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Über den Böen, die durch seine Takelage heulten, hörte er das Klappern eiliger Holzschuhe, die näher kamen. Vermutlich Mart.
Kurz darauf das erwartete scharfe Klopfen auf den Bug. So klangen Befehle oder Maßregelung. »Asmus! Du sollst so schnell wie möglich nach Westerland in deine Dienststelle kommen.«
Asmus stellte das Luk hoch, um hinauszusehen, und kniff vor dem Wind die Augen zusammen.
»Befehl von Sinkwitz persönlich. Hat gerade angerufen«, setzte Mart schnaufend fort.
»Was ist passiert?«
»Hat er nicht gesagt. Aber er hörte sich sehr komisch an.«
»Ich liebe komische Situationen. Ich mache mich sofort fertig.« Obwohl er eigentlich frei hatte.
»Das Fahren wird kein Spaß heute«, setzte Mart fort und grinste gehässig.
»Nein. Danke, Mart.«
Ein wenig enttäuscht, weil Asmus sich nicht reizen ließ, machte sich Mart wieder auf den Rückweg zum Gasthof.
Als Asmus sich endlich zu seiner Dienststelle durchgeschlagen hatte, wurde er bereits von seinem ungeduldigen Kollegen Matthiesen erwartet. »Komm mit«, sagte der knapp. »Wir haben Probleme.«
Es war nicht weit. In der schmalen Durchgangsstraße neben dem Polizeirevier standen Sinkwitz, Jep und zwei Sanitäter. Ein Motorrad lag quer zur Fahrbahn, daneben ein Ast von Armstärke, augenscheinlich abgebrochen aus dem einzigen Baum, der nach dem Bau eines Nachbarhauses hier noch stehengeblieben war. Von einer Wolldecke abgedeckt der Fahrer.
»Wir müssen …, Herr Sinkwitz«, erinnerte der Sanitäter, dass es nun Zeit wurde.
»Schon gut. Wachtmeister Asmus ist ja jetzt angekommen.« Dann wandte Sinkwitz sich an Asmus. »Sehen Sie sich den Verunglückten mal an.«
Nebenher registrierte Asmus, dass sein Chef bleich wie ein Leintuch war. Ohne Umschweife schlug er die Decke über dem Toten zurück. Dieser trug eine Motorradhaube und Brille, trotzdem erkannte er ihn sofort. »Ferdinand Schröder.« Dessen Kleidung troff von Wasser.
»Ich wollte nur, dass Sie selbst ihn sehen«, sagte Sinkwitz.
»Aha«, meinte Asmus lakonisch, um nochmals zu bestätigen, dass es sich um den Flensburger handelte.
»Ja, das ist bekannt.«
Dass Sinkwitz auf diese Bestätigung gar keinen Wert legte, verwunderte Asmus. Weshalb war er dann gerufen worden?
»Sie können ihn jetzt wegbringen.« Dieser Befehl galt dem Sanitäter.
Der nickte und rief dann mit einer verstohlenen Kopfbewegung Asmus zu sich heran. Dann öffnete er die leichte, zum Wetter nicht passende Jacke am Hals des Verunglückten. »Sehen Sie das Hämatom?«, raunte er. Asmus nickte, sehr wohl registrierend, dass der Sanitäter von Sinkwitz abgewandt sprach. »Der Ast muss im Sturm gegen die Kehle des Mannes gedonnert sein. Dann ist er auf dem Pflaster ausgerutscht und hat sich den Hals gebrochen.«
So war es vorstellbar. Asmus nickte und erschrak, als das Motorrad ihm ins Auge fiel. »Ist es etwa das Motorrad der Wache?«
Sinkwitz nickte mit düsterer Miene. »Genau.«
Die Räder des Fahrzeugs waren derart demoliert, dass es nach einem Totalschaden aussah.
»Gestohlen«, vermutete Matthiesen und versuchte mit nasser Kreide die Umrisse des Fahrzeugs auf das Pflaster zu malen, nachdem er vorher schon die des Toten festgehalten hatte, so gut es ging.
Sinkwitz bat Asmus in seinen Arbeitsraum, und Asmus wunderte sich. Jep Thamsen hatte Dienst, Matthiesen durfte Feierabend machen, weil er Nachtdienst gehabt hatte.
»Das Motorrad können wir abschreiben«, grummelte Sinkwitz mit einem verärgerten Seufzer.
»Der Schaden ist bemerkenswert groß«, stimmte Asmus zu und meinte damit eigentlich, dass er unverhältnismäßig hoch war angesichts dessen, was augenscheinlich passiert war. »Als ob jemand nach dem Unfall draufgeschlagen hätte.«
Der Hauptwachtmeister schwieg.
»Wie ist Schröder überhaupt an das Motorrad gekommen?«
Sinkwitz verzog die Lippen. »Er hat den Schlüssel zum Schloss gestohlen. Er hängt ja hier am Haken.«
»Er war also hier in Ihrem Raum?«
»Muss er wohl.«
»Waren Sie denn auch da?«
»Jetzt reicht’s aber, Herr Wachtmeister! Sie haben wohl vergessen, wer Sie sind!«
Asmus war der Versuchung erlegen, ein Verhör zu führen. Im Journal des Wachhabenden waren auch die Besucher aufgeführt, deshalb wäre es von Sinkwitz sinnlos gewesen, Schröders Anwesenheit zu bestreiten. Stattdessen hatte er den Chef herausgekehrt. »Was wollen Sie denn von mir?«, fragte Asmus.
»Sie behaupten doch immer, das Ermitteln sei Ihre Stärke. Stellen Sie fest, was passiert ist. Warum das Motorrad eines Unfallopfers hinterher demoliert wurde. Ich möchte wissen, ob die Mitglieder der kommunistischen Partei auf Sylt in besonderer Gefahr schweben.«
»Und Husum?«
Sinkwitz winkte ab. »Es ist ein Unfall. Dafür sind wir selbst zuständig.«
»Ich gehe gleich an die Arbeit«, versprach Asmus. Schröder interessierte ihn persönlich, nachdem er ihn schon fast der Sabotage auf der Werft verdächtigt hatte. Die Gasse war inzwischen durch Bänder gesperrt worden, das Motorrad und der Ast lagen da wie vorher. Abgerissene Ästchen und Laub wirbelten im immer noch scharfen Wind wie in einem Kanal vor Asmus her, torkelten an den Hauswänden entlang und verschwanden schließlich am Ende der Straße.
Asmus blieb unter der Linde stehen und sinnierte ins Geäst hoch. Er konnte die helle Bruchstelle des Astes nahe am Stamm erkennen, die sich an der Luvseite des Baums befand. Allerdings wäre es wahrscheinlicher gewesen, er wäre nach dem Bruch im Geäst hängen geblieben und allmählich am Stamm hinuntergerutscht. Wie hatte er sich daraus lösen und dem Motorradfahrer entgegenwehen können?
Schröders Umrisse waren gegen den Wind gut einen Meter vor dem Baum zu sehen, wobei zu unterstellen war, dass er in Fahrtrichtung dorthin hingerutscht war. Asmus rief sich das Hämatom vor Augen, auf das ihn der Sanitäter aufmerksam gemacht hatte: quer über den Kehlkopf und insbesondere den Adamsapfel. Übrigens hatte es gewiss eine eigene Bedeutung, dass ihm und nicht seinem Chef die Verletzung vorgeführt worden war.
Asmus benötigte nicht lange, um die Lage zu beurteilen: Es war technisch unmöglich, dass der Ast Schröder waagerecht gegen den Wind entgegengekommen war – es sei denn, eine Hand hätte diesen Ast geführt. Anschließend war der Ast benutzt worden, um die Räder des Motorrads und dessen Lampe zu demolieren, was nach ungezügelter Wut aussah.
Asmus blieb einen Moment im geschützten Eingangsbereich der Polizeiwache stehen, um ein wenig mehr Klarheit über die Tatsachen zu gewinnen, die er seinem Vorgesetzten gleich zu präsentieren hatte.
Ohne Vorrede verkündete Asmus kurze Zeit später das Wichtigste seiner Ermittlung: »Ferdinand Schröder ist das Opfer eines Hinterhalts geworden. Der Ast gegen seine Kehle wurde geführt, aber ob es ein Streich sein sollte, ein Unfall, Totschlag oder Mordanschlag, lässt sich daraus nicht entnehmen.«
»Ich habe es befürchtet«, murmelte Sinkwitz in sich hinein. »Die Nazis machen sich immer breiter, auch auf Sylt.«
»Seit ihrem Verbot treten sie wenig in Erscheinung«, widersprach Asmus. »Von den Kommunisten werden hingegen aus allen Gegenden der Republik Störaktionen gemeldet.«
Sinkwitz maß ihn mit einem verächtlichen Lächeln. »Was wissen Sie denn davon? Für unsereinen wird das Leben mit jedem Tag gefährlicher. Ihnen ist nicht klar, dass der Täter mich gemeint haben könnte? Gelegentlich benutze ich nach Dienstschluss das Motorrad. Hingegen nur sehr zufällig ein Dieb.«
Daran hatte Asmus allerdings nicht gedacht. Für Sinkwitz’ Annahme sprach immerhin auch, dass Schröder jetzt als Verdächtiger im Werftattentat ausgeschieden war. »Wir sollten Anzeige gegen Unbekannt erstatten.«
»Nein, das lassen wir lieber«, warf Sinkwitz hastig ein. »Es bleibt offiziell bei einem Unfall, und Sie können in aller Stille weiter ermitteln, das wollten Sie doch die ganze Zeit. Draußen in den Naturschutzgebieten ist ja nicht viel zu tun.«
Asmus nickte und salutierte. Kurz bevor er gehen wollte, klingelte das Telefon, das an der Wand neben der Tür hing.
Sinkwitz sprang auf, nahm ab, meldete sich und lauschte. »Schädelbruch. Primäre Quetschung der Kehle«, wiederholte er entgeistert. »Mit großer Wucht, ich verstehe. Danke. Ein Gärtner wird den Baum absägen.«
Als ob der Baum Schuld hatte. Asmus ging. Er hatte genug gehört.
Seltsamerweise würde er für seine Arbeit jetzt noch mehr Freiheit erhalten als vorher schon, was allerdings nicht als Vergünstigung gedacht war. Er fragte sich allmählich, ob Sinkwitz geglaubt hatte, in Gefahr zu sein. Hatte er damit gerechnet, einen erfahrenen Ermittler zu benötigen, der Husum unbekannt, hingegen in gewisser Weise von ihm abhängig war?
Um diesen Gedanken weiterzuspinnen: Hatte Sinkwitz für diesen Fall geglaubt, Asmus kaufen zu können, indem er die Anzeige wegen Möweneierdiebstahls unter den Tisch fallen ließ? Ein noch gröberer Versuch, Asmus gefügig zu machen, war allerdings die versteckte Drohung gewesen, Schröder könnte für einen weiteren Eintrag in Asmus’ Personalpapieren sorgen.
Jetzt war diese Gefahr zwar vorbei, aber wusste man, ob die Beschuldigung nicht noch nachträglich auftauchen würde? Die Vorsorge, ein entsprechendes Papier bereitzuhalten, war Sinkwitz zuzutrauen.
Asmus fühlte sich allmählich wie in einer Schlangengrube. Er brauchte Luft!
Für seinen Rückweg gönnte sich Asmus den Umweg an der Promenade entlang. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, und die Luft roch frisch, trotzdem war die Zahl der hier Flanierenden nicht vergleichbar mit denen an seinem ersten Sylter Tag mit Matthiesen. Damals hatten die umherschlendernden Gäste Zeit gehabt, mit einheimischen Kindern oder Hunden volksnahe Worte zu wechseln, sie hatten Einkaufstüten mit dem Aufdruck bekannter amerikanischer oder französischer Modehersteller zur Schau gestellt und sich in den Schaufenstern gespiegelt, um sich von ihrem guten Aussehen zu überzeugen.
Heute waren die Straßen ohne jeden Zweifel weniger belebt. Gewiss zogen die Gäste die Konsequenzen. Vor allem natürlich aus den unaufhaltsam steigenden Preisen, mit denen sie bei ihrer Ankunft nicht hatten rechnen können. Aber auch aus dem Wetter, das im nördlichen Norwegen kaum schlechter hätte sein können. Die Kollegen erinnerten sich nicht an solche Sommersintfluten in den letzten Jahren, und das bei anhaltender Kälte.
Ose sei im Garten und grabe frühe Kartoffeln aus, teilte ihre Mutter Asmus mit, worauf sie ihn dann zur Hintertür hinausließ und ihm Oses Rücken zeigte.
Es war ein großer Garten: Neben der Klöntür die Zisterne, dahinter Reihe um Reihe mit Grünzeug verschiedener Sorten – identifizieren hätte er es nicht können –, und quasi vor den abfallenden Dünen und dem Meer im Hintergrund hockte Ose. Zur Nordseite schloss sich der Obstgarten mit Apfel- und Pflaumenbäumen an.
»Deine Mutter hat mich hierher geschickt«, sagte Asmus leise und etwas verlegen.
Ose blickte zu ihm hoch. »Das will ich doch hoffen. Ist heute früh wieder etwas passiert? Weil du nicht gekommen bist.«
»Ja. Ein Unfall am Polizeirevier.«
»Im Sturm?«
»Na ja, es scheint so.«
»Bei Archsum sind in der Marsch drei Schafe ertrunken, die sich nicht auf höheres Land retten konnten. Wer nicht viel mehr Gehirn als ein Schaf hat, kann schon mal bei viel Wind verunglücken.«
»Hm«, grunzte Asmus. »Ist es normal, dass Schafe ertrinken?«
»Eigentlich nicht. Aber der Sturm kam so schnell, und in der Dunkelheit konnten sie wohl vom Bauern nicht mehr gefunden werden. Aber nun lenke nicht ab. Es ist also kein Unfall gewesen«, schloss Ose. »Komm, wir setzen uns und unterhalten uns darüber.«
Zwar wollte Asmus das eigentlich nicht, aber da es ohnehin keine offizielle Angelegenheit war, und Ose überdies als Einheimische über Kenntnisse verfügte, die ihm nicht zugänglich waren, war er einverstanden. Er folgte ihr zu einer Sitzbank in der Südwestecke des Gartens, die sich in einem aufrecht gestellten und umgebauten alten Ruderboot mit plattem Boden befand. Er grinste. Sehr windgeschützt, diese ungewöhnliche Sitzbank.
»Dein Freund Ferdinand Schröder ist tot«, begann Asmus. »Sinkwitz behauptet, er habe den Schlüssel zum Schloss des Motorrads der Wache gestohlen, dazu die Motorradhaube und die Brille, und sei losgefahren. Nach einem tätlichen Angriff auf ihn verunglückte er in der Gasse neben dem Polizeirevier. Sinkwitz glaubt, es könne sich um eine Verwechslung handeln.«
»Mit ihm oder mit dir?«
»Mit mir? Darauf wäre Sinkwitz nicht gekommen. Ich auch nicht.«
»Wieso nicht? Was war mit dem Reifen, der dir angeblich unterwegs kaputtgegangen war, ohne dass ich etwas bemerkt habe?«
Asmus schmunzelte. So leicht ließ Ose sich nicht hinters Licht führen, was er im Übrigen auch gar nicht vermutet hatte. »Du hast schon recht. Beide Reifen waren mir in der Nacht zerstochen worden. Augenscheinlich habe ich einige Leute verärgert, aber das ist normal. Jedenfalls ist es ein himmelweiter Unterschied zu einem Anschlag, bei dem ein Knüppel mit großer Wucht gegen den Kehlkopf eines Motorradfahrers geführt wird. Ich vermute, Schröder war auf der Stelle ohnmächtig und verlor dann die Herrschaft über das Fahrzeug.«
»Wer sollte ausgerechnet ihn ermorden wollen?«
»Ich weiß es nicht. Aber da Schröder hier nicht wohnhaft war, kann es keine persönliche Feindschaft sein. Du hast mir erzählt, dass er sich in Versammlungen eingeschlichen hat und später Gespräche mit Teilnehmern führte. Es wäre interessant zu erfahren, worum es dabei ging.«
»Ich weiß es nicht«, insistierte Ose, »aber ich könnte versuchen, dir einen Gesprächspartner zu vermitteln, der es dir wahrscheinlich berichten würde, wenn ich mich für dich einsetze.«
»Ja, bestens. Wer ist das?«
»Ich werde ihn fragen, ob er einverstanden ist, dann erfährst du seinen Namen. Nicht jeder möchte mit einem erfolgreich durchgreifenden Polizisten gesehen werden. Für gewöhnlich wird Außenstehenden gegenüber Verschwiegenheit gewahrt.« Ose ergriff den Korb mit Kartoffeln und nahm Kurs auf die Doppeltür.
Asmus beeilte sich, den anderen Henkel zu packen, um ihr beim Tragen zu helfen. »Wie lange bleibe ich etwa Außenstehender?«
»Schlimmstenfalls für immer. Wenn es gut geht, kommst du mit dreißig Jahren davon.«
»Nun, gut. Dann habe ich noch etwas Zeit. Ich fahre jetzt erst einmal nach Munkmarsch zurück. Eigentlich habe ich keinen Dienst.«
»Guten Fang«, wünschte Ose schmunzelnd. »Drei Kartoffeln könnte ich dir mitgeben. Und einen Ratschlag: Ein paar Blätter des Strandwegerichs zusammen mit den Kartoffeln gebraten, dazu die Blaumuscheln … Das ist sehr lecker.«
»Danke«, sagte Asmus zögernd. »Aber ich möchte die Kartoffeln lieber nicht, es könnte mir als Bestechung ausgelegt werden. Ich wurde bereits wegen Diebstahls von Möweneiern angezeigt.«
»Möweneier?« Ose blieb stehen und sah ihn unter Stirnrunzeln an. »Doch nicht im Ernst!«
»Doch. Sinkwitz hat die Anzeige entgegengenommen.«
Ose schüttelte entschieden den Kopf. »Einem Sylter würde das nicht einfallen.«
Bisher hatte Asmus der Anzeige nicht viel Beachtung geschenkt. Jetzt war er neugierig, wenn nicht sogar ein wenig misstrauisch geworden. Sollte ein Gast ihn angezeigt haben? Er nahm sich vor, es bei nächster Gelegenheit zu überprüfen.
Am Mittag des nächsten Tages nahm Ose Asmus zur Keitumer Schule mit, die am Ostende des Dorfes in der Nähe vom Tipkenhoog lag, einem jahrhundertealten Hügel mit unbekanntem Inhalt. Unter ihnen befand sich das Kliff, auf der anderen Seite des Weges eine Bockmühle und nicht weit davon entfernt eine stattliche Holländermühle.
Honke Paulsen, der Lehrer der Schule, wusste, worum es ging, und er war bereit, Asmus Auskunft zu geben.
Wie sie durch die offen stehende Tür im Flur der Lehrerwohnung am Ostende des Schulgebäudes sehen konnten, saß er am Klavier und übte ein Lied ein. Die junge Haushälterin neben ihm versuchte mehrmals den richtigen Ton zu treffen, was ihr schließlich ein erleichtertes Nicken von Paulsen eintrug. Noch erleichterter als er, zog sie sich angesichts des Besuches sofort zurück.
»Singt Martha etwa nicht gern?«, flüsterte Ose.
»Sie backt besser.« Paulsen erhob sich, offenbarte dabei, dass er trotz seines jugendlichen Alters bereits einen Spitzbauch hatte, und gab Asmus lächelnd die Hand. »Sie wollen wissen, was Herrn Schröder in die Schule trieb.«
Asmus nickte. »Sehr gerne. Er ist verunglückt, und unsere Aufgabe ist, einen zusammenfassenden Bericht über sein Tun auf Sylt nach Flensburg zu schicken.«
»Ach so. Ich kannte Herrn Schröder gar nicht, aber neulich kam er zusammen mit den Eltern zur Elternversammlung. Ich weiß nicht, woher er erfahren hatte, wann wir uns treffen wollten. Er stellte sich mit Verbeugung und Handschlag vor«, erklärte Paulsen. »Und er gab mir keinen Grund, ihn abzuweisen. Jeder Bürger ist frei, sich zu informieren, wie es in einer öffentlichen Schule auf Sylt zugeht. Vielleicht will er herziehen, vielleicht hat er Kinder in einer Flensburger Schule und will vergleichen … Was weiß ich.«
»Sehr tolerant«, murmelte Asmus anerkennend.
»Er hatte auch danach alle Zeit der Welt. Er wartete im Flur, bis die letzten Eltern gegangen waren, dann klopfte er an die Tür und schaute ins Schulzimmer, wo ich gerade die Schultafel abwusch.«
»Und dann?«
»Er fragte sehr höflich, ob ich ihm einige Minuten widmen könnte. Er erkundigte sich nach den Arbeitsbedingungen der Eltern. Ob sie alle Bauern seien, zum Beispiel. Ob es Landarbeiter gäbe. Wer am Hungertuch nage.«
»Interessant«, bemerkte Asmus.
»Eigentlich weniger«, widersprach Paulsen. »Keitum war seit der Walfangzeit recht wohlhabend, und die Kapitäne und Seefahrer sorgten für ihre Nachkommen vor. Außerdem haben wir zwei Mühlen, ein Kolonialwarengeschäft, zwei Pastoren, einen Arzt, einen Lehrer. Im Allgemeinen gut situierte Menschen. Und nur wenige Landarbeiter.«
»Was für Sie bedeutet?«
»Keitum ist kein Ort, in dem die KPD Wahlen gewinnen könnte, denn darauf wollte Herr Schröder doch wohl hinaus. Aber hier wählen wir anders. Wir haben besonders viele Bürger, die der Deutschen Demokratischen Partei zuneigen. Nach Rathenaus Ermordung haben wir uns hier in der Schule zu einem kurzen Gedenken an ihn versammelt. Den Sozialdemokraten hängen auch etliche an. Wir sind durch und durch liberale Anhänger der Weimarer Republik.«
Richtig bürgerlich, dachte Asmus überrascht.
»Bemerkenswert, dass Schröder auch weniger ruppig sein konnte«, stellte Ose spitz fest. »So wie er sich mir gegenüber verhielt, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass er Feinde hatte.«
»Mehr ist über Schröders Besuch von meiner Seite nicht zu sagen«, meinte Paulsen abschließend und deutete mit gespreizten Fingern auf sein Klavier. »Ich würde gerne weiterspielen. Martha ist in dem neuen Lied noch nicht firm. Wir wollen es morgen mit den Kindern einüben …«
Ose wandte sich schon zur Tür. Asmus aber war noch nicht zufriedengestellt. »Ist Schröder noch einmal wiedergekommen?«
»Nein«, sagte Paulsen nachdrücklich mit allen Anzeichen von Ungeduld.
»Fällt Ihnen im Zusammenhang mit seinem Besuch vielleicht noch etwas ein?«
»Nein! Oder …, ja doch. Wenn Sie Herrn Böhrnsen meinen …«
Asmus wandte sich an Ose. »Ist das nicht der mit der Nazibinde?«
Ose nickte.
»Der wollte dasselbe wie Sie, Wachtmeister Asmus. Fragen, warum Schröder hier war, der doch gar keine Verwandten auf Sylt hat. Im Gegensatz zu ihm. Ich habe in meiner Schule zwei Böhrnsen-Enkel.«
»Was haben Sie ihm geantwortet?«
»Dasselbe wie Ihnen. Und ihm außerdem erklärt, dass die KPD auch für mich nie in Frage kommen würde. Er wusste es natürlich vorher schon. Deswegen hatte er einen Beutel mit kleinen Nazifähnchen mitgebracht, ausreichend für die ganze Schule, und packte sie mir auf mein Pult.«
»Die Partei ist doch verboten.«
»Er weiß es, aber er meinte, das Verbot würde nicht lange bestehen bleiben. Hitler sei ein rühriger Mann. Wollen Sie die Fahnen mal sehen?«
»Gerne. Und warum haben Sie sie angenommen?«, erkundigte sich Asmus, während sie dem Lehrer durch den Flur zu einer weiteren Tür folgten.
Paulsen schloss die Tür zu einer Abstellkammer auf. Über seine Schulter hinweg fragte er: »Haben Sie wie alle aufmerksamen Beobachter festgestellt, dass die gegenwärtigen Unruhen in ganz Deutschland stets durch Kommunisten hervorgerufen werden, die sich mit anderen anlegen: in unserem eigenen Parlament in Kiel mit SPD-Abgeordneten, mit Feuerwehrleuten, mit dem Selbstschutz von Gewerkschaften, mit den Vertretern der öffentlichen Ordnung und so weiter? Sind Sie dafür, dass es so weitergeht? Ich nicht.«
Die Abstellkammer war vollgepackt mit Exponaten und Lehrmitteln für den Schulunterricht. Neugierig musterte Asmus Vogeleier in Nestern, ein ausgestopftes marderartiges Tier auf einem Holzbrett, einen Fuchs, dem das Alter große Löcher im Fell verpasst hatte. Paulsen ergriff ein Bündel Papierfahnen mit Hakenkreuz, für das er beide Hände benötigte. Wahrscheinlich konnten sich die Eltern der Kinder davon auch noch bedienen.
»Sie hoffen also darauf, dass die NSDAP den Kommunisten Einhalt gebieten kann?«, fragte Asmus, um Paulsens Meinung für sich zu klären.
»Wenn überhaupt jemand, dann die NSDAP, ja«, bestätigte Paulsen unerschrocken. »Alle anderen Parteien sind zu schwach. Mir wäre lieber, sie wären’s nicht, aber dieses Chaos muss schließlich beendet werden.«
»Ja, die Zukunft sieht düster aus«, stimmte Asmus zu und reichte Paulsen die Hand. »Vielen Dank für Ihre offenen Worte.«
Als sie draußen und außer Hörweite waren, fasste Asmus zusammen: »Schröder hat offenbar die Leute einzeln bearbeitet, um sie als Wähler der KPD zu rekrutieren. Wer ist eigentlich Böhrnsen?«
»Boy Böhrnsen hat ein Fuhrunternehmen. Er bietet Gästen Kutschenfahrten auf ganz Sylt an, in die Dünen, zu den Stränden, zu den Leuchttürmen, Häfen und wo immer sie hinwollen.«
»Hm«, murrte Asmus. Unter diesen Umständen war ihm klar, dass dieser Mann auf der Seite der Kaufleute stand. Ein Gespräch mit ihm würde schwierig sein. Aber es musste sein.