172584.fb2 Der Verr?ter von Westminster - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

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KAPITEL 11

Vom Deck der Fähre blickte Narraway nach Westen. Mit einem Gefühl von Dankbarkeit und Erleichterung sah er, wie die vertraute Küste Irlands am Horizont versank, ohne dass ein Boot der Polizei oder Küstenwache die Verfolgung aufnahm. Zumindest einige Stunden lang konnte er seine ungeteilte Aufmerksamkeit der Frage zuwenden, wie es nach dem Anlegen in Holyhead weitergehen sollte. Am nächstliegenden wäre es natürlich, den ersten Zug nach London zu nehmen, der von dort fuhr – doch was, wenn andere das voraussahen und ihn festnehmen ließen, kaum, dass er eingestiegen war? Wenn er sich hingegen länger am Ort aufhielte, gäbe das womöglich jenen, die vermutlich nach wie vor darauf brannten, ihn zu fassen, eine Gelegenheit, mit einem leichteren und schnelleren Boot die Irische See zu überqueren und ihn in ihre Gewalt zu bringen, bevor er Hilfe herbeiholen konnte.

Charlotte, die neben ihm stand, war erkennbar erschöpft. Obwohl nach wie vor der Ausdruck tiefer Besorgnis auf ihren Zügen lag, erschien sie ihm schön. Der allzu glatten Vollkommenheit schon lange überdrüssig, vertrat er die Ansicht, wer auf den Anblick einer vollkommenen Komposition von Farbe, Proportionen, glatter Haut und ebenmäßigen Gesichtszügen aus war, möge sich Kunstwerke ansehen, von denen es auf der

Eine wirkliche Frau strahlte Wärme aus, war verletzlich, kannte Ängste und Sorgen. Natürlich hatte sie auch Schwächen – wie könnte sie sich sonst liebevoll mit denen eines Partners abfinden? Ein Mensch ohne Lebenserfahrung war ein Gefäß, das darauf wartete, gefüllt zu werden, denn es war leer, auf wie herrliche Weise auch immer es gefertigt sein mochte. Für einen Menschen voll Mut oder Leidenschaft ging Erfahrung mit einem gewissen Maß an Schmerz, begangenen Fehlern, gelegentlichen Fehleinschätzungen und dem Bewusstsein erlittener Verluste einher. Wie reizend junge Frauen eine Zeit lang auch sein mochten, sie langweilten ihn schon bald.

Zwar war er durchaus an Einsamkeit gewöhnt, doch mitunter schmerzte ihn ihre drückende Last so sehr, dass er sich ihrer stets bewusst war. So wie in Irland und auch jetzt, da er neben Charlotte an Deck stand und sah, wie ihr der Wind das Haar aus den Haarnadeln zerrte und ins Gesicht blies.

Sie hatte ihm bereits berichtet, was sie über Fiachra McDaid, Talulla Lawless, John Tyrone und das Geld in Erfahrung gebracht hatte. Die Dinge lagen äußerst kompliziert. Narraway hatte sich die Zusammenhänge zwar teilweise aus O’Caseys Erklärungen zusammengereimt, aber ohne zu verstehen, welche Rolle Talulla darin spielte. Sie hätte Cormac O’Neil wohl kaum Vorhaltungen gemacht, wenn ihr Fiachra McDaid nicht eingeredet hätte, ihre Eltern seien schuldlos gewesen. Natürlich hätte sie Narraway trotzdem noch mit Vorwürfen überschüttet, aber das war durchaus verständlich. Seine Schuld an Kates Tod war ebenso groß wie die irgendeines anderen, denn dieses Ende war vorhersehbar gewesen. Er hatte gewusst, was Sean für sie empfand.

Was hätte Cormac O’Neil Talullas Ansicht nach unternehmen können, um ihren Vater, Sean O’Neil, vor dem Galgen

Aber selbstverständlich würde Talulla das nicht so sehen, weil sie es sich nicht leisten konnte. Sie brauchte ihre Wut, und die ließ sich nur rechtfertigen, wenn sie ihre Eltern als Opfer ansah.

Und Fiachra McDaid? Narraway hätte sich wegen seiner Blindheit ohrfeigen können. Wie falsch er den Mann doch eingeschätzt hatte, der seinen leidenschaftlichen irischen Nationalismus hinter seinem Eintreten für die Entrechteten aller Völker verborgen hatte. Je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm alles. Wie sonderbar, dass hinter einer vorgeschobenen allumfassenden Liebe häufig die Bereitschaft stand, ungerührt einen, zehn oder zwei Dutzend Menschen zu opfern! Fiachra McDaid schien ausschließlich die Vorzüge zu sehen, die mit einer größeren gesellschaftlichen Gerechtigkeit und der Unabhängigkeit Irlands einhergingen – um welchen Preis das Land sie errang, interessierte ihn offenbar nicht. Er war ein Träumer, der offenen Auges über Leichen ging, ohne sie zu sehen. Hinter seinem charmanten Auftreten lag Eiseskälte. Narraway musste sich eingestehen, dass McDaid bemerkenswert raffiniert vorgegangen war. Dem Buchstaben des Gesetzes nach hatte er sich keine Straftat zuschulden kommen lassen, und sofern ihn der Arm der Justiz je erreichte, würde das aus einem anderen Grund geschehen.

Narraway sah erneut zu Charlotte hinüber. Als sie es merkte, wandte sie sich ihm zu.

»Weit und breit ist niemand zu sehen«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln. »Ich glaube, wir sind in Sicherheit.«

Das Bewusstsein, dass sie sich in seine Flucht mit einschloss, erfüllte ihn mit einer inneren Wärme, von der ihm sogleich aufging, dass sie lächerlich war. Er führte sich auf wie ein Zwanzigjähriger.

»Jedenfalls bis jetzt«, stimmte er zu. »Aber wenn wir in Holyhead in den Zug steigen, wäre es besser für Sie, in einen anderen Waggon einzusteigen als ich. Auch wenn ich bezweifle, dass jemand nach mir Ausschau hält, aber unmöglich ist das nicht.«

»Wer denn?«, fragte sie, als verwerfe sie den Gedanken. »Niemand könnte vor uns dort ankommen.« Noch bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: »Und sagen Sie mir nicht, dass die Leute Ihre Flucht vorausgesehen haben. In dem Fall hätten sie Mittel und Wege gefunden, sie zu verhindern. Sehen Sie den Tatsachen ins Gesicht: Man wollte Sie da an den Galgen bringen, denn das wäre die vollkommene Rache für Seans Hinrichtung gewesen.«

Er zuckte zusammen. »Sie nehmen wirklich kein Blatt vor den Mund.«

»Fällt Ihnen das erst jetzt auf?«, fragte sie mit einem feinen Lächeln.

»Natürlich nicht. Aber diese Äußerung war sogar für Sie bemerkenswert.«

»Es ist ja auch eine bemerkenswerte Situation«, sagte sie. »Jedenfalls für mich. Finden Sie es aufdringlich, wenn ich Sie frage, ob Sie so etwas oft machen?«

»Charlotte!« Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar und wandte sich ab, um ihr seine Rührung nicht zu zeigen. Ihm war klar, dass es sie in Verlegenheit bringen

»Tut mir leid«, sagte sie rasch.

Verdammt, fluchte er innerlich. Er war nicht schnell genug gewesen.

»Ich weiß, dass die Sache ernst ist«, fuhr sie fort, womit sie offensichtlich etwas gänzlich anderes meinte.

Erleichterung überkam ihn und unsinnigerweise zugleich Enttäuschung. Wollte wirklich ein Teil seines Wesens, dass sie es erfuhr? Dann musste er es unbedingt unterdrücken, denn es würde zu einer schwierigen Situation zwischen ihnen führen, die keiner von beiden je würde vergessen können.

»Ja«, stimmte er zu.

»Werden Sie Ihr Büro in Lisson Grove aufsuchen?« Jetzt klang ihre Stimme besorgt.

»Nein. Es ist mir lieber, wenn die da nicht wissen, dass ich wieder in England bin, und erst recht nicht, wo.«

Er erkannte die Erleichterung auf ihrem Gesicht. »Es gibt nur einen Menschen, dem ich in jeder Hinsicht zu vertrauen wage, und das ist Vespasia Cumming-Gould. Ich werde eine oder zwei Stationen vor London aussteigen, um sie anzurufen. Wenn ich Glück habe, bekomme ich sie gleich an den Apparat. Andernfalls werde ich mich irgendwo einmieten und warten, bis ich mich mit ihr in Verbindung setzen kann.«

Seine Stimme wurde leise und eindringlich. »Und Sie sollten nach Hause gehen. Für Sie besteht keine Gefahr. Falls es Ihnen aber lieber ist, könnten Sie zu Vespasia gehen. Vielleicht ist es sogar besser, Sie hören sich erst einmal ihre Meinung an.« Während er das sagte, fiel ihm ein, dass er nicht das Geringste über Pitt wusste, nicht einmal, ob er in Sicherheit war. Möglicherweise war es grausam, Charlotte zurück in ein Haus zu schicken, in dem sich niemand außer einem ihr noch

»Ein guter Gedanke«, sagte Charlotte und drehte sich wieder um, weil sie den Möwen zusehen wollte, die über dem schäumenden Kielwasser des Schiffs kreisten. So standen sie beide schweigend nebeneinander, in die Betrachtung der endlosen rhythmischen Bewegung des Wassers und der weißen Schwingen der Vögel versunken.

Es war längst dunkel, als Narraway Vespasia endlich erreichte. Erst als er ihre Stimme hörte, die ein wenig verzerrt durch die Leitung kam, merkte er, wie groß seine Erleichterung war, mit ihr sprechen zu können.

»Victor! Wo um Himmels willen steckst du?«, wollte sie wissen, um sogleich hinzuzufügen: »Nein, sag es lieber nicht. Bist du in Sicherheit? Und Charlotte auch?«

»Ja, wir sind beide in Sicherheit«, antwortete er. Sie war seit seiner Kindheit die einzige Frau in seinem Leben, der gegenüber er sich je zur Rechenschaft verpflichtet gefühlt hatte. »Wir sind nicht weit von dir entfernt, aber es schien mir ratsam, erst mit dir zu sprechen, bevor wir den letzten Abschnitt der Reise zurücklegen.«

»Lasst das lieber sein«, gab sie zurück. »Es wäre weit besser, wenn ihr einen bestimmten Ort aufsuchtet, den wir nicht nennen wollen. Dort können wir uns treffen. Seit deiner Abreise ist viel geschehen, und es steht noch sehr viel mehr bevor.

»Wer leitet jetzt die Abteilung?«, erkundigte er sich. Obwohl er in einer sehr behaglichen Halle eines Hotels in der Nähe des Bahnhofs stand und immer wieder nach links und rechts blickte, um sich zu vergewissern, dass niemand mithören konnte, kroch ihm die Kälte in die Glieder. »Charles Austwick?«

»Nein«, antwortete sie. »Das war nur eine Zwischenlösung. Thomas ist aus Frankreich zurück. Seine Reise dorthin war völlig ergebnislos. Man hat Austwick durch ihn ersetzt. Er arbeitet jetzt in deinem Büro und ist todunglücklich.«

Einen Augenblick lang war Narraway so verblüfft, dass er keine Worte fand, jedenfalls keine, die sich für Lady Vespasias Ohren oder die Charlottes, wenn sie in der Nähe gewesen wäre, geeignet hätten.

»Victor?«, kam Vespasias Stimme.

»Ja … ich bin noch dran. Was … was wird da gespielt?«

»Das weiß ich nicht«, gab sie zu. »Aber ich fürchte sehr, dass man ihn mit dieser Aufgabe betraut hat, weil er der Ungeheuerlichkeit, die da offenbar geplant wird, auf keinen Fall gewachsen wäre. Er hat mit dieser Art von Führungsposition nicht die geringste Erfahrung, besitzt weder die Hinterhältigkeit noch die scharfe Urteilskraft, die nötig wären, um unumgängliche harte Entscheidungen zu treffen. Außerdem gibt es dort niemanden, dem er vertrauen könnte. Das zumindest ist ihm bewusst. Ich habe Grund zu befürchten, dass er dort entsetzlich allein ist. Das dürfte der Absicht desjenigen entsprechen, der diese Situation geschaffen hat …«

»Du willst damit sagen, dass man ihn als Verantwortlichen ausersehen hat, dem man die Schuld aufbürden kann, wenn der Sturm losbricht?«, sagte Narraway voll Bitterkeit.

»Ganz genau.« Ihre Stimme zitterte ein wenig. »Wir müssen dem unbedingt einen Riegel vorschieben, nur weiß ich nicht so recht, auf welche Weise. Mir ist nicht einmal bekannt, was die Leute planen, aber es muss etwas Unvorstellbares sein.«

Lady Vespasia war ein ganzes Stück älter als er und unbestreitbar tapfer. Niemand, den er kannte, hatte mehr Mut bewiesen als sie. Sie war klug und nach wie vor schön, doch allmählich wurde auch sie alt und war bisweilen sehr allein. Mit einem Mal begriff er ihre Verletzlichkeit, die darauf zurückging, dass sie neben zahlreichen Freunden auch jene Menschen verloren hatte, die sie einst leidenschaftlich geliebt hatte. Mit einem Mal sah er in ihr nicht mehr die Dame der Gesellschaft, die kraft ihrer Persönlichkeit in ihren Kreisen den Ton angab, sondern eine Frau, der die Einsamkeit ebenso wenig erspart geblieben war wie ihm.

»Erinnerst du dich noch an den Gasthof, wo wir vor etwa acht Jahren gemeinsam mit Somerset Carlisle einen köstlichen Hummer zu Mittag gegessen haben?«, fragte er.

»Ja«, kam ihre Antwort ohne das geringste Zögern.

»Dort sollten wir uns so bald wie möglich treffen«, sagte er. »Bring bitte Pitt mit …«

»Ich werde spätestens um Mitternacht da sein.«

»Du willst mit ihm mitten in der Nacht herkommen?«, fragte er verblüfft.

» Was sonst!«, sagte sie scharf. »Willst du etwa bis zum Frühstück warten? Sei nicht albern. Reserviere lieber drei Zimmer für den Fall, dass uns noch Zeit zum Schlafen bleibt.«

Die letzten Worte hatte sie in zögerndem Ton gesagt.

» Vespasia?«

Sie stieß einen leichten Seufzer aus. »Ich möchte dich nicht kränken, aber da ich vermute, dass du von … nun ja, von dort, wo du warst, geflohen bist, wirst du wohl nicht viel Geld haben und möglicherweise auch nicht in der gewohnt eleganten Garderobe auftreten. Daher dürfte es sich empfehlen, den Leuten meinen Namen zu nennen, so, als wenn du die Reservierung für mich vornähmest. Sag ihnen auch, dass ich gleich bei der Ankunft zahlen werde. Das ist sicher besser, als wenn du einen anderen Namen angibst – auf keinen Fall deinen oder den von Thomas.«

»Charlotte war so vorausblickend, in Dublin meinen Koffer zu packen, so dass ich alles an Kleidung habe, was ich brauche«, sagte er und war zum ersten Mal seit längerer Zeit belustigt.

» Wieso das?«, fragte Vespasia kühl.

»Sie musste die Pension verlassen, in der wir Quartier genommen hatten«, erläuterte er, nach wie vor lächelnd. »Da sie mein Gepäck nicht einfach dalassen wollte, hat sie es mitgenommen. Wenn du mich schon nicht besonders gut kennst, solltest du zumindest sie kennen!«

»Da hast du Recht«, gab sie in etwas freundlicherem Ton zurück. »Bitte entschuldige. Aber dich kenne ich natürlich ebenfalls. Ich werde so nahe an Mitternacht da sein, wie ich kann. Ich bin sehr froh zu hören, dass du in Sicherheit bist, Victor.«

Diese Worte bedeuteten ihm mehr, als er angenommen hatte. Da er erstaunt merkte, dass ihm darauf keine Antwort einfiel, hängte er den Hörer schweigend an den Haken.

Pitt hatte sich gerade an den Küchentisch gesetzt, um zu Abend zu essen, als Minnie Maude hereinkam. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Augen glänzten, und sie knetete die Hände.

»Was gibt es?«, fragte Pitt, der sich sogleich Sorgen machte.

Sie holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Da is Lady Vespasia Cumming-Gould für Sie, Sir. Was soll ich mit ihr mach’n, Sir?«

»Ach so«, sagte Pitt erleichtert. »Führen Sie sie herein, und setzen Sie den Wasserkessel noch einmal auf.«

Minnie Maude rührte sich nicht. »Nein, Sir, sie is’ doch ’ne wirkliche Dame, nich’ nur einfach ’ne nette Frau.«

»Selbstverständlich«, gab ihr Pitt Recht. »Aber sagen Sie ihr bitte, sie möchte in die Küche kommen. Sie war schon früher hier. Dann machen Sie ihr eine Tasse Tee. Wir haben Earl Grey im Haus, eigens für sie.«

Minnie Maude sah ihn an, als habe er den Verstand verloren.

»Bitte«, fügte er hinzu.

»Se entschuldig’n, Sir«, sagte Minnie Maude unsicher, »aber Se seh’n aus, wie wenn man Se durch ’ne Dorn’nhecke gezog’n hätte.«

Pitt fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Sie würde mich gar nicht erkennen, wenn ich anders aussähe. Lassen Sie sie doch nicht länger in der Diele stehen, und bringen Sie sie her.«

»Se is’ nich in der Diele, Sir, se is’ im Wohnzimmer«, teilte ihm Minnie Maude mit, offensichtlich entsetzt von seiner Vorstellung, sie könne solch hohen Besuch einfach in der Diele stehenlassen.

»Entschuldigen Sie. Natürlich. Bringen Sie sie trotzdem her.«

Sie gab sich geschlagen und gehorchte.

Als Pitt den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte und den Tisch abräumte, trat Lady Vespasia ein. »Mir hat es hier immer gefallen«, sagte sie. »Danke, Minnie Maude. Es tut mir leid, dich beim Abendessen zu stören, Thomas, aber es ließ sich nicht vermeiden.«

Hinter ihm eilte Minnie Maude zum Herd und setzte den Wasserkessel auf. Dann spülte sie die Kanne aus, in der sie den Tee für Pitt gemacht hatte, und bereitete alles für den Earl

Ohne Lady Vespasia zu unterbrechen, schob ihr Pitt einen der Küchenstühle hin und wollte ihr den Umhang abnehmen, doch sie wehrte ab.

»Ich habe einen Anruf von Victor Narraway bekommen«, sagte sie. » Von einem Hotel etwas außerhalb der Stadt aus. Charlotte ist bei ihm, und es geht ihr gut. Du brauchst dir also ihretwegen keine Sorgen zu machen. Wohl aber gibt es andere Dinge, die deine sofortige und vollständige Aufmerksamkeit erfordern.«

»Narraway?« Seine Gedanken jagten sich. Sie hatte sich so diskret wie möglich ausgedrückt, zweifellos im Bewusstsein, dass Minnie Maude jedes Wort hören konnte. Es wäre unnötig grausam gewesen oder möglicherweise sogar gefährlich, sie grundlos zu ängstigen. Das hatte sie nicht verdient, ganz von der praktischen Erwägung abgesehen, dass Pitt darauf angewiesen war, dass sie sich mit ihrem Alltagsverstand um den Haushalt und vor allem um die Kinder kümmerte – zumindest bis zu Charlottes Rückkehr. Er musste sich eingestehen, dass er die junge Frau zu schätzen gelernt hatte. Sie war umgänglich, hatte einen wachen Geist und war voller Schwung, womit sie in gewisser Hinsicht Gracie ähnelte.

»Ja.« Lady Vespasia wandte sich Minnie Maude zu. »Wenn Sie den Tee gemacht haben, mein Kind, packen Sie bitte einen kleinen Koffer für den Hausherrn mit allem, was er für eine Übernachtung außer Haus braucht. Frische Wäsche, ein Hemd und Toilettenartikel. Wenn Sie fertig sind, bringen Sie ihn nach unten und stellen ihn in die Diele.«

Minnie Maudes Augen weiteten sich. Sie zwinkerte, als überlege sie, ob sie es wagen sollte, Pitt um eine Bestätigung zu bitten, oder einfach tun sollte, was die Dame gesagt hatte. Wer hatte in diesem Fall zu bestimmen?

Das arme Mädchen musste sich in so kurzer Zeit an so viel Neues gewöhnen. Er lächelte ihr beruhigend zu. »Tun Sie das bitte, Minnie Maude. Ich werde fort müssen, aber bald wiederkommen. «

»Es ist gut möglich, dass du eine ganze Zeit lang außerordentlich viel zu tun haben wirst«, berichtigte ihn Lady Vespasia. »Nur gut, dass du mit Minnie Maude eine so verantwortungsbewusste junge Frau im Hause hast. Du wirst sie brauchen. Jetzt wollen wir Tee trinken und dann aufbrechen.«

Sobald Minnie Maude den Tee eingegossen und den Raum verlassen hatte, wandte sich Pitt mit fragendem Blick an die Besucherin.

» Wir dürfen uns nicht länger der Erkenntnis verschließen, dass man sowohl dich als auch Victor aus einem ganz bestimmten Grund aus London fortgelockt hat«, sagte sie, nachdem sie einen ersten kleinen Schluck genommen hatte. »Victor hat man aus dem Amt gedrängt und den Versuch unternommen zu erreichen, dass er in Irland zumindest zeitweise im Gefängnis verschwindet, wenn man ihn nicht gar gehängt hätte. Dich hatte man schon vorher aus London fortgelockt, damit du, der Einzige in Lisson Grove, auf den er sich voll und ganz verlassen konnte und der den Mut aufgebracht hätte, für ihn einzutreten, nicht da warst, als man das Schurkenstück an ihm verübte. Auf diese Weise fehlte ihm jede Unterstützung. «

Seinen Vorgesetzten Narraway hätte Pitt in einer vergleichbaren Situation unterbrochen, um nach dem Grund für das alles zu fragen, doch Lady Vespasia wagte er nicht ins Wort zu fallen.

»Allem Anschein nach ist Charles Austwick mit in die Sache verwickelt«, fuhr sie fort, »wir wissen aber noch nicht, in welchem Umfang und aus welchem Grund. Wohl aber ist uns bekannt, dass es hier um ein groß angelegtes gefährliches Unternehmen

»Ich weiß«, sagte er leise. »Ich denke, dass ich in Stoker einen Verbündeten habe, auf den ich mich verlassen kann. Allerdings dürfte er der Einzige sein, so weit ich das im Moment überblicken kann. Möglicherweise gibt es noch andere, aber ich habe keine Vorstellung, wer das sein könnte. Auf keinen Fall darf ich mir in dieser Hinsicht Fehler leisten, denn schon ein einziger würde sich vermutlich verhängnisvoll auswirken. Was ich nicht verstehe, ist, dass sich Austwick so gut wie gar nicht gegen seine Ablösung als Leiter der Abteilung aufgelehnt hat. Das gibt mir zu denken, denn es steht zu befürchten, dass eine ganze Reihe von Leuten jeden meiner Schritte kennt und ihm davon berichtet.«

Sie stellte ihre Tasse hin. »Das Ganze dürfte noch viel schändlicher sein, als du annimmst, mein Lieber«, sagte sie. »Meiner Vermutung nach wird das geplante Vorhaben äußerst weitreichende Folgen haben. Im Hinblick darauf hat man dich in Lisson Grove als Leiter eingesetzt – du bist als Sündenbock ausersehen, dem man die Schuld dafür aufbürden wird, dass der Sicherheitsdienst die Sache nicht verhindert hat. Danach kann man die Abteilung von Grund auf neu einrichten, ohne auf die erfahrenen Kräfte zurückzugreifen, die jetzt da sind. Auf diese Weise hätten die Hintermänner dieses Planes den Sicherheitsdienst vollständig in der Hand – wenn sie ihn nicht sogar mit der Begründung ganz auflösen, er habe zwar in der Vergangenheit seine Aufgabe erfüllt, sei aber jetzt offensichtlich nicht mehr nötig.«

Was Lady Vespasia ihm vortrug, war niederschmetternd. Nicht wegen seiner Verdienste hatte man ihn also befördert, sondern weil man ihn opfern wollte, wenn der Zeitpunkt gekommen war, dem Sicherheitsdienst vorzuwerfen, dass er versagt und die bevorstehende Katastrophe nicht verhindert hatte.

Auf Lady Vespasias Gesicht erkannte er tiefes Mitgefühl und freundschaftliches Verständnis.

Er zwang sich, ihr zuzulächeln. Er dachte nicht im Traum daran, in Selbstmitleid zu versinken, allein schon deshalb nicht, weil sie das in einer vergleichbaren Situation auch nicht getan hätte.

»Ich versuche zu überlegen, mit welcher Aufgabe ich mich beschäftigt hätte, wenn ich nicht nach Saint Malo gefahren wäre«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob mir der arme West tatsächlich etwas Wichtiges mitteilen wollte, beispielsweise, dass Gower ein Verräter war, oder ob man ihn lediglich umgebracht hat, um zu erreichen, dass ich Wrexham bis nach Frankreich verfolgte. Ich nehme Ersteres an, aber vielleicht irre ich mich da auch.«

»Wenn du hier gewesen wärest, hättest du möglicherweise verhindert, dass man Victor von seinem Amt suspendiert«, erklärte sie. »Andererseits ist denkbar, dass man mit dir ebenso verfahren wäre …« Sie verstummte.

Er zuckte die Achseln. »Wenn man mich nicht ganz aus dem Weg geräumt hätte.« Er sagte das, weil ihm klar war, dass sie das ebenfalls dachte. »Mich nach Frankreich zu locken war da eine deutlich bessere Lösung, die den zusätzlichen Vorteil hatte, kein Aufsehen zu erregen. Außerdem darf man nicht ausschließen, dass mich die Leute von Anfang an als denjenigen vorgesehen hatten, dem die Verantwortung für das Versagen der Abteilung in die Schuhe geschoben werden sollte. Ich

»Darüber werden wir uns unterwegs Gedanken machen«, sagte sie und trank ihren Tee aus. »Sicherlich wird Minnie Maude gleich mit deinem Koffer herunterkommen, dann können wir aufbrechen.«

Er stand auf und ging nach oben, um noch einmal nach den Kindern zu sehen, erteilte Minnie Maude letzte Anweisungen und gab ihr genug Geld, damit sie während seiner Abwesenheit die nötigen Besorgungen machen konnte. Dann nahm er seinen Koffer und ging hinaus zu Lady Vespasias Kutsche, die vor dem Haus wartete. Wenige Augenblicke darauf waren sie in der Nacht verschwunden.

»Ich bin bereits gemeinsam mit Stoker gründlich alles durchgegangen, was vor meinem Aufbruch nach Frankreich geschehen ist, außerdem Austwicks Aufzeichnungen über die Vorfälle seither«, begann er, »sowie die Berichte anderer. Dabei ist uns etwas aufgefallen, was mich sehr beunruhigt, obwohl ich es noch nicht verstehe.«

»Was?«, fragte sie rasch.

Er berichtete ihr von dem Gewalttäter, der in verschiedenen Teilen des Landes gesehen worden war. Sie erbleichte, als er die seit Jahren miteinander verfeindeten Männer erwähnte, die mit einem Mal am selben Strang zu ziehen schienen.

»Ganz offensichtlich ist diese Sache überaus ernsthaft«, stimmte sie zu. »Ich habe übrigens auch verschiedene Gerüchte gehört, während du außer Landes warst. Anfangs habe ich das als leeres Gerede abgetan, wie man es immer wieder von idealistischen Träumern hört. Beispielsweise hieß es, gewisse Gesellschaftsreformer hätten erklärt, sie würden bestimmte Vorhaben

Schweigend fuhren sie über Woburn Place in Richtung Euston Road, dann bog die Kutsche mit dem Verkehr nach rechts ab und fuhr nordwärts über die Pentonville Road.

»Ich fürchte, ich weiß, was dir entgangen ist«, sagte Pitt schließlich.

»Was denn?«, fragte sie. »Ich kann mir weder einen einzelnen Menschen noch eine Gruppe vorstellen, die bereit wäre, das eine oder andere der geplanten Gesetzesvorhaben durchzubringen. Ein solcher Versuch wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn im Oberhaus würde man das Ganze unverzüglich in Bausch und Bogen ablehnen, und die Leute müssten wieder von vorn anfangen. Bis dahin hätte sich die Opposition gesammelt und würde ihre Gegenargumente vortragen. Das muss den Leuten auch bekannt sein.«

»Mit Sicherheit«, gab er ihr Recht. »Aber wenn es kein Oberhaus gäbe …«

Das Licht der Straßenlaternen wirkte grell, das Rollen der Wagenräder unnatürlich laut. »Du meinst, wieder eine Pulververschwörung wie die im Jahre 1605?«, fragte sie. »So etwas würde das ganze Land empören. Damals hat man Guy Fawkes samt seinen katholischen Mittätern gehängt und gevierteilt, weil sie das Parlament in die Luft jagen wollten. Heutzutage dürfte die Strafe wohl nicht ganz so barbarisch ausfallen, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht darauf wetten würde.« Ihr Gesicht lag einen Augenblick im Schatten, als eine höhere und längere Kutsche zwischen ihnen und den Straßenlaternen vorüberfuhr.

Nach einer knappen Stunde erreichten sie müde, durchgefroren und voll innerer Anspannung das Gasthaus, das Narraway und Charlotte inzwischen aufgesucht hatten. Sie alle begrüßten einander so kurz wie herzlich, dann ließen sie sich vom Wirt die Zimmer zeigen, die sie für die Nacht beziehen wollten. Anschließend suchten sie einen kleinen Nebenraum auf, in dem man ihnen Erfrischungen servieren und sie im Übrigen ungestört lassen würde.

Tiefe Rührung erfasste Pitt bei Charlottes Anblick. Er freute sich, ihr Gesicht zu sehen, und war zugleich besorgt, weil sie so abgespannt wirkte. Er war erleichtert, sie in Sicherheit zu wissen, denn ihm war klar, in welcher Gefahr sie sich befunden hatte. Zugleich aber betrübte es ihn zutiefst, dass er nicht mit ihr allein sein konnte, und sei es nur für eine kurze Weile. Außerdem merkte er, dass er sich ärgerte, weil sie sich seiner Ansicht nach unbedacht in Gefahr begeben hatte. Er fühlte sich schmerzlich ausgeschlossen, hatte sie ihn doch zuvor weder nach seiner Meinung noch nach seinen Gefühlen befragt – allerdings, das musste er sich eingestehen, hatte es dazu auch keine Gelegenheit gegeben. Narraway war bei ihr gewesen, und er nicht. Ihm war klar, dass seine Empfindungen kindisch waren, doch obwohl er sich deswegen schämte, änderte das an ihrer Intensität nicht das Geringste.

Dann sah er zu Narraway hin, der sich mit seinen schmalen, starken Händen das schwarze Haar ungeduldig nach hinten strich, als sei es ihm im Weg, und unwillkürlich nahm sein Ärger ab. Die Linien im Gesicht seines Vorgesetzten schienen deutlich tiefer eingeschnitten als zuvor, und seine Augen waren gerötet.

Die beiden Männer sahen einander an, unsicher, wer in der Situation das Kommando hatte. Narraway hatte viele Jahre an der Spitze des Sicherheitsdienstes gestanden, doch jetzt hatte

Sie lächelte. »Sitz doch nicht wie ein Schuljunge da, Thomas, der darauf wartet, dass man ihm erlaubt zu sprechen. Du bist jetzt der Leiter des Sicherheitsdienstes. Wie schätzt du die Lage ein? Wir werden unsere Ansichten beitragen, sofern wir etwas wissen.«

Pitt räusperte sich. Er kam sich vor, als mache er Narraway sein Amt streitig, doch zugleich merkte er, dass der Mann mitgenommen war. Das konnte niemanden wundern, denn schließlich war er auf eine Weise ausgebootet worden, die er nicht hatte voraussehen können, war eines Verbrechens bezichtigt worden, ohne dass er eine Gelegenheit gehabt hätte, seine Schuldlosigkeit zu beweisen. Seine Lage war alles andere als beneidenswert, und es gehörte sich, ihn mit Nachsicht und Freundlichkeit zu behandeln.

Pitt legte in Einzelheiten dar, was in der Zeit zwischen der Ermordung Wests und dem Augenblick geschehen war, da er sich gemeinsam mit Stoker bemühte hatte, möglichst viele Puzzleteile zusammenzusetzen. Ihm war bewusst, dass er in Lady Vespasias und Charlottes Gegenwart wichtige Staatsgeheimnisse ansprach, was er bisher nie getan hatte. Doch der Ernst der Lage ließ nicht zu, dass man die beiden Frauen ausschloss. Wenn es nicht gelang, den geplanten Anschlag zu verhindern, würde ohnehin alles der Öffentlichkeit in kürzester Zeit bekannt werden. Wie bald das sein würde, konnte man nur raten.

Als er geendet hatte, sah er zu Narraway hin.

»Das lohnendste und auch naheliegendste Ziel für einen solchen Angriff dürfte das Oberhaus sein«, sagte dieser bedächtig. »Das wäre ein ungeheuer tiefer Eingriff in unsere Lebensumstände. Gott allein weiß, wie es dann weitergehen würde. Der französische Thron ist bereits gestürzt, der von Österreich-Ungarn

»Bei uns sehen die Dinge aber doch anders aus«, hielt Pitt dagegen. »Zwar hatte Königin Viktoria vor einigen Jahren eine schwierige Zeit, aber ihre Beliebtheit nimmt wieder zu.«

»Sollten die Leute einen Anschlag auf unsere Erbmonarchie vorhaben, hätte das übrige Europa keine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen«, gab Narraway zu bedenken. »Überlegen Sie doch, Pitt. Wo würden Sie ansetzen, wenn Sie ein begeisterter Sozialist wären und die Absicht hätten, die Privilegien einer Schicht hinwegzufegen, die über alle anderen gebietet? In Frankreich hat der Adel alle Herrschaftsrechte eingebüßt, und in Spanien hat er jeglichen Einfluss verloren. Zu der Zeit, als dort die Habsburger regierten, war der Hof mit den Herrscherhäusern in halb Europa verwandt, aber davon kann jetzt keine Rede mehr sein. Österreich-Ungarn? Das zerbröselt allmählich. Deutschland? Da hat bis vor wenigen Jahren Bismarck alle Macht in Händen gehalten, und wie es unter Kaiser Wilhelm II. weitergeht, wird die Zukunft zeigen. Alle bedeutenden Herrscherhäuser in Europa sind auf die eine oder andere Weise mit Königin Viktoria verwandt. Wenn sie

»Ehre und Moral lassen sich nicht vererben, Victor«, sagte Lady Vespasia leise. »Wohl aber kann man von der Wiege auf ein Verständnis für die Vergangenheit erlernen und Dankbarkeit für die damit verbundenen Gaben. Man kann lernen, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen, zu hüten und vielleicht zu mehren, was man bekommen hat, und es denen zu hinterlassen, die uns nachfolgen.«

Sein Gesicht wirkte erschöpft, als er sie ansah. »Mit dem eben Gesagten habe ich die Worte jener Leute wiederholt, Vespasia, es waren nicht meine eigenen.« Er biss sich auf die Lippe. »Wer sie besiegen will, muss wissen, woran sie glauben und was sie planen. Sofern es ihnen gelingt, an die Macht zu kommen, werden sie nicht nur das Schlechte beseitigen, sondern auch das Gute hinwegfegen, weil ihnen nicht klar ist, was es bedeutet, ausschließlich seinem Gewissen und nicht der Stimme des Volkes verantwortlich zu sein, das sich bei allem zu Wort meldet, ganz gleich, ob es etwas von der Sache versteht oder nicht.«

»Entschuldigung«, sagte sie. »Vielleicht bin ich ein wenig verängstigt. Hysterisches Verhalten ist mir in tiefster Seele zuwider. «

»Verständlich«, versicherte er ihr. »Sollte einst der Tag kommen, an dem niemand mehr so empfindet, sind wir alle verloren. « Er wandte sich an Pitt. »Haben Sie eine Vorstellung von irgendwelchen spezifischen Plänen?«

»Nur sehr ungenaue«, räumte dieser ein. »Aber ich kenne den Feind.«

Er teilte Narraway mit, was er Lady Vespasia bereits über die verschiedenen Gewalttäter gesagt hatte, die einander hassten, jetzt aber etwas gefunden zu haben schienen, was sie einte.

»Wo befindet sich Ihre Majestät zur Zeit?«, erkundigte sich Narraway.

»In ihrem Palast Osborne House auf der Isle of Wight«, gab Pitt zur Antwort. Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Unwillkürlich kamen ihm Anmerkungen und Beobachtungen in den Sinn, die andere gemacht hatten: betont unauffällig scheinende Ortsveränderungen von Männern, deren Namen jeden hätte alarmieren müssen, der diese Berichte las. Narraway wäre das sofort aufgefallen. »Ich vermute, dass sie dort zuschlagen wollen. Es ist die verwundbarste Stelle, an der ein Angriff zugleich den größten Erfolg verspricht.«

Narraway wirkte noch bleicher als zuvor. »Die Königin?« Er war so entsetzt, dass er nichts weiter sagte. Der bloße Gedanke an einen Angriff auf die Person Königin Viktorias war so erschütternd, dass es ihm die Sprache verschlug.

Pitt überlegte, wie viele Soldaten auf der Insel stationiert waren, kalkulierte, was der Sicherheitsdienst an Männern aufbieten konnte, wenn er sie von anderen Aufgaben abzog. Außerdem ließen sich Polizeikräfte mobilisieren. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. Was, wenn die unsichtbaren Gegner wollten, dass er genau in diese Richtung dachte, damit er alle Kräfte auf den Schutz von Osborne House konzentrierte und der Angriff an einer gänzlich anderen Stelle erfolgen konnte?

»Seien Sie vorsichtig«, mahnte ihn Narraway. »Wenn Sie die Öffentlichkeit beunruhigen, würde allein das schon den Schaden anrichten, den die Leute erstreben.«

»Das ist mir bekannt.« Pitt merkte, dass ihn auch Charlotte und Lady Vespasia aufmerksam ansahen. »Das ist mir bekannt«, wiederholte er. »Ebenso ist mir bewusst, dass sie im Grunde beliebig viel Zeit haben. Sie können in aller Ruhe abwarten, bis wir in unserer Aufmerksamkeit nachlassen, und dann losschlagen.«

»Das bezweifle ich.« Narraway schüttelte den Kopf. »Die Leute wissen von meiner Flucht und auch, dass Sie aus Frankreich zurück sind. Ich denke, wir müssen rasch handeln, genau genommen sofort. Die von Ihnen genannten Männer, die in England zusammengekommen sind, werden nicht warten. Ich schlage vor, Sie kehren nach Lisson Grove zurück und …«

»Ich fahre nach Osborne House«, fiel ihm Pitt ins Wort. »Ich habe niemanden, den ich schicken kann, und falls Sie Recht haben, könnte es sogar schon zu spät sein.«

»Sie fahren nach Lisson Grove«, wiederholte Narraway. »Sie sind Leiter des Sicherheitsdienstes und kein Infanterist, der in den Krieg zieht. Was wird aus der Operation, wenn man Sie erschießt, gefangen nimmt oder Sie einfach nicht zu erreichen sind? Hören Sie auf, wie ein Abenteurer zu handeln, und versuchen Sie wie ein Mann zu denken, der eine Führungsposition innehat. Ihre Aufgabe ist es, genau festzustellen, wem Sie vertrauen können, und das müssen Sie bis morgen Abend wissen. « Er sah zu der Messinguhr auf dem Kaminsims. »Bis heute Abend«, verbesserte er sich. »Ich fahre nach Osborne House. Da kann ich die Menschen zumindest warnen und vielleicht auch einen Angriff, wie auch immer der aussieht, aufhalten, bis Sie eine Möglichkeit finden, Verstärkung zu schicken.«

»Du musst damit rechnen, dass man dir dort den Zutritt verweigert«, gab Lady Vespasia zu bedenken. »Immerhin hast du keinen offiziellen Status mehr.«

Narraway zuckte zusammen. Ganz offensichtlich hatte er das nicht bedacht.

»Ich komme mit«, fuhr sie fort. Sie sagte das nicht als Angebot, sondern stellte es als unverrückbare Tatsache hin. »Man kennt mich dort. Es müsste schon sehr sonderbar zugehen, wenn man auch mich nicht auf das Anwesen ließe. Wenn ich dann die Umstände und die damit verbundene Gefahr erkläre,

Pitt erhob keine Einwände gegen diese erkennbar sinnvolle Lösung. Er stand auf. »Dann sollten wir uns besser gleich aufmachen. « Zu Charlotte gewandt, sagte er: »Wir fahren nach Hause, während sich Mr Narraway und Tante Vespasia auf den Weg nach Southampton machen, um von dort zur Isle of Wight überzusetzen.«

Lady Vespasia sah erst ihn und dann Narraway an. »Ich denke, es wäre vernünftig, erst einmal einige Stunden zu schlafen«, sagte sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Danach frühstücken wir. Uns stehen einige schwere Entscheidungen und vielleicht auch harte Auseinandersetzungen bevor. Nur wer seelisch und körperlich bei Kräften ist, kann sein Bestes geben.«

Pitt wollte aufbegehren, doch er war zu erschöpft. Sofern es sich moralisch vertreten ließ, würde er sich gern einige Stunden hinlegen und alles vergessen. Er wusste nicht, wann er sich zum letzten Mal so richtig entspannt hatte, ganz von dem inneren Frieden zu schweigen, den das Bewusstsein mit sich brachte, Charlotte an seiner Seite zu haben, und zu wissen, dass sie in Sicherheit war.

Er sah zu Narraway hin.

Dieser sagte mit trübseligem Lächeln: »Ein guter Rat. Wir stehen um vier Uhr auf und fahren um fünf Uhr ab.« Er richtete den Blick auf Vespasia, um zu sehen, ob sie damit einverstanden war.

Sie nickte.

»Ich komme mit«, sagte Charlotte. In ihrer Stimme lag kein fragender Ton, offensichtlich war sie bereit, sich durchzusetzen. Zu Pitt gewandt, erläuterte sie: »Es geht nicht darum, dass ich mich für unentbehrlich halte, aber ich kann Tante

Natürlich hatte sie Recht. Pitt hätte selbst daran denken sollen. Wie konnte er nur! »Selbstverständlich«, stimmte er zu. »Und jetzt sollten wir uns eine Weile hinlegen.«

Als sie oben in ihrem Zimmer waren und die Tür geschlossen hatten, sah ihn Charlotte liebevoll und bittend an. »Es tut mir wirklich leid«, begann sie.

»Sag nichts«, unterbrach er sie. » Wir wollen einfach beieinander sein, solange wir die Möglichkeit dazu haben.«

Er streckte die Arme aus, sie trat auf ihn zu und umschlang ihn. Er war so müde, dass er fast im Stehen eingeschlafen wäre. Als sie sich einige Augenblicke später hinlegten, war ihm undeutlich bewusst, dass sie ihn nach wie vor umarmt hielt.

Am frühen Morgen brach Pitt auf, um in sein Amt zurückzukehren, während Charlotte, Lady Vespasia und Narraway mit der Kutsche über die Hauptstraße nach Süden zum nächstgelegenen Bahnhof fuhren, wo sie einen Zug nach Southampton nehmen und von dort mit der Fähre zur Isle of Wight übersetzen wollten.

»Sofern sich noch nichts Verdächtiges geregt haben sollte, könnte es schwierig werden, eine Audienz bei der Königin zu erwirken«, sagte Narraway, nachdem sie im Zug Platz genommen hatten. Das Rattern der Räder wirkte beruhigend auf alle drei. »Für den Fall aber, dass der Feind bereits sozusagen vor den Toren steht, müssen wir uns eine Lösung ausdenken, wie wir trotzdem hineingelangen.«

»Wie wäre es, wenn wir in Southampton eine Arzttasche kauften und sie mit einigen Fläschchen und Pülverchen aus einer Apotheke bestückten?«, schlug Charlotte vor. »Dann

Nach kurzem Überlegen befand Lady Vespasia: »Glänzender Gedanke. Dann sollten wir aber für dich noch ein schlichteres Kleid und eine weiße Schürze ohne Verzierungen kaufen, die für beide Zwecke dienen kann. Ich denke, du gehst besser als Schwester, die den Arzt begleitet. Mit Zofen werden sich die Leute dort auskennen, über Krankenschwestern hingegen wissen sie vielleicht weniger. Bist du damit einverstanden, Victor?«

Belustigung blitzte in seinen Augen auf. »Selbstverständlich. Wir werden das alles erledigen, sobald wir in Southampton angekommen sind.«

»Befürchten Sie, wir könnten bereits zu spät kommen?«, fragte Charlotte.

Er versuchte gar nicht erst, ihr etwas vorzutäuschen, und sagte ja. »Ich an deren Stelle hätte inzwischen gehandelt.«

Wenige Stunden später erreichten sie das große und mit allen Bequemlichkeiten ausgestattete Anwesen, auf dem sich Königin Viktoria schon viele Jahre ihres Lebens aufgehalten hatte, ganz besonders nach dem Tod ihres Prinzgemahls Albert, weil sie dort wohl den Trost fand, den ihr keins ihrer zahlreichen prächtigen Schlösser bot.

Alles schien in der Frühlingssonne friedlich dazuliegen. Das Gras war leuchtend grün, und die meisten Bäume prangten in frischem Laub. Während der Schwarzdorn in voller Blüte stand, zeigten sich beim Weißdorn erste Knospen.

Den Palast hatte man in einer leicht gewellten Parklandschaft errichtet, wie sie so viele Anwesen außerordentlich wohlhabender Familien des Landes umgab. Neben einem großen Baumbestand

Die Mietkutsche hielt an, sie stiegen aus und entlohnten den Kutscher.

»Bestimmt woll’n Se, dass ich warte«, sagte dieser mit freundlichem Nicken. »Se könn’n sich hier drauß’n umseh’n, das is’ alles. Wenn Ihre Majestät da is’, komm’n Se nich näher ran.«

Lady Vespasia gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. »Vielen Dank, guter Mann, Sie können umkehren.«

Er gehorchte achselzuckend, wendete sein Fahrzeug und brummelte etwas über die Ahnungslosigkeit von Touristen vor sich hin.

» Wir dürfen uns hier nicht länger aufhalten«, sagte Narraway. In seiner Stimme lag Bedauern. »Noch kann ich nichts Verdächtiges erkennen. Alles sieht so aus, wie es meiner Vermutung nach sein müsste. Sogar ein Gärtner arbeitet da hinten. « Statt mit der Hand zu zeigen, nickte er in die Richtung.

Charlotte sah hin und erkannte einen über eine Hacke gebeugten Mann, der den Boden zu bearbeiten schien. Bei dieser heimelig wirkenden ländlichen Szene wich ein Teil ihrer Besorgnis von ihr. Vielleicht hatten sie sich unnötig geängstigt. Sie waren rechtzeitig gekommen. Jetzt mussten sie sich bemühen, nicht töricht zu wirken, nicht nur um ihrer Selbstachtung

Es sei denn, sie hatten sich geirrt, und der Schlag würde anderswo geführt. War auch das hier nichts als ein glänzend geplantes Ablenkungsmanöver?

Narraway zwang sich im Sonnenlicht zu einem Lächeln. »Ich komme mir mit dieser Tasche jetzt ein wenig lächerlich vor.«

»Halte sie bitte so, als sei sie dir sehr wichtig«, sagte Vespasia ganz leise. »Du wirst sie brauchen. Der Mann dahinten ist ebenso wenig Gärtner, wie du Arzt bist. Er kann ganz offensichtlich kein Unkraut von einer Blume unterscheiden. Seht nicht hin, damit er nicht gewarnt wird. Ein Arzt, der zur Königin gerufen wird, kümmert sich nicht um Männer, die Petunien die Triebe abhacken.« Während Lady Vespasia das sagte, stand sie gerade aufgerichtet und trug den Kopf mit ihrem modischen Hut so stolz und hoch erhoben, als stehe sie im Begriff, als Ehrengast ein Gartenfest zu besuchen.

Charlotte spürte, wie ihr die Sonne in die Augen stach. Der riesige Bau schien vor ihren Blicken zu verschwimmen.

Am Eingang trafen sie auf einen Haushofmeister, dessen weiße Haare so straff nach hinten gekämmt waren, als habe er sie ausreißen wollen. Er erkannte Lady Vespasia sogleich.

»Guten Tag«, begrüßte er sie mit zittriger Stimme. »Bedauerlicherweise fühlt sich Ihre Majestät heute ein wenig unwohl und empfängt keine Besucher. Wie schade, Lady Vespasia, dass wir von Ihrem Kommen nicht rechtzeitig unterrichtet waren, um Ihnen das mitzuteilen. Ich würde Sie gern wenigstens ins Haus lassen, aber wie das Unglück es will, hat eins unserer Mädchen eine fiebrige Entzündung, und wir befürchten,

»Wie betrüblich für die Arme«, sagte Lady Vespasia in mitleidvollem Ton. »Und natürlich auch für Sie alle. Sie tun selbstverständlich gut daran, die Sache ernst zu nehmen. Zum Glück werde ich von Dr. Narraway begleitet, der sicher gern bereit ist, sich das Mädchen einmal anzusehen, um für sie zu tun, was er kann. Mitunter hilft bei einer solchen fiebrigen Entzündung ein wenig Chinin-Tinktur. Vielleicht könnte das Ihrer Majestät ebenfalls von Nutzen sein. Es wäre nicht auszudenken, wenn sie sich anstecken würde.«

Der Haushofmeister wand sich und wusste ganz offensichtlich nicht, was er sagen sollte. Er holte Luft, setzte zum Sprechen an, brachte aber kein Wort heraus. Schweiß trat ihm auf die Stirn, und er zwinkerte heftig.

»Ich sehe, dass Sie sich große Sorgen um sie machen«, sagte Lady Vespasia in ruhigem Ton, wobei ihre Stimme trotz aller Mühe, sie zu beherrschen, leicht zitterte. »Vielleicht sollten wir Dr. Narraway nach ihr sehen lassen. Es ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sondern auch der Klugheit. Falls die ganze Dienerschaft angesteckt würde, kämen Sie in eine schwierige und äußerst unangenehme Lage.«

»Lady Vespasia, ich kann unmöglich …«

Bevor er den Satz beenden konnte, trat ein stämmig gebauter dunkelhaariger Mann um die Mitte dreißig an die Tür, der ebenfalls die Livree des königlichen Haushalts trug.

»Sir«, sagte er zu dem Haushofmeister, »vielleicht hat die Dame ja Recht. Ich hab grade gehört, dass es der arm’n Molly schlechter geht. Nehm’n Se also das Angebot ruhig an un’ lass’n Se die Leute rein.«

Der Haushofmeister sah den Jüngeren voller Hass und Abscheu an, gab aber nach einem verzweifelten Blick zu Lady Vespasia nach.

Mit einem höflichen »Danke« trat sie über die Schwelle, gefolgt von Charlotte und Narraway.

Kaum war die Tür hinter ihnen geschlossen, als ihnen aufging, dass sie gefangen waren. Weitere Männer standen am Fuß der geschwungenen Treppe und einer am Eingang zum Küchen- und Dienstbotentrakt.

»Das hätten Sie nicht tun sollen«, warf der Haushofmeister dem anderen vor.

» Wenn wir die weggeschickt hätt’n«, hielt dieser dagegen, »wär den’n klar geword’n, dass hier was faul is’. Am best’n redet niemand darüber. Wir woll’n die alte Dame ja nich’ aufreg’ n.«

»Damit haben Sie Recht«, stimmte ihm Lady Vespasia in scharfem Ton zu. »Falls Ihre Majestät einen Schlaganfall bekommt und stirbt, werden Sie nicht einfachen Mordes, sondern des Königsmordes schuldig sein. Können Sie sich vorstellen, wo auf der Welt Sie eine Möglichkeit hätten, sich vor dieser Anklage zu verstecken? Ohnehin würden Sie nicht entkommen. So sehr sich unsere Vorstellungen von Freiheit oder der Gleichheit, die wir anstreben oder für die wir sogar kämpfen, unterscheiden mögen, wird sich niemand mit dem Mord an einer Königin abfinden, die schon länger regiert, als die Lebensdauer der meisten ihrer Untertanen auf der ganzen Welt beträgt. In einem solchen Fall würde die Öffentlichkeit Sie in Stücke reißen wollen – doch ich nehme an, das würde Ihnen weniger ausmachen, als dass Sie damit all Ihre großartigen Ideen in Verruf bringen.«

»Halt’n Se ’n Mund, sonst stopf ’ ich ’n Ihn’n. Kann ja sein, dass de Leute für ihre Königin was übrig ham, aber ob so jemand wie Sie hinterher noch lebt oder nich’, is’ den’n garantiert egal«, sagte der Mann in aggressivem Ton. »Se ham sich hier reingedrängt, da dürf ’n Se sich nich’ wundern, wenn Se das Kopf un’ Krag’n kostet.«

»Die Dame ist …«, setzte der Haushofmeister an, doch fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, dass er den Leuten, die das Anwesen besetzt hielten, damit noch eine Geisel gleichsam frei Haus liefern würde, und so schluckte er seine Erwiderung herunter.

»Ist jemand krank?«, fragte Vespasia in die Runde.

»Nein«, gab der Haushofmeister zu. »Man hat uns angewiesen, das zu sagen.«

»Gut. Dann führen Sie uns bitte zu Ihrer Majestät. Sofern Sie die Königin mit der gleichen ausgesuchten Höflichkeit behandeln wie uns, könnte es ganz nützlich sein, wenn sich Dr. Narraway in ihrer Nähe aufhält. Sicher wollen Sie nicht, dass ihr etwas zustößt. Als Geisel nützt sie Ihnen vermutlich nur, solange sie lebt und bei guter Gesundheit ist.«

» Wer sagt mir, ob das wirklich ’n Arzt is’?«, fragte der Mann misstrauisch und sah Narraway an.

»Niemand«, gab dieser zurück. »Aber was haben Sie denn zu verlieren? Glauben Sie etwa, dass ich ihr etwas antun würde?«

»Was?«

»Glauben Sie etwa, dass ich ihr etwas antun würde?«, wiederholte Narraway geduldig.

»Dumme Frage, ’türlich nich’.«

»Sofern Sie überzeugt sind, dass ich nicht die Absicht habe, der Königin etwas anzutun, würde es für Sie doch weit weniger Aufwand bedeuten, uns alle im selben Raum zu versammeln, als uns getrennt voneinander bewachen zu müssen. Das Gebäude ist ja doch recht unübersichtlich. Zumindest wird sie Ihnen dann keinen Ärger bereiten. Liegt das nicht in Ihrem Interesse?«

» Was ham Se da in der Tasche? Da könnt’n Messer un’ sogar Gas drin sein.«

»Ich bin Allgemeinarzt, kein Chirurg«, gab Narraway scharf zurück.

»Un’ wer is’ die da?«, fragte der Mann mit einem Blick auf Charlotte.

»Meine Mitarbeiterin. Glauben Sie etwa, dass ich weibliche Patienten behandeln würde, ohne dass eine Krankenschwester in der Nähe ist?«

Der Mann nahm Narraways Tasche, öffnete sie und musterte die in der Apotheke von Southampton gekauften Pulver und Tinkturen in ihren sauber beschrifteten Gefäßen. Ganz bewusst hatten sie, um keine Schwierigkeiten zu bekommen, nichts erworben, was auch nur von fern einer Waffe ähnlich sehen könnte, nicht einmal eine kleine Schere zum Durchschneiden von Mullbinden. Alles war genau das, was es zu sein schien.

Der Mann schloss die Tasche und wandte sich dem anderen am Fuß der Treppe zu. »Bring se rauf. Die alte Dame soll uns ja nich’ unter ’n Händ’n wegsterb’n.«

»Jed’nfalls nich’ gleich«, stimmte der andere zu. Er wies mit der Hand auf die Treppe. » Also vorwärts. Ihr wollt zur Königin – heute is’ euer Glückstag.«

Der Haushofmeister führte die drei Besucher nach oben und klopfte an eine Tür. Nach einer Weile öffnete er sie und ging hinein. Bald darauf kam er wieder heraus und sagte: »Ihre Majestät ist bereit, Sie zu empfangen, Lady Vespasia.«

Sie dankte ihm und ging hinein, mit wenigen Schritten Abstand von Narraway und Charlotte gefolgt.

Die Königin saß in einem bequemen Sessel in ihrem gemütlich eingerichteten Salon, eine kleine ältere Dame mit Hakennase und rundem Gesicht, deren Haar in wenig schmeichelhafter Weise straff zurückgekämmt war. Sie trug von Kopf bis Fuß Schwarz, was die Blässe ihrer Haut noch unterstrich.

Der Raum war nicht besonders aufwendig eingerichtet, lediglich seine Höhe und die prächtige Verzierung der Decke wiesen die Besucher darauf hin, dass sie sich im Wohnsitz ihrer

»Lady Vespasia, wie angenehm, Sie zu sehen. Treten Sie näher.«

Die Angesprochene trat einen Schritt vor und versank in einem tiefen Hofknicks, wobei sie den Kopf leicht neigte und den Rücken vollkommen gerade hielt. »Majestät.«

»Wer sind jene?«, erkundigte sich die Königin mit kaum gesenkter Stimme und sah dabei auf Charlotte und Narraway, die hinter Vespasia standen. » Vermutlich Ihre Zofe. Der Mann sieht wie ein Arzt aus. Ich habe aber nach keinem Arzt geschickt. Mir fehlt nichts. Jeder hier im Hause behandelt mich wie eine Kranke. Ich möchte im Park spazieren gehen, und man hindert mich daran. Ich herrsche als Kaiserin über ein Viertel der Menschheit, und meine eigene Dienerschaft lässt mich nicht in meinen Park!« Ihre Stimme klang verdrießlich. »Lady Vespasia, kommen Sie und begleiten Sie mich hinaus.« Sie traf Anstalten aufzustehen, saß aber so tief in ihrem Sessel, dass ihr das wegen ihrer Körperfülle nicht ohne fremde Hilfe möglich war.

»Ich denke, es ist besser, wenn Sie sitzenbleiben, Ma’am«, sagte Vespasia mit freundlicher Stimme. »Ich bedaure, Ihnen unangenehme Dinge mitteilen zu müssen …«

»Vespasia!«, sagte Narraway mit mahnendem Unterton.

»Still, Victor«, gab sie zurück, ohne den Blick von der Königin zu nehmen. »Ihre Majestät hat einen Anspruch darauf, die Wahrheit zu erfahren.«

»Ich verlange das!«, fuhr Königin Viktoria auf. » Was geht hier vor sich?«

Narraway trat zurück und ergab sich mit so viel Würde, wie er aufbringen konnte, in sein Schicksal.

»Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, Ma’am«, erklärte Lady Vespasia offen heraus, »dass Bewaffnete Ihr Anwesen umstellt

Die Königin sah sie fassungslos an und richtete dann den Blick an ihr vorüber auf Narraway. »Und wer sind Sie? Etwa einer dieser … Verräter?«

»Nein, Ma’am. Bis vor wenigen Tagen war ich der Leiter Ihres Sicherheitsdienstes«, gab er zurück.

»Und warum sind Sie es nicht mehr? Wieso haben Sie Ihren Posten verlassen?«

»Man hat mich meines Amtes enthoben, Ma’am. Es ist das Werk von Verrätern innerhalb des Sicherheitsdienstes. Ich bin gekommen, um Ihnen zur Seite zu stehen, soweit mir das möglich ist, bis Hilfe kommt. Wir haben dafür gesorgt, dass das nicht lange dauert.«

»Wann wird sie kommen?«

»Ich hoffe, noch vor Einbruch der Dunkelheit, spätestens kurz danach«, erläuterte Narraway. »Der neue Leiter des Sicherheitsdienstes muss sich erst Gewissheit verschaffen, wem er trauen kann.«

Sie blieb einige Augenblicke reglos sitzen. Das Ticken der Standuhr erfüllte den Raum.

»Dann dürfte es das Beste sein, Haltung zu bewahren und abzuwarten«, sagte die Königin schließlich. »Notfalls werden wir kämpfen.«

»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit zu fliehen, bevor es zum Äußersten kommt …«, setzte Narraway an.

Königin Viktoria warf ihm einen aufgebrachten Blick zu. »Junger Mann, ich bin Königin von England und Herrscherin über das britische Weltreich. Wir sind, solange meine Herrschaft dauert, stets auf unserem Posten geblieben und haben in allen Winkeln der Erde Kriege gewonnen. Soll ich etwa in meinem eigenen Hause vor einer Handvoll Rüpel davonlaufen? Ausgerechnet hier in Osborne House?«

Narraway richtete sich ein wenig mehr auf.

Lady Vespasia hielt den Kopf hoch.

Charlotte merkte, dass auch sie sich unwillkürlich streckte.

»Schön, schön!«, sagte die Königin und sah alle drei mit einem Anflug von Billigung in den Augen an. »Getreu dem Wort eines meiner bedeutendsten militärischen Anführer, Sir Colin Campbell, der im Krimkrieg beim sogenannten Totenritt von Balaklawa vor der Schlacht gesagt hat: ›Hier stehen wir und hier sterben wir.‹« Mit kaum wahrnehmbarem Lächeln fügte sie hinzu: »Aber da es bis dahin noch eine Weile dauern kann, dürfen Sie sich gern setzen.«