172581.fb2 Der Tote am Hindenburgdamm: Ein Sylt-Krimi - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 20

Der Tote am Hindenburgdamm: Ein Sylt-Krimi - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 20

KAPITEL 20

»Sie haben doch wirklich so viel Unruhe wegen dieses Toten verbreitet, dass Bauer von der DNVP heute Nachmittag auf die Insel kommt und Sie sprechen will«, giftete Sinkwitz am nächsten Morgen.

»Davon weiß ich nichts, Herr Hauptwachtmeister.«

»Sie machen sich nie die Folgen Ihrer Handlungsweisen klar!« Sinkwitz stiefelte davon, aufgebläht von seiner eigenen Wichtigkeit.

Asmus zuckte die Schultern. Was immer er machte, Sinkwitz fand einen Grund zum Nörgeln. Anhaltende Erfolglosigkeit wäre vermutlich das einzige Mittel gewesen, dem zu entgehen. Aber das brachte er nicht fertig. Er stand im Dienst der Öffentlichkeit, Seilschaften wie auf einem Kriegsschiff lehnte er ab.

Matthiesen kam. »Niklas, wenn nichts Dringendes anliegt, würde ich gerne einen alten Mann aufsuchen, einen Schuster, der schon lange nicht mehr arbeitet, aber immer noch in seinem Beruf aufgeht. Er kam vor vielen Jahren aus Hamburg. Ich weiß von ihm, dass er täglich im Kurhaus ist, um dort die Modejournale zu studieren. Er gilt als etwas seltsam, das gebe ich zu … Ich traue dem Urteil von Jürgensen nicht.«

»Lorns, ich habe dir nichts zu erlauben«, sagte Asmus. »Frag Sinkwitz.«

»Merkst du denn gar nicht, dass wir uns mehr und mehr nach dem richten, was du anordnest?«

Das war das Problem, das Asmus zu schaffen machte. »Eines Tages fliegen wir alle«, knurrte er.

Matthiesen grinste besserwisserisch und verschwand in den Hof.

Zwei Stunden später kam Matthiesen zurück. Da niemand anders in der Wache war, wedelte er triumphierend mit dem Schuh.

»Jochen Bubendey konnte tatsächlich allerhand aus einem einzigen Schuh herauslesen«, berichtete er. »Mehr als Jürgensen. Jedenfalls ist der Schuh teurer, als Jürgensen annahm, der wahrscheinlich nur die nachgemachten Produkte kennt.«

Asmus lächelte zurückhaltend. Sowohl Matthiesen als auch Ose bewiesen guten Instinkt.

»Nur die beste Gesellschaft leistet sich solche Schuhe. Und trägt sie auch nur zu der Tageszeit, die dafür angemessen ist. Dieser Schuh wird in Gesellschaft nur am Vormittag getragen oder am Strand zu allen Tageszeiten.«

»Dass er vom Westerländer Strand nach Nösse geschwommen ist, scheint mir unwahrscheinlich zu sein«, versetzte Asmus.

»Das meinte Herr Bubendey auch. Deshalb muss der Schuh vom Deck der Hamburg-Sylt-Vormittags-Fähre geweht worden sein, nicht von der Nachmittagsfähre auf der umgekehrten Tour nach Hamburg. Das heißt, der Besitzer muss ohne dieses Paar Schuhe auf Sylt gekurt oder Urlaub gemacht haben.«

»Alle Achtung!«, sagte Asmus beeindruckt. »Das wäre eine schlüssige Erklärung.«

»Ja, der Mann ist gut. Er machte noch darauf aufmerksam, dass der Besitzer ziemlich schmächtig ist. Ein kräftiger Kerl hat keine Schuhgröße wie eine mittelgroße Frau.«

»Ja, das war mir auch schon aufgefallen.« Asmus ließ sich auf seinen harten Stuhl fallen, um vor sich hin zu brüten.

»Was ist, Niklas?«, fragte Matthiesen beunruhigt.

»Ich glaube, trotz Bubendeys einleuchtender Erklärung sollten wir sofort in die Klinik fahren … Ich telefoniere eben noch mit Godbersen.«

Glücklicherweise war Sinkwitz nicht in seinem Büro, so dass Asmus ungestört mit dem Arzt sprechen konnte. Der Leichnam des Ermordeten war tatsächlich wegen Entlassung von Personal noch nicht unter die Erde gebracht worden, und sie fuhren sofort hin.

Der elegante Schuh passte dem aufgedunsenen Fuß des Ermordeten nicht.

»Hm«, murrte Asmus unzufrieden.

»Nein, lassen Sie sich nicht irremachen«, empfahl Dr. Godbersen. »Ein Gegenbeweis Ihrer Hypothese ist es nicht.«

»Aber auch kein Beweis dafür.«

»Richtig. Der lässt sich aus so entstellten Wasserleichen nur schwer gewinnen. Aber zur Körpergröße des Toten passt er sehr gut.«

»Immerhin. Tja, dann müssen wir sehen, wie wir auf anderen Wegen weiterkommen.«

Godbersen nickte schweigend und deckte den Toten wieder zu.

Asmus und Matthiesen kamen gerade rechtzeitig wieder zurück in die Dienststelle, vor der der Abgeordnete Bauer soeben aus dem Auto kletterte. Wo er sich zwischen der Ankunft des Schiffes aus Hamburg und seinem Eintreffen in der Wache aufgehalten hatte, blieb unerwähnt. Vielleicht im Haus von Rörd Jacobsen, dessen Auto er ja benutzte.

Herr Bauer überfiel die Wache gewissermaßen. Drei seiner Begleiter stahlen sich in den Wachraum, durchbohrten mit stählernem Blick Tresen und Regale und erlaubten endlich ihrem Chef nachzurücken. Asmus, Matthiesen, Jung und Thamsen drehten sich im Kreis und staunten die Männer an, die sich argwöhnisch an die Wände schmiegten.

»Was glauben Sie denn, wo Sie sind?«, fragte Asmus schließlich. »In einem feindlichen Heerlager?«

»Abgeordnete haben heutzutage so viele Feinde«, sagte Bauer hochfahrend, »dass Vorsicht immer angebracht ist.«

»Aber weniger wahrscheinlich in einer Polizeiwache, meinen Sie nicht, Herr Bauer?«

»Wer sind Sie denn eigentlich?«

»Wachtmeister Niklas Asmus.«

»Jung und frech, wie ich merke. Und wo ist der Verantwortliche dieser Wache?«

Asmus sah sich zu den Kollegen um. Alle drei hoben die Schultern. »Da Hauptwachtmeister Sinkwitz gerade nicht da ist, trägt gegenwärtig Oberwachtmeister Jung die Verantwortung«, erklärte er.

Der überraschte Alfred Jung trat vor und grüßte stramm.

»Es hat über die Westerländer Polizeidienststelle Beschwerden gegeben!«, schnauzte Bauer. »Ein Toter nach einer Sturmflut, aber das Aufsehen, das Sie hier machen, lässt tatsächlich auf Kriegsberichterstattung schließen. Warum wird das angesichts unserer aussichtsreichen Pläne für die Wirtschaft nicht endlich unterbunden? Interessenten springen bereits ab, Herr Oberwachtmeister Alt!«

»Jung«, verbesserte der zaghaft.

»Mir egal. Also?«

Jung wusste keine Antwort, und Asmus stellte sich ihm an die Seite.

»Darf ich die Frage übernehmen, Herr Abgeordneter?«, sagte er gelassen. »Ich bearbeite den Fall. Es handelt sich um einen Mord, der Wochen vor dem Sturm geschah. Dass der Täter gefasst wird, ist normale Polizeiarbeit, das erwarten auch Sie von uns. Dass wir in Westerland die Aufklärung eines Kriminalfalls übernommen haben, liegt an unserer speziellen Kenntnis der Sylter Strömungsverhältnisse, die hier eine Rolle spielen und die man in Husum nicht hat.«

»Hmm«, brummte Bauer, der keine Argumente mehr hatte. »Ein wichtiger Investor, der einen Zeppelinhafen plante, ist schon ausgefallen, und andere werden ihm folgen. Das ist eine Katastrophe, die Sie zu verantworten haben!«

»Herr Meier begrub schon während des Banketts seinen Plan für den Zeppelinhafen«, entgegnete Asmus völlig unbeeindruckt. »Mit unserem Mord hat das nichts zu tun.«

Bauer nahm seine Brille ab, putzte sie flüchtig und setzte sie wieder auf, um Asmus genau in Augenschein zu nehmen. »Sie sind das! Ich habe Sie doch beim Bankett gesehen. Mir kam Ihr Gesicht gleich bekannt vor. Sind Sie tatsächlich einer von den Asmusbrüdern der Rostocker Reederei? Meier hat sich über Sie beschwert, hat Sie als Hochstapler bezeichnet.«

»Der bin ich, richtig, Niklas Asmus aus Rostock. Es ergaben sich übrigens interessante Gespräche am Tisch. Herr Vesper, zum Beispiel, ist offenbar entschlossen, in Kampen ein Hotel bauen zu lassen. Für Munkmarsch konnte ich ihm wegen der künftigen Stilllegung der Fähre nur schlechte Aussichten prognostizieren, aber er schloss sich meiner Meinung an, dass sich für ihn Kampen als Goldesel herausstellen könnte.«

»Also …«, murmelte Bauer etwas betreten. Dann wandte er sich an seine Begleiter. »Gehen Sie drei am besten draußen eine rauchen. Es wird noch etwas dauern.«

Während die Männer still verschwanden, schob Matthiesen dem Besucher einen Hocker hin.

»Danke, danke. Können Sie in Zukunft Aufsehen vermeiden, Herr Asmus?«

»Ich weiß gar nicht, von wem dieses Aufsehen ausgeht, Herr Bauer. HWM Sinkwitz achtet streng darauf, dass wir keinerlei Kontakt mit anderen Dienststellen deswegen aufnehmen. Wir lösen den Fall mit eigenen Kräften.«

»Dann sind die Gerüchte zweifellos politisch motiviert. Von wem das ausgeht, kann ich mir denken. Sie sind rehabilitiert, Herr Asmus.«

»Besten Dank, Herr Abgeordneter.« Asmus gab sich keine Mühe, seinen Spott zu verbergen. »Übrigens soll ich noch eine mündliche Botschaft an Sie weitergeben. Die Südspitze von Sylt ist in Gefahr. Bei jedem Sturm bricht Land ab, und irgendwann verschwindet Hörnum mitsamt der Mole für den Fährverkehr …«

Bauer sah ihn betroffen an. »Davon habe ich noch gar nichts gehört. Da muss man ja was machen …«

»Genau. Sie würden in die Geschichtsbücher eingehen, wenn Sie für Abhilfe sorgen. Die Sylter hoffen auf die Hilfe der Politiker. Es ist nicht nur Hörnum betroffen.«

»Ja. Ja! Ich werde es in Angriff nehmen!« Als Bauer die Wache gerade verlassen wollte, schoss Sinkwitz schwer atmend und schwitzend zur Tür herein.

»Bitte um Entschuldigung, Herr Abgeordneter! Wurde aufgehalten. Konnte mich nicht loseisen. Ein Blick in die Räumlichkeiten erwünscht oder eine Erklärung zu den Abläufen des täglichen Geschäfts dieser Wache?«

»Nicht nötig. Haben einen sehr interessanten Mitarbeiter, Herr Stinkfuß«, schnarrte Bauer im gleichen Ductus. »Oder wie war doch gleich der Name? Kann so schlecht Namen behalten.«

»Sinkwitz«, knurrte dieser und machte gedemütigt dem Abgeordneten Platz, der erst Asmus, dann ihm die Hand gab.

»Ich wünsche übrigens dringend, dass der Mord aufgeklärt wird. Geschäftsleute kommen nur, wenn ihre Sicherheit gewährleistet ist. Dieser Fall wäre ein gutes Beispiel für die bemerkenswert effektive Polizeiarbeit auf Sylt. Benachrichtigen Sie mich bitte vom Ergebnis.«

Sinkwitz kräuselte sauertöpfisch die Lippen, statt zu antworten, und stapfte unwirsch hinter Bauer her nach draußen, wo der ungeduldige Fahrer des Jagdwagens den Motor aufheulen ließ.

Währenddessen entdeckte Asmus erstaunt, dass die Journale für das Tagesgeschäft ordentlich in Reih und Glied auf einem Regal standen, wo sie sich noch nie befunden hatten. Die Nummerierung war durchgehend, die Hefte fünf und sechs, nach denen Asmus wegen der Anzeige gegen ihn vergeblich gesucht hatte, waren vorhanden.

Kurze Zeit später kehrte Sinkwitz zurück. »Bauer tut’s ja wirklich nicht unter dem nagelneuen Horch Phaeton unseres geschätzten Bürgers Rörd Jacobsen«, schnaubte er, wütend wie eine Hornisse, den Blick fest auf Asmus gerichtet. »Nur für die Strecke vom Hafen hierher und zurück muss der sich den teuersten Wagen von ganz Preußen leihen!«

»Fünfunddreißig PS«, ergänzte Matthiesen in höchster Anerkennung. »Fährt achtzig Stundenkilometer!«

»Auf unseren Sandwegen auch?«, knurrte Sinkwitz und verschwand in sein Zimmer, wo er sich verbarrikadierte, was Asmus und Matthiesen Zeit ließ, die Erkenntnisse des Vormittags zu diskutieren.

»Der meinte dich, nicht den Wagen«, flüsterte Matthiesen.

Asmus zuckte gleichgültig die Schultern.

»Ich glaube, dass der Schuh in keinem Zusammenhang mit unserem Toten steht«, griff Matthiesen ihre vorherige Diskussion wieder auf. »Könnte er nicht auch von einer Besucherin mit Bubikopf, Herrenanzug und Krawatte getragen worden sein? Das passt zum Stil und wäre die letzte Konsequenz dieser männlichen Frauenmode.«

»Auch möglich, ja. Aber lass uns trotzdem noch mal zum Anfang der Geschichte zurückgehen: Man findet einen Toten, der ermordet worden ist und im Zuge der Deichbauarbeiten im Wasser versteckt wurde. Alles deutet wegen der Kleidung auf einen Arbeiter hin, dem widersprechen aber seine zarte Haut und fehlender Sonnenkontakt. Außerdem sind seine Haare übel zugerichtet, und er hat keine Schuhe an. Soweit sind wir uns einig?«

»Sind wir.«

»Sofern der Mann sich selbst verkleidet hat, hätte er sich vermutlich auch derbe Schuhe besorgen können – heutzutage läuft man nicht mehr barfuß auf einem Schiff herum, schon gar nicht, wenn dieses scharfkantige Eisensockel von Kränen aufweist und für den Steintransport ausgerüstet ist. Hat er aber nicht. Daraus könnte man schließen, dass ein anderer ihm die Arbeiterkleidung verpasst hat, aber keinen Ersatz für die feinen Schuhe in kleiner Größe finden konnte. Außerdem musste er möglicherweise die Frisur zerstören, die auf eine bestimmte Gesellschaftsschicht hingewiesen hätte. Etwa das modisch streng nach hinten gekämmte, pomadisierte Haar mit Seitenscheitel, wie ein Städter es trägt.«

»Das war mehr als eine unkenntlich gemachte Frisur.«

»Stimmt. Er schoß über das Ziel hinaus. Das könnte persönlich gemeint sein. Wut, Rache.«

»Aber dann kannte der Mörder sein Opfer!«

»Ja, das pflegt so zu sein.«

»Sie sind also beide Sylter.«

Asmus zögerte. Das war längst seine Vermutung. Aber er hatte vor, sie völlig wasserdicht zu machen, bevor er sie Sinkwitz vorlegte und dieser ihm womöglich einen Strich durch die Rechnung machte. »Vielleicht. Nicht zwingend.« Er stand auf. »Lorns, ich muss noch mal los. Mir rotiert eine Idee im Kopf, die ich erst ausmustern muss, bevor ich weitermachen kann. Sei bitte nicht ärgerlich etwa wegen fehlenden Vertrauens, das ist es nicht. Es geht um etwas Persönliches, das ich nicht preisgeben kann. Du wirst irgendwann auch in den Konflikt zwischen Amtstreue und der vertraulichen Mitteilung eines Zeugen geraten.«

Matthiesen nickte. »Alles klar.«

Die Friedrichstraße war auf ganzer Länge leerer denn je. Sibbersens Schaufenster machten keinen einladenden Eindruck, ebenso wenig wie die der Nachbargeschäfte. Allmählich schien sich auch hier Armut auszubreiten.

Bonde Sibbersens erwartungsvolle Miene wechselte in Abneigung, als Asmus sein Geschäft betrat. »Was wollen Sie denn?«, knurrte er.

»Herr Sibbersen, ich hoffe, dem Verschwinden der Briefe, die Sie erwarten, auf die Spur gekommen zu sein. Die Postsachen der Insel werden vor Abfahrt der Fähre in einem Schuppen aufbewahrt. Jemand besitzt einen Nachschlüssel und kontrolliert offenbar die ausgehende Post regelmäßig. Bei der vom Festland ankommenden ist es weniger einfach, aber auch das passiert.«

»Und was geht mich das an?«, schnaubte Sibbersen. »Ich habe damit nichts zu tun.«

»Doch. Ich habe den Eindruck, dass es ausschließlich um Ihre Briefe geht. Möglicherweise wurden insgesamt auch zwei ganze Postsäcke gestohlen. Aber Sie vermissen mehr als zwei mögliche Briefe, oder?«

»Ja. Ja, in der Tat. Cord antwortete selten auf meine Fragen, und was er erzählte, hatte für mich oft keinen Zusammenhang, weil es an einen Brief anschloss, den ich offensichtlich nicht erhalten hatte. Bei seinem letzten Besuch fanden wir dafür keine Erklärung, außer dass Briefe mit Absender Cord oder Bonde Sibbersen gelegentlich zum Verschwinden gebracht werden. Wir hatten die Westerländer Poststelle in Verdacht. Beschwerden wären sinnlos gewesen, deswegen haben wir geschwiegen.«

»Könnten Sie mir eine Aufstellung machen von erwarteten, aber nicht erhaltenen Antwortbriefen, oder ist das zu viel verlangt?«

»Wissen Sie, ich habe alles notiert, was Cord betrifft«, antwortete Sibbersen weich, um gleich wieder argwöhnisch zu werden. »Dieser Herr Jung …«

»… ist ein notorischer Opportunist, brandehrgeizig noch dazu. Er glaubte, seine Aufstiegschancen verbessern zu können, indem er Sie wegen der Zeitungsanzeige verwarnte. Ich war nicht da, um ihn zurückzuhalten.«

»Ich habe mich da wohl vertan, was Sie betrifft …«

»Ja, voll und ganz, Herr Sibbersen. Haben Sie denn in den letzten Tagen Nachricht aus Frankfurt erhalten?«

»Nein.«

»Vor zwei Tagen wurde ein Postsack aus dem Schuppen gestohlen, der eigentlich mit dem Zug nach Westerland hätte weiterreisen sollen. Der Diebstahl ganzer Säcke ist wohl eine Notmaßnahme des Täters, wenn er befürchtet, beim Durchsehen der Post erwischt zu werden.«

»Ja. Aber warum das alles? Wer gibt sich Mühe, meine Korrespondenz mit meinem Sohn zu stören?«

»Eben. Das ist die Frage. Ich vermute deswegen, dass es vor allem um Geschäfte geht. Um Sylter Geschäfte.«

Die Schultern des Kaufmanns zogen sich zusammen.

»Habe ich recht?«, setzte Asmus nach.

»Könnte sein«, stammelte Bonde Sibbersen. »Ich habe Cord immer das Neueste aus der Geschäftswelt berichtet, damit er auf dem Laufenden bleibt: Wer wo bauen will, also Privathäuser in einsamer Gegend, Hotels in schönster Umgebung. Manchmal nur Gerüchte, häufiger von beantragten Vorhaben. In letzter Zeit weniger …«

»Warum?« Asmus, der meinte, darin eine bestimmte Aussage auszumachen, ließ seine Frage sofort folgen.

»Ja … Einfach so.«

Asmus kaute unschlüssig auf seiner Wange und beobachtete Sibbersen. Der hatte einen Grund, mit dem er nicht herausrücken wollte. Da es keinen Sinn hatte, ihn zwingen zu wollen, wandte sich Asmus etwas anderem zu. Er kam um die vielleicht entscheidende Frage nicht herum. »Herr Sibbersen, welche Schuhgröße hat Ihr Sohn?«

»Um Gottes willen! Hat er ein Verbrechen begangen?« Sibbersen streckte Asmus die gefalteten Hände entgegen.

»Nichts dergleichen«, sagte Asmus rasch. »Bitte regen Sie sich nicht auf! Ich muss ausschließen, dass Ihr Cord mit einem anderen Fall zu tun hat.«

»Ach so. Er hat Schuhgröße neununddreißig.«

Im Gegensatz zu Sibbersen war Asmus keineswegs beruhigt, aber er ließ es sich nicht anmerken. Leider wäre nur die Größe einundvierzig und darüber geeignet gewesen, Cords Verschwinden und den Mordfall gänzlich unabhängig voneinander zu betrachten.

Nun kam der unangenehmste Teil. Asmus legte den Schuh auf den Kaufmannstisch. »Kennen Sie diesen Schuh?«

Sibbersen holte eine Brille hinter der Kasse hervor, rückte sie auf seiner Nase zurecht und nahm den Schuh zur Hand, um ihn von allen Seiten zu mustern. Dann schüttelte der den Kopf. »Noch nie gesehen. Cord gehört er nicht.«

Asmus nahm den Schuh wieder an sich. Er war nur halbwegs überzeugt. »Dann ist das geklärt. Schreiben Sie den Freunden von Cord heute noch, erklären Sie das Verschwinden von Briefen und erbitten Sie die Wiederholung des Wichtigsten, das man Ihnen bisher über die Suche nach Cord mitgeteilt hat. Sobald Sie die Antwort erhalten, benachrichtigen Sie mich bitte.«

»Ja.«

Bonde Sibbersen wirkte sehr niedergeschlagen, als Asmus seinen Laden verließ. Vielleicht befürchtete auch er das Schlimmste.

Als Asmus in der Wache zurück war, hatte Sinkwitz schon Feierabend gemacht, und Jung stand auf dem Sprung, das Gleiche zu tun.

Asmus erledigte seine schriftlichen Arbeiten als Erstes, aber sein Blick ging immer wieder zu den Journalen hin, als ob er sich vergewissern müsste, dass die Nummern fünf und sechs noch vorhanden waren.

Endlich war nicht mehr zu befürchten, dass einer der Kollegen zurückkäme. Fast andächtig schlug er Band Nummer fünf auf und hielt den Atem an in der Furcht, dass womöglich das Blatt, das er suchte, herausgerissen war.

Aber es fehlte nichts. Für den zwanzigsten Mai war vermerkt: »Jörn Frees, wohnhaft in Keitum-Tipkenhügel, erstattet Anzeige gegen Wachtmeister Niklas Asmus wegen Diebstahls von Möweneiern an der Kreuz-Wehle in der Runs-Marsch.«

Frees also war es gewesen! Aber warum? Doch nicht aus eigenem Antrieb! Wer benutzte diesen Mann, von dem immer noch nicht klar war, ob er tatsächlich dumm war oder eine gewisse Schläue für zwielichtige Unternehmungen einsetzte? War es Sinkwitz, oder diente dieser wiederum auch einem Herrn?

Jedenfalls wurde es dringend Zeit, Jörn Frees auf den Zahn zu fühlen. Danach fiel Asmus noch etwas anderes ein. Der Landstreicher ohne Namen musste ja hier irgendwo vermerkt sein.

Auch ihn fand er in Band 5. Der Tote hatte im nördlichen Abschnitt der Strandkörbe von Christian Boysen/ Westerland gelegen, tot, unauffällig, abgesehen vom Sand im Mund. Der Tod dieses älteren Mannes ohne Verwandtschaft war als natürlich angesehen worden. Seinen Leichnam hatte man eingeäschert.

Das Geld, das er bei sich gehabt hatte, wurde nicht erwähnt. Der Däne, der den Toten gemeldet hatte, hätte nichts darüber erzählt, wenn er es gestohlen hätte. War Boysen darüber informiert gewesen?

Dies war ein typischer Fall eines Abschlusses, dessen Ursache nicht interessiert hatte. Gleichgültigkeit auf ganzer Linie! Erbost schlug Asmus das Journal zu und verließ die Wache.

Am nächsten Morgen wurde Asmus wieder durch die Geräusche geweckt, die Frees’ schwere Muscheleimer machten. Asmus sprang in seinen Trainingsanzug und bat ihn, wegen einer Aussage auf die Wache zu kommen.

Frees machte große Augen wie ein erstauntes Kind, widersprach aber nicht und versprach, am Nachmittag zu erscheinen.

Irgendwann trödelte er herein und sah sich neugierig um, dann wurde er von Matthiesen in das Besprechungszimmer zu Asmus geschickt.

Den Hinweis auf die Anzeige gegen Asmus bestätigte er bereitwillig mit heftigem Nicken. »Das gehört sich so, Herr Asmus, wenn man jemanden beim Klauen erwischt. Seitdem wir den Naturschutz haben …«

Er konnte tatsächlich zusammenhängend sprechen. Und Asmus hatte sich zu verteidigen. Das Peinliche war, dass er keine Ausrede besaß, die er selber als aufrichtig hätte ansehen können. »Na ja, es waren Brandganseier, und im Naturschutzgebiet war es auch nicht.«

»Egal! Außerdem hat Herr Sinkwitz mir gesagt, dass ich auf alles ein bisschen aufpassen soll.«

»Haben Sie mir nachspioniert?«

»Beobachtet. Nur beobachtet.«

»Und Anzeige erstattet.«

Frees schob die Lippen trotzig vor und nickte. »Ich bin ein guter Deutscher.«

»Dann eine andere Frage. Ich habe Sie schon oft im Hafen gesehen, bei Mart auf der Bank, an den Booten, am Schuppen …«

»Ich tue nichts Unrechtes!«

»Und auch im Schuppen«, setzte Asmus fort, obwohl dies eine reine Vermutung war.

»Sicher. Wenn es mit der Tide nicht anders passt, muss ich meinen Eimer mit Blaumuscheln doch in den Schuppen stellen, damit Mart ihn sieht und auf die Fähre bringt. Manchmal bin ich frühmorgens unterwegs, sobald es hell ist. Vier Uhr oder fünf …«

»Aber Mart weiß nichts von einem weiteren Schlüssel«, wandte Asmus in seiner Überraschung ein.

»Ich habe ihn jedenfalls bekommen.«

»Von wem?«

»Weiß nicht. Eines Tages lag er auf meinem Küchentisch.«

»Gehörte dazu auch ein Brief?«

»Ja, der lag daneben.«

»Mit welchem Inhalt?«

»Ich soll immer mal in den Postsäcken stöbern, und wenn ich Post von oder an die Sibbersens finde, herausnehmen und abliefern.«

Asmus stockte einen Augenblick der Atem. »Wem?«

»Keine Ahnung«, beteuerte Frees aufrichtig. »Einem Strandkorb. Ich ziehe das rechte Fußbänkchen heraus und stopfe die Post in einen kleinen Briefkasten, der unter dem Sitz angebracht ist.«

»Es handelt sich also um einen bestimmten Strandkorb?«

»Natürlich«, sagte Frees vorwurfsvoll, »wie sollte ich denn sonst zu meiner Bezahlung kommen?«

»Ach so, da haben Sie natürlich recht. Und wem gehört er?«

»Den Boysens in Westerland. Die vermieten Strandkörbe. Es ist Strandkorb Nr. 175.«

Asmus musste an sich halten, um nicht laut zu lachen. Den Auftraggeber konnte man fast schon als Spaßvogel bezeichnen, wenn es nicht so ernst gewesen wäre.

»Haben Sie Herrn Böhrnsen freigelassen?«

»Herr Asmus, Ihnen muss man aber alles genau erklären, damit Sie es begreifen: Anders kam ich doch nicht ungesehen an den Postsack. Außerdem hatte Herr Böhrnsen nicht verdient, dort eingesperrt zu sein. Er ist ein netter Mann, wir schwatzen häufig miteinander, wenn er seine Enkelkinder besucht. Als er aus dem Hafen gepullt war, bin ich sofort in den Schuppen rein und habe die Briefe durchgesehen. Ich kann gut lesen!«

»Ja, das glaube ich«, stimmte Asmus mit abwesenden Gedanken zu und entließ Jörn Frees. Einige Minuten später erst fiel ihm ein, wie naheliegend es war, dass Frees auch der Attentäter in der Werft gewesen war.