172581.fb2 Der Tote am Hindenburgdamm: Ein Sylt-Krimi - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 21

Der Tote am Hindenburgdamm: Ein Sylt-Krimi - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 21

KAPITEL 21

Asmus nahm Matthiesen zum größten Strandkorbvermieter Westerlands, Christian Boysen, mit, da die beiden sich natürlich kannten. Der ganze Strand unterhalb des Konzertplatzes war mit Strandkörben belegt, und diese setzten sich bis zum Burgenstrand im Süden und jenseits der Kurpromenade im Norden fort.

Lorns machte Asmus mit Boysen bekannt, einem blonden Hünen von Mann, geeignet, die Strandkörbe im Frühjahr auf dem Buckel zum Strand zu schleppen und im Herbst wieder zurück ins Winterquartier.

»Wir suchen nach dem Mieter eines bestimmten Strandkorbs«, sagte Matthiesen. »Es könnte einer von deinen sein, und es muss ein Dauermieter sein.«

Boysen nickte bereitwillig. »Könnt ihr haben, wird nicht lange dauern, ihn in der Liste zu suchen. Kommt mit.« Er lotste sie zu einer hölzernen Bude, fast nur ein Unterstand, der ein wenig Wind- und Regenschutz bot. Während er mehrere Bögen mit Namen aus einem Eimer kramte und sich auf einen Klappstuhl setzte, nahmen die Polizisten im Sand Platz.

Asmus nannte Boysen die Strandkorbnummer. »Haben Sie wirklich so viele Strandkörbe, dass Sie schon bei 175 angekommen sind?«, erkundigte er sich.

Boysen grinste. »Nein, bei weitem nicht. Aber wenn ein alter Korb ausgemustert wird, verwenden wir seine Nummer nicht mehr, sondern geben dem Ersatz die nächste laufende. So behalten wir den Überblick über das Alter der Körbe. Deswegen kann ich Ihnen auch sagen, dass Nummer 175 ein moderner mit ausziehbarem Fußbänkchen ist.«

»Ein praktisches Verfahren.«

Danach schwiegen sie alle. Der Strand war an diesem Septembertag fast leer. Niemand badete. Ein Mann lief mit aufgekrempelten Hosenbeinen an der Wasserlinie entlang, begleitet von einem langhaarigen nassen Hund. Aus einigen Strandkörben waren die Fußbänke herausgezogen, und Hosenbeine sowie lange Röcke bewiesen, dass sie besetzt waren.

»Hier hab ich den Mieter schon«, verkündete Boysen.

»Und wer ist es?«

»Jörn Frees, Keitum.«

Mist, dachte Asmus, während Matthiesen grinste und sich auf die Schenkel schlug.

»Hat er ihn denn benutzt?«

»Er selber natürlich nicht. Aber er schickt oft Gäste – wahrscheinlich hat er ein Abkommen mit einem Gästehaus –, und da sie den Schlüssel zum Gatter haben, habe ich in der Saison mit ihnen gar nichts zu tun.«

»Wo steht der Strandkorb eigentlich?«, erkundigte sich Asmus.

»In der letzten Reihe nach Norden.«

»Ja, gut, danke, das war dann alles«, meinte Asmus, sprang auf und mahnte Matthiesen mit einem Schulterklopfen mitzukommen. Die nördlichsten Strandkörbe des Vermieters Boysen, wo der Leichnam des angeblichen Landstreichers gelegen hatte. Zweifellos weckte diese Beschreibung den Verdacht eines Zusammenhangs.

»Gehen wir Nr. 175 besichtigen?«

»Nein, das machen wir nicht. Auch wenn Jörn Frees seinem Auftraggeber mitgeteilt hätte, dass Briefe der Sibbersens nicht mehr zu erwarten sind, könnten weitere Botschaften gewechselt werden. Wer weiß, was da läuft? Lass uns einfach die Promenade entlangschlendern, dann sehen wir 175 von oben.«

»Schlaues Kerlchen, dieser Auftraggeber.«

»Ja, eben. Darum halte ich es auch für möglich, dass da noch einiges andere dahinter steckt. Für pure Neugier auf ein paar Briefe ist der Aufwand zu groß«, stellte Asmus grimmig fest. Hinter Frees taten sich ja Abgründe auf, sobald man ihn unter die Lupe nahm.

Sie bummelten nach Norden, vorbei am Kurhaus, unter dessen ausgerollter Markise etliche Gäste an den Tischen saßen und Kaffee tranken. Hinter dem Musikpavillon blieben sie stehen, um gelangweilt über den Strand zu schauen. Etwas nördlich davon stand Nr. 175, der Promenadenmauer am nächsten und über eine Treppe zur höher gelegenen Promenade schnell zu erreichen.

»Wenn Jörn Frees hier Briefe deponiert und Geld holt, wird jeder, den es überhaupt kümmert, davon ausgehen, dass er eine Reparatur ausführt. Er braucht ja nur einen Handwerkskasten mit Werkzeug neben sich aufzustellen«, sinnierte Asmus. »Ein erstaunlich einfaches System. Und je einfacher, desto erfolgreicher.«

»Frees kann sogar am Tag kommen. Oder muss am Tag kommen, damit er nicht auffällt. Wahrscheinlich macht es der Auftraggeber genauso.«

»Mit Sicherheit«, bestätigte Asmus. »Das ist deshalb besonders günstig, weil du ab jetzt als Gast Wache schieben wirst. In dunkler Jacke, weißem Hemd und Fliege. Nimm eine kurze Pfeife mit und ein Buch und denk auch an eine Wolldecke, die du dir über die Knie legen kannst.«

»Dann«, sagte Matthiesen lang gedehnt und ohne Überraschung zu zeigen, während er über die Strandkörbe spähte, »nehme ich am besten Nr. 197. Den kann ich so drehen, dass ich 175 unauffällig im Auge behalte.«

»Gut, dann verschwinden wir jetzt. Wache in Uniform zu halten hat keinen Sinn. Du beeilst dich nach Hause zum Umziehen, und ich kläre mit Boysen, dass Korb 197 ab sofort vermietet ist.«

Asmus wanderte zurück und fand den Vermieter Boysen noch in dem Hüttchen vor, in dem er seine Buchhaltung aufbewahrte. »Herr Boysen«, fragte er, »wo wurde eigentlich die Leiche dieses Landstreichers gefunden?«

»Der Däne? Neben Nr. 197.«

»O je, ich hoffe, das hat keine schlechte Vorbedeutung. Ich wollte Nr. 197 gerne mieten. Ich, äh, ich sehe hoffentlich meiner Verlobung entgegen. Ist noch geheim …«

»Gratuliere!« Boysen grinste breit. »In meinen Strandkörben wurde schon manches Kind auf Kiel gelegt.«

»Soweit ist es noch nicht.«

»Aber den Strandkorb dafür haben Sie schon mal. Ist notiert.«

Niklas Asmus hatte ein ganz schlechtes Gewissen Ose gegenüber, weil er sich in letzter Zeit so wenig meldete. Er konnte nur hoffen, dass sie es verstand.

Danach fraßen ihn die Ereignisse wegen ihrer schnellen Abfolge auf. Matthiesen kam auf Umwegen abgehetzt im Büro an, wo er Asmus in aller Hast berichtete.

»Im Strandkorb 175 war ein Gast«, sprudelte er heraus. »Ganz junger Mann mit Spazierstock, weißer Hose, weißem Binder. Nachdem er sich eine Weile den Anschein gegeben hatte zu dösen, in Wahrheit aber die Umgebung beobachtet hat, zog er das Fußbänkchen auf und machte sich im Innenraum zu schaffen. Von wegen Handwerker! Da haben wir uns wohl geirrt. Es ging sehr schnell. Wetten, er hat dort etwas deponiert!«

»Und du?«, fragte Asmus.

»Ich habe auch gedöst. Der Länge nach im Strandkorb, die Knie hochgezogen, die Wolldecke bis zur Nase, den Arm lang herabhängend und die Pfeife im Sand.«

Asmus lächelte. »Und das Buch?«

»Aufgeschlagen auf meinem Bauch. Der Gast ging danach sofort. Ich muss auch wieder los, Asmus. Könnte sein, dass sie Zeiten verabredet haben und Frees schon unterwegs ist.«

»Ja! Viel Glück!«

Am späten Nachmittag saß Asmus immer noch am Schreibtisch, war aber zu unruhig, um zu arbeiten. Zum Glück war eigentlich nichts los außer der Anzeige wegen einer eingeschlagenen Fensterscheibe. Allerdings war der Täter unbekannt.

Endlich polterte Lorns Matthiesen herein. »Vollen Erfolg gehabt«, meldete er. »Jörn Frees kam tatsächlich. Aber etwas beschränkt muss er schon sein, denke ich, wenn er die Verbindung aufrechthält, obwohl er sie bei uns schon zu Protokoll gegeben hat.«

»Wahrscheinlich geht es ihm ums Geld. Seinen Auftraggeber wird er nicht informiert haben, dass Post von Sibbersen nicht mehr eintreffen wird und dass wir Bescheid wissen, erst recht nicht.«

»Könnte sein.«

»Möglicherweise handelt es sich also um weitere Aufträge. Ich werde morgen bei der Observation dabei sein«, sagte Asmus entschlossen. »Die ganze Sache hat durch die Beteiligung von auswärtigen Gaunern eine andere Dimension bekommen. Abgesehen davon, ist es in diesem Gemäuer schrecklich langweilig.«

»Und wie? Als Schupo?«

»Nein, natürlich nicht!«

Am Abend knatterte Asmus auf dem Motorrad nach Keitum. Ose öffnete die Tür. Ihr Blick wanderte verwundert zu seinem Arm, über den er seine einzige sehr helle Hose gehängt hatte, die stadttauglich war.

»Soll sie geplättet werden?«, fragte sie, und Asmus war erleichtert, dass sie ihn nicht hinauswarf.

»Das mache ich schon«, warf Oses Mutter ein, die in diesem Moment in der Diele erschien, und nahm Asmus die Hose ab. »Geht ihr nur in den Garten und betrachtet die wachsenden Bohnen. Das haben dein Vater und ich früher auch gemacht, Ose.«

Asmus brach in Lachen aus und reichte der etwas genierten Ose den Arm. »An dezenten Hinweisen fehlt es hier ja nicht.«

»Nein, nein, wir sind alle immer sehr direkt«, meinte Ose und kicherte leise. »Wofür brauchst du die Hose?«

Asmus erklärte es ihr.

»Aber, Niklas, da wäre es doch schlauer, wenn ich mitkäme! Als Paar wären wir unschlagbar unauffällig.«

»Das ist wahr«, sagte Asmus nach einem Augenblick verblüfften Nachdenkens. »Wir könnten uns dem Gast nähern, und du wirfst ihm feurige Blicke zu. Also mustere ich ihn aufgebracht, fordere ihn zum Duell, und hinterher können wir ihn besser beschreiben als Matthiesen, der immer nur döst, während er dort angeblich Wache hält.«

»Aber erstechen darfst du ihn nicht. Wir legen Wert auf sauberen Sand«, warnte Ose. »Wenn du das versprichst, suche ich mir jetzt ein Kleid heraus, das zur Promenade passt. Ich glaube, du musst die Bohnen allein besichtigen.«

Asmus runzelte argwöhnisch die Stirn. »Hat dein Vater das auch gemacht?«

»Was auch immer er gemacht hat, genützt hat es ihm nichts«, sagte Ose und schritt beschwingt davon.

Am nächsten Tag schien die Sonne, es war ein warmer Septembertag, geeignet für den Strand und für Sonnenbäder in den Strandkörben.

Matthiesen lümmelte lang ausgestreckt mit den Füßen auf dem Holzschemelchen, las in einem dicken Buch und warf Asmus und Ose einen uninteressierten Blick zu, als sie im Sand an ihm vorbeistapften.

»Hundertsiebenundachtzig?«, fragte Ose.

»Nein, hundertsiebenundsiebzig.« Asmus sah sich um und fand dann den Strandkorb südlich von Nr. 175. Der war unbesetzt.

Sie hatten stundenlang zu warten, aber plötzlich wurde die Warterei belohnt. Jörn Frees sprang die Treppe herunter und ging auf Nr. 175 zu, ohne sich viel um die Nachbarstrandkörbe zu scheren. Offensichtlich hatte er es sehr eilig.

Wie Asmus vorhergesagt hatte, war Frees in Arbeitskleidung und mit einem Handwerkerkasten erschienen. Offensichtlich kontrollierte er den Mechanismus, mit dem die Fußbänkchen herauszuziehen waren. Es dauerte nicht lange, bis er fertig war.

Als er die Treppe nach oben hochgestapft und außer Sicht war, war Asmus für einen Augenblick versucht, im Postkasten nachzusehen, was er hinterlegt hatte. Er unterließ es jedoch, obwohl es ihn juckte.

Gleich darauf war er dankbar dafür. Matthiesen gab ihm einen schläfrigen Wink mit der Pfeife, dass der Kontaktmann kam. Der junge Mann schlenderte herab, sah sich nach allen Seiten um, beobachtete einige Sekunden das ruhige Meer mit einigen Badenden, wahrscheinlich aber vor allem die Strandkörbe, von denen nur wenige belegt waren, und setzte sich dann auf die unterste Stufe, um sich die Schuhe auszuziehen. Modisch zweifarbige Strandschuhe, die er an den Schnürsenkeln neben dem Bein schlenkern ließ, während er mit gelangweiltem Gesicht barfuß zu Nr. 175 pflügte.

Asmus hatte ihn noch nie gesehen. Allerdings kam er aus dienstlichen Gründen auch nur wenig mit den Westerländer Gästen in Kontakt.

Ose lag in Asmus’ Armen und schien es zu genießen. Er auch. Irgendwann stemmte sie sich hoch, um einen neugierigen Blick in die Runde zu werfen. In Nr. 175 begann der Mieter wie viele Urlauber, die Morgenzeitung zu entfalten.

»Der nimmt sich ja viel Zeit«, flüsterte Asmus, als er fühlte, wie Ose geradezu versteinerte und sich hinter ihn kauerte.

»Der ist doch kein Gast«, hauchte sie aufgeregt in sein Ohr. »Das ist Gerrit, der Concierge der Dünenhalle!«

Die Eröffnung machte Asmus erst einmal sprachlos. Es taten sich allmählich so viele Verbindungen zwischen den eingeborenen Syltern auf, dass er Papier und Bleistift benötigte, um diese graphisch darzustellen. Eines war jedenfalls nicht anzunehmen: dass ein pickeliger Jüngling dieses Komplott organisierte. Auch er war beauftragt. »Wem gehört eigentlich die Dünenhalle?« raunte er Ose zu.

»So viel ich weiß, Rörd Jacobsen. Aber er tritt dort nie in Erscheinung, er hat einen Geschäftsführer.«

Rörd Jacobsen. Das war der Besitzer des Horchs, des Jagdwagens, wie ihn auch der schwedische König besaß, und der viel zu teuer für einen Sylter Kaufmann war. Es hatte Matthiesen, dem Spezialisten in motorisierten Fahrzeugen, Spaß gemacht, Asmus ausgiebig aufzuklären.

Rörd Jacobsen, unauffällig im Hintergrund bleibend, aber mit maßgeblichen Politikern des Reichs verbündet oder befreundet, die auf oder mit Sylt das große Geschäft machen wollten. Auf der anderen Seite Bonde Sibbersen, der zusammen mit seinem Sohn den Ausverkauf der Inselschönheiten kommen sah und verhindern wollte.

So konnte es sein. Es gab für Asmus keinen Zweifel, dass er Jörn Frees in die Enge treiben musste, um an dessen Auftraggeber heranzukommen und damit möglicherweise seinen Verdacht zu beweisen.

Gerrit, der sich auf dem Fußbänkchen den Sand von den Füßen putzte und die Schuhe anzog, langte gleich darauf mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers ins Innere des Strandkorbs und beförderte einen Gegenstand in die Tasche, in der sich auch ein mitgebrachtes Kopfkissen befunden hatte. Danach machte er sich gemächlich auf den Weg zurück ins Städtchen.

Sie brauchten Beweise. Also hieß es nochmals zu warten, bis Jörn Frees Geld oder Auftrag abholte und sie ihn in flagranti erwischen konnten. Mit etwas Glück am nächsten Tag schon, denn diese Angelegenheit war offenbar eilig.

Jedenfalls ruhten Asmus und Ose ab dem frühen Morgen in ihrem Strandkorb, Asmus versteckt hinter der aufgeschlagenen Zeitung, die angeblich dösende Ose neben sich. Matthiesen hingegen hockte in Uniform in einem Strandkorb in Wassernähe, die Wolldecke über sich, den Tschako unter dem Fußbänkchen, bereit, Frees unter Wahrung aller vorgeschriebenen Formalitäten zu verhaften.

Dann kam Jörn Frees, und alles ging sehr schnell. Ehe er sich’s versah, war er mit Handschellen außer Gefecht gesetzt und ziemlich unauffällig auf die Strandpromenade hochbugsiert.

Frees wohnte im Tipkenhoog von Keitum. An der Schule sowie an einem grasbewachsenen Hügel vorbei gelangten sie zum letzten Haus des Dorfes. Idyllisch hinter einer Rosenhecke gelegen, bot es einen herrlichen Blick über das Meer, aber die Hausbewohner legten anscheinend darauf wenig Wert. Der Garten war verwahrlost, und das Wohnhaus verfiel.

Das Haus gehörte Jörns Eltern. Asmus informierte sie behutsam, dass er das Zimmer ihres Sohns durchsuchen müsste, aber sie steigerten sich trotzdem in eine panische Angst hinein, dass sie selber auch verhaftet würden. Selbst Matthiesen schaffte es kaum, sie zu beruhigen. Erst nachdem er ihnen einen Muckefuck aus Hagebutten und unbekannten Zutaten gekocht hatte, versiegten Mutter Frees’ Tränen, und sie konnten endlich an die Arbeit gehen.

Jörn hauste im Sommer in einer Art Schuppen im Garten. Er war spartanisch eingerichtet. Ein verlängertes Kinderbett und ein Ofen nahmen den größten Teil des Raumes ein, zwischen beiden war Schwemmholz zum Heizen aufgeschichtet. Eine Wandlänge besetzte ein Tisch mit Strandfunden: rissigen, uralten Austernschalen, braunen Bakelitklumpen, Vogelskeletten, Entenmuschelschalen und noch mehr. Über allem hing von der Decke ein Schuh, offensichtlich Jörns Prachtstück: Es war das rechte Gegenstück zu dem Schuh, den Asmus gefunden hatte. Jedoch war das Oberleder makellos weiß und rotbraun, und die Schnürsenkel sauber wie gerade gekauft.

»Sieh mal«, sagte Asmus zu Matthiesen. »Ich hatte immer das Gefühl, dass der Schuh eine Rolle in unserem Fall spielt. Dieses Exemplar hat nie im Schlick gelegen, das ist vom Fuß des Besitzers direkt in diese Bude zum Tisch mit Devotionalien gewandert.«

»Und du folgerst daraus was?«

»Mit aller Vorsicht: dass Jörn Frees den Toten vom Damm seiner Kleider beraubt und Gesicht und Frisur verunstaltet hat. Ich erinnere mich, wie er eine Ente mit Fußtritten malträtiert hat, nachdem er sie getötet hatte. Auch dieser Tod war sinnlos, ein so zertretenes Etwas lässt sich nicht mehr braten. Ihn scheint bei bestimmten Anlässen eine Berserkerwut zu packen.«

»Glaubst du, dass er unseren Unbekannten ermordet hat?«

Asmus holte tief Luft. »Bewiesen ist nichts. Aber Frees hatte zweifellos Zugang zur Baustelle und wusste auch mit den Werkzeugen umzugehen, mit denen die Deichbauer Steine verlegen. Denkbar wäre, dass er Cords Leichnam – wenn es denn Cord ist – am Dalben deponiert und den linken Schuh verloren hat, als er nachts mit der Kleidung auf dem Rückzug war. Dessen Zustand spricht dafür, dass ihn jemand am nächsten Tag gefunden und aufbewahrt hat, bis er mit den übrigen Besitztümern der Arbeiter in die Sturmflut geriet. Diesen linken Schuh habe also ich gefunden, während der rechte hier hängt und ganz den Eindruck einer Trophäe nach Erlegen des Wildes macht. Wir müssen feststellen, ob Frees die Kleidung versteckt hat, die dem Toten gehörte.«

Aber die Bude enthielt nichts Aufschlussreiches außer einem Geldbündel, das heute weniger wert war als gestern, daher konnte man nicht feststellen, ob es viel oder wenig gewesen war, als es ausbezahlt worden war.

Asmus war beim Ausfertigen eines Protokolls, als Bonde Sibbersen hereinstürzte und ihm einen Brief auf den Tisch warf. »Markus aus Frankfurt hat geschrieben«, keuchte er und sank auf den Hocker, den Matthiesen ihm geistesgegenwärtig in die Kniekehlen schob.

»Ja?«

»Cord ist nach seinem letzten Heimaturlaub – als Sie beide bei der Parteiversammlung waren – nicht mehr in Frankfurt gesehen worden.« Sibbersen verbarg sein Gesicht schluchzend im Arm.

»Eine Nachricht vielleicht?«

»Nein, keine Nachricht. Nichts. Der andere vermisste Freund ist wieder aufgetaucht, er war auf Reisen und war mit Cord nicht zusammen. Sie haben außerdem herausbekommen, dass in Frankfurt derzeit niemand wegen des Paragraphen 175 inhaftiert ist. Es geht zufällig so tolerant zu, dass die Auskunft der Wahrheit entsprechen dürfte.«

Asmus wechselte einen bezeichnenden Blick mit Matthiesen. Es war soweit. Dann holte er die Photographien von der unbekannten Leiche, die er hatte anfertigen lassen, aus der Schieblade. »Herr Sibbersen, wir haben einen Toten am Damm gefunden, dem wir keinen Namen zuordnen können. Bitte sehen Sie sich …«

Sibbersen sah auf und betrachtete dann gefasst die Bilder. Die Tränen liefen ihm die Wangen herunter, als er sagte: »Ja. Cord.«

Asmus ließ dem Kaufmann Zeit, sich zu beruhigen.

»Warum ist er ertrunken?«

»Er ist nicht ertrunken, er wurde ermordet und seine Leiche im Wasser versteckt.«

»Wer war es? Wer hat ihn ermordet?«, fragte Bonde Sibbersen schließlich tränenerstickt.

»Wir glauben es zu wissen, haben aber noch keinen Beweis«, antwortete Asmus ehrlich. »Er ist einer, der für Geld mordet, ein primitives Subjekt also. Wichtiger ist deshalb, wer ihm den Auftrag dazu gab. Vermutlich ist der mehr noch Ihr Feind als der von Cord …«

»Stimmt.« Sibbersen brach in lautes Schluchzen aus.

Matthiesen ging, ein Glas Wasser zu holen, und Asmus winkte Sinkwitz energisch weiter, der auf dem Weg in sein Zimmer stehen bleiben wollte, die Neugier ins Gesicht geschrieben.

»Sie kennen ihn also! Wer ist es?«

Sibbersen trank das Glas Wasser auf einen Zug aus. »Rörd Jacobsen.« In das Schweigen der Polizisten hinein sagte er: »Jacobsen kauft auf Sylt Grundstücke auf, die er vermutlich zu hohen Preisen losschlagen kann, sobald der Damm in Betrieb genommen ist. Cord wusste es, weil ich ihm regelmäßig davon berichtet habe. Eines Tages warnte Jacobsen mich: ins Blaue, dachte ich und schlug die Drohung in den Wind. Woher sollte denn Jacobsen wissen, was ich Cord schrieb? Reine Vermutung. Ich konnte doch nicht wissen, dass er unsere Post liest. Außerdem: An wen hätte ich mich wenden sollen? Hauptwachtmeister Sinkwitz hält es immer mit dem jeweils Mächtigsten, ohne es mit den anderen Lagern zu verderben.«

Den Eindruck hatte Asmus schon länger. »Wie hat Jacobsen Ihnen gedroht?«

»Es könnte etwas passieren, wenn ich mich so ausführlich mit Dingen befasse, die mich nichts angehen und von denen ich nichts verstehe. Aber geschäftlich hatte ich mich abgesichert, und Cord wusste ich in Frankfurt geborgen in einer Gruppe von jungen Männern, die sich um einander kümmern … Andere Kinder habe ich nicht, und meine Frau ist tot. Um meine eigene Person hatte ich weniger Angst.«

Asmus nickte teilnahmsvoll. »Was hat Cord eigentlich mit Ihren Informationen gemacht?«

»Er hat Artikel darüber geschrieben. Die Zeitschriften nahmen sie gerne, vor allem die linken. Sie fielen damit über die Investoren her, die Bauer nach Sylt locken wollte. Cord war richtig stolz, als auch seriöseste Zeitungen seine Aufsätze annahmen, die Frankfurter Zeitung, die Berliner Börsenzeitung … und so weiter. Cord schrieb ausgezeichnet, seine Absicht war, Sylt zu retten, nicht bestimmte Geschäftsleute zu diffamieren.«

Die Gerüchte, von denen Bauer gesprochen hatte. Sie waren wohl von den Sibbersens ausgegangen. »Wir werden Rörd Jacobsen unverzüglich vorladen«, bemerkte Asmus.

Sinkwitz stürzte in den Wachraum. »Das können Sie nicht machen, Asmus!«, fauchte er. »Dann ist hier der Teufel los! Er ist der wichtigste Geschäftsmann der Insel! Was soll Jacobsen von uns denken, wenn sich alles als Irrtum herausstellt?«

»Mich interessiert nicht, was er von uns denkt«, sagte Asmus ruhig. »Ich suche den Auftraggeber eines Mordes. Ich vermute, wir kennen ihn nun, und dem werden wir entschlossen nachgehen. Herr Bauer ist inzwischen zur Einsicht gekommen, dass mögliche Investoren von Sylt abgehalten werden, wenn sie an unserer Polizei Zweifel haben, Herr Hauptwachtmeister.«

Sinkwitz zog sich mit verwirrter Miene Schritt um Schritt aus dem Wachraum zurück.

Asmus sah ihm befremdet nach. Als Vorgesetztem stand es ihm zu, jedes Vorhaben seiner Untergebenen einfach zu verbieten. Warum tat er es nicht? Wohin wollte er?

Dann musste Asmus plötzlich an Sibbersens Exkurs über Schmeißfliegen denken. »Wachtmeister Matthiesen, wären Sie so gut, sich zum Telefon zu setzen?«, bat er. »Es könnte sein, dass der Abgeordnete Bauer anruft, um zu erfahren, wie weit wir gekommen sind. Nicht wahr, HWM, das ist doch in Ordnung, zumal Sie ja nicht immer im Raum sind?«

Matthiesen gelang es schnell, seine erstaunte Miene wieder unter Kontrolle zu bringen. Sinkwitz hatte nicht den Mut zu widersprechen.

Jörn Frees war nicht gewitzt genug, um den gezielten Fragen eines Verhörs standzuhalten. Er gab zu, Cord Sibbersen spät nachts am Landschaftlichen Haus in Keitum aufgelauert und erwürgt zu haben. Dann hatte er ihn am Kliff vorbei bis zur Baustelle geschleppt. Und dies mitsamt dem Paket, in dem die Kleidung lag, die er dem Toten anziehen sollte. Ja, die hatte er ebenfalls im Versteck unter dem Strandkorb vorgefunden. Die schicken Halbschuhe hatte er für sich behalten wollen und dabei leider den einen auf dem Rückweg von der Baustelle verloren.

Mehr wusste er nicht zu sagen.

»Hatten Sie einen genauen Tag genannt bekommen, an dem Sie Cord nachstellen sollten?«, fragte Asmus.

»Oh ja. Das war der Tag, an dem er bis spät nachts mit zwei Freunden feierte. Bis das Gasthaus zumachte und sie sich alle in unterschiedliche Richtungen davonmachten.«

»Ein ehrwürdiger Gasthof, das wichtigste Haus auf Sylt. Hier wurde seit alters her die Inselpolitik gemacht, daher der Name«, fügte Matthiesen leise ein.

Asmus nickte ihm zu. »Feierte Cord Abschied?«

Frees zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht. Er hatte eine rote Reisetasche mit, so was ganz modernes.«

Durch die gestohlenen Briefe hatte Jacobsen von Cords Abreisedatum erfahren und den Mörder passend dazu losgeschickt. Eine sehr effektive Methode, einen Mord zu vertuschen. »Was wäre gewesen, wenn Cord mit einem seiner Freunde mitgegangen wäre?«

»Solche Wackelärsche gehen selbst immer sehr heimlich vor – irgendwo hätte ich sie beide zusammen erwischt, wo niemand mir zugesehen hätte.«

»Ihr Auftraggeber hat also dafür bezahlt, dass Sie einen Urning beseitigen?«

Frees nickte nachdrücklich. »Die brauchen wir auf Sylt nicht.«

»Und wohin haben Sie Sibbersens Reisetasche und Kleidung getan?«

»Die Kleidung in die Tasche und die wieder unter den Strandkorb. Der Sand war ja noch ganz lose.«

»Wer holt die Sachen ab, Jörn Frees?«, fragte Asmus mit drohendem Unterton. Eine Antwort bekam er nicht, aber damit hatte er auch nicht gerechnet. Dann gab es ihm einen Ruck. »Was heißt, der Sand war ja noch lose?«

»Na, da hatte doch dieser dänische Landstreicher gebuddelt. Hinter dem herausgezogenen Fußbänkchen, unterhalb des Strandkorbs! Hatte wohl geglaubt, außer meinem Geld noch mehr zu finden.«

»Damit es mir richtig klar wird: Sie haben den Dänen dabei ertappt, wie er unter Korb 175 gegraben hat?«

»Sage ich ja! Der muss mich irgendwann beobachtet haben und neugierig geworden sein. Aber bekommen ist es ihm nicht. Der hatte das Fußbänkchen herausgezogen und war mit dem Oberkörper unter den Strandkorb gekrochen. Verhungerter Kerl, passte da gerade so hinein. Dort hatte er schon schön viel Sand beiseitegeschaufelt. Dabei habe ich ihn erwischt, habe ihn am Nacken gepackt und ihn in sein eigenes Loch gedrückt. Hat nicht lange gedauert, dann hat er aufgehört zu zappeln.«

»Und dann? Haben Sie Ihr Geld bekommen?«

»Eine Scheiße war das! In der Eile hab ich es nicht gefunden. Am Strand entlang kam ein Mann mit Hund gelaufen, von der anderen Seite waren andere Frühaufsteher unterwegs. Da habe ich den Dieb eben nur aus dem Strandkorb herausgezogen, das Fußbänkchen hineingeschoben und Fersengeld gegeben.«

Asmus holte tief Luft. »Wie war das mit dem Boot auf der Helling?«

Frees grinste einfältig. »Hat gut geklappt, nicht? Der Christian ist nicht unrecht, aber manchmal zu schwatzhaft. Er hat bestimmt gemerkt, dass ich ihn warnen wollte. Und Jochim hat einfach Pech gehabt.«

Drei Menschen also, die Jörn Frees auf dem Gewissen hatte.

Noch am Abend fuhren Asmus und Matthiesen zu Rörd Jacobsens Haus in Wenningstedt. Der Bau auf der Klippe bot besonders am Abend eine großartige Aussicht über die Nordsee. Die Sonne stand gerade über dem Horizont, umgeben von weißen Schleiern, und es war noch spektakulärer als bei Asmus’ erstem Besuch.

Aber jetzt wirkte das Haus verlassen. »Der Herr ist abgereist«, sagte das verschreckte Hausmädchen, das den Fliederblütensaft gebracht hatte, und machte einen Knicks, der vermutlich eine Form von Abbitte war.

»Wann und wohin?«

»Gestern, glaube ich.« Sie brach in Tränen aus. »Wohin, weiß ich nicht, das sagt er nie.«

Sie besaßen keinen Durchsuchungsbefehl, suchten sie doch Jacobsen derzeit nur als Zeugen. »Er wird Lunte gerochen haben«, mutmaßte Asmus, während sie das Anwesen innerhalb der Rosenhecke umrundeten, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen. Der Kies auf den Wegen war mit Gras durchsetzt und wirkte ungepflegt. »Womöglich hat Gerrit Ose oder dich doch erkannt und ihn gewarnt.« In der Hecke blühten noch einige Rosen. Ein Gemüsegarten war nicht vorhanden, nur einige im steten Westwind kümmerlich wachsende Pflaumenbäume.

Matthiesen spähte durch einen Spalt im breiten Tor eines Nebengebäudes. »Der Horch ist noch da«, erkannte er glücklich. »Können wir ihn nicht beschlagnahmen?«

Asmus grinste. »Ich glaube nicht. Wir können dankbar sein, wenn wir eine Fahndung nach dem Mann an die anderen Länder geben dürfen. Aber Leute dieser Art haben überall ihre Freunde. Möglicherweise ist der Abgeordnete Bauer einer der Ersten, an den sich Jacobsen wendet. Vermutlich wird er die Hilfe bekommen, die er benötigt. Bauer seinerseits braucht den Erfolg auf Sylt als Abgeordneter, und den bekommt er durch Jacobsen.«