auf den Polizeichef zu zählen war – Schröder war wohl eher zufällig dazwischengeraten. Revanchiert hatte sich die Kaufmannschaft mit der Befreiung des Fuhrunternehmers.
In den gleichen Täterkreis gehörte sicher auch der Saboteur in der Werft, der Bahnsen davor warnen sollte, Asmus zu viele Interna über Sylt zu erzählen. Eine ganz andere Kategorie stellte der Platten an Asmus’ Motorrad dar – gewiss handelte es sich nur um einen verärgerten Dorfbewohner.
In seinen Überlegungen unterbrochen wurde Asmus durch die Ankunft von Sinkwitz. Matthiesen begleitete ihn unter Erklärungen zur aufgebrochenen Arrestzelle, was Asmus ein paar Minuten gab, um sich gegen die zu erwartenden Vorwürfe zu wappnen.
Diese kamen wenig später geballt. Asmus mit seiner langjährigen Erfahrung hätte jemanden abstellen sollen, der die Arrestzelle bewachte, nicht die ganze Verantwortung einfach dem jungen, unerfahrenen Matthiesen überlassen dürfen! Der Eintrag in die Personalakte sei Asmus sicher. Seine derzeitige einzige Aufgabe sei, den Fehler wiedergutzumachen und Böhrnsens Versteck zu finden. Und zwar vor dem Besuch des Abgeordneten der DNVP!
Asmus nickte und ging, innerlich kochend. In seinem Rücken zeterte Sinkwitz weiter, aber das interessierte ihn nicht. Er glaubte seine Position inzwischen gesichert genug, um nicht hinausgeworfen zu werden. Die Erfolge der jüngsten Zeit in dieser Wache waren seine.
Asmus fuhr kurz in List vorbei, um nach dem Rechten zu sehen, fand dort alles in Ordnung und ratterte weiter bis zum Möwenberg, wo er sein Motorrad abstellte und dann in das gegenüberliegende Tal der Wanderdünen einstieg. Irgendwo setzte er sich in den Sand, beobachtete die Seevögel vor dem blauen Himmel, genoss die Stille und gewann allmählich sein Gleichgewicht wieder.
Als ärgerlich empfand er, dass nach einer Weile ausgerechnet hier auf dem Dünenkamm ein Mann auftauchte, der sich umsah und ihn dann entdeckte. Und obwohl Asmus das Tal gewissermaßen als sein Refugium für kurze Zeit besetzt hatte, schlitterte der Neuankömmling in Asmus’ Richtung im Sand hinunter.
Unten angekommen, hielt der blonde Kerl im blauen Arbeitsanzug weiterhin auf Asmus Kurs, zog die Kappe vom Kopf, zeigte auf den Sand neben Asmus und fragte: »Darf ich?«
»Wenn es unbedingt sein muss«, knurrte Asmus.
»Ja. Tut mir leid.«
Asmus merkte auf. Es handelte sich offensichtlich nicht um ein Schwätzchen. Da er selber in Uniform war, ging es wohl um dienstliche Belange. »Ich höre«, sagte er weniger unfreundlich.
»Ihr sucht den Fuhrunternehmer Böhrnsen.«
»Ja. Und?«
»Nein, nein«, protestierte der Mann, »so war es nicht gemeint. Er ist nicht hier, und ich glaube auch nicht, dass er ausgerechnet bei uns in List ausreisen würde. Wir sind ihm zu dänisch, wenn du verstehst, was ich meine.«
Asmus schmunzelte. »Ja, inzwischen weiß ich das. Er wird es in Hörnum versuchen, denke ich.«
»Ja, gut. Du bist also nicht seinetwegen heute hier?«
»Nein, ganz gewiss nicht. Ich erhole mich. Ich versuche es wenigstens. Wie heißt du eigentlich?«
»Ole Söndergaard.«
»Gut, Ole, warum bist du gekommen?«
»Wir Dänen sind beunruhigt wegen der Vorfälle in deinem Umfeld.«
»Welche Vorfälle?«
»Der Platten. Außerdem stehst du ständig unter Beobachtung. Wir möchten nicht, dass du glaubst, das alles ginge von uns aus. Wir haben nichts gegen dich. Einem Polizisten wie dir, der gegen wen auch immer durchgreift, bringen wir vielmehr Vertrauen entgegen.«
»Oh. Sehr aufmunternd zu hören«, murmelte Asmus überwältigt.
»Reiner Selbstschutz. Wenn du an Weihnachten noch auf Sylt bist, würden wir dich gerne zu einer unserer Weihnachtsfeiern einladen. Mit Nisse, Tanz, Kaffee und Kuchen und allem, was sonst noch dazugehört.«
»Danke«, stammelte Asmus. »Ich werde gerne kommen. Wer beobachtet mich denn?«
»Das wissen wir auch nicht. Er ist schlau wie ein Frettchen. Er scheint beizeiten zu wittern, wenn jemand hinter ihm her ist.«
»Ich habe selbst gemerkt, dass mich zuweilen jemand beobachtet. Das gehört zum Beruf, deswegen hat es mich nicht sonderlich beunruhigt. Weißt du, warum?«
»Nein, auch das wissen wir nicht. Aber wir denken, dass die Kaufleute jemanden beauftragt haben, dich im Auge zu behalten. Vor ihnen solltest du dich sowieso in Acht nehmen. Sie sind nicht zimperlich, wenn sie sich bei ihren Geschäften gestört fühlen.«
Asmus nickte.
»Es gibt noch etwas, das uns bekümmert«, fuhr Ole fort. »Im Frühjahr wurde ein toter Mann am Westerländer Strand gefunden.«
»Der Mann ohne Namen«, erinnerte Asmus sich. »Ich hatte gerade meinen Dienst angetreten.«
»Einer aus List hat ihn gefunden, der im Morgengrauen Bernstein suchte. Der hat auch die Polizei benachrichtigt. Der Tote wurde in der Zeitung als Landstreicher beschrieben, aber dass er Däne war, wurde unterschlagen. Oder sie wussten es nicht. Auf einem seiner Schuhe befand sich eine Plakette, auf der Bredebro stand, das ist ein Ort hier in der Nähe, in Dänemark also, der eine Schuhfabrik hat.«
»Ja.«
»Der Mann hatte einen Beutel bei sich, in dem sich viel Geld befand. Wieso, wenn er doch angeblich ein Landstreicher war? Der Bernsteinsucher hat ihn gesehen, aber alles liegengelassen, wie er es vorfand. Aber er wurde nicht einmal von deinen Kollegen als Zeuge befragt. Der Tote war voller Sand, vor allem sein Gesicht. Ein Erwachsener buddelt doch nicht im Sand wie ein Kind. Legt sich hin und atmet Sand ein.«
»Jedenfalls nicht ohne Grund«, bestätigte Asmus. »Wie hat der Finder die Polizei verständigt?«
»So viel ich weiß, ist er zum Vermieter gelaufen, der schon in seiner Bude war, und ist dann wieder zum Toten zurückgekehrt. Man lässt eine Leiche nicht allein …«
»Nein, das tut man nicht«, bestätigte Asmus. »Der Fall wurde abgeschlossen.«
»Leider.« Ole erhob sich. »Wir wollten ihn dir trotzdem ans Herz legen.«
Asmus schaute zu ihm hoch. »Danke, Ole. Ich weiß eure Warnung und euer Vertrauen zu schätzen. Und grüß diejenigen, die dich beauftragt haben.«
Ole nickte und eilte leichtfüßig durch die Senke in Richtung zur See. Auf seinem Umweg ins Dorf würde keiner ihn mit Asmus in Verbindung bringen, und das war ihm ganz recht so.
Asmus sah ihn gedankenlos hinter einer weiteren Düne verschwinden, bis ihm aufging, dass er nun die Dänen auf seiner Seite hatte, dass aber die Kaufleute viel mehr Macht besaßen, als bis dahin geahnt. Selbst die kleineren Vorkommnisse, man konnte auch sagen Ärgernisse, gingen offensichtlich von ihnen aus. Und was war mit dem dänischen Landstreicher? Und dem Geld? Ein Pathologe hätte feststellen müssen, ob wirklich ein Herzinfarkt der Grund für seinen Tod gewesen war. Aber in die Westerländer Dienststelle hatte sich eine Oberflächlichkeit eingeschlichen, die verhinderte, dass mögliche Verbrechen korrekt untersucht wurden, und damit konnten Polizei und Täter gut leben – die Opfer natürlich nicht.
»Wärst du wohl in der Lage, mir ein Gespräch mit Cord Sibbersen zu vermitteln?«, erkundigte sich Asmus bei Ose am nächsten Tag.
»Ja, warum denn nicht? Es könnte nur sein, dass er sich weigert, weil er die Polizei auf der Seite der Kaufmannschaft wähnt.«
»Und wenn du es ihm ausredest?«
»Ich kann es versuchen. Was versprichst du dir denn von ihm?«
»Bei der Versammlung der DNVP wies dieser Cord sehr bestimmt darauf hin, dass die Reichen Sommerhäuser in den schönsten Gebieten von Sylt bauen … Ich wüsste gerne, welche Reiche und wo. Vermutlich ja auch in den ausgewiesenen Schutzgebieten, in denen ich zu patrouillieren habe. Anscheinend bin ich zu ihrem Feind erklärt worden, jedenfalls stehe ich unter Beobachtung. Vielleicht kann ich größere Schurkereien noch verhindern.«
Ose schmunzelte wehmütig. »Vielleicht. Ich spreche mit ihm.«
Asmus sah ihr nach, als sie zur Haustür zurückging. Sie drehte sich kurz um, um ihm zuzuwinken, dann ließ er den Motor an und knatterte in Richtung Dienststelle los. Ose glaubte nicht daran, dass irgendetwas zu verhindern war, dessen sich die bewährten Hände der Kaufleute angenommen hatten.
Am nächsten Tag hatte Asmus die Antwort. »Cord ist abgereist, aber Bonde – das ist sein Vater – möchte mit dir sprechen«, meldete Ose. »Du sollst einfach in sein Geschäft kommen und Lebensmittel kaufen, das ist am unauffälligsten.«
»Der Laden befindet sich in der Friedrichstraße, ich kenne ihn. Ich habe da nur noch nie eingekauft, dachte immer, er sei vor allem für die Gäste. Und entsprechend teuer.«
»Das stimmt auch. Ich bringe dich rein.«
Asmus schmunzelte. Aber Ose meinte es ernst, und sie machten sich sofort auf den Weg.
Es hatte etwas von Konspiration an sich, wie Ose Asmus vor sich herschob, dem Ladenbesitzer unauffällig einen Wink gab und dann wieder auf die Straße zurückkehrte. Die war für den Besuch des Politikers Bauer bereits geschmückt. Fahnen und Girlanden waren an den meisten Geschäften aufgehängt, allerdings nicht bei Sibbersen.
Asmus entschied sich für zwei Flaschen Bavaria-Bier, bis Sibbersen ihm Rebellenbock aus Husum vorschlug.
»Sie kennen es vermutlich nicht. Wenn Sie mir nach nebenan folgen, können Sie dieses Starkbier verkosten, ich habe gerade eine Flasche geöffnet«, schlug Sibbersen einladend vor.
Der Kaufmann, mit grauem Haar und vielen Furchen im Gesicht, starrte Asmus aus hellblauen Augen an, deren Blick etwas Zwingendes an sich hatte. Kein Zweifel, er wollte Asmus dringend unter vier Augen sprechen, ohne dass das junge Mädchen neben ihm sowie die Dame, die sie bediente, mithören konnten. »Es ist zwar früh am Tage, aber wer frei hat, darf auch mal über die Stränge schlagen«, meinte Asmus zustimmend.
Die Dame im kurzen Nerzjäckchen giggelte geziert, während sie die Qualität von Knochen begutachtete, bevor diese für ihren missgelaunten, leise knurrenden Mops eingepackt werden durften.
Asmus folgte dem Ladenbesitzer in das Lager, wo er sich umsah, während Sibbersen sich vergewisserte, dass die Tür fest geschlossen war.
Sibbersen schien ähnlich gelaunt wie der Mops. »Sie wollen meinen Sohn sprechen?«, erkundigte er sich finster. »Ist es die alte Geschichte, die Sie nur aufrollen wollen, weil Sie neu auf Sylt sind?«
»Alte Geschichte?« Asmus war ahnungslos.
»Hat man Ihnen nichts über meinen Sohn erzählt?«
Asmus schüttelte den Kopf. »Auch wenn er gestohlen oder gemordet hätte – mir ist gar nichts über ihn bekannt. Ich wollte ihn wegen seiner Bemerkung bei einer Versammlung der DNVP sprechen.«
Sibbersen schnitt eine Grimasse. »Cord ist nicht zu belehren. Kaum ist er zurück, hat er schon wieder die Polizei am Hals.«
»Sie sind ganz auf dem Holzweg, Herr Sibbersen«, erklärte Asmus unverblümt. »Ich dachte, Ihr Cord könnte mir mit einer Auskunft helfen. Er schien mir sehr sachkundig auf dem Gebiet, um das ich mich als Polizist zu kümmern habe.«
»Er ist nicht hier, sondern in Frankfurt.«
Asmus horchte auf. »Ich dachte, er studiert in München.«
Sibbersen gab ein kurzes Lachen von sich, das sich höhnisch anhörte. »Würde er nur studieren! Allerdings nicht in München. Soviel Verstand hat er gerade noch, dass er nicht in die Höhle des Löwen geht.«
»Jetzt klären Sie mich doch bitte auf, bevor ich in den Journalen nachforschen muss, was man Ihrem Sohn vorwirft«, verlangte Asmus ärgerlich.
»Er ist ein Urning, wie diese Männer sich selbst bezeichnen«, erklärte Sibbersen müde. »Hier auf Sylt hat er es nicht mehr ausgehalten. Er studiert nicht, er lebt sein Leben aus, so wie er es versteht. Ich muss ihn finanziell unterstützen.«
Dieses Bekenntnis verschlug Asmus die Sprache, aber jetzt verstand er den Kaufmann endlich. Nicht überall wurden homosexuelle Männer entsprechend dem Paragraphen 175 sofort bestraft, es gab auch tolerante Städte, zu denen Berlin und Frankfurt gehörten, beide das Gegenteil von München. »Herr Sibbersen, das tut mir ungeheuer leid, auch, dass Sie sich womöglich jetzt von mir zu diesem Geständnis erpresst fühlen könnten.« Er machte eine Gedankenpause. »Cord schien mir sehr genaue Kenntnis zu womöglich illegaler Bautätigkeit von Fremden in den Naturschutzgebieten zu haben, und darüber wollte ich mit ihm sprechen. Ich bin gewissermaßen der Beschützer der neuen Naturschutzgebiete. Cords Privatleben interessiert mich nicht.«
Bonde Sibbersen lächelte befreit. »Sie beweisen guten Instinkt. Cord hielt nie viel von gewöhnlicher Arbeit, er streifte bevorzugt in Ämtern, Ministerien und Archiven herum, um sich dort in interessanten Akten zu vergraben. Auf diese Weise hat er eine Menge an einschlägigem Wissen über die Bautätigkeit auf Sylt erworben und daraus kein Hehl gemacht. Er hat auch gegen diesen verfluchten Damm gewettert, gegen die gigantischen Verdienste der Unternehmer, gegen die Erpressung der Arbeiter …«
»Bestens«, befand Asmus. »Wird er mir denn Auskunft geben?«
»Oh, ganz bestimmt. Seine ganzen Kenntnisse hat er ja zusammengetragen in der Hoffnung, dass sich endlich einmal jemand aus der Verwaltung für den Missbrauch interessiert und dagegen angeht.«
Die Laune des Kaufmanns war wie ausgewechselt. Offenbar war ihm schon seit langem das Gefühl dafür abhanden gekommen, dass sein Sohn etwas Sinnvolles tat. Aber soeben war es zurückgekehrt. »Wie sehen Sie eigentlich Cords Auflehnung gegen das, was er als illegal erachtet?«
»Ich stehe auf seiner Seite. Aber sehen Sie: Ich bin Kaufmann und muss mich mit den Kollegen arrangieren …«
Asmus lächelte ihm ermunternd zu. Offensichtlich konnte die Familie Sibbersen es sich leisten, eines ihrer Kinder, das gemeinnützig tätig sein wollte, durchzufüttern. »Dann würde ich gerne die Adresse des jungen Mannes haben«, sagte er. »Ich werde ihm schreiben.«
Das Gesicht von Bonde Sibbersen legte sich wieder in Falten wie bei dem Mops im Laden. »Tja«, sagte er bedächtig. »Cord hat bisher in der Nähe der Klappe in der Friedberger Anlage von Frankfurt gewohnt, wie viele der Freunde. Nach seiner Rückkehr wollte er umziehen. Das ist ungefähr drei Wochen her. Aber bisher hat er noch nicht geschrieben.«
»Hm«, murrte Asmus. »Das ist ja Pech, was mich betrifft. Pflegt er denn oft zu schreiben?«
»Eigentlich ja«, meinte Sibbersen. »Allerdings verschwinden seine Briefe manchmal und kommen nie an. Ich vermute, es hängt davon ab, wer im Westerländer Postamt Dienst hat. Die preußische Post selbst ist zuverlässig, aber nicht alle Angestellten …«
»Ja, gewiss«, stimmte Asmus zu und wunderte sich trotz allem, dass er dem Kaufmann in diesem Punkt nicht recht glauben mochte. Dessen Hände tasteten jetzt unruhig über eine Kiste mit schrumpeligen Kartoffeln. Seine zitternden Finger brachen alte Triebe ab, die unbeachtet in die Kiste zurückfielen. Der Mann fürchtete sich oder etwas, das ihm anscheinend soeben wieder bewusst geworden war. Jedoch wusste Asmus, dass er hier an seine Grenze stieß. Mehr würde der Vater über seinen Sohn nicht erzählen.
Asmus gab Sibbersen die Hand. »Würden Sie mich benachrichtigen, sobald Sie eine Nachricht von Cord bekommen? Es wäre sehr wichtig.«
»Das kann ich leicht.«
»Übrigens sollte ich noch erwähnen, dass dieses Gespräch unter uns bleibt. Auch für meine Arbeit ist es besser, wenn ich meine Kontakte nicht erwähne.« Asmus hatte die Türklinke schon in der Hand, als der Kaufmann ihn zurückrief.
»Das Bier, Herr Asmus! Probieren Sie es wenigstens.«
»Ja, das hätte ich fast vergessen.« Von dem inzwischen eingeschenkten dunklen Bier kostete Asmus und fand es sehr wohlschmeckend. Er nickte anerkennend.
»Nehmen Sie eine Flasche mit«, schlug Sibbersen vor und holte eine angestaubte aus einem Holzkasten.
»Ich kann sie mir einfach nicht leisten, Herr Sibbersen.« Asmus bedauerte es sehr. »Vielleicht einmal, wenn die Regierung die Inflation im Griff hat und das Verhältnis von Verdienst zu Lebenshaltungskosten wieder normal ist.«
»Nehmen Sie, ich schenke sie Ihnen«, drängte der Kaufmann und hielt ihm die Flasche hin.
Asmus seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich danke, aber das geht nicht.«
Bonde Sibbersen legte die Stirn in Falten. Dann verstand er. »Vorwurf der Bestechlichkeit?«
»Ja, genau das. Ich möchte mich auf Boshaftigkeiten diverser Leute nicht einlassen.«
»Auch Sie haben Feinde«, platzte Sibbersen erstaunt heraus. »Das hätte ich nicht vermutet. Ich dachte immer, in Ämtern stecken alle unter einer Decke. Und die Amtsleiter mit allen anderen, die Macht und Einfluss besitzen.«
Asmus hielt ihm die Hand hin. »Nein, das trifft nicht zu. In allen Ämtern gibt es viel Neid, Feindschaften und Fallgruben. Passen Sie auf sich auf.«
Sibbersen schüttelte ihm kräftig die Hand. »Sie aber auch!«
Am nächsten Tag erkannte Asmus Ose, die am Strand entlang auf dem Weg nach Munkmarsch war. Er änderte sofort den Kurs der Jolle und steuerte ans Ufer zwischen kleinen Inseln mit Riedgras hindurch. Ose hatte ihn inzwischen gesehen, die Schuhe ausgezogen und watete ihm entgegen.
Als sie zu Asmus ins Boot geklettert war und die Ruder wieder Wasser unter sich hatten, fragte sie: »Wie war’s? Hast du etwas erfahren?«
»Über Cords Gründe, Sylt zu verlassen, ja. Darüber können wir aber nicht reden. Was mich beschäftigt, ist die Tatsache, dass Cord vor etwa drei Wochen die Insel verlassen hat und Bonde erkennbar beunruhigt war, weil er noch keine Nachricht von ihm hat. Er versuchte, es zu verbergen.«
Ose zog die Augenbrauen in die Höhe, so dass ihre tiefblauen schönen Augen im Abendlicht aufleuchteten. Asmus ließ die Ruder ruhen. Das Boot machte kurze Nickbewegungen in den auflaufenden Wellen. In der Nähe zerrten auf einer Schilfinsel zwei Austernfischer an einem nicht zu erkennenden Gegenstand, und in der Ferne schrien Möwen. Alles war fast unwirklich friedlich.
»Was ist?«, fragte Asmus.
»Wenn Bonde dir freiwillig erzählt, dass Cord vom anderen Ufer ist – was auch hier als schlimmes Verbrechen gilt. Und wenn Bonde darüber hinaus Grund findet, sich zu beunruhigen und es trotzdem verschweigt – dann würde ich mir als Polizist Gedanken um Cord machen.«
»Völlig richtig. Die mache ich mir auch. Aber ich kann nicht nach Frankfurt fahren und ihn suchen. Und ihn auch nicht durch die dortigen Kollegen suchen lassen. Vermutlich würden sie ihn festnehmen, allein mit der Begründung, dass sein Name in den Akten auftaucht.«
»Auch ich kann nicht hinfahren«, murmelte Ose bedrückt. »Es geht Ferdinand Avenarius immer schlechter. Ich kann ihn nicht allein lassen.«
»Ich würde dich auf keinen Fall in die aktive Polizeiarbeit einbinden, liebe Ose«, erklärte Asmus entschieden. »Das ist absolut nicht gestattet. Ich habe eine andere Idee: Cord verließ Arm in Arm mit einem Bekannten die Parteiversammlung. Der sprach ein sehr südliches Deutsch und war ganz bestimmt ein Gast. Den sollte man finden können. Vorausgesetzt, er ist noch auf Sylt.«
»Das wäre eine Aufgabe, die ich bestimmt unauffälliger erledigen könnte als du. Cord umgibt sich gerne mit Reichen und Schönen. Ich kann es in den guten Hotels versuchen«, bot Ose an. »Mir wird schon etwas einfallen, weshalb ich den Süddeutschen suche, obwohl ich seinen Namen nicht kenne. Eine Pflanze etwa, die erst jetzt blüht und nach der er Ausschau hielt …«
»Das könnte funktionieren«, sagte Asmus widerwillig. »Du hast zwar recht, aber angenehm ist es mir nicht. Die besten Pläne können auffliegen.« Schweigend ruderte er in den Hafen zurück, im Zweifel, ob er Oses Angebot annehmen sollte.
Als er Bahnsens Ruderboot zwischen zwei Pfählen vertäut hatte, fiel ihm ein, dass er nun auf Muscheln verzichten musste. Das Grünzeug, das er gesammelt und vorgekocht hatte, musste für diesen Abend reichen.
So dürftig ging es dann doch nicht zu. Ose hatte vier hartgekochte Eier und Kartoffeln mitgebracht, mit denen sie ihnen ein Festessen zauberte. Mit der letzten Flasche Wein aus Asmus’ Vorräten machten sie es sich im Cockpit der Franziska gemütlich und lauschten auf das Gluckern der Wellen an der Bordwand und auf die leisen Rufe von Gänsen, die zu dieser Jahreszeit gar nicht mehr in der Gegend sein sollten.
Im Licht des sehr hellen Vollmondes schickte sich Asmus an, Ose nach Keitum zu begleiten, was sie ablehnte. Asmus hatte es gar nicht anders erwartet, so selbstbewusst, wie sie war.
»Ose«, sagte Asmus eindringlich, »bitte gestatte, dass ich mitkomme. Als Kavalier würde ich deinen Willen ohne Widerspruch respektieren, doch als Polizist habe ich Grund, um deine Sicherheit besorgt zu sein. Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber der Uferstreifen zwischen Keitum und Munkmarsch ist nächtens häufig seltsam belebt. Von Schabernack bis Schmuggel ist als Grund alles denkbar. Jetzt, wo Boy Böhrnsen gesucht wird und möglicherweise aufs Festland geschafft werden soll, könnte das nächtliche Treiben um eine weitere Komponente verstärkt sein. Und nicht jeder mag Zeugen oder Mitwisser.«
»Wenn du meinst …«
Asmus nickte erleichtert, und sie machten sich schweigsam auf den Weg. Die Atmosphäre schien plötzlich bedrückend, als sich Wolkengebirge vor den Mond schoben und die bisherige Helligkeit tiefer Schwärze wich.
Wieder befanden sie sich im Klentertal, als ein schwacher Lichtschein nicht weit von ihnen entfernt Asmus’ gespannte Nerven fast zum Zerreißen brachte. Ohne Vorwarnung stieß er Ose zu Boden und warf sich über sie. »Still!«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Da ist jemand.«
Aber er hörte nichts Verdächtiges, nur das Säuseln des Windes im hohen Gras und schläfriges Quaken.
Unter ihm versuchte Ose sich freizukämpfen. »Meinst du nicht, dass du allmählich Gespenster siehst?«, schimpfte sie halblaut. »Da quaken nur Enten.«
Asmus schüttelte unwirsch den Kopf. Er konnte ungeheuer stur sein. Ose verschloss er mit leichter Hand den Mund und hielt sie fest.
Die Enten in nächster Nähe verstummten plötzlich. Kurz danach hörten sie schwere Schritte auf hartem Boden und irres Gelächter, das sich entfernte. Asmus richtete seinen Oberkörper halb auf und spähte in die Umgebung. Die Dunkelheit über Land war undurchdringlich, nur über der See lag ein schmaler Streifen Helligkeit.
Er drückte Ose an sich, die zu zittern angefangen hatte. »Keine Angst, Ose. Er kriecht vermutlich durch trockene Wassergräben davon. Den Lärm durch die Holzschuhe erzeugt er künstlich. Rammt sie an die Prielwände oder ähnlich.«
»Ist das ein Verrückter?«, brachte sie zwischen klappernden Zähnen hervor.
»Eher nicht. Vielleicht will er, dass wir es glauben. Auf jeden Fall will er uns Angst machen. Ich vermute, er will anderen den Weg am Strand verleiden. Komm, du musst jetzt rasch in die Koje, um dich aufzuwärmen!«
»Wie hast du eigentlich gemerkt, dass jemand in der Nähe war?«
»Instinkt. Außerdem sah ich etwas aufblitzen. Das Mondlicht hat einen Widerschein auf Metall erzeugt, vielleicht auf einer Messerklinge …«
»Gut, einen persönlichen Polizisten zu haben«, murmelte Ose und wehrte sich nicht, als Asmus ihre Hand nahm.