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Am Mittag traf der Zug mit den festländischen Honoratioren von Hörnum kommend am Westerländer Südbahnhof ein. Asmus und Matthiesen waren zur Stelle, mit blank geputzten Stiefeln und Säbeln. An seinem Helm hatte Matthiesen als Freudenkundgebung die schwarzweiße preußische Kokarde aufgesteckt. Asmus war auf die gleiche Idee gekommen, hatte sich aber eines Straußes Strandwermut bedient, dessen graue Blätter traurig herabhingen.
»Mensch, Niklas«, sagte Lorns mit einem Blick auf das unpassende Gewächs erschrocken. »Muss das sein? Jemand könnte meinen, dass der Abgeordnete Bauer für dich ein Wermutstropfen ist.«
»Mag er denken, was er will«, entgegnete Asmus gleichmütig. »Die sollen dankbar sein, dass ich nicht mit einer auf der Pickelhaube aufgespießten Kreuzkröte erscheine. Als sichtbares Zeichen dafür, in welcher Geschwindigkeit diese seltenen Tierchen aus ihrem Lebensraum vertrieben werden.«
Matthiesen grinste. »So gesehen …«
Neugierige säumten die Straße, als der Abgeordnete Bauer im offenen grünlackierten Wagen langsam vorbeigefahren wurde. Sie schrien begeistert und schwenkten nordfriesische Fähnchen. Dem Auto voraus tänzelten Pferde des Ringreitervereins, es folgte eine Kapelle von Jungen und Mädchen mit Blasinstrumenten und Trommeln, die allerdings vom Festland importiert worden war.
Dahinter marschierten in strammem Schritt die wichtigsten Männer von Sylt: Bürgermeister Müller, der Kurdirektor, die Direktoren der großen Hotels und die maßgeblichen Kaufleute. Und Rörd Jacobsen. Er ragte über die meisten anderen empor. Im Übrigen mischte sich auch allerhand Volk unter die Menge, das Asmus unbekannt war. Die in Kampen lebenden Künstler beteiligten sich offenbar nicht; an ihren Phantasiegewändern und mitunter langen Haaren wären sie leicht zu erkennen gewesen.
Der im Auto stehende Abgeordnete Bauer verneigte sich steif abwechselnd nach rechts und links und lupfte immer wieder seinen pechschwarzen Zylinderhut, auch in Richtung der Obergeschosse der Häuser, an deren Fenstern sich die Zuschauer drängten. Matthiesen und Asmus folgten seinem Wagen in angemessenem Tempo und hatten an ihrer jeweiligen Straßenseite potentiell boshafte Möwen und aggressive Kommunisten im Auge.
Feinde jeglicher Sorte waren jedoch nicht zu erkennen.
An der Einfahrt zum Hotel wurde das gemeine Volk zurückgehalten. Das Gedränge löste sich auf, und es gab etwas Luft.
»Gehört dieses Auto dem Abgeordneten?«, erkundigte sich Asmus leise bei Matthiesen.
»Der Horch?«, fragte Matthiesen erstaunt zurück. »Nein, das ist der Jagdwagen von Rörd Jacobsen.«
»Aha«, murmelte Asmus verblüfft. Und doch fuhr Jacobsen weder im Auto mit, noch hielt er sich dicht daneben. Ein Zeichen von Bescheidenheit? Wollte er allein dem Abgeordneten die Begeisterungsstürme zukommen lassen? »Was hältst du von ihm?«
»Von Jacobsen?«
Asmus nickte.
»Er hat einen guten Leumund«, sagte Matthiesen zögerlich.
»Aber?«
»Man weiß nicht sehr viel über sein Leben. Man könnte denken, er versteckt sich da draußen in seiner Villa. Er soll viele Kontakte auf dem Festland haben.«
»Aha.« Asmus war nicht schlauer geworden. Ohnehin hatten sie jetzt keine Zeit mehr für ein Gespräch.
Der Jagdwagen rollte vor dem Eingangsportal des Sylter Hofs aus. Während der Abgeordnete unter großem Pomp begrüßt und ins Haus geleitet wurde, rannten Asmus und Matthiesen hintenherum in den Keller, wo sie ihre Anzüge bereitgelegt hatten.
Matthiesen trug zur dunklen Hose ein dezentes schwarzes Jackett, während Asmus formvollendet im kleinen Gesellschaftsanzug auftrat, so wie es Sinkwitz angeordnet hatte.
Bauer war nach dem Eintragen ins Gästebuch erst bis zur Saaltür gelangt, als die beiden Polizisten auch schon oben waren und sich wenige Schritte hinter ihm mit dem geflüsterten Erkennungswort Einlass verschafften.
Im Bankettsaal waren viele runde Vierer- und Sechsertische weiß eingedeckt. Während Asmus und Matthiesen sich unauffällig in der Nähe des Rednerpults ihre Stehplätze an der Fensterseite suchten, wo auch schon mehrere andere Herren standen, die offensichtlich zur Begleitung des Politikers gehörten, aber nicht geladen waren, füllte sich der Raum.
Noch schwatzten die Gäste unbekümmert und laut miteinander und fanden sich zu Gruppen zusammen, während sie sich an den Tabletts der sich geschäftig durchschlängelnden Kellner mit gefüllten Gläsern bedienten. Schließlich suchten sich die meisten ihren Platz.
Endlich saßen alle, aber noch summte der Saal von gegenseitiger Vorstellung und ersten Sachgesprächen.
Matthiesen beugte sich bedächtig zu Asmus hinüber. »Hier kannst du sehen, wer auf Sylt was darstellt«, flüsterte er. »Wer nicht da ist, hat keinen Einfluss.«
»Ich sehe Rörd Jacobsen, aber Bonde Sibbersen nicht. Ich denke, er ist einer der Wichtigen in Westerland.«
»Er ist einer der reichsten Kaufleute«, verbesserte Lorns. »Das ist etwas anderes. Ich schätze, er bleibt aus Protest fern, und das kann er sich leisten. Er spendet an viele Vereine und betätigt sich gemeinnützig.«
»Wogegen protestiert er denn?«
»Gegen all das, was sich die Geldgierigen vom Damm erhoffen. Er ist redlich genug, um anzuerkennen, dass ganze Berufsgruppen zu recht in Angst vor dem Damm leben.«
Das alles hatte Sibbersen Asmus nicht erzählt, wahrscheinlich aus Bescheidenheit nicht. Während der Bürgermeister Müller – derselbe, der die Versammlung der DNVP geleitet hatte – Grußworte abspulte, hatte Asmus Zeit, die Gesichter zu studieren, die er aufgrund seiner Bewacherposition gut im Auge hatte. Inzwischen kannte er viele vom Sehen, die meisten augenscheinlich Kaufleute. Aber auch Dr. Katzenstein, der Kurarzt, war da. Er saß neben Mausi Böhrnsen, die wahrscheinlich die Einladung ihres Vaters wahrnahm, jedenfalls war ihr Verlobter nicht anwesend.
Plötzlich erschien ein Kellner vor Asmus. »Bitte, der Herr, wenn Sie jetzt Platz nehmen wollten«, flüsterte er aufgeregt. »Die Festlichkeit hat schon angefangen, und alle anderen sitzen bereits. Ich geleite Sie zu Ihrem Platz, wenn Sie erlauben, und bringe Ihnen Champagner.«
Asmus ließ es sich nicht zweimal sagen. Er folgte dem erleichterten Hotelangestellten zu einem frei gebliebenen Stuhl in der Mitte des Saals, wobei er zu seiner Verwunderung an Sinkwitz vorbeikam, auch dieser nicht in Polizeiuniform, wenn auch nicht in einem so eleganten Smoking wie Asmus.
Unterwegs waren ihm schon einige erstaunt hochgezogene Augenbrauen von Syltern aufgefallen, die ihn als einfachen Wachtmeister kannten, aber nun schnell begriffen, wie sehr sie seine gesellschaftliche Stellung unterschätzt hatten. Mindestens vier dieser Herren würden anschließend das Bedürfnis haben, ihn privat zu beschnuppern, dachte Asmus amüsiert, während er darauf wartete, dass der Kellner ihm den mit gestreifter Seide bezogenen Lehnsessel zurechtrückte. Auch Oses Vater beobachtete ihn, und sein verschmitztes Schmunzeln war gar nicht zu übersehen; Asmus musste sich zurückhalten, um nicht zurückzugrinsen, empfand er doch diesen Sitzplatz als wesentlich angemessener als den Stehplatz an der Wand.
»Haben Sie es noch geschafft, Herr Kollege«, raunte sein Nachbar zur Rechten, verbeugte sich leicht und stellte sich in süddeutscher Mundart als Robert Meier vor.
»Niklas Asmus, Rostock«, flüsterte Asmus.
»Die Reederei?«
Asmus nickte und richtete seine Aufmerksamkeit nach vorne zum Rednerpult, auf dem soeben der Abgeordnete Bauer zu seiner Rede anhob.
»Werte Gäste, in diesen stürmischen Tagen, sowohl politisch als auch finanziell, darf ich Sie als Speerspitze kommender Veränderungen aufs Herzlichste begrüßen. Sie alle sind bereit, größere Geldsummen in Sylt zu investieren, und ich verspreche Ihnen, es wird sich lohnen! Welche Insel kann schon von sich behaupten, über Damm und Eisenbahn mit einer schnellen Verbindung zum Festland zu verfügen, über eine noch schnellere durch den Flughafen und als besondere Attraktion für künftige Gäste einen Zeppelinhafen? Lediglich der Bau der Untergrundbahn bereitet uns noch einige technische Probleme, aber auch die werden wir lösen.«
Das herzhafte Gelächter und das anschließende Gemurmel an allen Tischen bewiesen, dass Bauer den Zuhörern aus dem Herzen sprach. Er hob die Hand, und der Lärm ebbte ab.
»Mit anderen Worten: Die Insel Sylt wird dank der klugen Wirtschaftspolitik meiner Partei einen verkehrstechnischen Komfort aufweisen wie Neu York, dabei mit Sehenswürdigkeiten locken wie Paris und dank ihres Liebreizes bald einen Besucherstrom erleben wie Berlin. Dafür zu sorgen, dass alle zu erwartenden Gäste untergebracht, verköstigt und unterhalten werden, bleibt Ihnen überlassen.«
Allgemeine Zustimmung. Nur Asmus hatte es die Sprache verschlagen.
»Sie alle haben den ersten Zugriff und können die besten Plätze besetzen, meine Herren. Und damit darf ich Sie zunächst einem opulenten Mahl überlassen, in dem Sie bergeweise Ideen entwickeln werden, die als Grundlage späterer konkreter Planung dienen sollen. Ich wünsche guten Appetit.«
Dröhnendes Händeklatschen beendete diesen ersten Teil der Veranstaltung. Es war noch keine Ruhe eingekehrt, als die Saaltüren aufschlugen und ein Strom von Kellnern, beladen mit Fleisch- und Gemüseplatten, unter leiser Kammermusik hereinmarschierte.
Entgeistert nippte Asmus an seinem Champagner, der ihm nun nicht mehr schmeckte. Was stellte sich dieser Abgeordnete überhaupt unter Sylt vor? Hatte er nicht wenigstens zwischen Hörnum und Westerland aus dem Zugfenster geschaut und bemerkt, welche Illusionen er im Begriff war zu verkaufen? Ganz abgesehen davon, dass innerhalb dieser hochfliegenden Pläne kein Platz mehr für die Einheimischen blieb. Es sei denn, Frauen in Sylter Tracht würden zu annoncierten Zeiten durch die Straßen geführt, zusammen mit ihren Männern, deren weiße Oberhemden, weite Hosen mit Hosenträgern und Holzpantinen weniger malerisch waren, aber immer noch als eine Art einheimische Arbeitstracht deklariert werden konnten.
»Nun, was sagen Sie? Sind Sie hier, um Pläne für einen Hafen mit Ausflugsschiffen zu eruieren?« Meier prostete Asmus zu.
Asmus wiegte zweifelnd den Kopf. »Munkmarsch eignet sich nicht, weil die Wasserstraße nach Süden durch den Damm versperrt wird. Nach Norden wollen die Leute wahrscheinlich nicht, weil es Animositäten gegenüber den Dänen gibt. Hörnum wäre die einzige Möglichkeit für Ausflüge zu den Inseln und nach Helgoland, aber komfortabel ist es von Westerland aus nur mit dem Zug erreichbar. Es fehlt eine feste Straße für Autos, es gibt nur den Sandweg. Und die Gegend ist natürlich das genaue Gegenteil von dem, was Bauer beschrieben hat. Das Publikum, das nach Sylt gelockt werden soll, interessiert sich nicht für den Halligfliederspitzmausrüsselkäfer und das Schwingelgras.«
Meier brach in ein schallendes Lachen aus. »Nun, ich muss sagen, Sie sind gut vorbereitet. Ich weniger. Mein Fachgebiet sind Luftschiffe und Zeppeline.«
»Ach was«, staunte Asmus.
»Ja. Aber solange die Binnenstruktur der Insel nicht auf modernem Stand ist, kann man einen Landeplatz nicht ordentlich betreiben. Verstehen Sie: In der Einöde ist er nutzlos, wenn es keine Straßen gibt, auf denen die Besucher die anvisierten Sehenswürdigkeiten erreichen können. In die Nähe von Siedlungen möchte ich damit auch nicht. Die Brandgefahr für meine Flugobjekte ist zu groß …«
Von der anderen Seite wurde Asmus angesprochen, noch bevor er Meier zustimmen konnte. »Gestatten, Karl Vesper. Entschuldigen Sie, ich habe mit halbem Ohr Ihr Gespräch mitgehört. Haben Sie den Eindruck, dass sich ein Hotel in Munkmarsch tragen könnte?«
Asmus wandte sich ihm zu. »Für Hotels bin ich weiß Gott kein Fachmann. Aber ich glaube nicht. Die Fährverbindung zum Festland wird eingestellt werden, sobald der Damm fertig ist; die Werft schließt bald; die Mühle ist schon abgerissen. Es ist ein sterbender Ort. Einen breiten Sandstrand gibt es nicht, nur Schlick, baden kann man also nicht. Ich wüsste nicht, warum Gäste sich dort aufhalten sollten.«
»Tatsächlich?« Vespers rhetorischer Einwurf signalisierte Enttäuschung.
»Wenn irgendwo«, fuhr Asmus ermunternd fort, »würde ich für ein Hotel den Standort Kampen empfehlen. Unter der Voraussetzung, Ihr Hotel wird eine gute Restauration bieten.«
»Kampen …«
»Ja. Es ist ein Ort, in dem sich Berliner Künstler niedergelassen haben, die ihrerseits bereits als Attraktion gelten. Deren Kolonie wächst stetig. Der Kampener Leuchtturm und ein Nacktbadestrand werden von vielen Gästen aus Westerland besucht, die mit der Kutsche kommen …«
»Und werden womöglich vom Kutschunternehmen nur mit einem Picknickkorb verpflegt?« Vesper schüttelte sich.
Asmus bestätigte wider Willen. Er, der diesen Zirkus am liebsten verhindert hätte, war jetzt bereits dabei, gute Ratschläge für Investoren zu geben.
»Wunderbar! Für mich, meine ich«, raunte Vesper aufgeregt. »Ich werde mich gleich morgen nach Kampen kutschieren lassen. Sie hätten nicht zufällig Zeit …?«
»Nein, Herr Vesper, bedauere.«
»Schade. Aber es freut mich, Sie kennengelernt zu haben.«
Asmus widmete sich wortlos dem Rinderbraten mit einer Art Teigkugel, die auf der Karte als Knödel annonciert wurden. Offenbar hatte die Partei sogar für süddeutsche Köche gesorgt. Es schmeckte ihm großartig, hinterließ aber ein ungutes Gefühl, weil der kommende Umbruch auf der Insel bereits jetzt in jeder Beziehung zu erkennen war und unumkehrbar schien.
Entsprechend wurde in diesem Saal schon geschlemmt, während diejenigen, die alles verlieren sollten, kaum mehr richtig satt wurden. Beinahe hätte er Sympathie für die kommunistischen Protestbewegungen aufgebracht – hätte nicht Sinkwitz selber am Nachbartisch die Delikatessen in sich hineingeschaufelt.
»Ich hätte noch ein kleines Anliegen an Sie als Syltkenner.« Meier sah Asmus prüfend an, während die Gesellschaft sich allmählich erhob und sich für eine Mittagspause auflöste. »Sibbersen ist doch ein Sylter Name, oder?«
Asmus’ Atem stockte für einen Augenblick. »Ja. Nordfriesisch. Kommt auch auf dem Festland vor.«
»Das stimmt also«, murmelte Meier. »Man hat mir erzählt, dass ein Cord Sibbersen aus Westerland ausgezeichnet über Grundstücksrechte Bescheid weiß.«
»Das ist richtig«, bestätigt Asmus, bevor ihm einfiel, dass diese Kenntnis für einen Rostocker Besucher denn doch etwas zu weit ging. Aber Meier schien es nicht aufzufallen. »Ich habe es jedenfalls so gehört.«
»Ich habe sogar seine Adresse in Frankfurt. Aber da ist er nicht. Einer seiner Freunde, dem ich zufällig begegnete, legt ihm seit mehreren Wochen die Post in die Wohnung. Sie bleibt unberührt. Kennen Sie ihn?«
Asmus verneinte. Eine Art Furcht kroch ihm über den Rücken. Wo hatte er sich bloß hineinmanövriert?
»Na ja, hätte ja sein können«, fuhr Meier fort. »Es ist immer gut, sich nach allen Seiten umzuhören.«
»Ja, das ist weise«, bemerkte Asmus. »Ich muss mich verabschieden, ich habe noch etwas vor.«
»Man trifft sich im Leben immer zweimal. Tschüs auch, Herr Asmus.«
»Tschüs, Herr Vesper, tschüs, Herr Meier.« Asmus eilte aus dem Saal, während ihn der herunterlaufende Schweiß am Rücken kitzelte. Beiden Gesprächspartnern sollte er während ihrer Sondierungen auf Sylt besser nicht mehr begegnen.
»Hoppala! Nicht so schnell zu Boden gehen!« Ein Herr hielt Asmus fest, der zur Seite ausgewichen und dabei neben der Garderobe über eines der vielen Gepäckstücke gestolpert war, die den halben Gang blockierten.
»Besten Dank, Herr Jacobsen. Man kommt hier ja kaum durch.« Der Herrenausstatter war sehr gepflegt und duftete nach etwas, das Asmus unbekannt war.
»Nicht wahr? Spricht für das auswärtige Interesse an Sylt. Nett, Ihnen hier als Gast zu begegnen.«
Ja, das fand Asmus auch. Vor allem, dass er diesem kultivierten Mann nicht mehr als einfacher Wachtmeister gegenüber stand. »Wahrscheinlich sehr erfolgreich, diese Veranstaltung. Hoffentlich droht nicht demnächst Überfüllung auf Sylt.«
»Ja, das könnte ein Problem für die einheimischen Kaufleute werden.«
»Für Sie selbst auch?«
»Nein, ganz gewiss nicht. Meinem Geschäft wird es besser gehen, je mehr Gäste hierherkommen. Aber man muss abwägen. Zu viele dürfen es nicht werden. Krethi und Plethi müssen draußen gehalten werden, damit wir das Niveau wahren.« Jacobsen nickte Asmus zu und ging wieder in den Festsaal zurück.
Niveau wahren. Nun ja. Das wäre das Reizthema für seinen Vorgesetzten, dem Asmus auf der Terrasse in die Arme lief, ohne ihm ausweichen zu können.
»Sie«, schnaubte Sinkwitz verhalten, »Sie waren nicht autorisiert, am Bankett teilzunehmen! Was fiel Ihnen denn da wieder ein?«
»Sie haben mich im Gesellschaftsanzug hinbeordert«, entgegnete Asmus kühl. »Hätte ich dem Kellner, der mich dringend auf den noch freien Platz nötigte, sagen sollen: ›Irrtum, mein Lieber, ich bin hier nur Aufpasser‹? Ich zog es vor, Aufsehen zu vermeiden, und dachte, das sei in Ihrem Sinn.«
»Na ja. Es ist ja nichts passiert«, gab Sinkwitz knurrend zu. »Aber jetzt verschwinden Sie. Schieben Sie draußen in Uniform Wache.«
Asmus faltete die Hände über dem Kopf und dehnte seinen ganzen Körper, der vom Sitzen in den zierlichen Sesseln steif war. »Ja, Herr OWM. Genau das hatte ich vor«, sagte er lässig. Die Wut blitzte in Sinkwitz’ Augen auf, aber er war machtlos.
Die Auflehnung gegen seinen Chef war eine kindische Reaktion gewesen, fand Asmus selber, aber er bereute sie nicht. Der ganze Vormittag war verrückt gewesen, wenn auch keine totale Zeitverschwendung. Meiers Bemerkung über seine vergebliche Suche nach Cord Sibbersen beunruhigte ihn, während er sich im Keller des Hotels wieder in einen Schupo verwandelte. Er musste unbedingt mit Bonde sprechen.
Asmus nahm den Lieferantenausgang, damit ihn nicht etwa die auf der vorderen Treppe Zigarre rauchenden und plaudernden Gäste erkannten. Er hatte dieses alles so satt. Am liebsten wäre er jetzt nach Nösse rausgefahren, um sich zu vergewissern, dass es die Natur, die er so lieben gelernt hatte, noch gab, oder noch weiter weg, zur Hallig Langeneß, um Boy Böhrnsen zu suchen.
Aber das ging natürlich nicht. Stattdessen wanderte er straßauf, straßab durch Straßen, die weiterhin mit festlich gestimmten Syltern gefüllt waren. Die Kinder des Spielmannszuges streunten neugierig in Gruppen durch Westerland, und einmal musste Asmus ihnen Auskunft zu einem gewünschten Ziel geben. Sie freuten sich von Herzen, als er bei seiner Antwort stramm stand, und er mit ihnen.
Die allgemein lockere Stimmung wunderte Asmus. Trotz der so schwierigen Zeit lag etwas wie Zuversicht über der Stadt. Die DNVP war am gegenwärtigen Kabinett nicht beteiligt, aber sie genoss Sympathie bei den Leuten – vielleicht hofften sie auf Besserung der Lebensumstände nach der Wahl im nächsten Jahr.
Spät am Abend machte Asmus Schluss, ohne Matthiesen oder Sinkwitz zu Gesicht bekommen zu haben. Der Politiker und seine Begleitung waren mit einem gecharterten Schiff nach Hamburg gedampft, die Spielmannskinder mit der Fähre und dem plombierten Eisenbahnwaggon zum nordfriesischen Festland zurückgereist, und einige besonders Sparsame sammelten Blumen und verlorene Preußenflaggen auf den verlassenen Straßen auf, als Asmus sein Motorrad im Hof der Wache abholte und nach Hause fuhr.
Nach Hause. Das war immer noch die Franziska. Jetzt, Anfang August, wurde es Zeit, sich Gedanken zu machen, wo er im Winter wohnen sollte. Das Schiff war zu kalt und zu feucht. Und zu klein, um es anständig zu beheizen. Andererseits war es zu früh, um sich nach einem Zimmer zu erkundigen. Solange die Vermieter noch auf einen späten Sommergast hofften, würden sie für Asmus unerschwingliche Preise verlangen. Wahrscheinlich konnte er erst im Oktober auf ihre Einsicht setzen. Das Problem musste er also einstweilen vertagen.