172581.fb2
Lorns Matthiesen war genau der Richtige, um Auskunft über motorisierte Fahrzeuge zu bekommen. Zwei Tage später war Asmus schon Besitzer eines Leichtmotorrads von DKW, mit zweieinhalb PS leistungsschwach, aber vier oder mehr PS hatte er sich nicht leisten können. Das letzte Stück durch die Dünen schob er es ohnehin. Trotzdem war er stolz darauf. Abstellen durfte er es in einem Verschlag der Munkmarscher Werft, der erst mit Tagesanbruch in Anspruch genommen wurde.
Der Werftbesitzer, Hans Christian Bahnsen, war gleich am Abend nach Asmus’ Ankunft mit ihm ins Gespräch gekommen, das ergab sich über den im Wattenmeer ungewöhnlichen Bootstyp eines Kosterbootes von allein. Sie waren einander auf Anhieb sympathisch.
Bahnsen war über sechzig Jahre alt. Sein Sohn, der zum Schiffszimmermann ausgebildet worden war, war im Jahr davor auf See geblieben. Der hätte die Werft übernehmen sollen, nun war der Werftgründer allein zurückgeblieben, und er nahm die selbstauferlegte Pflicht zum Weiterführen des Betriebes auf sich.
Abends saßen sie zusammen auf der Bank am Ufer und blickten auf die Wellen, die im Werftgelände neben dem Hafen mit sanftem Plätschern aufliefen. Austernfischer und andere Watvögel stakten im flachen Wasser und kümmerten sich nicht um die Beobachter. Hans Christian schmökte, und Asmus erzählte. Von der beängstigenden Politik in der Republik, von den Reedereien seiner Brüder, mit denen es unter der sozialistischen Herrschaft zu Ende ging, und seiner eigenen ungerechten Versetzung.
»Mit einer solchen persönlichen Vorgeschichte solltest du auch bei der hiesigen Polizei vorsichtig sein«, warnte Hans Christian ihn unvermutet. »Ich halte Bestechlichkeit oder Unterschleif oder Ähnliches in dieser Dienststelle für möglich. Manche Handlungen bleiben uns einfachen Leuten unerklärlich. Kerle, die wir nicht kennen, aber die ganz eindeutig eines Verbrechens überführt werden könnten, werden laufen gelassen. Arme geborene Sylter Hunde, von denen jeder weiß, dass sie harmlos sind, werden eingebuchtet. Wahrscheinlich hat die Wache ein zahlenmäßiges Soll an Erfolgen zu erfüllen. Zwei Täter im Monat oder so ähnlich. Aber anscheinend immer die falschen.«
Diese Ungereimtheiten wunderten Asmus inzwischen nicht mehr, und er fragte sich, ob auch der angebliche Landstreicher zu dieser Art Aufklärung zu zählen war. »Als ich vor einigen Tagen auf Sylt ankam, wurde ich ganz freundlich in Empfang genommen. Doch als dieser Mart vom Fährhaus erfuhr, dass ich der neue Polizist bin, kannte er plötzlich meinen Namen, und auf einmal war ich der Feind. Ich verstand zuerst nicht, was los war. Aber dann schnitt mich einer seiner Kollegen im Hafen auf die gleiche Art. Jemand muss über mich Gerüchte verbreitet haben.«
»Die Polizei ist eigentlich selten hier. Wir Munkmarscher sind harmlos, aus uns lässt sich nicht genug Honig saugen.«
»Aber?«, fragte Asmus mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ja, in den letzten Tagen ist dieser Oberwachtmeister Jung mehrmals hier im Hafen umhergeschlendert. Er war auch bei Mart und Gustav.«
»Und das bedeutet?«
»Ich schätze, der Postmeister Gustav von Westerland und der Hafenmeister Mart müssen Anweisungen erhalten haben. Über Jung von Sinkwitz.«
»Zu welchem Zweck?«
Der Werftbesitzer zog die Schultern hoch. »Das weiß ich wirklich nicht, Asmus. Es scheint, dass du angekündigt wurdest und sie dir Sylt madig machen sollen. Kannst du dir darauf einen Reim machen? Oder willst du dich gleich versetzen lassen?«
»Nein, heutzutage geht das nicht mehr. Jeder, der eine Stelle hat, ist dafür dankbar und seinen Vorgesetzten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Dass ich störe, ist ja eine bemerkenswerte Information. Jedenfalls Grund genug zu bleiben. Vielleicht ist es die Angst vor Konkurrenz.«
»Wenn es nur das ist … Dieser Jung ist eine zwielichtige Gestalt, hört man. Ich selber hatte mit ihm noch keine Händel.«
»Ich danke dir für deine Offenheit«, sagte Asmus und erhob sich sorgenvoll von der Bank. Die Notsituation veränderte die Menschen. Es war überall das Gleiche. Und was ihn selber betraf, war er kaum den neuen politischen Kräften in Rostock entflohen, um es womöglich mit noch schwierigeren Umständen zu tun zu bekommen.
Als er wenig später von der Mole aus angelte, im Versuch, einen Hornhecht zu erwischen, dachte er darüber nach, was der Werftbesitzer ihm zu verstehen gegeben hatte. Die ganze Wahrheit war es nicht, da steckte noch mehr dahinter. Während er seinen ersten Fisch hochzog, beschloss er, äußerst vorsichtig zu sein. Hier liefen Dinge ab, die sich als Falle erweisen konnten. Und dass man ihn in der Sylter Wache nicht haben wollte, war ihm schon klar.
Da der gesamten Wache nur ein Dienstmotorrad zur Verfügung stand, wurde das neue von Asmus in den Dienst einbezogen. OWM Jung sorgte umgehend dafür, und Asmus konnte kaum nein sagen, bedang sich aber aus, es allein zu fahren.
Versammelt waren im Hof Jung, Matthiesen und Thamsen, die das Fahrzeug aufrichtig oder mit falschem Lächeln bewunderten. Es ließ Asmus gleichgültig, denn damit hatte er gerechnet. Aber nicht damit, dass plötzlich ganz andere Animositäten zu Tage traten, als Thamsen eine Bemerkung zu Matthiesen in einer Sprache machte, die Asmus nicht verstand.
Jung auch nicht, daher wandte er sich erbost an die beiden Untergebenen. »Ihr sollt doch nicht Friesisch im Dienst sprechen!«, schnauzte er. »Amtliche Sprache ist Deutsch!«
»War doch rein privat, Oberwachtmeister«, verteidigte sich Jep Thamsen träge.
»Innerhalb der Polizeiwache seid ihr nicht privat!«
»Was ist eigentlich bei dem Fall ohne Namen herausgekommen?«, warf Asmus ein, um mit einem neuen Thema der beginnenden Schärfe in der Diskussion entgegenzuwirken, wiewohl er gar nicht wusste, warum Jung sich aufregte.
Jung schwieg verdrossen, und Asmus ahnte, dass der Aufklärungsversuch kein Erfolg gewesen war. Immerhin ließ sich Jep zu einer Antwort herab. »Nichts Besonderes. Der Kerl war ein ausgehungerter Landstreicher mit geklauten Schuhen. Er starb einfach, wie so viele sterben. Keine Gewalteinwirkung. Der Fall ist abgeschlossen.«
»Da muss man dann auch nicht mehr draus machen, als dran ist«, fügte Jung hinzu.
Ungeachtet seiner deutlichen Warnung blieb Asmus beim Thema. »Was meinst du mit geklauten Schuhen, Jep?«
»Eine gerade noch lesbare Metallplakette auf dem einen Schuh wies auf eine dänische Schuhfabrik hin. Vielleicht hat er sie ja auch geschenkt bekommen, jedenfalls waren es keine Landstreicherschuhe.«
»Interessant. Woher weiß man denn, dass er ein Landstreicher war?«
»OWM Jung ist der Meinung«, antwortete Jep lakonisch.
Asmus runzelte die Stirn und forschte in Jeps schmalem Gesicht, dessen Rasur ein wenig schlampig ausgefallen war, ob er seine Antwort zynisch gemeint haben könnte. Aber davon war nichts zu erkennen. »Und ihr habt nicht durch den Pathologen untersuchen lassen, woran er gestorben ist? Und festgestellt, ob jemand vermisst wird? Die Sorgfaltspflicht hätte das erfordert.«
»Es gibt hier keinen Pathologen, Asmus«, warf Matthiesen ein.
»Versuchen Sie bloß nicht, uns zu belehren, Asmus«, knurrte Jung übellaunig. »Wir sind erfahrene Polizisten, und Sie fangen ganz unten an!«
Eine halbe Stunde später sah Asmus HWM Sinkwitz im Hof. Bedächtig schritt er um das neue Fahrzeug herum. Wenig später betrat Sinkwitz den Wachraum, wo er Asmus allein vorfand.
»Bourgeoisie bleibt Bourgeoisie, ganz gleich, unter welchen Umständen wir leben, nicht wahr?«, spottete er. »Das Ausbeutereigentum bleibt immer in den gleichen Händen, und wenn es uns schlecht geht, geht es euch immer noch besser als uns.«
Der starke Akzent verriet Asmus, dass Sinkwitz wütend war. »Von wem sprechen Sie? Ich bin Wachtmeister«, entgegnete Asmus gleichmütig. »Ich hatte ein paar Ersparnisse auf der hohen Kante. Und ich hatte außerdem nicht vor, das Geld zu horten, bis ich dafür nur noch ein Brot bekomme.«
»An der Inflation sind ganz allein Ihre Leute schuld, die Kapitalistenklasse«, rief Sinkwitz erregt. »Von wegen Dolchstoßlegende und Kriegsschuldlüge! Die Linken sind weder schuld, dass Deutschland den Krieg verloren hat, noch ist es eine Lüge, unser Land als allein schuldig am Krieg zu verurteilen!«
»Sie kennen meine Meinung doch gar nicht«, meinte Asmus friedfertig. »Hören Sie also auf, mir willkürlich Vorwürfe zu unterstellen. Was die Kriegsschuld betrifft, so ist allgemein bekannt, dass 1914 alle Staaten bis an die Zähne bewaffnet waren und dem Startschuss nur so entgegengierten. Das Attentat in Sarajewo war für Österreich der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Und Deutschland war bedauerlicherweise Bündnispartner und musste eingreifen. Der Attentäter war übrigens Serbe und gehörte der Schwarzen Hand an, einer Geheimorganisation, die ein Großserbien anstrebte. Wenn Sie also einen Schuldigen am Krieg suchen, dann in Serbien.«
Sinkwitz knirschte mit den Zähnen. Augenscheinlich war ihm nicht bekannt, was Asmus aus seinem Blickwinkel berichtete. Sein Blick glitt von seinem Untergebenen ab. »Ich kenne sehr wohl Ihre Meinung. Wären Sie Sozialist, wären Sie nicht strafversetzt worden! Man hatte wohl die Hoffnung, Sie hier in Preußen umerziehen zu können. Preußen ist wenigstens etwas fortschrittlicher als andere deutsche Länder, wie der Matrosenaufstand in Kiel gezeigt hat.«
»So, so.«
»Ich wünschte, wir hätten die Räterepublik durchsetzen können«, knurrte Sinkwitz. »Es wird Zeit, das Grundeigentum der herrschenden Klasse zu enteignen und Kinderarbeit in ganz Deutschland auszurotten!«
Er sprang vom einen zum anderen Thema. Wo war der Zusammenhang zwischen Motorrad und Kinderarbeit? »Kinderarbeit«, wiederholte Asmus ratlos.
»Jawohl«, blaffte Sinkwitz, der schon auf dem Weg in sein Zimmer war, und drehte sich um. »Wissen Sie nicht, dass im Kaiserreich die Fabrikarbeit von Kindern unter dreizehn Jahren fünfzig Jahre später als in Preußen verboten wurde? Fünfzig Jahre! Aber Missstände gibt es noch überall zuhauf!«
Er verstand es, anderen ein schlechtes Gewissen zu machen. Asmus hatte sich darüber noch nicht viele Gedanken gemacht.
Am nächsten Tag schon erhielt Asmus den Befehl, sich in List an der Nordspitze der Insel nach Schmuggelware umzusehen. Wie das denn vor sich ginge, fragte er.
Auf die Schiffe rudern lassen, die im Königshafen auf Reede lägen, und kontrollieren, lautete die Antwort.
Ein solches Verfahren kannte Asmus nicht. Matthiesen war im Außendienst irgendwo in Westerland, bei ihm konnte er sich keinen Rat holen, und alle anderen würden ihn auflaufen lassen.
Also ratterte er mit seinem Motorrad los, jedoch keineswegs nach List, sondern zuerst nach Munkmarsch. Zum Glück traf er Hans Christian an, der sofort bereit war, ihm Ratschläge zu geben. Offensichtlich war er auch nicht ungehalten über die Unterbrechung seiner Arbeit. Sie setzten sich auf die Bank wie üblich, während um sie herum wie gewohnt die Arbeitsgeräusche der Werft ertönten, wenn auch vielleicht etwas dünner als bisher.
»Jemand krank?«, fragte Asmus und sah sich genauer um. »Oder haben die Männer frei?«
Der Werftbesitzer stieß einen tiefen Seufzer aus. Sein graublondes Haar schien grauer als vor ein paar Tagen. »Ich habe zwei meiner Leute Bescheid geben müssen, dass ich sie nur noch einen Monat beschäftigen kann, und auf den Schrecken für heute frei gegeben. Den beiden Jüngsten. Wenn überhaupt jemand, dann sind sie es, die neue Arbeit finden, außerdem sind sie nicht verheiratet und haben keine Familie zu ernähren. Anders käme ich mit dem Geld nicht mehr rum. Du weißt selbst, wie das ist.«
Ja, Asmus wusste es. In den vierzehn Tagen, die er hier auf Sylt war, hatten sich die Preise für Lebensmittel verdoppelt. Er selber fischte und sammelte Miesmuscheln und Austern, um Geld zu sparen. Dabei sehnte er sich nach Kartoffeln und Eiern, aber die waren unerschwinglich. Zum Glück waren die Nächte hell genug, um ihm zu erlauben, nach Dienstschluss zu der kleinen Muschelbank, die er entdeckt hatte, zu rudern. »Es wird schlimmer.«
»Ja, es wird täglich schlimmer. Und wenn der Dammbau beendet ist, wird es mit der Werft ohnehin zu Ende gehen.«
»Tatsächlich?« Asmus hörte es betroffen.
»Ja. Meine Einnahmen beziehe ich vor allem durch die kleinen Reparaturen an der Fähre. Die großen in Husum, die kleinen bei mir. Diese Fährlinie werden sie sofort schließen. Deutsche Gäste, die in verplombten Waggons ein paar Kilometer durch Dänemark fahren müssen, um nicht durch die Pass- und Zollkontrolle über Gebühr aufgehalten zu werden – lächerlich. Die Badegäste der Zukunft kommen über den Wattenmeer-Damm.«
»Und die Fischer?«
»Vielen werden die Zugänge zu ihren gewohnten Fanggründen versperrt. Sie werden ihre Boote nach Hörnum verlegen oder aufgeben.«
»Für alle, die mit und vom Wasser leben, ist der Damm also fatal.«
»Ja. Warum hast du so früh Dienstschluss?«
»Habe ich gar nicht. Ich soll die Schiffe im Königshafen auf Schmuggelware überprüfen, wollte mir aber erst bei dir Rat holen.«
»Hat Jung dich jetzt losgeschickt?«
»Nein, Sinkwitz.«
»Ich dachte mehr an den Zeitpunkt. Wenn du jetzt bei Flut mit der Kontrolle anfängst, kannst du sicher sein, dass alle Schmuggler, die noch Wasser unter dem Kiel haben, Ankerauf gehen. Die erkennen doch von weitem deinen Tschako. Heute am Nachmittag ist das vollkommener Blödsinn.«
»Ah, so.« Daran hatte Asmus nicht gedacht. Warum aber Sinkwitz nicht? Die Antwort konnte nur sein, dass er ihm einen Misserfolg bescheren wollte. »Eine Falle?«
»Möglicherweise.«
Was könnte wohl noch mehr dahinterstecken? Während Asmus nachdachte, merkte er, dass Hans Christian mit etwas anderem beschäftigt war. Ganz vorsichtig spähte er über den Hafen. Asmus drehte sich um.
»Nein, lass dir nichts anmerken«, warnte der Werftbesitzer. »Beuge dich vor und rede auf mich ein. Stütz dein Gesicht in deine Hand.«
»Warum? Was beschäftigt dich denn?«
»Dort drüben ist dein Vorgesetzter Sinkwitz. Ist gerade mit dem Motorrad eingetroffen.«
»Nanu.«
»Eben. Wenn es dienstlich wäre, hätte er dich bitten können. Stattdessen schickt er dich bei Flut nach List. Das gibt zu denken.«
»Was macht er jetzt?«
»Er betritt die Fahrkartenausgabe. Ganz sicher hat er nicht vor zu verreisen.«
»Nein, er hat morgen Frühdienst.«
»Los, hau ab!«, zischte der Werftbesitzer. »Nimm den Tschako ab und misch dich unter meine Leute.«
Wenige Augenblicke vergingen, in der sich Asmus die Kopfbedeckung unter den Arm klemmte. Dann fühlte er Hans Christians Hand, die ihn wieder auf die Bank herunterdrückte.
»Zu spät. Mart scheint nicht im Dienstzimmer zu sein. Sinkwitz kommt schon wieder heraus.«
»Du willst sagen, dass er mich nicht nur auflaufen lassen, sondern mich aus dem Weg haben wollte. Und jetzt darf er mich nicht sehen.«
Bahnsen kicherte ein helles Altmännerlachen. »Um dich hier gut zurechtzufinden, musst du noch einiges lernen. Aber es geht schnell, wie ich merke.«
»Danke. Ich höre das gelegentlich. So richtig nützt es mir nichts. Ich habe das Gefühl, hier in einer fremden Welt zu sein.«
»Stimmt. Sylt ist anders als die anderen Inseln und erst recht als das Festland. Die Sprache und die Sitten unterscheiden uns von anderen. Manche Friesen sind darauf stolz. Ich fürchte, es könnte uns eines Tages schaden, vor allem, wenn immer mehr Fremde einwandern. Vielleicht verjagen sie uns Friesen dann, eben weil wir anders sind.«
»Meinst du das?« Asmus bekam allmählich hohe Achtung vor seinem neuen Freund und zweifelte nicht an dem, was er sagte.
»Ja. Die Zugewanderten sind in allen Geschäften erfahrener als wir. Plötzlich erlassen Gemeinden neue Bestimmungen, an die wir nie dachten, dann wird eine Musikhalle errichtet, oder es entsteht ein neues Haus oder ein Restaurant auf einem Kliff, in den Dünen oder auf der Heide, wo unsereiner nie bauen würde. Viele Landbesitzer und die meisten Gemeinden högen sich über die dämlichen Fremden, die großzügige Angebote zum Landerwerb abgeben, und halten die Hand auf. Wir Übrigen gucken verblüfft zu. Die Schäden, die mit dem erschlichenen Bauland angerichtet werden, werden erst Jahre später für alle zu sehen sein. Von wegen dumme Fremde! Schlau sind sie, manchmal richtige Gauner. Diese Entwicklung ist nicht gut, gar nicht.«
Dem konnte Asmus aus vollem Herzen zustimmen. Jeder Anwohner hatte gesehen, wie in Mecklenburg aus ärmlichen Stranddörfern Badeorte geworden waren mit Promenaden, Kurhallen und Brücken, die sich weit in die See zogen. Der Berliner Dialekt überwog zuweilen das Platt der Einheimischen. Dazu waren die Fremden häufig frech und setzten sich mit ihrer schnodderigen Sprache gegen die etwas trägen Mecklenburger durch.
»Mart biegt um die Ecke. Dumm. Denn er hat dich natürlich längst gesehen.« Hans Christian schwieg einen Augenblick, bevor er weiter berichtete. »Pech auf der ganzen Linie. Sinkwitz ist schon informiert. Er dreht sich um und späht her, vergewissert sich wohl, dass du es bist.«
»Dann bin ich jetzt sofort wieder im Dienst«, stellte Asmus fest, setzte den Tschako auf und verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung vom Werftbesitzer. Kurze Zeit später saß er schon auf seinem Motorrad und knatterte davon. Zurück zur Dienststelle.
Als kurz nach Asmus auch Sinkwitz eintraf, saß Asmus vor einer Seekarte und einem Tidenkalender, die er studierte. »Ich muss Sie falsch verstanden haben, Hauptwachtmeister«, bemerkte er. »Ich wäre ja bei Hochwasser in List gewesen. Ich habe mich jetzt erst einmal von einem Kenner der Gewässer beraten lassen. Morgen Vormittag wäre die beste Zeit.«
Sinkwitz drückte die Zigarette, die er wie üblich so weit geraucht hatte, dass er sie kaum noch halten konnte, auf dem Aschenbecher neben Asmus aus. »Ja, da haben Sie natürlich recht. Und ich erachte es als selbstverständlich, dass Sie selbst ausrechnen, wann es mit dem Wasser am besten passt. Jeder verantwortet, was er tut.«
»Natürlich, Herr Hauptwachtmeister«, stimmte Asmus höflich zu.
»Bahnsen ist ein erfahrener Mann. Aber er hat seine Grenzen. Friesen kennen nur Sylt. Nehmen Sie nicht alles, was er daherplaudert, für bare Münze.«
»Natürlich nicht, Herr Hauptwachtmeister.«
Als Sinkwitz davongeschlendert war, atmete Asmus durch und ließ sich die Sache nochmals durch den Kopf gehen. Sinkwitz hatte derart selbstverständlich geklungen, dass er ihm gar nichts Konkretes vorwerfen konnte. Höchstens Gedankenlosigkeit. Er selber war unter dem Sturm neuartiger Erfahrungen durch die Kehrtwende der Politik offensichtlich zu misstrauisch geworden.
Im Kaiserreich aufgewachsen, die Schulbildung in einem Herzogtum durchlaufen, einen Krieg erlitten, nach dem die Reparationszahlungen das Land in den Abgrund trieben, die jungen Erfahrungen mit einer Republik, in der sich Deutschnationale und Sozialisten mit Kommunisten Wortgefechte lieferten, Putsche, galoppierende Inflation und persönliche Degradierung – das alles musste jeden verwirren, ihn genau wie andere.
Asmus beschloss, zukünftig geduldiger und nachsichtiger zu sein. Und öfter das Maul zu halten, wenn es mit ihm durchgehen wollte. Er hätte es sich als Leiter einer Dienststelle auch nicht gefallen lassen, von einem neuen Mitarbeiter des untersten Dienstgrades belehrt zu werden.