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Als Matthiesen am nächsten Morgen mit Böhrnsen auf die Reise gegangen war, nahm Asmus seinen Außendienst wieder auf. Das Morsum Kliff bedurfte jetzt dringend einer Inspektion hinsichtlich möglicher Schäden.
Ein gutes Stück hinter dem fertiggestellten und unversehrten Morsumer Bahnhof wurde Asmus unterhalb der Munkehoi vom Bauleiter Lorenzen abgefangen.
»Moin, Herr Asmus! Sie sind aber schnell da!«
»Wieso? Haben Sie nach mir gerufen?«
»Vor etwa zehn Minuten habe ich mit der Wache telefoniert. Oberwachtmeister Jung wusste nicht, wohin Sie gefahren sind und wann Sie zu erreichen wären.«
O doch, er wusste es. Asmus hatte Jung sein Fahrtziel benannt, und dieser hatte noch in Asmus’ Gegenwart zum Journal gegriffen. »Was ist passiert?«
»Wir haben einen Toten entdeckt, den wir allerdings nach der bisherigen Übersicht nicht vermissen. Ertrunken. Er liegt jetzt noch im Wasser, wir müssen erst ein Boot organisieren, um ihn zu bergen. Und da das Wasser aufläuft, eilt es. Ich weiß gar nicht, ob wir es heute schaffen.«
»Dann steigen Sie hinten auf, Herr Lorenzen. Sie müssen mir sagen, wie ich fahren soll.«
Nach einer abenteuerlichen Schlitterpartie waren sie so weit wie möglich an die Unglücksstelle herangefahren. Asmus verstand jetzt erst, dass der Ertrunkene weit draußen am Hilfsdamm lag, an dem während der Bauarbeiten die Steinschuten aus Husum angelegt hatten.
Inzwischen war das Wasser nach dem Sturm weiter zurückgegangen, und da auch der Wind sich beruhigt hatte, sah man endlich, dass der Dammsockel in Ufernähe so weit erhalten war, dass man auf ihm zu Fuß bis zum Hilfsdamm gelangen konnte.
»Die zwei Männer da draußen habe ich als Wache abgestellt«, bemerkte Lorenzen. »Kommen Sie, ich versuche, für Sie ein Paar Gummistiefel aufzutreiben.«
Asmus folgte ihm zu einer schnell errichteten Bauhütte, in der sich Schlechtwetterkleidung, Seekarten und Baupläne stapelten. Es fanden sich Gummistiefel, die er gegen seine derben ledernen Arbeitsstiefel austauschen konnte, die zwar für die Kletterei am Kliff, aber nicht für wadentiefes Wasser geeignet waren.
Der Dammkörper war an vielen Stellen ausgekolkt, mancherorts aber lagen noch die Eisenbahnschwellen, und dort kamen sie ganz gut vorwärts. Schwieriger wurde es am Hilfsdamm, der schmaler war, weil er lediglich provisorisch für den Transport der Steine von den Schuten bis zum Wattenmeer-Damm mit der kleinen Arbeitslok und ihren Loren errichtet worden war.
Endlich waren sie draußen an der Unglücksstelle angekommen. Die Arbeiter machten für Asmus Platz, der sich hinknien musste, um die Leiche am Seeboden in Augenschein nehmen zu können. Offensichtlich hatte sie sich an einem stehen gebliebenen Festmacherdalben verfangen.
»Den Leichnam kriegen wir heute nicht mehr raus«, bemerkte Lorenzen. »Selbst wenn wir die Jolle hier hätten, wäre das Wasser schon zu tief. Auf Tauchen sind wir nicht eingerichtet.«
Asmus nickte. Soweit er in den hin und her schwappenden und in der Sonne glitzernden Wellen erkennen konnte, hatte der Ertrunkene eine blaue Arbeitsjacke an. Die Hosenumschläge waren aufgekrempelt, so dass man die nackten Füße sah. »Sie vermissen wirklich keinen Arbeiter?«
»Alle, die wir listenmäßig erfasst haben – wegen des Lohns –, sind davongekommen. Er ist keiner von unseren Arbeitern, das habe ich schon überprüft«, antwortete Lorenzen entschieden. »Ich denke, er gehörte zu der Stammmannschaft auf einer Steinschute, oder die Husumer haben ihn uns als Nachschub geschickt, obwohl wir niemanden angefordert hatten. Husum arbeitet nicht sehr zuverlässig …«
»Von einer Steinschute, das wäre möglich.« Asmus wandte sich um und blickte zu den Arbeitern hoch. »Glaubt einer von Ihnen, ihn zu kennen?«
»So von der Seite, Herr Schupo … Schwierige Kiste. Könnte sein.«
»Glaube, eher nicht«, antwortete der andere. »Aus meinem Trupp jedenfalls nicht. Wir sind alles große, starke Kerle.«
Asmus blinzelte nochmals ins Wasser. Der Tote sah eher schmächtig aus, das stimmte. Er erhob sich und strich sich das Wasser an den Knien aus dem wollenen Hosenstoff. »Ich bin morgen früh wieder hier, Herr Lorenzen. Bis dahin werden Sie das Boot organisiert haben, und ich werde vielleicht wissen, ob jemand aus Husum geschickt wurde.«
Der Bauleiter nickte, mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen.
»Was bezweifeln Sie denn?«, fragte Asmus überrascht.
»Dass man in Husum irgendetwas Schriftliches hat, außer den Lohnlisten natürlich. Aber was unseren Bau betrifft, heißt es dort zu Bewerbern um eine Arbeitsstelle: ›Steig mal auf die Rasmus, könnte sein, dass die heute noch nach Sylt geschleppt wird. Wenn nicht, meldest du dich bei meiner Ablösung.‹ Danach hört und liest man von solch einem Bewerber nichts mehr.«
»Nun ja«, brummelte Asmus, und die Arbeiter grinsten wissend.
Zurück in der Westerländer Wache ließ sich Asmus mit der Außenstelle des »Preußischen Wasserneubauamtes Dammbau Sylt« verbinden. Nein, sie pflegten keine Arbeiter abzustellen, das sei alles Aufgabe des Betriebes, der die Steine an- und weiterverkaufte und auch den Transport nach Sylt organisierte.
Immerhin hatte der Betrieb einen Telefonanschluss.
»Unsere Steinschuten sind alle rechtzeitig und unbeschädigt zurückgekommen. Was denken Sie denn?«, antwortete der Geschäftsführer ungnädig.
»Vermissen Sie jemanden aus dem Personal auf den Schiffen?«
»Warum sollten wir?«
Asmus rollte die Augen, blieb aber höflich. »Wüssten Sie es denn, wenn jemand vermisst wäre? Oder wer weiß dergleichen?«
»Dergleichen kommt bei uns nicht vor. Wenn doch, müsste man es mir melden.«
»Seien Sie so gut, sich zu erkundigen«, bat Asmus und wunderte sich nicht, dass das Telefonat ähnlich weiterging. Ja, sie pflegten durchaus Arbeitssuchende nach Sylt weiterzureichen. Aber ob die eingestellt wurden oder nicht, läge nicht unter der Aufsicht eines Steinlieferanten.
Nein, natürlich nicht, gab Asmus zu. Aber hätten sie denn nicht wenigstens ein Protokoll oder ähnliche Aufzeichnungen über Namen?
Wozu?
Lorenzen hatte Asmus’ vollstes Verständnis, als er aufgab.
Restlos frustriert fuhr Asmus nach Munkmarsch zurück. Es war nahezu windstill, in den blühenden Heckenrosen summten unzählige Insekten. Herrliches Spätsommerwetter. Er beschloss, ein paar Runden zu kraulen, um sich den Ärger aus den Knochen zu schütteln.
Aber auf dem Bug der Franziska saß mit untergeschlagenen Beinen Ose.
Asmus stoppte und starrte sie unschlüssig an. War sie gekommen, um ihn noch mehr zu beschimpfen? Allerdings signalisierte Oses Miene Reue. Jetzt war er restlos verwirrt.
»Ich muss mich bei dir entschuldigen«, sagte Ose leise, als Asmus auf Hörweite heran war. »Tut mir furchtbar leid. Ich bin einer Behauptung aufgesessen, die ich geglaubt habe. Sie war ja völlig falsch.«
»Ja, dann leg schon mal die Sitzpolster auf den Bänken aus, während ich Pfefferminztee aufgieße«, schlug Asmus reserviert vor und stieg an Bord.
Während Ose mit den Deckeln der Backskisten klapperte, setzte er den Wasserkessel auf. Zu allem Ärger ging sein Petroleum zur Neige. Auch das noch!
Als er mit den dampfenden Teebechern ins Cockpit stieg, saß Ose ruhig da und ließ sich mit geschlossenen Augen die milde Abendsonne ins Gesicht scheinen. Beinahe hätte Asmus die Becher vor Sehnsucht nach ihr zerquetscht. Aber er brachte es fertig, ihr gesittet den Becher in die Hand zu drücken und sich ihr gegenüber hinzusetzen.
Ose nahm einen Schluck Tee. »Du hattest mich gebeten, zu Bonde zu gehen, um herauszufinden, warum er so unleidlich war. Habe ich am nächsten Tag gemacht. Er glaubte, du hättest unentwegt den verständnisvollen Polizisten gespielt, um schließlich Jung mit einer Drohung zu ihm zu schicken. Du hättest ihn gezielt betrogen.«
»Nicht möglich!«
»Ja, doch. Er ist so schlecht auf die Polizei zu sprechen – aus Erfahrung –, dass er jederzeit dazu neigt, ihr Böses zu unterstellen. Man kann ihm das nicht übel nehmen.«
»Das würde ich auch nie tun. Leider hat er mich nichts erklären lassen, sondern mich einfach hinausgeworfen.«
»Ja, so kann es einem gehen«, sagte Ose mit gesenktem Kopf. »Noch jemand hat dich nichts erklären lassen. Ich.«
»Das habe ich gemerkt. Warum?«
»Bonde Sibbersen hatte sich zurechtgelegt, dass dein Verständnis für Cord darauf beruht, dass du selber ein Urning bist, dass du aber – wie alle anderen auch – durch konsequente Strenge von deiner eigenen Person abzulenken versuchst.«
Asmus stockte der Atem. »Und das hast du wirklich geglaubt, Ose?«, fragte er, als er wieder reden konnte. »Dass ich mich so charakterlos verhalte?«
Ose zuckte die Schultern. »Es kam mir zunächst logisch vor«, brachte sie gequält heraus. »Nur, je länger ich darüber nachdachte … Nein, ich glaube nicht, dass du zu solchem Betrug fähig bist.«
»Ganz bestimmt nicht«, beteuerte Asmus, immer noch reserviert. »Aber Beweise kann ich nicht vorbringen. Das Problem bleibt wie immer, dass etwas, das nicht geschehen ist, sich nicht beweisen lässt.«
»Du brauchst nichts beweisen«, sagte Ose weich. »Gesteh mir diesen einen Irrtum zu. Einen aus schlechter Erfahrung einerseits und Unkenntnis andererseits. Ich bin einem Mann wie dir noch nicht begegnet.«
Asmus lächelte erleichtert und gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. »Akzeptiert. Da ist etwas, das ich gerne mit dir besprechen würde.«
»Nur zu!« Ose stellte den Becher auf das Deck und setzte sich erwartungsvoll hin.
Zum Glück war alles wieder in Ordnung. Asmus übersprang zwei Stufen des Niedergangs und kam mit dem aufgelesenen linken Schuh zurück ins Cockpit. Den dünnen Schlickbelag hatte er inzwischen abgewaschen, so dass er wieder fast weiß war. Nur in den Schnürsenkeln befand sich immer noch etwas Sand und Schlick. »Den habe ich draußen am Damm gefunden. Was meinst du dazu?«
Ose drehte den Schuh um und um. »Das ist ja ein hochmodischer Schuh. So etwas kannst du in den Journalen des Kurhauses und der Cafés besichtigen. Den besitzt kein Arbeiter!«
»Das war auch meine Vermutung. Und das Führungspersonal am Dammbau?«
»Asmus, auch die gehören nicht zu der Gesellschaftsschicht, die solche internationale Mode bezahlen kann! Zwanzig Dollar, wenn ich mich recht an ein ähnliches Modell erinnere. In deutschen Mark kannst du die gar nicht kaufen, auch wenn du Tausender oder Millionen bietest! Du musst Dollar besitzen!«
»Ach so.« Das warf ein völlig anderes Bild auf seinen Fund. »Dann kann der Schuh mit dieser Sturmflut eigentlich kaum etwas zu tun haben. Ein Zufallsfund. Aber warum ist der Schuh so neu? Lange kann er nicht im Wasser gelegen haben, also kaum von einem Passagierschiff auf der Nordseeroute stammen. Allenfalls von der Fähre Hamburg-Sylt.«
Ose betrachtete ihn nochmals gründlich. »Diese Art Schuh wird zum normalen Tagesanzug getragen, so viel ich weiß. Der Besitzer hat sich vielleicht Ersatz besorgen müssen.«
Asmus nahm ihn ihr wieder aus der Hand. »Er ist jedenfalls interessant genug, um sich um ihn zu kümmern. Matthiesen kann die Schuster befragen, wenn er wieder zurück und auf Streife ist.«
Matthiesen war noch nicht zurück, dafür aber war Sinkwitz früh in der Wache. »Was ist das denn für ein Toter?«, knurrte er, das Journal vor Augen. »Einer von den Arbeitern am Damm?«
»Nein. Er könnte in einer der Steinschuten verunglückt sein, er liegt neben einem der Dalben, an denen die Schiffe festgemacht hatten. Der Betrieb geht dem jetzt nach, ob sie jemanden vermissen.«
»Wahrscheinlich haben sie wie üblich die Schutzbestimmungen vernachlässigt!«, blaffte Sinkwitz. »Wissen Sie, dass wir jedes Jahr siebentausend Todesfälle in der Industrie haben? Ein Skandal, was die mit uns machen!«
»Nein, das wusste ich nicht. Aber jetzt weiß ich es ja«, antwortete Asmus seinem schlechtgelaunten Chef.
»Also lassen Sie sich von denen keinen Bären aufbinden! Vor allem nicht, dass sie keinen Mitarbeiter vermissen. Geschäftsführer neigen dazu, Tote ihres Betriebes wegzuschummeln.«
»Nein, ich kümmere mich nicht um Bären«, versprach Asmus und machte, dass er nach draußen kam, um zu verhindern, dass die unsägliche Arbeitsanweisung ihre Fortsetzung fand.
Asmus kam gerade an, als die Vorbereitungen zur Bergung der Leiche beendet waren. Ein mit zwei Mann besetztes größeres Boot, das für Arbeiten an Buhnen eingesetzt wurde, beladen mit Tauwerk, Bootshaken und zwei Rettungsringen, war zur Stelle. Er sprang ins Boot.
Bei niedrigem Wasserstand stakten sie hinaus zu den Dalben. Oben auf dem Dammrest hatte sich der Bauleiter eingefunden.
Erstmals konnte Asmus den Toten richtig sehen.
Die Männer sprangen ins Wasser, das ihnen bis zum Bauch ging, packten den Leichnam an Armen und Beinen und versuchten, ihn hochzuheben.
»So schwer kann das Fliegengewicht doch gar nicht sein.« Asmus spähte mit zusammengekniffenen Augen ins Wasser.
»Eigentlich nicht, selbst mit dem Schlamm in den Kleidern. Da scheint ein Widerstand zu sein«, erklärte der eine Mann keuchend.
»Er hat ja ein Tau um den Leib gebunden!«
Der Arbeiter tauchte bis zur Schulter ins Wasser, wo er umhertastete.
»Ist er festgebunden?«, erkundigte sich Asmus.
»Nein, aber das Reepende ist unter Steinen festgeklemmt. Einem ganzen Haufen sogar.«
Mit vereinten Kräften konnten sie es herauszerren und danach den Toten in den Prahm hieven.
»Der Kerl ist ins Wasser gekippt und der Steinhaufen hinterher«, mutmaßte der eine. »Da nützt die beste Sicherheitsleine nichts, wenn man das andere Ende nicht am Schiff anbindet.«
Die Schutzbestimmungen waren offenbar sehr lasch, ganz wie Sinkwitz gesagt hatte. Asmus erkannte es widerwillig an. Dennoch empfand er Unbehagen beim Anblick des Toten.
Den Mann kannte er nicht, und ein Rundblick zu den Männern und zum Bauleiter zeigte ihm, dass es ihnen genauso ging. Allerdings war das Gesicht des Toten wohl durch Schnitte der herabgestürzten scharfkantigen Steine und obendrein Verwesung aufgedunsen und entstellt. »Bringen wir ihn an Land«, befahl Asmus knapp und versuchte, sowohl dem Anblick als auch dem Geruch auszuweichen, bis er sich an beides gewöhnt hatte.
An Land wurde der Leichnam aus dem Leichter gehoben und abgedeckt, so dass die Neugierigen, die sich versammelt hatten, ihn nicht begaffen konnten. Bevor Asmus sich aufmachte, um einen Transportkarren zu organisieren, wandte er sich an seine beiden Helfer. »Wäre Ihnen mit je einem geräucherten Aal als Dank gedient? Unsere Polizeistation hat leider kein Geld für außerordentliche Mitarbeiter …«
»Für Aal holen wir Ihnen jederzeit Leichen aus dem Wasser, Herr Kommissar! So viele Sie mögen. Sagen Sie nur Bescheid!«
»Ja, besten Dank«, sagte Asmus schmunzelnd. »Ich hoffe, ich muss nicht auf das Angebot zurückkommen. Aber sehr nett von Ihnen. Die Aale lasse ich vorbeibringen.«
Bis Asmus den Transport organisiert hatte, hatte sich die Versammlung der Neugierigen aufgelöst. Zu zweit hievten sie den Ertrunkenen auf den zweiräderigen Karren, und der Bauer konnte losrattern.
Asmus war erleichtert, als sie nach langer Fahrzeit endlich am Krankenhaus vorfuhren. Nur dort gab es Räume, in denen Tote angemessen aufgebahrt und untersucht werden konnten.
Da die Klinik, wie Matthiesen gesagt hatte, keinen eigenen Pathologen hatte, ließ Asmus Dr. Godbersen, Oses Vater, rufen und erklärte ihm den Fall. Nach kurzer Rücksprache mit dem Klinikleiter übernahm Godbersen die medizinische Verantwortung.
»Wollen Sie sich das wirklich antun, bei der Sektion dabeizubleiben, Herr Asmus?«, erkundigte sich Godbersen vorsorglich, nachdem er das Leichentuch an einer Ecke hochgehoben und daruntergespäht hatte. »Ich kann hier während der Arbeit keine Kotzerei gebrauchen.«
»Seefest bin ich. Ist leichenfest dasselbe?«
»Höchstens verwandt. Dasselbe nicht. Auf See muss ich die Augen zumachen oder den Horizont im Auge behalten, damit mir nicht schlecht wird«, gab Godbersen zu. »Und wehe, da ist kein Horizont.«
»Kauen Sie Ingwerwurzel! Bestimmt kann Ose Ihnen eine besorgen«, sagte Asmus mit Sehnsucht in der Stimme.
Godbersen schien ihn zu verstehen, da er so verschmitzt lächelte. »Bestimmt. Aber zunächst widmen wir uns nicht einer Seereise, sondern einer Wasserleiche.«
»Ja«, sagte Asmus gedämpft und trat einen Schritt zurück, um einem Helfer mit einem Wagen Platz zu machen, auf dem das Waffenarsenal der pathologischen Abteilung kunstvoll angerichtet war.
Noch wurde aber zu Asmus’ Erleichterung weder gehämmert noch geschnitten oder gesägt. Godbersen nahm sich die Hose des Toten vor. »Was sagten Sie, wann der Mann ertrunken ist?«
»Angeblich in der Sturmflut. Vor zwei Tagen.«
»Gucken Sie mal her, Herr Asmus. Sehen Sie diese Algen?«
Kurze grüne Fäden, schon eingetrocknet, wuchsen auf der Hosennaht und lagen nun parallel nebeneinander. »Ja.«
»Algenbewuchs bei einem im Wasser befindlichen Gegenstand tritt frühestens nach zwei Wochen ein. Dieser Tote lag geraume Zeit vor der Sturmflut im Wasser, wofür auch alle anderen Anzeichen sprechen, die ich bisher oberflächlich in Augenschein genommen habe.«
»Als da wären?«
»Das Aufquellen der Haut an Händen und Füßen, wir nennen das Waschhaut. Soweit ich es mit dem Auge beurteilen kann, werde ich sie in toto von Muskeln und Sehnen abstreifen können. Auch die Haare scheinen sich bereits von der Kopfhaut zu lösen. Ich erhöhe auf drei oder vier Wochen. Nach den vielen Regentagen waren das Nordseewasser kalt und die Zerfallsprozesse verlangsamt. Warum hat der Mann eigentlich keine Schuhe an?«
»Ich weiß es nicht. Die Erklärung für seinen Unfall ist, dass er auf der Steinschute gearbeitet hat, aber vergaß, sich bei Wellengang mit einem Tau zu sichern. Vielleicht kam er nachts schlaftrunken an Deck.«
»Oder betrunken?«
Asmus zog schweigend die Schultern nach oben. »Jedenfalls sollen die schweren Granitsteine hinter ihm her von Bord gerollt sein und seine Sicherungsleine in einem Steinberg eingeklemmt haben.«
»Dass er sich nicht absicherte, liegt vielleicht daran, dass er kein Arbeiter war und die Vorsichtsmaßnahmen nicht begriff. Sehen Sie mal her.«
Asmus kam vorsichtig näher und versuchte, so flach wie möglich zu atmen. Dann starrte er auf die Handflächen des Toten, dessen Finger Godbersen gestreckt hatte.
»Dieser Tote hat nie körperlich gearbeitet. Auch die Füße weisen keine Schwielen von Arbeitsstiefeln auf. Wenn er überhaupt auf einer der Steinschuten hergekommen ist, dann als Gast, als Journalist, als Beobachter aus unbekannten Gründen. Oder weil es schlicht billiger war als die Anreise mit Bahn und Fähre.«
»Als verkleideter Journalist womöglich«, ergänzte Asmus. »Man muss auch seine Kleidung bedenken. Die Gewerkschaften stellen nicht selten Untersuchungen über Arbeitsbedingungen an.« Dem Steinbetrieb war andererseits auch zuzutrauen, dass er Passagiere gegen Kleingeld mitnahm. Aber was auch immer er gewesen war, Mitglied der Mannschaft oder Fahrgast: er musste Besitztümer gehabt haben, Wechselwäsche im Seesack, im Koffer oder in einer Reisetasche. Bisher war kein Fund gemeldet worden. In diesen schlechten Zeiten war es allerdings denkbar, dass der Finder es behielt.
Asmus schlug einen Bogen um den Instrumententisch und ging hinter dem Kopf der Leiche in die Knie, um die Haare genauer zu betrachten, die sehr seltsam wirkten. Unregelmäßig abgeschnitten, waren sie mal lang, mal kurz, stellenweise war die Kopfhaut freigelegt. »Eine Frage habe ich noch. Können die Haare einer Wasserleiche einfach abbrechen, Doktor?«
»Sie meinen, weil er gewissermaßen gar keinen Haarschnitt hatte?«
»Ja. Als hätte ein Pferd sie abgerupft.« Asmus kam ein Seepferd in den Sinn, aber das laut zu sagen, gehörte sich aus Respekt nicht.
»Nein, das können sie nicht.«
»Dann hat er sich selber so zugerichtet. Das passt zur Arbeiterkleidung. Als ob er inkognito nach Sylt gekommen wäre«, schloss Asmus nachdenklich. Zwar gingen ihm noch andere Möglichkeiten der Erklärung im Kopf herum, aber die erwähnte er lieber nicht, vor allem nicht diejenige, die ihm im Augenblick am naheliegendsten schien. Er richtete sich wieder auf. »Dann weiß ich vorläufig genug.«
»Sie bekommen einen schriftlichen Bericht von mir, das wird einige Tage dauern. Sollte ich noch etwas Außergewöhnliches entdecken, melde ich es Ihnen sofort«, versprach Godbersen.
»Ganz herzlichen Dank auch, dass Sie die Sektion sofort durchführen konnten.«
»Im Augenblick kein Problem. Auch wir in der Klinik merken, dass weniger Gäste auf der Insel sind. Und mit Mangelernährung und seinen Folgen wie im Binnenland haben wir es glücklicherweise kaum zu tun, mit Skorbut, Tuberkulose und was es sonst noch so gibt.«
Plötzlich fühlte sich Asmus bestätigt, dass er beim Verdacht auf Klau von Möweneiern als Polizist nicht eingeschritten war, ebenso wie er es vermieden hatte, Jägern zu begegnen, deren Gewehrschüsse trotz der Schonzeit zu hören gewesen waren. In Hungerzeiten musste man als Gesetzeshüter Konzessionen machen, denn in erster Linie ging es um die Menschen.
Nachdenklich stieg Asmus aus dem Kellergeschoss wieder nach oben, wo es nur nach Desinfektionsmitteln, aber wenigstens nicht nach Tod roch. Oder war dies bloße Einbildung?
»Moin, Herr Asmus«, hörte er eine junge Stimme hinter sich und drehte sich um.
»Unser Rettungssanitäter«, stellte Asmus überrascht fest. »Moin auch.«
»Schön, mal wieder Polizisten im Haus zu sehen«, bemerkte der junge Mann. »Das hatten wir mehrere Jahre nicht.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Asmus verblüfft.
»Na, ja.« Der Sanitäter wirkte etwas verlegen. »Es beruhigt einfach, wenn Todesfälle wieder korrekt untersucht werden. Fragen Sie mal meine Mutter und Leute in ihrem Alter. Die haben die Schnauze restlos voll von Willkür und politischen Wirren und Inflation. Ihnen gibt es Hoffnung, dass Sie jetzt da sind.«
»Hm«, grummelte Asmus, einige Sekunden weitgehend sprachlos. »Dann richten Sie Ihrer Mutter einen schönen Gruß aus. Ich bin nicht nur da, ich bleibe auch.«