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Am nächsten Morgen hatte Asmus’ Motorrad an beiden Reifen Platten. Der Schuppen war zwar zu, aber nie verschlossen. So ein Ärgernis! Asmus bückte sich und suchte nach den Gründen. Zerschnitten mit einem entsprechenden Gegenstand. Scharfkantige Steine, die sich auf seinem Rückweg zusammengerottet hatten, um ihn zu ärgern, schieden aus.
Asmus wanderte zu Bahnsens Wohnhaus hinüber, der beim Frühstück saß und ihn zu einer Tasse Tee einlud.
»Rührei auch, Herr Asmus?«, fragte seine Frau, die am Küchenherd stand.
Asmus dankte verlegen. Sah sie ihm etwa an, dass er Hunger hatte? In den letzten Tagen war er nicht mal zum Fischen gekommen. Und Eier zu sammeln verbot sich in Oses Gegenwart von selbst.
»Es ist genug da, Herr Wachtmeister. Greifen Sie zu«, ermunterte ihn die Hausfrau.
»Brandganseier«, erklärte Bahnsen. »Die kann man frisch essen, du brauchst keine Sorge zu haben. Die Möweneier verursachen manchmal Durchfall. Deswegen wird die große Masse hartgekocht und dann im Wasserglas eingelegt. So halten sie sich über Winter und taugen allemal zum Backen.«
»Die Sammelzeit ist bald vorüber. Die ersten angebrüteten habe ich schon dem Schwein hingeworfen. Kommen Sie, Herr Asmus …«
Bei so viel nettem Zureden mochte Asmus nicht weiter ablehnen. Er bekam einen großen Teller Rührei vorgesetzt, wie er bei ihm auf dem Boot zu zwei Mahlzeiten hätte ausreichen müssen.
Bahnsen seufzte behaglich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Du bist natürlich nicht wegen des Frühstücks hier. Es ist also etwas passiert.«
»Ja. Meine Reifen wurden heute Nacht zerschnitten«, berichtete Asmus, während er das letzte Fett mit einem Brotkanten auftunkte und den Teller sauberwischte.
»Hm«, brummte Hans Christian nachdenklich. »Ist es dasselbe wie bei mir? Eine Warnung? Bist du jemandem so gefährlich nahe gekommen, dass er dir einen kleinen Denkzettel verpassen möchte?«
»Das versteht sich. Inzwischen bin ich wohl schon aufgefallen. Ich könnte mir solche Aktionen von verschiedenen Seiten denken, das ist das Problem.«
»Aufgefallen, ja. Seit der Sache mit den Alkoholschmugglern wissen sie, dass du zugreifst, wenn du Gesetzesverstöße erkennst. Und niemand, der dich kennengelernt hat, würde dir unterstellen, dass du bei entsprechender Bezahlung ein Auge zudrückst. Das unterscheidet dich von anderen.«
Asmus holte tief Luft. So schwierig hatte er sich den Neuanfang auch für einen redlichen Polizisten nicht vorgestellt. Im Gegenteil, er hatte lustlos die ihm zugeteilten Aufgaben erledigen wollen, mehr nicht. Was er wahrscheinlich sowieso nicht fertiggebracht hätte. Aber nun stellte sich obendrein allmählich heraus, dass er und ein junger Wachtmeister das Gesetz zu vertreten hatten, mehr oder minder gegen die Wünsche ihrer Vorgesetzten. »Ja, das mag alles sein. Im Augenblick ist das Wichtigste, dass ich wieder fahrfähig werde. Ich wollte dich fragen, wie der junge Mann heißt, der den Arzt holte und der Motorräder reparieren kann.«
»Oh, das ist Jon, der Sohn des ehemaligen Müllers. Er wohnt allein in der Abnahme zur Mühle, die sie haben stehenlassen. Hinter dem Hügel.«
»Dann weiß ich Bescheid. Ich wollte ihn bitten, die Reifen zu flicken, ich hoffe, er kann es.«
»Kann er. Er hat eine kleine Werkstatt. Außerdem ist er gerade entlassen worden, er wird sich über jeden Auftrag freuen.«
»Entlassen?«
»Ja, jüngster Angestellter in einem Keitumer Betrieb und unverheiratet. Ihm geht es wie vielen anderen. Ich würde ihn in normalen Zeiten sofort genommen haben. Erfahrung mit Maschinen und Motoren wird heutzutage immer wichtiger, auch bei kleinen Booten.«
»Dann wäre er wohl in normalen Zeiten nicht entlassen worden, wenn ich dich recht verstehe.«
»Ganz bestimmt nicht. Er ist tüchtig.«
»Dann mache ich mich jetzt zu ihm auf, bevor er womöglich ausfliegt.« Asmus schob den Stuhl zurück und verbeugte sich vor der Hausfrau. »Herzlichen Dank, Frau Bahnsen, heute haben Sie mich vor dem Hungertod errettet. Ich musste mich in mein neues Arbeitsgebiet einarbeiten und konnte nicht regelmäßig zum Fischen ausfahren, obwohl ich gerne mal einen Wolfsbarsch gefangen hätte.«
»Ich habe bemerkt, dass du die Jolle nicht bewegt hast«, brummelte Bahnsen.
»Das dachte ich mir. Man erkennt seine Pappenheimer an den Festmacherknoten.« Asmus winkte beiden zu und verließ das Haus.
Die Abnahme war winzig. Asmus betrat sie gar nicht, denn Schleifgeräusche leiteten ihn sofort in die noch kleinere Werkstatt.
Auf Jons weißblonden Haaren lag ein grauer Schimmer von Schleifstaub. An Nägeln in den Bretterwänden waren Werkzeuge akkurat aufgehängt, und der Fußboden war auch in den Ecken gekehrt.
Der junge Mann stellte den lärmenden Generator ab, als er Asmus bemerkte.
»Moin, moin, Jon«, grüßte Asmus, »ich hoffe, du kannst einen kleinen Auftrag von mir annehmen. Meine Reifen wurden aufgeschlitzt.«
»Moin auch, Niklas. Das kann sofort losgehen. Wo steht das Motorrad?« Jon hängte eine Feile an ihren Platz und schob den Schleifstaub mit den Händen zusammen, bevor er ihn in einem Blecheimer versenkte.
»Im Schuppen von Bahnsen.«
»Es ist hier passiert?«, fragte Jon erstaunt.
»Ja. Warum? Ist da etwas Merkwürdiges dran?«
»Das Anstechen geht ja im Nu. Deshalb hätte ich eher vermutet, es wäre passiert, während du durch die Dünen wanderst, zum Beispiel, und dein Motorrad unbeaufsichtigt herumsteht. Das Schieben eines solchen Gerätes von List nach Munkmarsch wäre nicht gerade ein Spaß gewesen.«
»Und hätte noch für Lacher gesorgt.«
»Auch das.«
»Ein Dummejungenstreich«, wiegelte Asmus ab, obwohl man ihn auch als den zweiten Anschlag ansehen konnte, der auf Bahnsens Werft stattgefunden hatte.
»Meinst das?«
»Ja«, beteuerte Asmus, nicht ganz aufrichtig.
»Und was war mit Jochims Unfall? Ich war an Deck des Bootes, Asmus. Metallspäne von der Säge lagen immer noch am Waschbord. Und warum die Banderole?«
Der Disput mit Jon gefiel Asmus. Beim näheren Hinsehen hatte er übrigens bemerkt, dass Jon so jung auch nicht mehr war, ein paar Jahre jünger als er selber, aber nicht mehr im Lehrlingsalter. »Ja, gut. Der Unfall war ein Anschlag. Das Reifendurchstechen dagegen harmlos. Man könnte trotzdem meinen, dass der Attentäter in beiden Fällen der gleiche ist und in der Nähe wohnt.«
»Oder auch nicht. Er kann mit der Eisenbahn gekommen sein. Ich habe beisammen, was ich brauche. Wir können los.«
Asmus hatte nicht darauf geachtet, was Jon zusammengepackt hatte, aber je schneller er an die Arbeit ging, umso besser. Er öffnete die Tür. »Hast du einen Bestimmten im Sinn? Es hörte sich so an.«
»Am Tag als Jochim verunglückte, sah ich hier herum einen sehr kurz geratenen dürren Fremden. Wegen seines albernen Arbeitsanzuges fiel er mir auf. Der erweckte nämlich nicht den Eindruck, als ob er sich jemals die Hände schmutzig gemacht hatte.«
»Aber das war nicht das Einzige, das dich wunderte?«
»Nein, das war die Nebensache. Die Hauptsache war, dass er anscheinend nur nach Munkmarsch kam, um mit Mart zu sprechen. Er stieg zusammen mit den aus Sylt abreisenden Kurgästen aus der Eisenbahn und ging mit ihnen ins Fahrkartenbüro. Kurz darauf legte die Fähre vom Festland an, er mischte sich unter die angekommenen Gäste, bestieg mit ihnen zusammen den Zug und fuhr wieder zurück nach Westerland. Er hatte ein kleines Köfferchen wie ein frisch angekommener Gast dabei.«
»Er hat also irgendwo ein Zimmer gemietet«, meinte Asmus mit abwesendem Blick, während er versuchte, einen Vergleich zwischen diesem verdächtigen Kerl und dem aus Flensburg zu ziehen. Wegen des in beiden Fällen auffallenden Arbeitsanzuges konnte es sich gut um einen und denselben Mann handeln, aber die Möglichkeit brachte Asmus auch nicht weiter. »Danach hast du ihn nicht mehr gesehen, oder?«
Jon gab ein verlegenes Lachen von sich. »Ja, doch. Gestern.«
»Wieder dasselbe Spiel?«
»Nein, ich glaube nicht. Ich dachte, er wäre dieses Mal wirklich mit der Fähre abgereist.«
»Du dachtest. Jetzt nicht mehr?«
»Doch, doch.«
»Verdächtig ist es schon«, nahm Asmus den Gedanken auf. »Zumal ich selbst einen Mann kenne, der deiner Beschreibung entspricht, ein Agitator, zumindest ein Kommunist aus Sinkwitz’ Bekanntenkreis. Der arbeitet in einer Flensburger Werft. Ihm habe ich einen Inselverweis erteilt.«
»Passt irgendwie.«
»Ja, es könnte passen. Trotzdem wüsste ich nicht, was die Kommunisten gegen mich haben könnten. Ich komme ihnen doch nicht in die Quere! Ich jage Diebe von Stranddisteln und Dünenrosen.«
Jon zuckte mit den Schultern, zog das Motorrad aus dem Schuppen und nahm seine Arbeit auf.
An diesem Tag konnte Asmus das Motorrad nicht mehr benutzen, der Kautschuk auf den Schnittstellen musste trocknen. Und der Zug nach Westerland, der mit der Morgenfähre den Hafen verließ, war weg.
Asmus entschloss sich deshalb, am Ufer entlang zu Oses Elternhaus zu wandern. Sie hatte wohl inzwischen gemerkt, dass die heutige Verabredung aus irgendeinem Grund ins Wasser gefallen war, aber den Grund wollte er ihr doch mitteilen. Einen Augenblick blieben seine Gedanken bei ihr. Dann merkte er plötzlich selbst, dass er lächelte, worauf er das alberne Grinsen sofort einstellte.
Er machte einen kurzen Besuch auf seinem Boot, um sich in Zivil umzuziehen. Auf keinen Fall würde er mit dem Tschako am Ufer entlang laufen. Womöglich sahen die ohnehin angriffslustigen Seeschwalben dann noch einen weiteren Grund, ihn zu attackieren. Wer wusste schon, welcher politischen Fraktion die angehörten?
Das Wasser lief ab. Einzelne graue Austernschalen und Miesmuscheln knirschten unter Asmus’ Holzpantinen, weiter draußen im Watt stakten die Austernfischer an der Wasserkante entlang, und der Wind fächelte sanft in seinen Haaren.
Asmus setzte sich auf die Uferkante neben einen Priel, um seine Hosenbeine hochzukrempeln. Auf dem Rückweg würde er Queller pflücken, der in der Bucht bis Keitum wuchs, wiewohl es sich sonst meist um Sandboden handelte. Den würde er als Salat zu den Miesmuscheln essen, die er sich nach seiner Rückkehr mit Bahnsens Jolle von der Muschelbank holen würde. Er musste nur aufpassen, rechtzeitig zurück zu sein, damit die Bank noch zugänglich war.
So plötzlich wie ein Regenschauer bei Sonnenschein niedergeht, spürte Asmus, dass der leichte Wind in seinen Nackenhaaren von einem unangenehmen Stechen abgelöst wurde. Keinem echten, natürlich nicht, es war Einbildung. Für ihn als Kriminaloberinspektor war es jedoch stets ein Alarmsignal gewesen: Jemand beobachtete ihn.
Wie von ungefähr drehte er sich ein wenig, stellte seine Schuhe auf dem Gras neben sich ab und ließ seinen Blick unauffällig durch das Tal zwischen Munkmarsch und Keitum, dem Klentertal, wandern. In der Nähe des höher gelegenen Karrenweges weideten schwarz-weiße Rinder, unterhalb von ihnen glänzten Wasserlöcher, und in seiner Nähe verstellten ihm Gräser, Strandwegerich, graue Wermutblätter und Strandastern die freie Sicht.
Er sah niemanden. Wahrscheinlich lag der Kerl in einem ausgetrockneten Priel, der gerade tief genug war, um einen Mann zu verbergen.
Aber der heimliche Beobachter verstärkte natürlich den Verdacht, dass vor allem er, Asmus, der Störenfried auf der Insel war. Er staunte, wie schnell es ihm gelungen war, sich Feinde zu machen.
Eine Viertelstunde später stand er in Oses Haustür. Er wunderte sich, die Erleichterung in ihrem Gesicht zu sehen, obwohl er sich nur um wenige Stunden verspätet hatte.
»Nichts passiert«, sagte Asmus schnell, um sie zu beruhigen. »Ich muss mir gestern an einem scharfkantigen Stein einen Reifen zerschnitten haben. Der ist repariert und trocknet inzwischen. Morgen sind wir wieder fahrbereit, das Motorrad und ich.«
»So, so«, merkte Ose mit gerunzelter Stirn an.
»Ja, bestimmt. Ich wollte dir Bescheid sagen, damit du dich nicht wunderst.«
»Das hast du jetzt erreicht.«
»Ich muss zurück, um mein Abendessen zu beschaffen«, erklärte Asmus unbehaglich. Ihm war selbst nicht klar, warum er sich so befangen fühlte.
»Ich habe eine andere Idee«, flocht Ose ein, bevor er sich richtig erklären konnte. »Die Muscheln bekommst du von uns, mein Bruder hat gestern zwei Eimer geholt. Für dich wäre es vielleicht wichtiger, einmal bei einer Parteiversammlung dabei zu sein, bei der es im Hinblick auf Bauvorhaben um die nächste Wahl geht. Heute findet eine statt, die öffentlich ist. Die meisten Mitglieder oder Interessenten sind Kaufleute und mit der Großindustrie verbandelte …«
»Rechtfertigung für den Dammbau?«, riet Asmus.
»Ja, genau!« Ose grinste. »Ich glaube, denen fehlt bisher jemand wie du.«
»Und du?«
»Nein, ich kann nicht mitkommen! Die Saalordner würden mich gar nicht hineinlassen.«
»Saalordner?«
»Gibt es hier längst. Nicht selten hagelt es durch Andersdenkende Vorwürfe oder matschige Kartoffeln, und deshalb wird am Eingang gesiebt.«
»Meine Güte! Aber du hast schon recht, interessieren würde es mich.«
»Das dachte ich mir. Ich bringe dich hin.«
Die Versammlung der DNVP, der Deutsch-Nationalen Volkspartei, fand in der Gaststätte Zum Halligfliederspitzmausrüsselkäfer statt, deren Name einer Marotte des ersten Besitzers entstammte. Üblicherweise wurde dieser Zum Rüsselkäfer abgekürzt, wie Ose Asmus erklärte. Es handelte sich um ein kleines Klinkergebäude am Ostrand von Westerland, in Sichtweite der Dünen vor Munkmarsch.
Die Teilnehmer strömten bereits ins Haus, lauter gediegen aussehende Männer mit Hüten, die sie noch auf der Treppe absetzten.
»Ich verschwinde jetzt«, raunte Ose Asmus zu. »Wenn sie mich erkennen, wissen sie gleich, wes Geistes Kind du bist, und niemand wird mit dir reden wollen.«
»Mm«, murmelte Asmus abgelenkt. Ein Mann, der eine rote Armbinde mit Hakenkreuz am Oberarm trug, hatte sein Interesse gefunden. Die NSDAP, Partei der Nationalsozialisten, und ihr Ableger, die DVFP, mit dem gleichen Symbol, waren offiziell verboten. Aber auch Jung hatte von ihr gesprochen, als ob sie ganz legal sei.
»Die DNVP ist mir sowieso zu konservativ«, flüsterte Ose noch, dann war sie fort.
Asmus wurde von der Menge geschluckt, die mittlerweile in den Saal drängte. Auf einen Stuhl verzichtete er zugunsten eines Stehplatzes an der Wand, wo er Platz fand zwischen einem jungen Mann, der den Eindruck eines neugierigen Gastes machte, und einem älteren Einheimischen, dessen Hose über dem gestreiften Hemd von Hosenträgern gehalten wurde. Mit seinen lehmverschmierten Holzpantoffeln wirkte er unter Kaufleuten fehl am Platz. Wie Asmus selber, der auch Holzpantinen trug. Glücklicherweise war er nicht in Uniform und sah mit seinem blonden Haar so friesisch aus wie sein hosenträgerbewehrter Nachbar.
Es gab auch andere, die keine Friesen waren. Asmus wandte hastig sein Gesicht ab, als er Ferdinand Schröder erkannte, der als einer der letzten in den Saal schlüpfte und höflich mit großer Geste auf einen frei gebliebenen Platz in der Mitte der Reihen gewinkt wurde. Vermutlich hatte er genau solches Aufsehen vermeiden wollen.
Der Asmus nicht bekannte Redner – er mochte der Bürgermeister oder ein Kaufmann oder beides sein – trat ans Pult. »Leeve Landslüd, liebe Landsleute«, begann er, »zugunsten all derjenigen, denen Plattdeutsch nicht so geläufig ist – und ihrer gibt es gottlob viele, Sylt wird nicht aussterben –, werde ich fortan Hochdeutsch sprechen und bitte auch alle, die sich mit einem Beitrag melden, dies zu tun.«
Als das leise Gelächter verstummt war, sprach er tragend weiter. »Wie wir alle wissen, verdanken wir das täglich wachsende Elend auf unserer geliebten Insel Sylt den unsäglichen Bedingungen des Versailler Vertrages, den die Verräter von Zentrum und SPD unterzeichnet haben. Hinzu kommt die tägliche Hetze wegen unserer angeblich alleinigen Kriegsschuld, immer wieder von den Kommunisten vorgetragen. Ich weiß mich mit euch allen einig, die ihr diese hochverräterische Einstellung verabscheut.«
Der Flensburger vielleicht ausgenommen, dachte Asmus, während die Versammlung in frenetisches Klatschen ausbrach.
»Umso schlimmer sind diese Störaktionen, weil sie fast täglich mit Dingen vermischt werden, die unsere wichtigsten Einnahmen betreffen, das Geschäft, das wir gerade mit Kraft wieder zu beleben suchen: den Fremdenverkehr in allen seinen Facetten. Vom Hotelier über den Kaufmann bis zum Betrieb, der Kutschfahrten unternimmt.«
Der Jüngling neben Asmus, in Knickerbockern und losem Kittelhemd, meldete sich.
»Ja, bitte? Zwischenfragen sind gern gestattet, sagte ich das schon?«
Alle drehten sich zum Fragesteller um. Asmus versuchte vergeblich, sich zu verstecken, schließlich fummelte er ziellos in seinem Gesicht herum, um es einigermaßen zu verdecken.
»Aus allen Ecken der Republik kommen seit mehreren Jahren Meldungen über Judenfreiheit von Stränden. Oder die Anschläge an Hotels: Juden und Hunde dürfen hier nicht herein. Wie hält es die Sylter DNVP damit?«, fragte der Mann, der sich allein durch seine ungewohnte Sprache als Gast aus dem Süden zu erkennen gab. »Die DNVP gilt als antisemitisch.«
Tiefes Schweigen senkte sich über die Versammlung, in der es vorher wegen Räuspern, Husten, Füßescharren und anderen Begleitgeräuschen nie ganz lautlos zugegangen war.
»Das spielt bei uns keine Rolle«, antwortete der Redner etwas mühsam.
»Sollte es aber, Herr Müller! Kriegs- und Inflationsgewinnler gehen uns alle an!«, geiferte der Mann mit der Hakenkreuzbinde. »Davor schützt uns nur die NSDAP!«
»Du bist hier in der falschen Versammlung, Böhrnsen«, rief jemand, den Asmus nicht sehen konnte, und einige klatschten zum Einverständnis.
»Böhrnsen hat doch recht. Lasst ihn sprechen«, hörte Asmus aus dem Durcheinander heraus, das sich zwischen Anhängern und Gegnern der DNVP entwickelte, aber schnell abebbte.
»Ich möchte zur Sache kommen«, erhob der Redner die Stimme, um unverzüglich fortzufahren. »Wir haben längst nicht die Gästezahl wiedergewonnen, wie wir sie vor dem Krieg hatten. Wir brauchen mehr und bessere Angebote, um sie herzulocken. Was wir ausreichend haben, sind Lesesäle und Räumlichkeiten für Konzerte. Was wir brauchen, sind Spielsäle in Kombination mit neuen und moderneren Bars, Restaurants und Cafés. Mit anderen Worten, es bietet sich eine Erweiterung des Kurhauses an.«
Ein elegant gekleideter Herr aus der vordersten Bankreihe erhob sich und erhielt das Wort. »Bitte, Rörd Jacobsen, deine Meinung.«
Asmus erkannte ihn sofort.
Für Jacobsen, wieder in einem eleganten grauen Anzug aus weichem Stoff, war die Vorzugsbehandlung offenbar eine Selbstverständlichkeit. »Im Bäderführer Westerland wird unser Musikpavillon unverblümt als altmodisch geschildert. Seitdem wir das Sinfonie-Orchester von Flensburg als Kurkapelle engagiert haben, sollten wir den Pavillon der Qualität der Musiker anpassen. Er muss neu oder zumindest umgebaut werden, am besten wieder in eine Musikmuschel, wie wir sie vor dem Krieg hatten und die viel Anklang fand.«
Die Kaufleute in seiner nächsten Nähe nickten zögernd.
»Mit anderen Worten, meine Herren«, fuhr der Hauptredner fort, als Jacobsen sich setzte, ohne eine Diskussion abzuwarten: »Investitionen in großem Stil sind gefragt.«
»Aber wie denn, Herr Müller? In dieser Wirtschaftssituation!«
Müller lächelte überlegen. »Neue Investoren stünden zur Verfügung.«
»Unter welcher Bedingung?«, rief ein Vorwitziger.
»Der Vorbehalt ist, dass bei der Reichstagswahl im nächsten Jahr die Sylter Wahlergebnisse den Fortbestand konservativer Meinungen widerspiegeln.«
Ein weiterer Mann erhob sich aus der ersten Reihe, hob die Hände und klatschte, was von der Menge, die ihn offenbar kannte, aufgenommen wurde.
»Ich begrüße unseren Abgeordneten Günther Bauer!«, rief Müller emphatisch. »Unser Überraschungsgast für heute.«
»Ihr wollt nur keine SPD!«, brüllte jemand von hinten, den der Abgeordnete nicht kümmerte.
»Richtig! Mit denen wären wir im Nu bei Verboten von Bauvorhaben, seien es ein weiterer Damm, eine Brücke oder der Ausbau des Flughafens.«
»Ganz davon zu schweigen, dass man den Reichen auf die Finger klopfen würde, die mit Beziehungen ihre Sommerhäuser illegal in den schönsten Gebieten bauen lassen. In Hörnum wird schon wieder geplant …«
Dieser Zuruf wurde von Parteimitgliedern und Sympathisanten mit eisigem Schweigen bedacht. Ein einziges bedächtiges Klatschen erhob sich in der Stille, das von dem Mann in Knickerbockern neben Asmus kam. Schmunzelnd reckte er den Hals und suchte nach dem Zwischenrufer, als ob er ihn kenne. Dann nickte er ihm zu.
»Damit bedanke ich mich für das lebhafte Interesse und wünsche guten Heimweg«, rief Redner Müller in den anschwellenden Lärm hinein, der durch die aufflammenden Diskussionen und das Zurückschieben der Stühle entstand.
Das Letzte, das Asmus sah, war, dass Müller sich mit dem Abgeordneten Bauer in eine Unterredung vertiefte und Jacobsen sich ihnen zugesellte. Zu dritt führten sie offenbar ein wichtiges Gespräch, das Asmus seltsam vorkam, weil einige Saalordner sie abschirmten.