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Der Rauswurf durch Bonde Sibbersen ärgerte Asmus. Dabei ging es ihm gar nicht so sehr um ihn selbst, sondern vielmehr darum, dass Sibbersen vermutete, von der Polizei betrogen worden zu sein.
Da gab es nur einen Ausweg. Wieder einmal musste Ose vermitteln. Asmus erklärte ihr das Problem inmitten von selbstgedrehten Saattütchen aus Zeitungspapier, die sie vor sich auf einem Brett im Garten aufgereiht hatte. »Wir Nachbarinnen tauschen Saatgut«, erläuterte sie. »Radieschen, Rübchen, Salat, Grünkohl, der allerdings schon längst in der Erde ist. Und Feldsalat. Da bin ich die Einzige, die ihn hat. Den kennt sonst niemand hier. Wenn es schneefrei bleibt, kann ich ihn den ganzen Winter ernten.«
»Ose, kannst du bei Sibbersen ein gutes Wort für mich einlegen? Er vermutet, dass ich ihm unseren unsäglichen Herrn Jung auf den Hals gehetzt habe, was natürlich Unsinn ist.«
»Unsinn. Ich weiß.«
Asmus hockte sich vor sie und ergriff sie an den Oberarmen. »Ose, hörst du mir zu?«
»Ja, gewiss tue ich das. Aber ich muss mich auch darum kümmern, dass die Familie im Winter zu essen hat!«, rief sie gequält. »Ferdinand geht es so schlecht, dass ich in letzter Zeit mehr bei ihm in Kampen als hier gewesen bin. Jetzt muss ich aufholen, was ich versäumt habe. Hoffentlich wird der Herbst warm, so dass die Saat aufgeht!«
»Ja, natürlich«, sagte Asmus und ließ sie los.
»Ich mach’s ja«, versprach Ose, während sie sorgsam kleine schwarze Samen in eine Rille streute. »Petersilie. Die geht im Herbst sogar besser auf als im Frühling. Im vergangenen Jahr habe ich Mohnsamen mit Petersilie verwechselt. Die sind sich ganz ähnlich. Aber du glaubst gar nicht, wie mich die Familie ausgelacht hat.«
»Doch, das glaube ich.« Resigniert stand Asmus auf und verließ den Gemüsegarten an seinem seewärtigen Ende, um den Abhang zum Ufer hinunterzusteigen und nach Munkmarsch zu wandern.
Der Herbst lag jetzt, Ende August, in der Luft, in die Asmus auf seinem Heimweg schnupperte. Ein wenig Melancholie und Trauer, weil seine Hoffnung auf Ose unerfüllbar blieb. Und dann Wind aus Südwest. Womöglich kündigte sich ein neuer Herbststurm an. Der zweite im August? Das wäre sehr früh.
In der Nacht frischte der Wind auf, hartnäckig aus Südwest blasend. Asmus, der über Deck kroch, um die Festmacher zu überprüfen, sah die Wolken über den Himmel jagen. Noch regnete es nicht, aber es war kälter geworden.
Später fing es an zu gießen, die Regentropfen prasselten nur so auf das Deck herunter, und das Boot schob Lage. Asmus drohte aus der Backbordkoje zu rollen. Er wechselte auf die Steuerbordseite, so dass er einigermaßen bequem im Winkel zwischen Bordwand und Matratze zu liegen kam.
Am Morgen hatte der Wind immer noch nicht gedreht. Wenn er über mehrere Tiden die Richtung beibehielt, konnte es für Mensch und Tier gefährlich werden, da sich das Wasser der Nordsee immer weiter aufstaute und während des eigentlichen Niedrigwassers höher stand als bei Normalflut.
Obendrein war er so böig, dass Asmus beschloss, mit der Bahn nach Westerland zu fahren. Selbst der Zug benahm sich bockig. Und als Asmus mit Rückenwind bis in die Wache geflogen war, erfuhr er, dass der Außendienst an diesem Tag weitgehend eingestellt war. Zu viele Dachziegel und fliegender Unrat machten den Aufenthalt draußen gefährlich. Wer immer konnte, verharrte in seiner Wohnung, und die Polizisten blieben in der Wache.
Nun, Asmus konnte sich die Zeit auch mit Schreibarbeiten vertreiben.
Die Stimmung in der Wache war gereizt. Jung diskutierte mit Matthiesen in einer Lautstärke, mit der vermutlich Asmus am anderen Ende des Raums gemeint war, denn es ging um die Naturschutzgebiete. »So ein Blödsinn, jetzt schon wieder daran zu denken, weitere Gebiete für den Schutz auszuweisen. Bei einem Sturm wie diesem ertrinken sowieso jede Menge Jungvögel in ihren Nestern in den Salzwiesen. Unnützer Arbeitsaufwand. Und kostspielig.«
»Hmhm«, murmelte Matthiesen entschlusslos.
»Die Jungvögel sind Ende August schon geschlüpft«, berichtigte Asmus ruhig.
»Stürme können ja auch früher kommen, oder? Asmus, der Kenner der Nordsee!«
»Wenn in Zukunft so viel Geld nach Sylt strömt, könnte man die Bodenbrüter durch niedrige Sommerdeiche schützen.«
»Was denn noch alles! Am besten uns Einheimische evakuieren.«
Asmus verzichtete auf eine weitere unerquickliche Diskussion.
Später, als Jung wegen eines Bedürfnisses hinausgegangen war, rief Matthiesen leise: »Pst, Niklas!«
»Ja?«
»Er hat fürchterliche Angst vor Sturmfluten.«
»Na gut, dann wollen wir es ihm nachsehen«, meinte Asmus und betrachtete liebevoll Fotos von eleganten Halsbandregenpfeifern und Pfuhlschnepfen.
»Hast du eigentlich eine Ahnung, wo Böhrnsen stecken könnte?«, erkundigte sich Jung, als er zurück war.
»Nein, aber ich denke, dass er auf Sylt ist«, antwortete Asmus. »Wir hatten ihn zu seiner Überraschung schnell, als er nach Langeneß geflohen war, und er muss vermuten, dass wir ihm unbekannte Helfer haben, die jetzt die Häfen überwachen. Das wird ihn vorsichtig machen.«
»Und welche Helfer hatten wir?«
»Ach, diesen und jenen. Man hört mal hier, mal da etwas.« Asmus würde sich nicht auf ein aufmerksames achtjähriges Mädchen berufen, aber auch ohne Line hätte er seine Kontaktleute nicht genannt.
Matthiesen beugte sich tiefer über den Schreibtisch, damit niemand sein Schmunzeln sah. Außer Asmus.
Jung stieß ein Schnauben aus. »Von Kooperation hast du wohl noch nichts gehört?«
Doch, hätte Asmus am liebsten geantwortet. Und noch mehr von Verrat durch eigene Leute.
Bis zum Abend frischte der Sturm weiter auf. Es gab schon seit Jahrhunderten Windmesser, komplizierte und riesige Apparaturen. Eine davon besaßen Asmus’ Brüder in Rostock, die sie neben ihren Schiffsmodellen im Kontor unter Glas aufgestellt hatten, zur Bewunderung durch die Besucher, in Anwendung kam er nicht.
Auf Booten gab es keine Geräte zum Messen der Windstärke. Asmus entschloss sich, zu Ose zu wandern. Ihr Vater besaß eins der wenigen Rundfunkgeräte von Sylt – vielleicht war eine Vorhersage oder eine Warnung durchgegeben worden.
Noch bevor Asmus den Hafen verlassen hatte, hastete Bahnsen auf ihn zu. »Du kannst heute Nacht nicht auf deinem Boot schlafen! Zu gefährlich! Mart und ich haben schon alle Jollen gesichert, aber wer weiß, was sich da trotzdem losreißen wird. Am Ende bekommen wir eine ordentliche Wuling von Bootstrümmern. Hatten wir schon mal. Und jetzt sieht es wieder nach einem ganz bösen Sturm aus.«
»Ja, gut.« Asmus gab ihm insgeheim recht, aber wo sollte er hin?
»Du hast die Wahl. Zu uns ins Haus, in das Fischerboot auf Helling, in das ich gerade den neuen Motor eingebaut habe – riecht ein bisschen nach Öl –, oder in den Warteraum des Fährhauses.«
»Danke«, sagte Asmus ganz gerührt wegen der Fürsorge. »Ich glaube, ich nehme den Warteraum …«
»Weil er gewissermaßen öffentlich ist und dich zu nichts verpflichtet«, ergänzte Bahnsen. »Verstehe ich. Ich sage Mart Bescheid, dass er ihn offen lässt.«
Asmus sicherte die Franziska mit noch mehr Tauwerk und brachte dann seinen Schlafsack ins Fährhaus. Essen würde er noch an Bord – da er dabei wach war, konnte er sich notfalls mit einem Sprung an Land retten.
Dann machte er sich auf den Weg nach Keitum. Trotz der Ebbe überflutete das Wasser schon die Salzwiese des Klentertals. Asmus musste auf den Karrenweg über den Hügel ausweichen, auf dem ihm die Regenschauer ins Gesicht trieben. Gummistiefel und Ölzeug hielten ihn oberflächlich trocken, bis das Wasser begann, ihm am Hals in den Troier und unter den Hosenbund zu kriechen.
Er atmete auf, als er endlich die Gartenpforte zu Oses Elternhaus aufstieß, die wie üblich in den Angeln quietschte.
Ose selbst öffnete die Haustür. »Ja, bitte?«, fragte sie kühl und starrte Asmus wie einen Fremden an.
»Ich bin es, Ose.« Asmus nahm den Südwester ab und schüttelte die Tropfen ab.
»Das sehe ich. Was willst du?«
»Ich dachte, dass ich vielleicht den neuesten Wetterbericht aus eurem Rundfunkgerät abhören dürfte«, stammelte Asmus verwirrt.
»Das kann ich mir denken. Du hast immer nur etwas von mir gewollt, stimmt’s?«
Asmus schluckte und hielt mit einer heftigen Erwiderung zurück. »Ose, ich verstehe nicht, was los ist. Hat sich zwischen uns etwas verändert?«
»Oh ja!«, schrie Ose und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
War sie reizbar aus demselben Grund wie Jung, fragte sich Asmus auf dem Heimweg. Eigentlich nicht. Ose war ein ruhiger, besonnener Mensch. Folgedessen musste er ihr einen Grund für diese Wut gegeben haben. Aber er kam nicht darauf, was es sein konnte. Seiner Ansicht nach war er völlig unschuldig. Ein Missverständnis also?
Durch Nachdenken ließ es sich nicht aufklären. Asmus bereitete sich stattdessen ein karges Abendessen und ließ sich dann missmutig vom Wind ins Fährhaus schieben, wo er sofort in seinen Schlafsack kroch. Wenigstens war das Haus solide gebaut und das Dach dicht.
Am Morgen wurde er durch Mart geweckt, der aber verkündete: »Du brauchst dich nicht zu beeilen, der Fährbetrieb ist für heute eingestellt. Aber da scheint am Dammbau einiges passiert zu sein.«
»Ja?« Asmus setzte sich auf. Das Watt gehörte zu seinem Aufgabenbereich. »Weißt du, was?«
»Nö. Vielleicht sind einige Arbeiter ertrunken, keine Ahnung.«
Asmus fuhr in seine Kleidung, so schnell er konnte. »Fährt die Bahn schon?«
»Nein, warum auch? Aber der Sturm hat abgenommen.«
»Und wie sieht’s hier im Hafen aus?«
»Glimpflich abgelaufen.«
Wenigstens zwei gute Nachrichten! Asmus’ Frage nach der Ostbahn war natürlich überflüssig gewesen, da die Fähre stilllag. Er musste sein Motorrad nehmen.
Die Karrenstrecke war schwierig. Stellenweise war Sand über die festgefahrenen Spuren gespült worden, so dass man ihren Verlauf kaum erkennen konnte, an anderen Stellen standen Pfützen. Der Wind kam stoßweise abwechselnd gegenan und von der Seite, und Asmus gelang es manchmal nur unter Mühe, ein Umkippen zu vermeiden.
Endlich kam Asmus schnaufend in die Wache. »Was weiß man über das Morsum Kliff und die Nössehalbinsel?«, fragte er in die Runde.
»Von deinen Schutzgebieten weiß ich nichts. Aber am Dammbau ist eine Menge zerstört worden«, antwortete Jung mit hörbarer Befriedigung. »Gemeldet wurde uns bisher, dass zwei Schwimmbagger verschwunden sind, außerdem kilometerweise Spülrohrleitungen und tonnenweise aufgespülter Boden.«
»Und Menschen?«
»Keine Ahnung. Aber die meisten wurden noch gestern Abend in der Halle des Turnvereins untergebracht. Ich glaube auch, dass sich die Bauleiter mehr Sorgen um den Damm selbst machen. Die Arbeiter kann man ersetzen.«
»Natürlich«, stimmte Asmus mit feinem Hohn zu. »War schon jemand dort?«
Jung schüttelte den Kopf. »Ich warte auf Sinkwitz’ Anweisungen, aber der hat seinen Dienst noch nicht angetreten.«
»Ja, gut«, entschied Asmus. »Ich fahre auf der Stelle hin.«
»Ohne Einsatzbefehl. Ich vermerke es im Tagesjournal«, verkündete Jung.
»Vermerken Sie, was Sie wollen.« Asmus verließ die Wache.
Nach unendlich mühsamer Fahrt war Asmus an einer Stelle angekommen, wo der Dammbau vermutlich seinen Anfang genommen hatte. So ganz genau konnte er es nicht orten.
Immer noch waren es bestimmt sechs Windstärken. Die Dammreste bis weit hinaus in die See wurden von den Schaumkronen überspült. Kaum etwas von der bisher fertiggestellten Strecke schien übrig geblieben. Nur in Ufernähe schlugen die Wellen gegen stehengebliebene Pfähle, an denen sich Tang und Unrat aufgehängt hatten.
Die Stapel der Bahnschwellen waren auseinandergerissen worden – vereinzelt sah Asmus ihre von grauem Schlick überzogenen Umrisse. Die meisten waren wohl bis in die nahen Weiden getragen worden. Eine kleine Arbeitslok lag auf der Seite, und unzählige Schiebkarren waren auf dem Baugelände verstreut. Die Bauarbeiterhütten existierten nicht mehr, die Hausplanken, Öfchen, Kochtöpfe, Schuhe und andere persönliche Besitztümer staken im Schlick.
Inmitten des Chaos’ wanderten große Raubmöwen umher und suchten nach essbarer Beute. Gruselig, dachte Asmus angesichts eines blutigen Stückes Fisch, um das sich zwei Vögel gierig stritten.
Dann bemerkte er eine Bewegung. Ein Mann näherte sich ihm schnell. »Moin, Herr Wachtmeister. Ich bin Bauleiter Lorenzen.«
»Moin, Herr Lorenzen. Hier sieht es ja furchtbar aus«, stellte Asmus bedrückt fest. »Vermissen Sie Leute?«
»Noch wissen wir es nicht. Aber wir glauben, alle rechtzeitig nach Westerland evakuiert zu haben.«
Asmus blickte über den grauen Schlick, der sich gleichmäßig über alles gelegt hatte, was liegengeblieben war. Überall schauten weiße oder schwarze abgerissene Flügel hervor, Bürzel, Köpfe … »Aber tote Eiderenten, Trauerenten, Austernfischer, Möwen haben Sie zur Genüge …«
»Ja. Immerhin gehören sie nicht zu meiner Verantwortung. Das ist das Beste, was ich darüber sagen kann.«
»Ich verstehe Sie. Und was sagen Sie zum Dammbau?«
»Wir werden von vorne anfangen müssen. Mit einem neuen Plan, mit neuer Bautechnik.«
»So geht es also nicht?«
»Nein, auf keinen Fall. Ein Sturm wie dieser dürfte so ungewöhnlich nicht sein, aber wir sind an ihm gescheitert. Und jetzt gegen den Herbst hin werden wir öfter stärkere Stürme erleben.«
Asmus reichte dem Bauleiter die Hand. »Ihnen persönlich wünsche ich viel Glück.«
Auf dem Rückweg zu seinem Motorrad entdeckte Asmus einen angeschwemmten Schuh, der bemerkenswert wenig mitgenommen war. Überrascht betrachtete er ihn, dann sah er sich um, um den Bauleiter zu entdecken, aber der war fort.
Der Schuh war modisch lang und schmal, dabei spitz, mit sehr flachem Hacken und zweifarbig rotbraun mit ehemals weißem, jetzt schlickfarbenem Oberteil. Auf keinen Fall konnte er im Besitz einer der Arbeiter gewesen sein. Vielleicht kannte ja der Bauleiter diesen auffälligen Modeartikel.
Asmus steckte ihn ein. Möglicherweise ließ sich der Besitzer ermitteln.
Zurück in der Wache, erfuhr er sofort von den allmählich einlaufenden Schadensmeldungen. Sinkwitz stand an der Wand vor einer riesigen Syltkarte und markierte die betroffenen Orte mit Stecknadeln. Matthiesen informierte Asmus. Auf seinem Gesicht breitete sich immer wieder ein Grinsen aus, das nicht zum Ernst der Geschehnisse passte.
»Was ist denn, Lorns?«, fragte Asmus schließlich irritiert.
»Wir haben Böhrnsen«, sagte Matthiesen und drehte das Journal so zu Asmus um, dass dieser die mit dem Finger markierte Zeile lesen konnte.
»Dach von Boy Böhrnsens Haus eingestürzt; unversehrte Bewohner (Mausi Böhrnsen, ein Hausmädchen, ein Knecht) in Nachbarschaft untergebracht. Boy Böhrnsen bei der Flucht aus seinem Haus ergriffen und von Wachtmeister Jep Thamsen in Gewahrsam genommen.«
»Er war tatsächlich in seinem Haus, wie du vermutet hast«, sagte Matthiesen triumphierend.
»Im Lehnsessel«, verbesserte Asmus. »Gut gemacht, Jep!« Er winkte zu ihm hinüber. »Wo sitzt Böhrnsen jetzt ein?«
Matthiesen machte eine Kopfbewegung. »Hinten in der Zelle. Wir haben zwei neue, kräftige Schlösser.«
»Und wo sind die Schlüssel?«
»Hier, neben mir. Vielleicht solltest du sie alle vier an dich nehmen, weil Böhrnsen doch in deiner Verantwortung ist.«
»Was fällt dir ein, hier Aufgaben zu verteilen, Lorns!«, schnauzte Sinkwitz, der mit den Stecknadeln herumhantiert hatte und jetzt herumfuhr, dass die Schachtel herunterfiel und sich entleerte.
»Kein Problem, HWM«, sagte Asmus beschwichtigend. »Am besten ist, Sie nehmen sie mit nach Hause. Nachschlüssel können wohl kaum gemacht worden sein, es sei denn durch einen von uns …«
»Denk an die Brandgefahr«, murmelte Matthiesen. »Wer sollte Böhrnsen bei Gefahr herauslassen?«
»Tja, dann bliebe wohl nur ein außerordentlicher Nachtdienst durch HWM Sinkwitz«, sagte Asmus voll Bedauern. »Morgen schaffen wir dann den Delinquenten zum Schiff nach Hörnum. Wer soll ihn nach Husum zum Richter begleiten, Herr Sinkwitz?«
»Matthiesen!«, blaffte Sinkwitz. Seinen auf dem Steinfußboden knallenden Schritten zu seinem Zimmer zurück war die Wut anzuhören.
Asmus schüttelte warnend den Kopf, als Matthiesen seine schadenfrohe Meinung kundtun wollte. Manche Äußerungen gehörten sich nicht.
Kurz danach kam ein Mann in gestreifter Hose und Lederschuhen in die Wache. Kein Fischer und kein Bauer. Asmus kannte ihn nicht.
»Ich bin Früdde Harksen«, stellte er sich vor.
»Schön, Früdde Harksen. Was führt Sie her?« Matthiesen stand bereits am Tresen.
»Eine Meldung. Gibt es hier einen Schupo, der Asmus heißt?«
»Ja, gewiss. Da ist er.«
Asmus trat bereits neben Matthiesen, als die Frage kaum ausgesprochen war. Früdde Harksen wandte sich an ihn. »Ich bin der Vater von Line aus Hörnum.«
»Ach, wie schön«, sagte Asmus, dem kurz der Atem stockte. Wollte der Mann sich beschweren? »Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«
»Ja, ja. Im Dorf ist nichts passiert. Die Mole des Anlegers wurde ein paar Meter eingerissen, das können wir leicht selbst reparieren. Jedoch haben mich die Hörnumer ausgeguckt, um unsere Schäden am Ufer zu melden, und Line sagte, dass ich unbedingt zu Ihnen gehen soll. Weil die Abbrüche am Weststrand zur Natur gehören und in Ihr Fachgebiet fallen.«
Asmus lächelte unwillkürlich. Von Landabbrüchen verstand er natürlich nichts, aber er freute sich, dass sein Geschenk an Line offenbar nicht auf Empörung oder Abwehr ihres Vaters gestoßen war.
»Es sind an der Westseite wieder rund hundert Meter Ufer abgerutscht«, verkündete Harksen düster. »Wenn da nichts gemacht wird, und es geht so weiter, landen unsere Häuser eines Tages in der See.«
»Ja! Vermutlich!«
»Ganz sicher!«
»Früdde Harksen«, sagte Asmus fest. »Ich kenne das Problem. Die Westküste ist insgesamt betroffen. Das Einzige, was ich tun kann, ist, eine dringende Eingabe mit der Bitte um Hilfe im Kieler Ministerium einzureichen. Was die dort damit machen, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich verspreche Ihnen aber noch eines: Ich werde einen der Abgeordneten, die derzeit kommen oder sich angekündigt haben, daraufhin ansprechen. Wer mit dem Wattenmeer-Damm Geld verdienen will, muss dafür sorgen, dass Sylt noch existiert, wenn der Damm fertig ist.«
»In Ordnung. Ihnen vertraue ich, weil Line es tut. Manchmal verlässt man sich auf die falschen Polizisten.«
»Kann wohl vorkommen«, bestätigte Asmus.
»Line ist ein kluges Mädchen, finden Sie nicht?«
»Oh, und wie! Vielleicht trägt sie eines Tages zur Rettung von Hörnum bei. Ich würde sie hüten wie einen Edelstein.«
»Habe damit angefangen.« Harksen hob die Hand zum Abschied und ging wortlos.
»Kanntest du Harksen nicht?«, erkundigte sich Asmus leise bei Matthiesen.
Dieser schüttelte den Kopf. »Nie gesehen.«
Dass Harksen seine Tochter mit dem Hinweis auf Sinkwitz und Jung ermahnt hatte, war wohl dem Urvertrauen geschuldet, das die meisten Menschen der Polizei entgegenbrachten. Aber in Zukunft würde er Abstand zu den beiden halten.
Boy Böhrnsens Abfahrt musste auf den nächsten Tag verschoben werden. Er erklärte sich bereit auszusagen, aber nur in Gegenwart von Asmus, der jedoch wieder im Außendienst unterwegs war. Sinkwitz sah sich zu seinem Ärger genötigt, Matthiesen zu beauftragen, Asmus herbeizuschaffen.
Mart im Fährhaus bedauerte, Asmus wäre seit dem frühen Morgen unterwegs. Gegen Mittag traf er ein, ohne zu wissen, dass er gesucht wurde.
Kurze Zeit später wurde Böhrnsen geholt und Asmus gegenüber gesetzt. Matthiesen saß am kurzen Ende des Tisches und führte das Protokoll.
»Sie möchten also aussagen«, begann Asmus. »Die Wahrheit am besten. Sie sehen ja, dass wir Sie immer wieder fassen. Möglicherweise werden Sie vom Richter milder beurteilt, wenn Sie uns helfen.«
»Ja, gut. Ich habe ja zugegeben, dass ich Sinkwitz eine kleine Lehre erteilen wollte, und das will ich jetzt bestätigen.«
»Das hatten Sie noch nicht zugegeben. Herr Böhrnsen, versuchen Sie nicht, mich für dumm zu verkaufen«, mahnte Asmus. »Sie sprachen von Schröder aus Flensburg. Aber erstens wussten Sie nicht, dass Schröder in der Wache war, und zweitens führt Ihr direkter Heimweg von der Tanzhalle nicht an der Wache vorbei.«
»Na ja. Aber ein Mordversuch war es nicht! Ein Unfall.«
»Und wer hat Sie aus der Arrestzelle herausgelassen?«
»Mausi, mein Töchterchen.« Böhrnsen lächelte selig. »Sie ist eine gewitzte Person, nicht?«
»Sie hat doch nicht eigenhändig das Schloss aufgebrochen.«
»Ach so, nein, natürlich nicht. Das war der Schmied von Keitum. Er ist mit ihrem Verlobten, dem Lehrer in Keitum, verwandt und hat Bärenkräfte.«
»Er wusste, dass er gegen das Gesetz verstieß, oder?«
Boy Böhrnsen zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung. Und was heißt schon Gesetz? Bei uns ist die Familie das Gesetz.«
»Das dachte ich mir. Und wer hat Sie in Munkmarsch befreit?«
Der Fuhrunternehmer grinste breit. »Das wüssten Sie wohl gerne? Ich auch. Ich weiß es nämlich nicht. Ich hatte eine sauschlechte Nacht und bin irgendwann spät eingedämmert. Und wie ich da im Morgengrauen wach werde und so vor mich hindöse, sehe ich Schloss und Schlüssel am Nagel hängen. Ich bin sofort hoch und zur Tür raus.«
»Und dann? Wer hat Ihnen weitergeholfen?«
»Niemand. Ich habe mir eine Jolle geliehen, bin nach Keitum gerudert und habe mich dort von einem Bauern nach Westerland mitnehmen lassen. Die Decke, unter der ich auf seinem Karren lag, kratzte. Und die Wurzeln, die er auf dem Markt verkaufen wollte, schmeckten ganz gut, aber sie waren sandig. Ein karges Frühstück.«
»Manche Leute haben nicht einmal Wurzeln zum Frühstück.«
»Selber schuld. Man muss schon zusehen, dass man sich tummelt«, erklärte Böhrnsen großspurig, als ob er die Welt gepachtet hätte.
»Mit dieser Einstellung landet man leicht im Gefängnis, Herr Böhrnsen.«
»Wir werden sehen.«
Aber die Zuversicht, die der Fuhrunternehmer an den Tag zu legen versuchte, war nicht mehr ganz so groß. »Soll ich Ihnen noch was sagen, Asmus?«, fragte er und lehnte sich weit über den Tisch vor.
Matthiesen piekte ihm mit dem Bleistift in die Schulter. »Zurück, Boy«, befahl er. »Manchmal wird so etwas als tätlicher Angriff ausgelegt. Und die Strafe entsprechend erhöht.«
»Pff«, schnaubte Böhrnsen und zog sich zurück. »Also, Asmus! Sind Sie interessiert?«
»Wir sind an allem interessiert, was ein Festgenommener uns mitteilen kann.«
»Ich rechne auf Anerkennung, merken Sie sich das! Also, der Jörn Frees aus Keitum ist Ihnen öfter auf den Fersen gewesen. Ich hab’s nur gehört.«
Asmus antwortete nicht. Aber die Gerüchte verdichteten sich.