Am nächsten Morgen fand Asmus Zeit, die medizinischen Befunde und seine eigenen Beobachtungen niederzuschreiben, bevor Sinkwitz zum Dienst zu erwarten war.
Danach ließ er sich wieder mit dem Geschäftsführer des Steinbetriebes in Husum verbinden. Seine Fragen nach einem Passagier auf einer der Schuten mussten nun völlig anders lauten.
»Wir vermissen niemanden, Herr Polizist«, meldete der Geschäftsführer gelangweilt. »Ich wäre dankbar, wenn Sie mich nicht ständig bei der Arbeit stören würden.«
»Der Zeitraum für meine Fragen hat sich grundlegend geändert«, sagte Asmus unbeirrt. »Es geht nicht um einen erst nach der Sturmflut vermissten Mann, sondern um die zwei bis sechs Wochen davor.«
»Auch da vermissen wir niemanden«, kam prompt die Antwort.
»Das wissen Sie aus dem Kopf? Keinen Arbeiter, keinen Gast, keinen leitenden Angestellten?«
»Das weiß ich aus dem Kopf. Ich habe es nachgeprüft. Lassen Sie mich jetzt …«
Asmus unterbrach ihn, bevor er womöglich auflegte. »Noch eine Frage zu der Sicherheit an Bord. Schützen Ihre Männer sich routinemäßig mit einem Tau, das mit einem Palstek am Leib festgebunden wird?«
»Mit einem Palstek?«
Zum ersten Mal meinte Asmus Verwunderung und eine Spur Aufmerksamkeit statt Überheblichkeit zu hören. »Genau. Mit einem Palstek, der sich nicht zusammenziehen kann. Ich hoffe, Sie haben schon mal einen gesehen.«
»Na, hören Sie mal! Und nein! Unsere Mannleinen haben natürlich Karabinerhaken: einen mit eingespleißtem Ör zum Sichern am Leib und den zweiten zum Einpicken am Drahtwerk oder an der Reling.«
»Also keine losen Tauenden?«
»Nein! Ich sag’s Ihnen doch. Damit würden wir gegen etliche Vorschriften verstoßen und es mit der Gewerkschaft zu tun bekommen.«
»Das beruhigt mich jetzt«, versetzte Asmus und legte nach einem knappen Dank auf.
Der Tote war offenbar weder ein Arbeiter des Steinbetriebes noch ein legaler Passagier gewesen. Aber auch für einen ohne Wissen der Geschäftsleitung an Bord genommenen Passagier hätte vermutlich eine bordübliche Sicherungsleine zur Verfügung gestanden.
Allmählich schälte sich die Gewissheit heraus, dass der Mann gar nichts mit dem Dammbau zu tun hatte. Allerdings – warum sollte er in dem Fall von den Basaltklötzen unter Wasser gefangen gehalten worden sein? Hatte er die betriebliche Arbeit mit einer gestohlenen Jolle ausspionieren wollen? Immerhin schien eine solche Erklärung noch möglich und würde auch damit übereinstimmen, dass er ohne Schuhe ertrunken war.
Kurz nachdem Asmus zu diesem Schluss gekommen war, traf Sinkwitz ein.
Zu seinem Ärger musste Asmus ihm alles lang und breit erklären. Dazu passte die Gleichgültigkeit nicht, mit der Sinkwitz schließlich bemerkte: »Hauptsache, der Tote hat mit Sylt nichts zu tun. Ich glaube ja nach wie vor, dass der Kerl von der Schute gefallen ist.«
»Nun ja. Ich schlage trotzdem vor, mich an die Polizeipräsidien der anderen Länder zu wenden …«
»Meine Genehmigung habe Sie dazu nicht!«, fuhr ihm Sinkwitz barsch in die Parade. »Wir wollen kein negatives Aufsehen, wo alle Anzeichen darauf deuten, dass es wirtschaftlich wieder aufwärts geht.«
»Aha. Und hinfahren?«
»Auf Ihre eigenen Kosten oder die Ihrer anscheinend immer noch stinkreichen Familie? Meinetwegen.«
Asmus schwieg verdrossen. Großes Interesse, den Fall aufzuklären, legte Sinkwitz nicht an den Tag. Es hatte deshalb auch nicht den geringsten Sinn, ihm Näheres über den Schuh zu berichten. Zweifellos würde er ihn als völlig unwichtig ansehen.
»Gehen Sie am besten wieder Ihrer Routineaufgabe nach«, empfahl Sinkwitz gönnerhaft. »Oder begleiten Sie Matthiesen durch die Stadt.«
Der Dienst vereinnahmte Asmus bis spät in die Abende. Nach Hause, zur Franziska, kam er nur noch zum Schlafen. Für Besuche bei Ose war keine Zeit mehr. Aber wenn er spätabends auf dem Bug einen kleinen Eimer mit Miesmuscheln fand, angereichert mit Austern, Herzmuscheln, Queller, einigen Gartenkräutern und einer Zwiebel, wusste er, wem er sie verdankte.
Sie reichten üblicherweise für drei Tage: Die Miesmuscheln zum Abendessen schmeckten hervorragend, wenn sie in einem Sud aus Zwiebeln, Knoblauch, Mehl und Petersilie gedämpft wurden. Wein, Sahne und Butter, die in der Rostocker Küche seiner Familie zur Veredelung verwendet wurden, waren entbehrlich.
Alternativ konnte er Herzmuscheln zubereiten, jedoch taugten sie aufgrund ihrer geringen Größe eher als Vorspeise und ließen ihn oft hungrig bleiben. Sie mit den Miesmuscheln zu mischen hätte bedeutet, Perlen vor die Säue zu werfen – gewissermaßen –, denn sie besaßen einen eigenen, sehr feinen Geschmack.
Die Austern hielten sich am längsten und sättigten wunderbar. Auch dazu hätte Asmus gern Wein, Butter, Eier oder Speck zur Verfügung gehabt, aber Tinkeltuten, wie man hier die Strandschnecken nannte, und wilder Thymian mit Pfefferkörnern reichten auch, um den Austern den perfekten Geschmack nach Delikatesse zu verleihen.
Als Asmus die letzte Auster mitsamt dem Strandwegerichbett verzehrt hatte, starrte er, ohne etwas zu sehen, in den nächtlichen Himmel, der von den unendlich vielen klar leuchtenden Sternen erhellt wurde. Der Herbst nahte. Es wurde Zeit, sich ein Zimmer zu suchen. Aber von welchem Geld? Die Inflation fraß sein Gehalt auf. Diese persönlichen Sorgen mischten sich allmählich auf ungute Weise in seine dienstlichen Pflichten. Er musste sie unbedingt auseinanderhalten!
Doktor Godbersen erschien ungewöhnlich früh in der Wache, wo Asmus allerdings schon an der Arbeit war.
»Ose hat mir verraten, dass Sie schon hier sein müssten«, erklärte er und warf einen neugierigen Blick in die beiden Räume, deren Türen noch offenstanden, weil der offizielle Dienst noch nicht begonnen hatte. »Können Sie mit nach draußen kommen?«
»Nanu«, sagte Asmus und winkte den Arzt zum Hinterausgang, der in den stillen und uneinsehbaren Hof führte. »Hat sich etwas Neues ergeben?«
»Ja. Das Gesicht Ihres Toten wurde keineswegs von herabfallenden Steinen zerschnitten, sondern von einem Messer. Ein Schnitt neben dem anderen durch ein Messer von skalpellartiger Schärfe. Dies war wegen der aufgequollenen Haut nicht auf Anhieb ersichtlich.«
»Du lieber Gott!«, sagte Asmus erschüttert. »Wissen Sie, ob vor oder nach dem Tod?«
»Vermutlich kurz danach. Das ist das Seltsame.«
»Das gibt es durchaus gelegentlich. Es deutet meistens auf Rache des Täters. Woran starb der Mann?«
»Er erstickte. Aber nicht im Wasser, denn in der Lunge befindet sich kein Wasser. Seine Kehle wurde mit ungeheuren Kräften zusammengedrückt.«
Asmus begann umherzuwandern, um die mickrige Linde herum, die im Innenhof zu wenig Licht erhielt. »Um die Befunde zusammenzufassen: Der Mann, den niemand kennt, wurde ermordet und bei den Dalben im Wasser versenkt, in der Erwartung, dass er nie gefunden wird. Die Dalben wären wahrscheinlich bis zu ihrem Zerfall stehengeblieben, selbst wenn man den Hilfsdamm aus Sicherheitsgründen zurückgebaut hätte. «
»Ja. Ich kann Ihnen folgen. Aber ich finde es entsetzlich. Meines Wissens ist in den letzten Jahren ein heimtückischer Mord wie dieser nie vorgekommen.«
»Sind noch mehr Überraschungen am Leichnam zu erwarten?«
»Nein, ich habe die Sektion beendet.«
»Ich bedanke mich ganz herzlich«, sagte Asmus und reichte dem Arzt die Hand, mit den Gedanken schon bei den zu ziehenden Schlussfolgerungen. »Sie finden allein hinaus? Durch den Torbogen.«
»Ich soll Ihnen dies geben«, sagte Godbersen hastig und drückte ihm ein Päckchen in die Hand. »Mit einem herzlichen Gruß von Ose. Die Eier sind schon gekocht.«
»Ohne Ose hätte ich schon zehn Kilo abgenommen …«
»O nein, lieber nicht. Ich glaube, sie mag Sie gern, wie Sie sind …«
Gesagt hatte Ose nichts und er auch nicht. Aber ihren Eltern war es aufgefallen. Mit heißem Gesicht entfloh Asmus zur hinteren Treppe in die Wache. Die Eier in der Hand, kam er zum Schluss, dass sie nicht als Bestechung zu gelten hatten. Ose war ja keines Vergehens verdächtig. Im Gegenteil!
Noch bevor Sinkwitz im Amt war, telefonierte Asmus bereits mit dem Baustellenleiter Lorenzen. Er brauchte noch mal den Leichter, gerne seine beiden bewährten Helfer und mehrere dieser kurzstieligen kräftigen Hacken, die beim Dammbau verwendet wurden.
Lorenzen versprach ihm alles.
Dann ging Asmus nach nebenan, wo Jep bei Jung herumlümmelte und nichts zu tun hatte. »Hast du Lust, zur Dammbaustelle mitzufahren, Jep?«
Jep warf einen Blick auf Jung, der dazu keine Meinung hatte, und nickte dann zögernd.
Kurz vor zehn Uhr fuhren sie los, um bei Niedrigwasser draußen an den Dalben sein zu können. Die drei fetten geräucherten Aale, die Asmus sich von Bahnsen erbettelt hatte, lagen im Korb, den Jep festhielt. Eigentlich hatte er an diesem Tag Matthiesen mit ihnen hinausschicken wollen, aber nun war ja alles anders gekommen.
Dieses Mal hatte Asmus seine eigenen Gummistiefel bereits an, so dass sich der Leichter unverzüglich auf den Weg machen konnte. Er erklärte den Männern, was er vorhatte, und setzte unterwegs Jep ins Bild.
Der Steinhaufen neben dem Dalben lag unberührt da. Die obersten Steine waren heruntergerutscht, als sie das Tau herausgezogen hatten, aber trotz allem war eine Ordnung in der Ansammlung zu erkennen, sofern man nach ihr suchte.
Asmus spähte immer noch zwischen den zusammengelegten Händen ins Wasser, als der eine der Helfer neben ihm mit der mehrzinkigen Hacke in der Hand wieder hochkam. »Der Steinhaufen ist nicht aus einer Lore abgekippt worden oder so etwas, Herr Asmus. Den hat jemand aufgesetzt, der im Dammbau tätig ist.«
»Meinen Sie?«
»Aber ja! Die Steine liegen gegeneinander verkeilt, damit sie im Verband bleiben und das Tau beschweren. Diesen Haufen hat jemand vor der Sturmflut angelegt, und er wurde nicht zerschlagen, weil unter Wasser alles gedämpft abläuft.«
»Da haben Sie recht.«
»Aber Herr Asmus, wenn das stimmt, dann wurde der Kerl ja mit Absicht hier versenkt. Das ist doch Mord!«
»Ja, das befürchten wir inzwischen«, gab Asmus zu. Es hatte keinen Sinn zu leugnen, was sich die Arbeiter selber denken konnten.
»Der kam mir doch gleich so komisch vor!«
»Ja? Warum?«, fragte Asmus interessiert, während er sich das Wasser aus den tropfenden Haarspitzen wrang.
»Solche Fipse arbeiten doch nicht am Damm! Und er war wirklich bleich wie ’ne Wasserleiche. Ich meine, schon als er noch lebte. Wir auf der Baustelle sind doch alle stellenweise braungebrannt wie die Neger. Gucken Sie mal hier, Herr Asmus!« Der Arbeiter zog sein Hemd am Hals nach unten. »Wenn einer in der Sonne nie sein Hemd auszieht wie ich, weil ich so leicht Sonnenbrand kriege, dann ist das Gesicht braun, die Arme auch, aber die Brust bleibt weiß, und zwischen beiden ist eine scharfe Grenze. Der Ertrunkene war überall weiß. Der war ein Bürohengst. Wetten?«
Jep nickte heftig.
»Gut beobachtet, Kollege!«, fiel Asmus ein.
»Na, na, so weit müssen Sie nicht gehen, Herr Asmus. Ein Aal reicht schon.«
Asmus musste lachen. »Ja, ich besorge noch welche. Wahrscheinlich muss ich sie allmählich klauen.«
»Ach, die Polizei wird uns schon schützen!«
»Ja gut, wenn man es so sieht … Dann lasst uns zurückstaken. Ich habe erfahren, was ich wollte«, sagte Asmus sehr zufrieden.
Als sie auf das Motorrad stiegen, schwenkte Jep den Korb, in dem die Aale gelegen hatten. »Ich kann dir die Aale besorgen«, bot er an. »Mein Schwiegervater räuchert selbst.«
»Das ist ein Angebot, das ich gerne annehme!«, sagte Asmus überrascht.
»Na, der Befund ist doch schon Beweis genug, dass der Tote von der Baufirma stammte, jedenfalls vom Festland!«, sagte Sinkwitz hitzig. »Warum zweifeln Sie denn da, Asmus?«
»Ich habe keinerlei Beweis. Was wir bisher wissen, ist dürftig. Wo, zum Beispiel sind die Sachen des Toten, eine Tasche, ein Koffer?«
»Versenkt.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Asmus schüttelte unzufrieden den Kopf. »Aber da er an Land getötet wurde, können wir das Meer lange danach absuchen.«
Sinkwitz verließ den Wachraum. Asmus nutzte die Gelegenheit, um den zurückgekehrten Matthiesen in das Rätsel mit dem Schuh einzuweisen.
Bereitwillig machte sich sein Kollege mit dem Schuh in einem Beutel sofort auf den Weg in die Stadt. Auf jeden Fall war eine solche Aufgabe interessanter als die schriftliche Berichterstattung über Böhrnsen, der nun von zwei Schlössern gesichert in den Gefängniszellen des Husumer Schlosses einsaß.
Als alle gegangen waren, trat wieder Ruhe ein. Asmus lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch und dachte über die Frisur des Toten nach, die ja keine Frisur gewesen war, sondern eine wilde, ziellose Verunstaltung eines Haarschnitts, der vermutlich mal vorhanden gewesen war. Unter dem Aspekt eines Mordes musste man davon ausgehen, dass der Mörder die Haare derart zugerichtet hatte. Womöglich aus den gleichen Gründen wie die verunstaltenden Schnitte im Gesicht? Rache?
Oder aus einem sehr viel einfacheren Grund: Damit der Tote auf keinen Fall erkannt würde, selbst wenn er nach Wochen an die Oberfläche und an Land triebe. Das hieße, er war ein Sylter, auf Sylt bekannt, und Asmus hatte seine Vermutung mit Sinkwitz zu diskutieren.
Sinkwitz aber machte sich einstweilen rar. Dagegen kam Matthiesen zurück. Er rümpfte missmutig die Nase, während er den Schuh aus dem Beutel zog. »Niklas, solche Modelle gibt es in Deutschland nicht, sagt Jürgensen, der Schuster in der Paulstraße. Das ist ein amerikanisches Fabrikat. Schade.«
»Kopiert er solche Schuhe gelegentlich?«
»Nie. Es ist ein Fabrikschuh. Jürgensen hat weder die gleichen Materialien, noch könnte er einen Schuh so billig herstellen, weil er ja mit der Hand fertigt.«
»Ich dachte, der Schuh wäre teuer.«
»Für Deutsche, weil sie in Dollar zahlen müssen. Es ist ein Modeschuh von mittlerer Qualität, und so ist auch der Preis. Aber im deutschen Einheitsbrei von Schuhwerk ist er auffällig.«
»Andere Schuster wären derselben Meinung?«
»Soweit sie sich überhaupt mit den Schuhen der Badegäste aus eleganten, reichen Kreisen befassen, ja, sagt Jürgensen.«
»Gut, dann ist das wenigstens geklärt. Wahrscheinlich stammt der Schuh von einem kurz vor der Sturmflut abgereisten Gast. Trotzdem wundert mich, dass er so tadellos erhalten ist.«
»Vielleicht ist es ja ganz anders«, riet Matthiesen munter. »Möglicherweise ging er vor dem Sturm verloren, trieb an der Baustelle an und wurde von einem der Arbeiter aufgesammelt. Man kann immer hoffen, dass das zweite Exemplar von angetriebenen Schuhen auch noch ankommt. Ich habe einmal ein Paar Gummistiefel an unterschiedlichen Orten und mit zwei Tagen Abstand im Schlick aufgelesen. Sie passten mir sogar. Aber zurück zu unserem Fundschuh: In der Sturmflut wurden natürlich die Bauhütten zerschlagen und ihr Inhalt in alle Winde verstreut. Will sagen: von den Wellen irgendwo abgesetzt.«
»Auch das wäre möglich«, gab Asmus zu.
»Aber weißt du was, Niklas? Ich hatte trotz allem das Gefühl, dass Jürgensen sich nicht ganz sicher war. Das ist natürlich keine polizeiliche Dimension, und ich würde Sinkwitz nie damit kommen … Was hältst du davon?«
»Man nennt es Gespür, und das wird dich mit längerer Erfahrung zu einem guten Polizisten machen.«
»Wirklich?« Matthiesen errötete vor Freude.
Asmus schmunzelte in sich hinein. Wenigstens war er nicht der Einzige, der unter Gefühlsaufwallungen litt. Als er sich seinem Schreibtisch zuwandte, sah er, dass Jep sich verlegen davonstahl. Er musste die ganze Zeit zugehört haben. Ihn freute es, dass Jep endlich Interesse an seinem Beruf aufbrachte.
Sinkwitz tauchte am Spätnachmittag auf, zeigte aber nicht das geringste Interesse an Asmus’ Erkenntnissen. »Lassen Sie mich doch mit Ihrem Toten in Ruhe«, fauchte er. »Der ist nicht von hier. Ich habe ganz andere Sorgen. Diese von den Reichen gemachte Inflation macht uns kaputt! Scheißkapitalisten!«
»Gewiss«, bestätigte Asmus. »Aber deswegen setzen wir uns doch nicht hin, um Däumchen zu drehen. Sollten Sie keine Lust haben, das Tagesgeschäft zu betreiben, HWM, mache ich es mit Matthiesen.«
»Machen Sie, was Sie wollen, Streber, Sie! Sie sind ja nur auf meinen Posten aus, das weiß ich!«
Daher wehte also der Wind! Allerdings hatte er Sinkwitz provoziert. Abgesehen davon, dass ein Aufstieg vom degradierten und strafversetzten Wachtmeister zum Hauptwachtmeister aus formalen Gründen unmöglich war, wäre der Versuch, Sinkwitz zu beruhigen, sowieso sinnlos gewesen.
Sinkwitz verschwand, und Asmus wandte sich wieder seinem Fall zu, was zunächst nur bedeutete, dass er die Füße auf dem Tisch deponierte. Aber schnell wanderten seine Gedanken wieder zu der seltsamen Frisur des Toten. Sofern man in Betracht zog, dass der Mann trotz der Arbeiterkleidung gar kein Arbeiter gewesen war, war er verkleidet gewesen, um seine wahre Natur zu verschleiern. Aber hatte er dies selber gemacht? Und warum sah er aus wie ein Hahn, der nur halb gerupft worden war? Oder hatte sein Mörder ihn so verunstaltet?
An dieser Stelle kam Asmus nicht weiter, so dass er sich den leidigen schriftlichen Arbeiten zuwandte, die auch erledigt werden mussten und stundenlang dauerten.
Höchst überrascht war er, als Sinkwitz so heftig in sein Zimmer stürmte, dass die Tür gegen die Wand prallte. »Wenn die Leute uns wenigstens von Nebensächlichkeiten verschonen würden«, murrte er laut, »aber nein, ein völlig überflüssiger Diebstahl wurde gerade aus Munkmarsch gemeldet. Den übernehmen Sie, Asmus, machen Sie hier etwas früher Schluss.«
»Worum handelt es sich denn?«
»Mart vom Fährhaus vermisst einen Postsack. Lächerlich!«
»Ja«, sagte Asmus und schloss erleichtert die Akten. Im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten war er nicht der Meinung, dass ein gestohlener Postsack nebensächlich war.
»Vielleicht hat er ihn ja nur verlegt. Mart ist manchmal etwas schusselig.«
»Ich werde es feststellen. Bis morgen.«
Mart saß auf der Bank vor dem Fährhaus und ließ sich ein Bier schmecken. »Da sind Sie ja schon, Herr Asmus. Moin auch. Setzen Sie sich!«
»Meinetwegen – während Sie mir erzählen, was passiert ist.«
»Na ja, wie ich schon der Wache mitteilte: Ein Postsack fehlt, der heute angekommen ist und morgen früh mit dem übrigen Frachtgut nach Westerland sollte. War viel drin, deswegen …« Dem Mann war unbehaglich.
»Wieso ist er denn nicht gleich in den Zug geladen worden?«
»Passiert normalerweise nicht«, beteuerte Mart. »Aber diesmal hatten wir so viel Frachtgut, und die Gäste wollen doch schnell nach Westerland, da haben wir Rücksicht zu nehmen …«
Na ja, man konnte es verstehen. Ausgeliefert wurde die Post sowieso erst am nächsten Tag. »Wird öfter Post gestohlen?«
»Ein Mal vor einigen Wochen«, gab Mart zu. »Damals war es nur ein Säckchen, bestimmt für das Festland, deshalb habe ich es nur an die Poststelle gemeldet.«
»Das Frachtgut befindet sich doch wie immer im Schuppen, und der ist verschlossen. War er aufgebrochen?«
»Nein, nein«, sagte Mart entrüstet. »Das Schloss war aufgeschlossen.«
»Haben Sie es denn nicht ausgewechselt? Derjenige, der Böhrnsen zur Flucht verhalf, besaß einen Nachschlüssel.«
»Böhrnsen ist in Husum eingelocht, erzählt man sich. Es gibt doch keinen Grund mehr, unseren Schuppen zu öffnen!«
Mart, Mart!, hätte Asmus am liebsten ausgerufen. Offensichtlich gab es einen guten Grund! Womöglich war sogar Böhrnsen nur freigelassen worden, weil jemand die Postsäcke vor Abfahrt der Fähre kontrollieren wollte, wobei der Gefangene im Wege war. Diese Vermutung deckte sich wunderbar mit Böhrnsens Bericht über seinen anonym gebliebenen Retter. »Dann zeigen Sie mir jetzt einmal den Schuppen.«
»Würde gerne noch austrinken, bevor das Bier schal ist, Herr Wachtmeister. So teuer, wie es ist.«
Asmus nickte.
Nach einer Weile stellte Mart die Flasche auf die Bank, stand auf und reckte sich, bevor er sich langsam auf die Socken machte.
Der Frachtschuppen war auch jetzt offen. Das Schloss hing unversehrt hinter der Tür an dem Nagel, an dem neulich die Polizeibanderole gehangen hatte. »Sehr ordentlich, dieser Dieb.«
»Nicht wahr, Herr Asmus?«, stimmte Mart froh zu und zeigte auf ein Regal. »Dort stelle ich immer den Postsack ab.«
»Ist der jemals verschlossen oder mit einem Siegel versehen?«
»Nö. Warum auch?«
Was bedeutete, dass derjenige, der den Nachschlüssel besaß, die zum Festland ausgehende Post unbemerkt durchsehen konnte, wann immer er wollte. Oder den Auftrag dazu erhielt. »Ist schon früher ein vom Festland eingetroffener Postsack gestohlen worden?«
»Das weiß ich nicht so genau«, antwortete Mart vorsichtig. »Die kommen meistens mit der Frühfähre und gehen dann mit dem Zug gleich weiter nach Westerland. Ganz selten kommt auch mal einer abends …«
»Ah so. Sie müssen unbedingt der Fährgesellschaft Mitteilung machen, Mart«, befahl Asmus. »Und die müssen Ihnen ein neues, gutes Schloss beschaffen, so schnell es geht.«
»Ja.« Mart wirkte sehr geknickt. »Glauben Sie, dass die mich entlassen?«
»Vermutlich nicht«, antwortete Asmus und hatte nicht das Herz, ihm den wahren Grund für seine Zuversicht mitzuteilen: Wenn der Damm fertig war, würde der Fährbetrieb ohnehin eingestellt werden.
Es wurde spät, bis Asmus mit seinen Notizen fertig war und Feierabend machte. Endlich fand er Muße, die beiden Eier zu essen. Und trotzdem kreisten seine Gedanken um Bonde Sibbersens Bemerkung, dass er Briefe vermisse. Gab es möglicherweise jemanden, der verhindern wollte, dass Cord Kontakt mit seinem Vater hielt?
Er musste mit Bonde Sibbersen sprechen!