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Niemand wusste, mit wem Sinkwitz telefonierte, seitdem er sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte. Asmus lief nervös zwischen Außentür und Wache hin und her, während er auf das Ende des Telefonates wartete, das offenbar sein Urteil sein sollte.
»Wird schon nicht so schlimm werden«, murmelte Matthiesen, während Jung nur hämisch grinste. Als Matthiesen und Asmus am Morgen noch allein gewesen waren, hatte sein junger Kollege die Meinung vertreten, dass Sinkwitz wesentliche Erfolge erst seit Asmus’ Zugehörigkeit zur Wache Westerland melden konnte. Er würde sich hüten, Asmus zu entlassen.
Endlich wurde das Gespräch beendet. Asmus, dessen gesamte Sinne dorthin gerichtet waren, hörte das Klicken beim Auflegen des Hörers auf die Gabel.
Sinkwitz kam mit düsterer Miene in den Wachraum gestiefelt. »Wir haben lange überlegt, ob Sie fristlos zu entlassen seien, Herr Asmus. Gründe gäbe es genug. Dann haben wir uns aber doch entschieden, Sie zu behalten. Aus der Verantwortung für Böhrnsen entbinde ich Sie jedoch nicht. Sehen Sie zu, dass Sie ihn wieder einfangen, zumal er im Augenblick wohl noch auf Sylt sein muss.«
Matthiesen hatte recht behalten. »Soll ich die Eintragung ins Journal über meinen Verbleib selber machen?«, bot Asmus an. »Dann müsste ich aber den Namen Ihres Gesprächspartners erfahren.«
»Sie spinnen wohl!«, blaffte Sinkwitz, schnurrte auf den Hacken herum und rauschte zurück.
Matthiesen bog sich vor Lachen, bis ihm Jung ins Auge fiel, der ihn missbilligend beobachtete.
Die Gefahr war erstmal überstanden. Asmus eilte in die Buchhandlung in der Friedrichstraße, wo er schnell fündig wurde, und stieg kurze Zeit später in die Südbahn nach Hörnum.
Der Sturm hatte inzwischen nachgelassen. Der Wind kam nun aus Nord, wie an der Rückseite eines Tiefdruckgebietes üblich. In der kommenden Nacht war zwischen den schnell ziehenden Wolken klare Sicht zu erwarten.
Line kam wie vermutet ein wenig hinter den Klassenkameraden hertrödelnd, die Asmus nicht beachteten, weil er im Gras saß und seinen Tschako abgenommen hatte. Als sie Asmus erkannte, stürzte sie auf ihn zu und schwenkte seine Hand wie einen Pumpenschwengel, bevor sie sich neben ihm niederließ.
»Suchst du wieder jemanden? Den, der mit Knud zusammen fortsegelte?«
»Ja, tatsächlich«, gab Asmus zu. »Aber vor allem wollte ich dir ein Buch bringen. ›Der Strandwanderer‹ aus der preußisch biologischen Anstalt auf Helgoland.«
»Oh.« Line blätterte überwältigt und ganz vorsichtig das Buch durch, das auf jeder dritten Seite eine buntgedruckte Tafel mit Strandpflanzen und Meerestieren enthielt. »Und das willst du mir leihen? Hast du keine Angst, es zu verlieren? Du kennst mich doch nicht!«
»Wovor sollte ich Angst haben? Das Buch gehört dir.«
Die Tränen schossen Line in die Augen.
Asmus ergriff behutsam ihren Oberarm. »Line, ich gebe dir einen kleinen Brief an deinen Vater mit. Darin steht, dass ich dir das Buch geschenkt habe, weil ich als Polizist auf die Sylter Natur aufpasse und mich freue, wenn auch Kinder sie mit wachen Augen sehen. Er wird dann nichts dagegen haben.«
Line hob den Kopf vom Buch. »Nein, bestimmt nicht. Er ermahnt meine Brüder und mich immer wieder, gehorsam zu sein, damit Hauptwachtmeister Sinkwitz und Oberwachtmeister Jung nicht böse auf uns werden.«
Hoppla, dachte Asmus. Welche Verbindungen bestanden da nun wieder? »Was macht denn dein Vater in Hörnum? Ist er Fischer oder Angestellter der Fährlinie?«
»Nein, er ist Kaufmann. Den Mann, den Knud fortbrachte, habe ich nicht mehr gesehen.«
Asmus nickte und strich ihr lächelnd über den Kopf, bevor er aufsprang und seiner Wege ging. Das hatte er wissen wollen.
Am Abend erst fand Asmus Zeit, über Böhrnsens Flucht nachzudenken. Bahnsen und Jon waren als Helfer auszuschließen, Mart wahrscheinlich auch. Mart würde seine Tätigkeit als Betreiber des Fährhauses bestimmt nicht riskieren, solange die Fähre verkehrte. Er war im Besitz eines Zweitschlüssels für den Lagerraum, den er Asmus gezeigt und dabei geschworen hatte, dass es keinen weiteren gab.
Es musste folgedessen einen Nachschlüssel geben, den jemand heimlich angefertigt hatte, um die dort verwahrte Fracht heimlich inspizieren zu können. Oder die Postsäcke. Bonde Sibbersens Anklage gegen das Postamt ging Asmus nicht aus dem Kopf.
Ein leises Klopfen auf dem Bug der Franziska ließ Asmus hochschrecken und aus dem Luk schauen. Ose. »Komm«, sagte er weich und reichte ihr die Hand, als er an Deck stand. »Du bist hier ganz richtig. Denkarbeit ist gefordert.«
»Daran dachte ich weniger. Ich wollte dich nur ein wenig aufmuntern. Habe gehört, dass du an einer persönlichen Katastrophe vorbeigeschrammt bist.«
»Na ja. Ganz so schlimm wurde es nicht. Mir wäre im schlimmsten Fall die Rückkehr nach Rostock geblieben. Als Deckshand auf einem Schiff meiner Brüder. Oder so ähnlich.«
»Kohle schaufeln wäre tatsächlich eine Möglichkeit. Aber sauber siehst du besser aus«, sagte Ose und musterte Asmus eingehend. »Zum Beispiel im Smoking.« Plötzlich lachten sie beide.
Asmus verkrampfte seine Hände hinter dem Rücken, um nicht der Versuchung zu unterliegen, Ose zu umarmen.
Im Cockpit war es wieder windstill, seitdem das Sturmtief weitergezogen war. »Es muss ganz viele Leute geben, die über diesen Lagerschuppen der Fährgesellschaft Bescheid wissen«, meinte Ose, als sie sich auf dem knisternden Kapokkissen zurechtgerückt hatte.
»Ja. Aber wer hat schon einen Nachschlüssel?«
»Keine Ahnung. Könnte es sein, dass die Polizei …?«
Asmus verzog das Gesicht. Das konnte und durfte nicht sein! Andererseits herrschte große Verschwiegenheit in der Wache. Nicht einmal über den dänischen Landstreicher und sein Geld war jemals noch eine Bemerkung gefallen.
»Als ich neulich in Begleitung von Jörn Frees hierherkam – weiß du noch, du warst deswegen ziemlich ungehalten –, schwatzten wir über dieses und jenes. Von Austern und Aalen. Seltsamerweise landeten wir bei Schlössern. Ich fand, er war erstaunlich beschlagen in verschiedenen Modellen von Hängeschlössern … Aufgeregt sogar. Mich interessierten sie nicht im Geringsten, aber ich war doch erleichtert, dass wir nicht stumm nebeneinander herlaufen mussten. Nur: Wieso hat Jörn Kenntnisse über Schlösser? Eigentlich sind sie ziemlich kompliziert, soweit ich ihn verstand. Und ich dachte immer, dass er sich vielleicht für Miesmuscheln interessiert. Höchstens noch für Hufeisen.«
Jörns Verstand hatte Asmus ähnlich eingeschätzt. Allerdings nicht Hans Christian, der Jörn besser kannte. »Glaubst du, dass er Nachschlüssel schmieden kann? Und was meinst du mit den Hufeisen?«
»Ich weiß nicht, was er überhaupt richtig kann. Sein Vater ist der Schmied von Keitum. Deshalb.«
»Dann muss ich ihn wirklich näher in Augenschein nehmen«, beschloss Asmus. »Zu viel ist hier in Munkmarsch passiert, dessen Urheber unbekannt geblieben ist. Jörn Frees wurde als vermeintlich dumm nie von irgendjemandem für irgendeine Tat in Betracht gezogen. Dass er überhaupt zusammenhängend sprechen kann, wundert mich bereits.«
Möglicherweise war er zu sorglos gewesen.
Am nächsten Morgen war Asmus wieder in Westerland, um Bericht zu erstatten. Sinkwitz nahm die vorläufige Erfolglosigkeit der Fahndung nach Böhrnsen in Hörnum mit Gleichmut auf. »Dann treten Sie jetzt mal ein paar Stunden Pflaster, um sich wieder an die normale Polizeiarbeit zu gewöhnen«, befahl er.
Auf einmal war die Suche nach dem Fuhrunternehmer nicht mehr wichtig? Auch Matthiesen furchte verwundert die Stirn.
»Sollte ich nicht als Erstes nachsehen, ob Böhrnsen in aller Gemütsruhe zu Hause in seinem Lehnsessel weilt?«, schlug Asmus vor.
»Sie!«, blaffte Sinkwitz. »Dass Sie unfähig sind und mir aufgebürdet wurden, obwohl Sie in meiner Gruppe völlig überflüssig sind, muss ich hinnehmen. Aber nicht diese ständig pampige Tonart mir gegenüber!«
»Ich war mir nicht bewusst, dass Sie es so auffassen würden, HWM«, entgegnete Asmus verwundert. »Auf Sylt weiß man leider nie, auf welcher Seite jemand steht …«
»Auf jeden Fall auf Seite der Sylter! Das wissen Fremde nur nicht zu würdigen! Am besten verschwinden Sie jetzt.«
»Jawohl, Hauptwachtmeister Sinkwitz.« Asmus schnallte das Koppel mit dem kurzen Degen um und verließ die Wache. Ihm war unklar, ob die Anordnung, durch Westerland zu patrouillieren, Sinkwitz’ Form von Bestrafung war oder eine Methode, ihn von Nachforschungen nach dem Fuhrmann abzuhalten. Seine Bemerkung über den Lehnsessel hatte er vollkommen ernst gemeint.
Durch die Friedrichstraße bummelte er immer noch grübelnd. Plötzlich wurde er derb gestoßen und stolperte rückwärts über einen Blumenkübel.
»Sie haben mich wirklich frech auflaufen lassen, auch wenn die Angaben über Ihre Herkunft stimmten«, zeterte der Zeppelin-Meier, dem Asmus aus Unachtsamkeit fast auf die Füße getreten wäre. »So etwas ist mir selten passiert! Sind Sie von Ihrem Vorgesetzten als Maulwurf zu dem Bankett geschickt worden? Ich habe gehört, dass er Kommunist ist. Denen ist alles zuzutrauen!«
»Das hatte Herr Sinkwitz nicht nötig. Er saß am Nachbartisch. Sie haben sich von ihm den leeren Aschenbecher reichen lassen.«
Meiers Kiefer klappten zu. Offenbar hatte er sich seine nächsten Schimpftiraden bereits zurechtgelegt, die aber gerade unbrauchbar geworden waren. »Diese Insel scheint mir im Hinblick auf wirtschaftliche Moral und Klarheit wahrlich nicht genügend gefestigt, um hier zu investieren. Richten Sie Ihrem Vorgesetzten aus, dass mich am meisten der Zustand der Polizei abstößt.«
»Gerne«, warf Asmus ein.
Ein weitere Bemerkung, die Meier verblüffte. »Guten Tag, Herr Asmus«, schnarrte er, lupfte seinen Hut und spazierte mit schwingenden Armen davon, immer in der Mitte des Gehsteiges, ohne jede Rücksicht auf Kinderwagen und ältere, pelzbehängte Damen mit Gehstöcken.
Es würde dem Abgeordneten Bauer aber gar nicht gefallen, wenn noch mehr potentielle Investoren den gleichen Eindruck bekämen, dachte Asmus, der Meier nachsah. Für immer Ade Zeppelinhafen.
Da Asmus nun schon in der Friedrichstraße war, nutzte er die Gelegenheit, bei Sibbersen reinzuschauen.
Bonde Sibbersen schüttelte schon bedauernd den Kopf, als über Asmus noch die Türglocke ging. Außer ihm und dem Mädchen war niemand im Laden.
»Gute Nachricht habe ich nicht«, sagte Sibbersen gedämpft. »Aber Markus hat mir sofort telegrafiert. Die Freunde vermissen Cord und einen weiteren Urning aus ihrer engeren Gruppe. Sie nehmen an, dass beide zusammen in der Öffentlichkeit – einem Park etwa – erwischt und festgenommen wurden. Augenblicklich suchen die Kameraden nach dem Gefängnis, in dem die beiden vielleicht einsitzen, aber das ist nicht einfach, wie Sie sich denken können. Entgegenkommen gibt es meistens nicht, wenn es um Urninge geht. Als wären sie Hochverräter.«
»Aber wenigstens ist die Strafe milder. Weder Todesstrafe noch Festungshaft …«
»Stimmt, Cord würde wohl mit einigen Monaten davonkommen. Markus will mich informieren, sobald er Näheres weiß. Ich fahre dann runter nach Frankfurt, um Cord einen Verteidiger zu besorgen.«
»Dann ist das soweit geklärt«, sagte Asmus aufmunternd und verließ den Kaufladen mit fünf Eiern. Ihm war weit weniger zuversichtlich zumute als Cords Vater. Es gab so viele andere Möglichkeiten, warum ein junger Mann verschwand. Ohne Nachricht zu geben, waren schon viele junge Männer ins Ausland ausgewandert.
Als Asmus abends wieder im Cockpit saß und den friedlichen Abend genoss, stieg Hans Christian mit zwei Flaschen Bier zu ihm an Bord. »Hast du inzwischen herausgefunden, wer Böhrnsen befreit haben könnte?«, fragte der Werftbesitzer.
Asmus schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht. Aber meine Frau hat Jörn Frees im Hafen herumlungern sehen. Am Abend unseres Abreisetages und am nächsten, als wir dann mit Böhrnsen zurückkamen. Am zweiten Tag kam er etwas später, entsprechend der Tide. Es scheint, als hätte man ihm aufgetragen, wann er hier sein sollte. Den Tidenkalender kann er ganz sicher nicht lesen und auch keine Tiden berechnen.«
Jörn Frees. Das war ja ein ganz neuer Aspekt. Aber er fügte sich nahtlos in die seltsamen Ereignisse am Ufer. »Jörn wird also von jemandem beauftragt, uns zu überwachen, meinst du.«
»Ja.«
»Mittlerweile könnte selbst ich fünf Namen von Leuten aufzählen, die Böhrnsen schützen würden, jedenfalls solange es für sie gefahrlos bleibt.«
»Mindestens.«
»Und vom Fährhaus aus kann Frees telefonieren. Aber mit wem? Ich kann nicht glauben, dass mehr als diese fünf ungesetzlich handeln würden.«
»Ich auch nicht«, stimmte Bahnsen zu. »Ich vermute dahinter eine Handvoll sehr entschlossener Sylter, die ihre Macht über die Insel davonschwimmen sehen, wenn sie sie nicht mit allen Mitteln verteidigen. Oder sogar ein Einziger. Jedenfalls ist Böhrnsen ein wichtiger Bestandteil dieser Brut, weil er zur Tat schreitet, wenn es notwendig ist. Die anderen können sich dann hinter ihren Erwägungen verstecken.«
»Man muss bedenken, dass mit dem Damm nicht nur das Geld von Investoren fließen wird, sondern auch Geschäftsleute kommen werden, die sich hier niederlassen wollen. Die Clique, die du Brut nennst, sorgt sich ganz offenbar um ihre eigene Zukunft. Sie möchten die Vorteile des Damms, ohne die Nachteile in Kauf nehmen zu müssen, sprich Konkurrenz. Aber wenn schon Konkurrenz, dann klären die hiesigen Platzhirsche jetzt bereits die Fronten.«
»So könnte man es sich vorstellen. Übrigens intrigiert Mausi Böhrnsen gerne und besitzt Überzeugungskraft. Es ist denkbar, dass sie es schaffte, den spontanen Aufruhr zu organisieren, als ihr Vater das erste Mal im Gewahrsam saß. Aber inzwischen weiß ganz Sylt, dass die Polizei durchgreift, seitdem du hier bist. Deswegen glaube ich nicht, dass Mausi bei der neuen Befreiung ihres Vaters die Finger im Spiel hat. Da denke ich an höhere Kräfte.«
»An die Brut«, ergänzte Asmus, und Bahnsen nickte.
Am nächsten Tag kam Ose zu Asmus’ Boot, noch bevor er seinen Dienst angetreten hatte. Sie hielt ihm das druckfrische Exemplar der Sylter Rundschau hin.
»Ich habe sie nur überflogen«, sagte Ose. »Aber sieh mal, was ich hier Wichtiges entdeckt habe. Unter den Anzeigen.«
Asmus las laut:
»Wer es bisher noch nicht wusste:
Ja, mein Sohn Cord hat die Neigungen eines Urnings,
er ist nicht der Einzige auf Sylt,
aber der Einzige, der sich dazu bekennt.
Sollten mir noch mehr anonyme Droh- und Schmähbriefe wegen Cord zugehen, werde ich nicht davor zurückschrecken, weitere Sylter Urninge öffentlich zu machen. Verwandte und Bekannte werden sich schämen …
Du liebe Zeit!« Asmus starrte auf die Zeilen und sah vor Entsetzen nur noch Druckerschwärze.
»Ja, genau. Was auch immer er dir von Cord erzählt hat: Er muss sehr verzweifelt sein.«
»Das war er«, bestätigte Asmus nachdenklich. »Diese Anzeige bestätigt es. Er beginnt um sich zu schlagen. Ich hätte ihm von solch einer Dummheit abgeraten.«
»Sie hilft ihm nicht?«
»Im Gegenteil. Ob er überhaupt Namen kennt, sei dahingestellt. Aber seine Gegner werden sich zusammenrotten.«
»Muss man ihn nicht warnen?«
»Doch. Heute noch. Ich werde bei ihm vorbeigehen. Weiß ja keiner, warum. Könnte ja eine Rüge seitens der Polizei sein.«
»Ja«, sagte Ose erleichtert. »Bonde ist ein Netter. Ein Kesseltreiben hat er nicht verdient.«
Asmus reichte ihr die Zeitung zurück und machte sich auf den Weg zum Königshafen. Die Sicht war an diesem Tag gut. Hinter dem Ellenbogen lagen die Insel Röm und das Festland im Dunst, die Vögel am Ufer und die Schafe auf der Weide schienen im Einklang mit sich. Und mit den drei ankernden Schiffen in der Bucht war auch Asmus zufrieden. Einfache Fischer. Die Schmuggler hatten sich offenbar andere Routen gesucht. Im Schlechten Hafen lagen nur Lister Boote.
Als er die Alte Dorfstraße entlangknatterte, kam ihm die Frau, die ihm Auskunft gegeben hatte, entgegen. Sie hob ihren Stock und winkte ihm damit emphatisch zu. Und Asmus winkte fröhlich zurück.
So war der Dienst leichter zu ertragen. Zwistigkeiten mit den Menschen, mit denen er lebte, verabscheute Asmus, vor allem, wenn sie einen persönlichen Anstrich erhielten. Das brachte ihn sogleich zurück zu seiner nächsten Aufgabe: Sibbersen ins Gewissen reden, damit dieser nicht noch mehr Dummheiten beging.
Jedoch entdeckte Asmus, als er nur eben sein Motorrad im Hof abstellen wollte, in der Wache die jüngste Eintragung in das Tagesjournal: »Bonde Sibbersen, Kaufmann in Westerland, eine Rüge erteilt wegen der heutigen Drohung in der Sylter Rundschau. OWM Alfred Jung.« Dieser stinkfaule Kerl, der sich selten an der ermüdenden Arbeit der Wachtmeister in den Straßen unter nassen oder frostigen Bedingungen beteiligte, witterte karrierefördernde Unternehmungen wie die Maus den Käse! Ein vom Chef geduldetes schäbiges Verhalten. Mit charakterlosen Männern wie Jung und Sinkwitz war leider schwer zusammenzuarbeiten.
Jung stiefelte aus Sinkwitz’ Arbeitszimmer heraus, als Asmus gerade gehen wollte. »Womit rechtfertigen Sie denn, jemandem eine Rüge zu erteilen, der eine private Anzeige in der Zeitung geschaltet hat?«, fragte er.
»Mit der öffentlichen Drohung«, antwortete Jung prompt.
»Hat Sibbersen Ihnen die Droh- und Schmähbriefe gezeigt, von denen er spricht?«
»Nö. Habe ich abgelehnt. Die sind privat und somit nicht relevant.«
»Ach so«, sagte Asmus. »Eine öffentliche Bekanntmachung als Antwort auf Briefe ist also eine Drohung, wenn Sie dies so entscheiden, aber persönliche Drohbriefe finden Sie privat. Ist Ihnen klar, dass Sie mit zweierlei Maß messen?«
Jung blies die Backen auf und wusste nichts zu erwidern.
Als Asmus vor Sibbersens Kaufladen ankam, standen dort einige flüsternde junge Leute beisammen, einheimische Lehrlinge, schätzte er. Sie schienen erregt, aber auch abenteuerlustig. Ein Passant steuerte auf die Eingangstür zu, überlegte es sich bei ihrem Anblick und bog ab.
Einer der Jünglinge fuchtelte mit einem hölzernen Spazierstock mit geradem Knauf, den Asmus argwöhnisch musterte. »Geben Sie mir den doch bitte mal.«
Widerwillig reichte ihm der pickelige Knabe das Stück. Geübt fand Asmus die Arretierung und zog mit dem Griff eine dreikantige Klinge aus dem Spazierstock. »Sie wissen, dass Stockdegen verboten sind, nicht wahr?«
»Ich wusste nicht einmal, dass es einer ist«, antwortete der Bengel frech. »Wie kann ich ahnen, dass mein Vater verbotene Waffen besitzt? Übrigens, er ist der Besitzer vom Strandcafé.«
»Mein Junge, das haben schon ganz andere Kaliber als Sie versucht. Einem Polizisten sollten Sie nicht drohen. Es ist nicht nur unhöflich, es verstößt auch gegen das Gesetz. Jetzt geht bitte alle an eure Arbeit zurück und lasst Bonde Sibbersen in Ruhe.«
»Er beleidigt Sylt und die Sylter!«, rief einer der Burschen erregt.
»Er verteidigt sich gegen feige anonyme Attacken. Möchte jemand von euch an seiner Stelle sein? Vielleicht Spottbriefe erhalten, weil der Vater unter den Augen der Familie fremdgeht und die Mutter betrügt? Ich bin sicher, der ein oder andere von euch kennt das.«
Die Jungen sahen einander stumm an, bis endlich einer Mut fasste. »Ich kenne das, Wachtmeister Asmus«, brachte er zögernd hervor. »Ich verstehe, was Sie meinen.«
»Na, wenigstens einer«, sagte Asmus lächelnd.
Der Sprecher sah sich unter den Kameraden um. Deren feindliche Haltung war so gut wie verschwunden. »Wir alle, Herr Wachtmeister. Und meine Hochachtung haben Sie, weil Sie Klartext reden. Manche von unseren Vätern sind einfach peinlich, weil sie so verdruckst sind.«
»Dann haben wir uns ja verstanden. »Und Sie«, sagte Asmus zu dem Besitzer des Stockes, »stellen den Degen wieder in den Schrank zurück, in den er gehört. Vielleicht bringen Sie den Mut auf, den Vater darauf aufmerksam zu machen, dass er ihn nie benutzen darf.«
Der junge Mann wusste sein Glück kaum zu fassen, als er den Stockdegen wieder in Händen hielt. »Das mache ich. Danke für das Vertrauen«, murmelte er und machte einen Diener.
Asmus nickte allen freundlich zu und betrat den Kaufladen.
Bonde Sibbersen stürmte um den Tresen herum, noch bevor das Glöckchen zur Ruhe gekommen war. »Sie!«, blaffte er. »Sie!«
»Ja?« Asmus blieb völlig verständnislos an der Tür stehen.
»Sie tun immer so, als ob Sie auf meiner Seite sind, womöglich sind Sie ja selbst ein Urning, holen alle möglichen Informationen aus mir heraus, und dann hetzen Sie mir diesen unsäglichen Kollegen von Ihnen auf den Hals!«
»Oberwachtmeister Jung, ich weiß. Ich habe deswegen gerade ein Sträußchen mit ihm ausgefochten.«
»Das können Sie gar nicht, er hat einen höheren Dienstgrad als Sie. Sie lügen schon wieder, Herr Asmus!«
Der Kaufmann war leider so erregt, dass er Argumente nicht akzeptieren würde. Asmus betrachtete ihn unschlüssig. Sollte er gehen, damit die Sache nicht eskalierte? Das junge Lehrmädchen war wie stets zugegen, und obwohl sie sich in den Schubladen eines deckenhohen Schrankes zu tun verschaffte, konnte man ihre nach hinten angelegten Ohrmuscheln besichtigen, die vor Aufregung rot waren.
»Herr Sibbersen«, begann Asmus versöhnlich, »die Anzeige entspricht Ihrem Zorn, ich weiß, aber es war nicht klug, sie zu schalten.«
»Was wissen Sie denn davon!«
»Eine Menge. Mehr als Sie.«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Sie hätten mir andernfalls geholfen.«
»Vielleicht hätte ich mehr tun können, wenn Sie mir die Drohbriefe gezeigt hätten.«
»Die sind privat und zählen nicht als Beweismittel, wie mir der Jung deutlich gesagt hat.«
»Aber das stimmt nicht.«
»Ich weiß mittlerweile überhaupt nicht mehr, was stimmt und was nicht«, giftete Sibbersen. »Bitte gehen Sie, der Polizei traue ich nicht über den Weg und will mit ihr nichts mehr zu tun haben!«