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Ohn esic zu uwehren, ließ sich Pitt von den beiden kräftigen Polizeibeamten abführen. Widerstand zu leisten wäre ebenso sinnlos gewesen wie der Versuch, die Zusammenhänge erklären zu wollen. Aufgrund der Aussage des Schaffners waren die beiden fest überzeugt, dass sie es mit einem gewalttätigen Geistesgestörten zu tun hatten, der zwei ihm möglicherweise völlig unbekannte Männer von der Plattform eines schnell fahrenden Zuges in den Tod gestoßen hatte.
Die zugleich erbosten und verängstigten Fahrgäste hatten nur undeutlich mitbekommen, was auf der Plattform geschehen war.
»Ich weiß genau, was ich gesehen hab!«, sagte einer von ihnen mit vor Entsetzen noch bleichem Gesicht und trat auf dem Bahnsteig so weit wie möglich von Pitt fort. »Er hat sie beide runtergeschubst. Passen Sie ja auf, dass er Sie nicht auch noch umbringt! Er ist verrückt! Hat die beiden einfach von der Plattform geschubst, erst den einen und dann den anderen. «
»Er hat mich angegriffen, und ich musste mich zur Wehr setzen«, betonte Pitt.
»Welcher, Sir?«, fragte ihn einer der Beamten. »Der Erste, oder der Zweite?«
»Der Zweite«, gab Pitt zur Antwort. Er hörte selbst, wie verzweifelt seine Stimme klang, und sogar ihm kam diese Erklärung lächerlich vor.
»Vielleicht gefiel ihm nicht, dass Sie den ersten Mann von der Plattform gestoßen hatten«, gab der Beamte zu bedenken. »Er wollte Sie festnehmen, ganz, wie es die Pflicht eines guten Bürgers ist.«
»Er hat mich zuerst angegriffen«, versuchte Pitt zu erklären. »Der andere wollte mir helfen und ist im Kampf gegen ihn unterlegen.«
»Aber als der Zweite Sie angegriffen hat, sind Sie siegreich geblieben, nicht wahr?«, fragte der Beamte unüberhörbar ungläubig.
»Das muss wohl so sein, sonst wäre ich nicht hier«, sagte Pitt ungeduldig. »Wenn Sie mir die Fesseln abnehmen, zeige ich Ihnen meine Dienstmarke. Ich arbeite für den Sicherheitsdienst. «
»Klar, Sir«, gab der Beamte sarkastisch zurück. »Und der hat nichts Besseres zu tun, als Leute aus Zügen zu werfen. Eine ausgesprochen sichere Angelegenheit.«
Nur mühsam brachte Pitt es fertig, die in ihm aufsteigende Wut zu beherrschen. »Sehen Sie in der Innentasche meines Jacketts nach«, stieß er zwischen den Zähnen hervor, »da finden Sie sie.«
Die beiden Männer sahen einander an. »Tatsächlich? Und welchen Grund haben Sie da, Leute aus Zügen zu werfen, Sir?«
»Der Mann hat mich angegriffen«, gab Pitt erneut zurück. »Er war ein gefährliches Individuum, das Gewalttaten geplant hatte.« Noch während er das sagte, war ihm klar, wie absurd diese Behauptung angesichts dessen klang, dass Gower tot irgendwo am Bahndamm lag, während er hier auf dem Bahnsteig stand, unverletzt, abgesehen von einigen blauen Flecken, die für Außenstehende nicht sichtbar waren.
»Ich erkläre es Ihnen noch mal«, setzte er erneut an. »Der Mann heißt Gower. Er hat mich angegriffen. Der Fremde wollte mir helfen, aber da Gower stärker war, konnte er nichts gegen ihn ausrichten. Ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu retten. Dann hat Gower mich noch einmal angegriffen, aber diesmal war ich darauf gefasst und habe ihn überwältigt. Sehen Sie nach meiner Dienstmarke, dann wissen Sie, wer ich bin.«
Erneut sahen die beiden Beamten einander zweifelnd an. Schließlich trat einer äußerst vorsichtig zu Pitt, hielt dessen Jackett mit einer Hand auf und tastete mit der anderen in seiner Innentasche.
»Da is’ nix, Sir«, sagte er und zog die Hand rasch fort.
»In der Tasche befinden sich meine Dienstmarke und mein Pass«, gab Pitt zurück, während allmählich Panik in ihm aufstieg. Das konnte gar nicht anders sein, denn als er den Zug in Shoreham bestiegen hatte, waren beide noch da gewesen. Er erinnerte sich genau, dass er sie in die Tasche gesteckt hatte.
»Nein, Sir«, wiederholte der Beamte. »Ihre Tasche is’ völlig leer. Da is’ überhaupt nix drin. Warum komm’n Se nich einfach ruhig mit? Hat doch kein’n Sinn, hier großes Theater zu mach’n. Das schad’t Ihn’n nur, Sir.« Er wandte sich dem anderen Fahrgast zu. »Viel’n Dank für Ihre Mühe, Sir. Wir ham Ihr’n Nam’n un’ Ihre Anschrift notiert un’ meld’n uns, wenn wir Se noch mal bemüh’n müss’n.«
Pitt holte Luft, um sich erneut zu verteidigen, sah dann aber die Sinnlosigkeit eines solchen Versuches ein. Allem Anschein nach war ihm sein Pass mitsamt der Dienstmarke während des Kampfes aus der Tasche gefallen, auch wenn er sich das nicht recht vorstellen konnte, denn es war eine tiefe Tasche. Ob Gower beides rasch herausgezogen hatte, als er ihn gegen das Geländer gedrängt hatte? Er hatte nicht weiter darauf geachtet, weil er sich verzweifelt gegen den Angriff gewehrt hatte. Er wandte sich einem der beiden Beamten zu.
»Ich bin über Southampton aus Frankreich gekommen«, sagte er mit plötzlich aufkeimender Hoffnung. »Da muss ich meinen Pass ja wohl bei mir gehabt haben, sonst hätte man mich gar nicht ins Land gelassen. Meine Dienstmarke war in derselben Tasche. Das beweist doch wohl, dass man mich bestohlen hat.«
Kopfschüttelnd sah ihn der Beamte an. »Ich weiß nur, dass Sie in dem Zug war’n, Sir. Ich hab keine Ahnung, wo Se eingestieg’n sind oder wo Se vorher war’n. Komm’n Se einfach mit, un’ wir klär’n alles auf der Wache. Mach’n Se uns kein’n Ärger, Sir, Sie sitz’n auch so schon tief genug in der Tinte.«
»Haben Sie ein Telefon auf der Wache?«, erkundigte sich Pitt, während er sich abführen ließ. Weiter zu argumentieren hatte keinen Sinn. Dabei würde er nur den Kürzeren ziehen, und außerdem wäre das entwürdigend. Inzwischen hatte sich um die kleine Gruppe eine beträchtliche Menschenmenge angesammelt. In diesem Augenblick war es ihm unmöglich, Bedauern über Gowers Tod zu empfinden, wohl aber schmerzte und bekümmerte ihn der Tod des Mannes, der ihm zu Hilfe gekommen war.
»Haben Sie ein Telefon auf der Wache?«, fragte er erneut.
»Selbstverständlich, Sir. Falls Sie Angehörigen Bescheid sag’n woll’n, ruf ’n wir die gerne an, damit die wiss’n, wo Se sind«, versprach er.
»Vielen Dank.«
Auf der Polizeiwache wurde Pitt sogleich in eine Zelle geführt und die Tür hinter ihm verschlossen.
»Mein Telefonat!«, sagte er mit fordernder Stimme.
»Das erledig’n wir für Sie, Sir. Wen soll’n wir anruf ’n?«
Pitt hatte hin und her überlegt. Falls er zu Hause anrief, würde sich Charlotte ängstigen und Sorgen machen, ohne dass sie etwas hätte tun können. Da war es weit klüger, Narraway anzurufen, der das entsetzliche Durcheinander entwirren
»Is’ das ’n Verwandter?«, fragte der Beamte misstrauisch
»Mein Schwager«, log Pitt rasch. Er nannte ihnen die Nummer der Dienststelle in Lisson Grove. »Das ist sein Büro. Entweder ist er da, oder die Leute wissen, wo man ihn finden kann.«
»So spät noch, Sir?«
»Das Büro ist Tag und Nacht besetzt. Rufen Sie bitte einfach an.«
»Wie Se wünschen.«
»Danke.« Pitt setzte sich auf die harte hölzerne Pritsche und wartete. Er durfte auf keinen Fall die Ruhe verlieren. Alles würde sich binnen weniger Minuten aufklären. Dann wäre dieser Teil des Alptraums vorüber. Danach würde er sich mit dem Verrat Gowers beschäftigen müssen, der jetzt tot war. In der Stille seiner Zelle hatte er Gelegenheit, gründlich über alles nachzudenken.
Es hätte ihn nicht überraschen dürfen, dass Gower ihm gefolgt war. Zwar hatte das angenehme, freundliche Gesicht, das der Mann in Frankreich und eigentlich während der ganzen Zeit ihrer Zusammenarbeit gezeigt hatte, zu dessen Naturell gehört, und trotzdem war es nichts als eine Fassade gewesen, hinter der sich ein gänzlich anders gearteter Mann verborgen hatte.
Pitt dachte an Gowers Humor, an die Art, wie er der jungen Frau mit dem schwingenden Rock ihres roten Kleides nachgesehen und sich vorgestellt hatte, wie es sein würde, sie kennenzulernen. Auch musste er daran denken, wie gern Gower frisches Brot gegessen und seinen Kaffee schwarz getrunken hatte. Zwar hatte er jedes Mal über dessen bitteren Geschmack das Gesicht verzogen, sich aber trotzdem nachgießen lassen. Er sah ihn vor seinem inneren Auge, wie er lächelnd
Menschen setzten sich aus allen möglichen Gründen für diese oder jene Sache ein. Unter Umständen hatte Gower ebenso fest an das von ihm verfolgte Ziel geglaubt wie Pitt an das seine – sie waren einfach von äußerst unterschiedlichem Charakter gewesen. Eigentlich hatte er den Mann gut leiden können und sich in dessen Gesellschaft wohl gefühlt. Wieso nur war ihm die Bedenkenlosigkeit nicht vorher aufgefallen, die es Gower ermöglicht hatte, West zu töten und sich später leichthin gegen ihn, Pitt, zu wenden.
Und wenn es ihm in Wahrheit gar nicht leichtgefallen war? Vielleicht hatte er die ganze Nacht wach gelegen, sich mit allen möglichen Gedanken gequält, nach einem anderen Weg gesucht und keinen gefunden? Das würde er jetzt nie erfahren. Es war schmerzlich, sich darüber klarzuwerden, dass so vieles anders sein konnte, als man angenommen hatte, und seine eigene Einschätzung des Mannes so deutlich von der Wirklichkeit abgewichen war. Er konnte sich gut vorstellen, was Narraway dazu sagen würde.
Der Beamte kam zurück und blieb einen Schritt von den Gitterstäben entfernt stehen. Als Pitt sah, dass er keinen Schlüssel in der Hand hielt, sank ihm der Mut. Mit einem Mal fühlte er sich entsetzlich verloren.
»Tut mir leid, Sir«, sagte der Beamte unbeholfen. »Ich hab die Nummer angeruf ’n. Das war zwar ’ne Polizeidienststelle, aber die ham gesagt, dass es da kein’n Narraway gibt un’ man Ihn’n nich’ helf ’n kann.«
»Das ist völlig unmöglich!«, sagte Pitt verzweifelt. »Natürlich ist Narraway da. Er ist Leiter des Sicherheitsdienstes! Rufen Sie noch einmal an. Wahrscheinlich hat man Sie falsch verbunden. «
»Nein, die Nummer war schon richtig, Sir«, gab der Beamte unerschütterlich zurück. »Es war der Sicherheitsdienst, ganz, wie Se gesagt ham. Aber die ham mir gesagt, dass es da kein’n Victor Narraway gibt. Ich hab noch nachgefragt, Sir, un’ die ham ganz höflich gesagt, dass se sicher wär’n. Da gibt’s kein’n Victor Narraway. Un’ jetz’ seh’n Se zu, dass Se sich ’n bissch’n ausruh’n könn’n. Morg’n früh seh’n wir dann weiter. Soll ich Ihn’n ’ne Tasse Tee un’ vielleicht auch ’n belegtes Brot bring’n?«
Alles schien sich um Pitt herum zu drehen. Der Alptraum wurde immer schlimmer. In seiner Vorstellung zeichneten sich die fürchterlichsten Schreckensbilder ab. Was war mit Narraway geschehen? Wie weit reichte die Verschwörung? Vielleicht hätte er an die Möglichkeit denken müssen, dass die Leute, die ihn zu einem vergeblichen Unternehmen nach Frankreich gelockt hatten, auch Narraway aus dem Weg räumen würden, denn sonst wäre ein solches Manöver nicht sinnvoll gewesen. Pitt stand lediglich im zweiten Glied. Er mochte Narraways rechte Hand sein, war aber auf keinen Fall mehr als das. Eine wirkliche Bedrohung für jene Leute ging ausschließlich von Narraway aus.
» Woll’n Se jetz’ ’ne Tasse Tee, Sir?«, wiederholte der Polizeibeamte sein Angebot. »Se seh’n ’n bissch’n mitgenomm’n aus. Un’ ’n belegtes Brot?«
»Ach ja, bitte …«, sagte Pitt müde. Er war dem Mann dankbar für seine Menschlichkeit, doch ließ sie ihm die ganze Situation nur noch grotesker erscheinen. »Vielen Dank.«
»Seh’n Se zu, dass Se sich ausruh’n, Sir. Quäl’n Se sich nich’ so. Ich besorg Ihn’n ’n belegtes Brot. Wär’s Ihn’n recht mit Schink’n?«
»Ja, sehr gern, danke.« Zum Zeichen dafür, dass er den Beamten keine Schwierigkeiten machen wollte, setzte er sich wieder auf die Pritsche. Ohnehin fühlte er sich ziemlich mitgenommen.
Es war eine lange und quälende Nacht. Er schlief nur wenig, und sobald er einnickte, suchten ihn Angstträume heim, in denen Finsternis mit Lärm und plötzlich hereinbrechender Gewalttat abwechselten. Am nächsten Morgen erwachte er mit Kopfschmerzen, blauen Flecken und Schmerzen am ganzen Leib. Es kostete ihn große Mühe aufzustehen, als der Beamte erneut mit einer Tasse Tee zu ihm trat.
»Wir bring’n Se nachher zum Untersuchungsrichter«, sagte er, während er Pitt aufmerksam musterte. »Se seh’n entsetzlich aus.«
Pitt versuchte zu lächeln. »So fühle ich mich auch. Ich muss mich dringend waschen und rasieren, und mein Aufzug ist verheerend, weil ich in meinen Kleidern geschlafen habe.«
»So is’ das nun mal im Polizeigewahrsam, Sir. Hier, trink’n Se den Tee. Der hilft Ihn’n auf de Beine.«
»Das hoffe ich.« Er trat einen Schritt von der Tür zurück, damit der Beamte die Tasse hinstellen konnte, ohne einen Angriff von ihm befürchten zu müssen. Aus seiner Zeit im Polizeidienst wusste er, dass dies Verhalten üblich war.
Der Beamte sah ihn fragend an. »Se war’n wohl früher schon mal eingesperrt?«, bemerkte er.
»Nein«, gab Pitt zurück. »Aber ich habe das oft genug von außen mit angesehen. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich selbst Polizeibeamter bin. Sie könnten noch eine andere Nummer anrufen, nachdem Mr Narraway nicht in seinem Büro zu sein scheint. Bitte. Ich muss unbedingt jemanden über meine Situation informieren, zumindest meine Angehörigen.«
»Un’ wer is’ das, Sir?« Der Beamte stellte die Tasse ab, verließ die Zelle rückwärts und schloss sie wieder ab. »Sag’n Se
»Lady Vespasia Cumming-Gould«, teilte ihm Pitt mit. »Ich schreibe Ihnen die Nummer auf, wenn Sie mir einen Bleistift geben.«
»Sag’n Se se mir einfach, Sir. Ich schreib se schon auf.«
Widerspruch war zwecklos, und so nannte ihm Pitt die Nummer.
Zehn Minuten später kehrte der Mann mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen und ein wenig bleich im Gesicht zurück.
»Se sagt, dass se Se kennt, Sir. Hat Se ganz genau beschrieb’n un’ gesagt, dass Se einer von ’n best’n Polizeibeamt’n in ganz London sind un’ Mr Narraway genau das is’, was Se gesagt ham, dass dem aber was passiert is’. Se schickt ’n Abgeordnet’n aus’m Unterhaus her, der Se hier raushol’n soll. Außerdem hat se noch gesagt, wir sollt’n Se ja anständig behandeln, sonst müsste se mal ’n ernstes Wörtch’n mi’m Polizeipräsident’ red’n. Ich weiß ja nich’, ob das alles so stimmt, Sir. Se versteh’n hoffentlich, dass ich Se hier drin behalt’n muss, bis der Mann aus London kommt und beweis’n kann, wer er is’. Es könnte ja sons’ jemand sein, un’ immerhin gibt es da zwei Leich’n an der Bahnstrecke.«
»Natürlich«, sagte Pitt matt. Er sagte ihm lieber nicht, dass es sich bei Gower ebenfalls um einen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes gehandelt hatte und er erst am Vortag hinter dessen Ränkespiel gekommen war. »Selbstverständlich warte ich hier«, sagte er. »Es wäre mir aber lieb, wenn Sie mich erst dann vor den Untersuchungsrichter führten, wenn der Mann hier ist, den Lady Vespasia schickt.«
»Ja, Sir, ich denke, das könn’n wir einricht’n.« Er seufzte. »Is’ wohl auch besser so. Wenn Se noch mal von Southampton komm’n, Sir, wär’s mir lieb, wenn Se über ’ne and’re Strecke fahr’n würd’n.«
Pitt brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Die hier ist mir eigentlich ganz recht. Angesichts der Umstände haben Sie sich ausgesprochen einwandfrei verhalten.«
Der Beamte wusste nicht, was er sagen sollte, schien zu überlegen, brachte aber nichts heraus.
Nahezu zwei Stunden später schlenderte der elegant gekleidete Unterhausabgeordnete Somerset Carlisle in die Polizeiwache. Auf seinem Gesicht mischten sich Neugier, Belustigung und Mitgefühl. Vor vielen Jahren hatte er in London ganz bewusst eine Reihe von Skandalen ausgelöst, um damit auf eine eklatante Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen, gegen die er auf andere Weise nichts hätte unternehmen können. Pitt war damals mit der Untersuchung des Falles beauftragt gewesen. Nachdem der Mord aufgeklärt worden war, um den es ging, hatte Pitt es nicht für erforderlich gehalten, Carlisle, der ihn auf so merkwürdige Weise ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt hatte, zu belangen. Das hatte dieser zu schätzen gewusst und ihm seither in mehreren Fällen beigestanden.
Da sich Carlisle anhand mitgebrachter Dokumente ausweisen und zweifelsfrei belegen konnte, dass er ein hohes Regierungsamt bekleidete, war Pitt binnen zehn Minuten in Freiheit. Er tat die Entschuldigungen der Polizeibeamten ab und versicherte ihnen, dass sie ihre Pflicht in beispielhafter Weise erfüllt hatten und er an ihnen nicht das Geringste auszusetzen habe.
»Was zum Teufel wird hier eigentlich gespielt?«, fragte Carlisle, während sie im Sonnenschein dem Bahnhof entgegenstrebten. »Vespasia hat mich heute Morgen angerufen und mir gesagt, dass man Sie eines Doppelmordes beschuldigt! Sie war ganz aufgeregt, was gar nicht ihre Art ist. Sie sehen grauenhaft aus, Mann, wenn ich das sagen darf. Brauchen Sie einen Arzt?« Zwar klang seine Stimme belustigt, aber in seinen Augen lag unverhüllte Besorgnis.
»Es war ein Kampf auf Leben und Tod«, sagte Pitt knapp. Es fiel ihm schwer, normal zu gehen. Ihm war noch gar nicht richtig zu Bewusstsein gekommen, welche Verletzungen er davongetragen hatte. »Auf der hinteren Plattform eines Eisenbahnwaggons in einem schnell fahrenden Zug.« Kurz berichtete er von dem Vorfall und dessen Hintergründen.
Carlisle nickte. »Eine äußerst undurchsichtige Angelegenheit. Ich bin nicht über alles informiert, wäre aber an Ihrer Stelle äußerst vorsichtig, Pitt. Vespasia hat mir gesagt, ich soll Sie nicht nach Lisson Grove bringen, sondern zu ihr. Am besten dürfte es sein, wenn Sie sich von Lisson Grove erst einmal fernhalten.«
Ein Schauer überlief Pitt. Die im Sonnenschein daliegende Straße, der Verkehrslärm um ihn herum, kamen ihm unwirklich vor. »Was ist mit Narraway?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe dies und jenes gehört, habe aber nicht die geringste Ahnung, was da gespielt wird. Falls es überhaupt jemand weiß, dann Vespasia. Aber vorher nehme ich Sie erst einmal mit zu mir, damit Sie sich ein bisschen frisch machen können. Sie sehen aus, als hätten Sie die Nacht im Gefängnis verbracht.«
Pitt würdigte diese Bemerkung keiner Antwort.
Zwei Stunden später stieg Pitt vor Lady Vespasias Haus aus der Droschke. Er hatte sich nicht nur gewaschen und rasiert, sondern auch ihm von Carlisle zur Verfügung gestellte frische Wäsche, Socken und ein sauberes Hemd angezogen. Lady Vespasia, die zu einem silbergrauen Kleid eine lange Perlenkette trug, erwartete ihn bereits und geleitete ihn in den kleinen Salon, ihren Lieblingsraum, von dem aus der Blick auf den Garten fiel. Auf dem Tisch stand eine Schale mit frischen Narzissen, deren Duft den ganzen Raum erfüllte. Vor dem Fenster bewegte eine leichte Brise das junge Laub an den Bäumen.
Nach wie vor beeindruckte ihn Lady Vespasias Schönheit. Auch wenn sie wie immer gefasst war, kannte er sie gut genug, um tiefe Besorgnis in ihren Augen zu erkennen. Er war zu müde, um die Unruhe zu unterdrücken, die er dabei empfand.
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Aha, Somerset hat dir also ein Hemd und eine Krawatte geliehen«, bemerkte sie mit feinem Lächeln.
»Sieht man das so deutlich?«, fragte er.
»Selbstverständlich. Du würdest dir nie im Leben ein Hemd in dieser Farbe oder eine Krawatte mit Bordeauxtönen kaufen. Beides steht dir aber wirklich gut. Setz dich doch bitte. Es ist lästig, wenn ich den Kopf in den Nacken legen muss, um dich anzusehen.«
Er war froh, im Sessel ihr gegenüber Platz nehmen zu können, denn langes Stehen strengte ihn an. Nachdem die Förmlichkeiten vorüber waren, wandte sie sich sogleich den drängenden Fragen zu, die beiden zu schaffen machten.
»Wo hast du nur gesteckt?«, fragte sie, ohne auch nur einen Gedanken an die Möglichkeit zu verschwenden, dass er die Frage nicht beantworten würde, weil es um eine vertrauliche Angelegenheit ging. Immerhin wusste sie mehr über die Macht und Gefahr von Geheimnissen als die meisten Kabinettsminister.
»In Saint Malo«, gab er zur Antwort. Es war ihm ausgesprochen peinlich, die ihm gestellte Falle erst so spät erkannt zu haben, doch er wich ihrem Blick nicht aus und berichtete das Abenteuer in allen Einzelheiten. So erfuhr sie, wem er mit Gower durch die Straßen nachgejagt war, wie Gower kurz zurückgeblieben war und Pitt nach ihrem erneuten Zusammentreffen zu der Ziegelei gelotst hatte, wo sie gesehen hatten, wie sich Wrexham über Wests Leiche beugte, dem man die Kehle durchgeschnitten hatte und dessen Blut die Steine des Ziegeleihofs bedeckte.
Lady Vespasia zuckte bei dieser drastischen Schilderung zusammen, unterbrach ihn aber nicht.
Als Nächstes beschrieb er, wie sie Wrexham erst ins East End, dann mit dem Zug bis Southampton und schließlich per Fähre bis nach Saint Malo verfolgt hatten. Er erklärte so ausführlich, warum sie ihn nicht gleich festgenommen hatten, dass er nach einer Weile den Eindruck hatte, es klinge wie eine Ausrede.
Tröstend sagte sie: »Dem gesunden Menschenverstand würde deine Handlungsweise gerechtfertigt erscheinen, denn damals konntest du es nicht anders wissen. Du darfst dir also von mir aus weitere Einzelheiten sparen. Du hattest Grund, eine sozialistische Verschwörung zu vermuten, und warst überzeugt, dass die wichtiger war als ein Mord in London. Was hast du in Saint Malo herausbekommen?«
»Herzlich wenig«, gab er zur Antwort. »Wir haben in den ersten Tagen einen oder zwei bekannte sozialistische Agitatoren gesehen … jedenfalls nehme ich das an.«
»Was meinst du mit ›Ich nehme das an‹?«, fragte sie.
Er erklärte ihr, dass Gower die Männer identifiziert und er sich damit zufriedengegeben hatte.
»Ich verstehe. Und wer waren die?«
Gerade als er sagen wollte, dass ihr die Namen kaum bekannt sein dürften, fiel ihm die Rolle ein, die sie um die Mitte des Jahrhunderts in den in großen Teilen Europas mit Ausnahme Großbritanniens ausgebrochenen Revolutionen gespielt hatte. In jener kurzen Zeit der Hoffnung auf eine neue Freiheit war sie in Italien selbst auf die Barrikaden gestiegen. Es war also durchaus möglich, dass sie nicht alles Interesse an diesen Dingen verloren hatte. »Jacob Meister und Pieter Linsky«, sagte er. »Aber sie sind nicht noch einmal gekommen.«
Sie runzelte die Brauen. Ihre Anspannung ließ sich an der Haltung ihrer Schultern erkennen und daran, wie sie die Hände im Schoß ineinanderschlang.
»Weißt du etwa, um wen es sich bei denen handelt?«
»Selbstverständlich«, sagte sie knapp. »Und auch von vielen anderen. Die Leute sind äußerst gefährlich, Thomas. Auf dem Kontinent erhebt ein neuer Radikalismus sein Haupt, und die nächsten Aufstände werden nicht wie die von 1848 ausgehen. Wir haben es mit einem ganz anderen Menschenschlag zu tun. Es wird mehr Gewalttaten geben, wahrscheinlich sogar sehr viel mehr. Wenn der Zar nicht lernt, dass er sich den Zeiten anpassen muss, wird die Monarchie dort nicht mehr von langer Dauer sein. Die Art, wie die Menschen in Russland unterdrückt werden, ist entsetzlich, und es herrscht eine erschreckende Armut. Ich habe noch einige alte Bekannte dort, die mir gelegentlich schreiben und mir schildern, wie es im Lande aussieht. Der Zar hat, wie auch seine sämtlichen Minister und Berater, jeden Bezug zur Wirklichkeit und zu seinem Volk verloren. So tief ist die Kluft zwischen denen, die einen geradezu obszönen Reichtum zur Schau stellen, und denen, die buchstäblich verhungern, dass sie sie schließlich alle miteinander verschlingen wird. Das Einzige, was wir nicht wissen, ist, wann es so weit sein wird.«
Diese Vorstellung ließ ihn erschauern, aber er sagte nichts und stellte ihre Voraussage auch nicht in Frage.
»Bedauerlicherweise kann ich dir auch von hier nichts Gutes berichten – einen Teil weißt du ja schon.«
»Nur dass Narraway nicht mehr in Lisson Grove ist«, gab er zur Antwort. »Carlisle hat mir aber weder gesagt, warum, noch, was genau geschehen ist.«
»Ich kenne die Hintergründe«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer, und er sah die Trauer in ihren Augen. Sie war bleich und sah müde aus. »Man legt ihm zur Last, einen ansehnlichen Geldbetrag unterschlagen zu haben, der …«
»Wie bitte?« Der bloße Gedanke war widersinnig. Normalerweise hätte er nicht im Traum daran gedacht, ihr ins Wort
Ein Anflug von Belustigung funkelte in ihren Augen und verschwand gleich wieder. »Selbstverständlich ist mir die Absurdität dieses Vorwurfs bewusst, Thomas. Victor hat durchaus seine Schwächen, aber Übergriffe auf das Eigentum anderer gehören nicht dazu.«
»Du sagtest, ein ansehnlicher Betrag?«
»Ja, so ansehnlich, dass es sich durchaus lohnen würde, ihn zu stehlen. Es hat einen Mann das Leben gekostet, dass er diesen Betrag nicht zur Verfügung hatte. Falls Victor überhaupt seine Stellung im Sicherheitsdienst mit einem Diebstahl aufs Spiel setzen würde, müssten es schon die Kronjuwelen oder etwas Vergleichbares sein. Jemand hat die Sache mit außerordentlicher Gerissenheit eingefädelt. Ich habe zwar einen Verdacht, wer das sein könnte, aber er gründet sich auf nichts Greifbares, und möglicherweise gehe ich mit dieser Vermutung auch vollständig in die Irre.«
»Und wo ist Narraway?«, fragte er.
»In Irland.«
»Etwa im Gefängnis?«, fragte er. »Aber wieso in Irland?« Das musste er genauer erkunden. Er hatte ihn in London vermutet.
»Soweit ich weiß, ist er aus eigenem Entschluss dort hingereist, weil er überzeugt ist, dass Iren hinter diesem Manöver stecken und er die Lösung des Falles dort finden wird.« Sie biss sich leicht auf die Lippe. Er konnte sich nicht erinnern, sie je so tief besorgt gesehen zu haben.
»Tante Vespasia?« Er beugte sich ein wenig vor.
»Er war sicher, dass es da um eine persönliche Abrechnung geht«, fuhr sie fort. »Einen Akt der Rache für eine lange zurückliegende Verletzung. Ursprünglich hatte ich angenommen,
»Du sagst, du hast das ursprünglich angenommen – heißt das, dass du deine Meinung geändert hast?«, fragte er.
»Nach allem, was du mir über deine Erlebnisse in Frankreich und deinen Mitarbeiter Gower gesagt hast, den weder du noch sonst jemand im Sicherheitsdienst verdächtigt zu haben scheint, vermute ich, dass sich Victor geirrt hat«, sagte sie. »Ich nehme an, dass das Ganze überhaupt nichts mit persönlicher Rache zu tun hat, sondern lediglich dem Zweck dient, ihn aus seinem Amt in London zu boxen und es jemandem mit weit geringeren Fähigkeiten zuzuschanzen – wenn nicht gar, schlimmer noch, jemandem, der mit den Sozialisten unter einer Decke steckt oder zumindest mit ihnen sympathisiert. Auch würde ich denken, dass man dich aus demselben Grund nach Frankreich gelockt hat.«
Ein bitteres Lächeln trat auf seine Züge. »Ich verfüge weder über Narraways Erfahrung noch über seine Macht«, teilte er ihr offen mit. »Daher lohnt es sich für die Leute nicht, mich wegzulocken.«
»Du bist zu bescheiden, mein Lieber.« Sie sah ihn freundlich an. »Wahrscheinlich hättest du dich mit Zähnen und Klauen für Victor eingesetzt. Ich denke, du kannst ihn gut leiden, und selbst wenn diese Einschätzung nicht zutreffen sollte, bist du ihm auf jeden Fall verpflichtet. Immerhin hat er dich beim Sicherheitsdienst untergebracht, als dich die Londoner Polizei entlassen hat und klar war, dass du auf keinen Fall je wieder dorthin zurückkehren könntest, weil du dort zu viele Feinde hast. Das war für ihn nicht ganz ungefährlich, denn er hat sich damit selbst weitere Feinde geschaffen. Es gibt durchaus
Sie sah ihn fest an. »Ganz davon abgesehen sind auch dir viele im Sicherheitsdienst feindlich gesonnen, weil er dir diesen Gefallen erwiesen hat und du auch ziemlich schnell aufgestiegen bist. Jetzt, wo er nicht mehr da ist, ist die Frage durchaus offen, wie lange du dich dort noch halten kannst. Selbst wenn du Glück hättest und man dich nicht sofort entlässt, müsstest du dich ständig absichern und auf das Schlimmste gefasst sein. Falls du das nicht wissen solltest, wärest du ein weit argloseres Gemüt, als ich bisher angenommen habe.«
»Die Treue, die ich ihm schulde, hätte genügt«, erwiderte er ihr. »Aber natürlich hast du Recht. Mir ist klar, dass meine Stellung dort ohne Narraways Schutz auf die Dauer unhaltbar wäre.«
Mit sanfter Stimme fuhr sie fort: »Mein Lieber, es ist aus mehreren Gründen unerlässlich, dass wir alles tun, was wir können, um Victors guten Namen wiederherzustellen. Ich freue mich, dass du das so deutlich siehst.«
Mit einem Mal empfand er ein sonderbares Gefühl, eine Art Frösteln, das wie eine Warnung war.
Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und fuhr fort: »Dann wirst du auch verstehen, warum Charlotte mit ihm nach Irland gereist ist, um ihn dort auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen. Es wird für ihn, jetzt so auf sich gestellt, schwer genug sein. Unter Umständen ist es ihr möglich, sich an Orten umzusehen oder umzuhören, die er keinesfalls aufsuchen kann.«
Einen Augenblick lang verstand er nicht, was sie gesagt hatte, als habe sie in einer fremden Sprache gesprochen. Die Schlüsselwörter
»Charlotte ist in Irland?«, fragte er fassungslos. »Das ist doch nicht möglich! Was könnte sie dort ausrichten? Sie kennt das Land nicht und weiß mit Sicherheit weder etwas über Narraways Vergangenheit noch über seine früheren Fälle oder andere Angehörige des Sicherheitsdienstes.« Fast hätte er ihr gesagt, sie müsse etwas missverstanden haben. Das wäre zwar unhöflich von ihm gewesen, aber es gab keine andere Erklärung.
»Thomas«, sagte sie mit bedeutungsvoller Stimme. »Die Lage ist außerordentlich ernst. Victor ist in einer prekären Situation, denn man hat ihm jeden Zugang zu seinem Büro verwehrt, womit ihm keins der Mittel des Sicherheitsdienstes mehr zur Verfügung steht. Wir wissen, dass zumindest eine Person, die dort eine hohe Position bekleidet, ein Betrüger und Verräter sein muss, aber nicht, wer das ist. Charles Austwick hat Narraways Posten übernommen …«
»Austwick?«
»Ja. Siehst du jetzt, wie besorgniserregend das Ganze ist? Glaubst du wirklich, Victor Narraway könnte den Verräter ohne Hilfe aufspüren? Ganz offensichtlich hat keiner von euch etwas von Gowers Verrat gewusst, nicht einmal Victor. Wer weiß, wie viele dich noch hintergehen würden? Charlotte ist sich zumindest teilweise der Gefahr bewusst, auch der, die dir persönlich droht. Begleitet hat sie Victor teils aus Loyalität zu ihm, in erster Linie aber, um ihm zu helfen, sein Amt zu bewahren, weil ihr nur allzu klar ist, dass auch deine Anstellung davon abhängt. Es gibt zudem einen weiteren Punkt, über den nachzudenken du möglicherweise noch keine Zeit hattest. Nachdem es den Leuten gelungen ist, den Eindruck zu erwecken, Victor habe ein Eigentumsdelikt begangen, dürfte es ihnen kaum schwerfallen, dich als mitschuldig hinzustellen.«
Der bloße Gedanke entsetzte Pitt. Er war erschöpft und litt noch unter dem Schock der Enttäuschung und dem Entsetzen über die von ihm am Vortag verübte Gewalttat. Er war so müde, dass er in dem bequemen Sessel, in dem er saß, hätte einschlafen können. Zugleich aber verkrampften sich sein Rücken, seine Schultern und sein Nacken vor Angst, ihn schwindelte geradezu. Was ihm Lady Vespasia da eröffnet hatte, machte alles nur noch schlimmer. Er bemühte sich, die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken.
»Ist Charlotte dort, wo sie sich befindet, wenigstens in Sicherheit? « Ihm ging durch den Kopf, dass »Sicherheit« angesichts dessen, dass sie sich mit Narraway in Irland aufhielt, wohl das falsche Wort war.
»Thomas, Victor ist bei ihr. Er wird nicht zulassen, dass ihr etwas zustößt, sofern er es verhindern kann«, versuchte sie ihn zu beruhigen.
Obwohl Pitt wusste, dass Narraway eine Schwäche für Charlotte hatte, begehrte er auf. »Wenn ihm etwas an ihr läge, hätte er nicht …«, setzte er an.
»Du meinst: zugelassen, dass sie mit ihm dorthin reist?«, beendete sie den Satz für ihn. »Thomas, ihr Motiv war nicht nur Freundestreue, sondern vor allem der Wunsch, deine berufliche Zukunft und damit die finanzielle Sicherheit eurer Familie zu gewährleisten. Was hätte er deiner Ansicht nach sagen oder tun können, um sie daran zu hindern?«
»Er hätte ihr ja nicht zu sagen brauchen, dass er dahin wollte!«, stieß er hervor.
»Ist das dein Ernst?« Sie hob ihre silbergrauen Brauen. »Hätte er sie auch im Unklaren darüber lassen sollen, warum du nicht nach Hause gekommen bist, nachdem du deinen Informanten durch die Straßen Londons verfolgt hattest? An jenem Abend und während der ganzen darauffolgenden Woche? Natürlich hätte sie, wenn sie sich lange genug geängstigt hätte,
»Nein …« Er kam sich töricht vor und war zugleich von Panik erfüllt. Was sollte er nur tun? Am liebsten wäre er spornstreichs nach Irland aufgebrochen, um sich zu vergewissern, dass es Charlotte gutging. Doch er brauchte nicht lange zu überlegen, um zu erkennen, dass er damit unter Umständen ebenso viel Schaden anrichten wie Gutes bewirken konnte. Außerdem lag das Kernproblem nicht dort, sondern in London. Nicht nur hatte er keine Vorstellung davon, um welchen alten Fall Narraways es sich handelte, denn davon gab es eine ganze Reihe – es sah inzwischen auch ganz so aus, als habe jemand mit einem Ablenkungsmanöver auch Narraway auf eine falsche Fährte gelockt, ganz so wie ihn mit der angeblich nötigen Verfolgung Wrexhams nach Frankreich. Sollten die Dinge tatsächlich so liegen, würde er den Leuten geradezu in die Hände spielen, wenn er nun ohne nachzudenken blind reagierte. Er verwarf diesen Impuls als verantwortungslos.
»Dann gehe ich jetzt nach Hause und kümmere mich um die Kinder«, sagte er etwas ruhiger. »Nach einer ganzen Woche allein mit Mrs Waterman sind sie bestimmt froh, von ihr erlöst zu werden. Mit der Frau ist nicht immer gut Kirschen essen. Ich muss unbedingt mit Charlotte darüber sprechen, sobald sie zurück ist.«
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, begann Lady Vespasia.
»Du kennst sie nicht …«, hielt er dagegen.
»Das ist völlig unerheblich«, teilte ihm Lady Vespasia mit. »Sie ist gegangen.«
»Wie bitte? Dann …«
Lady Vespasia hob die Hand. »Das ist der andere Punkt, über den ich dich in Kenntnis setzen wollte. Charlotte hat statt ihrer eine junge Frau eingestellt, die Gracie ihr empfohlen hat. Diese Minnie Maude scheint mir sehr tüchtig zu sein. Darüber hinaus schaut Gracie jeden Tag bei euch im Haus vorbei. Ich war ebenfalls schon zweimal dort und habe festgestellt, dass alles zum Besten steht. Übrigens gefällt mir diese Minnie Maude sehr; die Frau hat Charakter.«
Pitt schwirrte der Kopf. Alles um ihn herum schien sich zu verändern. Kaum sah er hin, war es nicht mehr wie zuvor, so, als habe jemand ein Kaleidoskop ein Stückchen weiter gedreht und alle Glasstückchen darin hätten sich zu einem völlig neuen Bild geordnet.
»Minnie Maude?«, fragte er stockend, »wie alt ist die um Gottes willen?« In seinen Augen war Gracie kaum mehr als ein Kind. Das hing nicht nur damit zusammen – was ihm durchaus bewusst war –, dass er sie kannte, seit sie dreizehn Jahre alt gewesen war, sondern auch damit, dass sie nach wie vor so klein war. Ihre beachtlichen Fähigkeiten und ihre bemerkenswerte Tapferkeit kannte er aus Erfahrung. Wer mochte diese Minnie Maude sein, der man seine Kinder anvertraut hatte?
»Um die zwanzig«, gab ihm Lady Vespasia Auskunft. »Gracie kennt sie seit ihrem achten Lebensjahr. Sie ist mutig und vernünftig. Du brauchst dir wirklich keinerlei Sorgen zu machen, Thomas. Wie gesagt, ich war selbst dort, und es gab keinen Grund zur Klage. Ich kann dir auch versichern, dass Daniel und Jemima wunderbar mit ihr auskommen. Glaubst du etwa, ich hätte nichts unternommen, wenn es anders wäre?«
Jetzt kam er sich schwerfällig und zutiefst undankbar vor. »Nein, natürlich nicht.« Ihm war klar, dass er sie um Verzeihung bitten musste. Von reiner Sorge hatte er sich zu törichten und ungehörigen Äußerungen verleiten lassen. »Bitte entschuldige, ich …« Er suchte nach Worten.
Sie lächelte auf eine Weise, die ihr Gesicht aufleuchten ließ und all die Schönheit zum Vorschein brachte, für die sie einst berühmt gewesen war. »Ich würde dich weniger schätzen, wenn du das für selbstverständlich hieltest«, sagte sie. »Möchtest du eine Tasse Tee trinken, bevor du gehst? Und hast du Hunger? In dem Fall solltest du mir sagen, was du gern hättest – ich lasse es dir dann machen. Inzwischen können wir miteinander besprechen, was als Nächstes zu tun ist. Jetzt dürfte es wohl an dir sein, festzustellen, was es mit dieser hinterhältigen Geschichte auf sich hat, und nach Möglichkeit zu ermitteln, wer der Verräter in Lisson Grove ist.«
Ihre Worte ernüchterten ihn mit einem Schlag. Es sah ihr ähnlich, bei einer Tasse Tee im Salon über Revolutionen, Mord und Hochverrat zu sprechen. Das rückte alles zurecht, und die Welt kam ihm nicht mehr wie ein Irrenhaus vor. Zumindest ein Teil dieser Welt war noch so, wie es sich gehörte. Er holte tief Luft, atmete langsam aus und fasste sich.
»Danke. Ja, ich hätte gern einen Schluck Tee. Die Polizeiwache in Shoreham war nicht besonders gut auf solche Dinge eingerichtet. Und auch ein belegtes Brot wäre mir sehr recht.«
Als Pitt am frühen Nachmittag sein Haus in der Keppel Street erreichte, waren Daniel und Jemima noch in der Schule. Statt aufzuschließen, klopfte er an, um jene Minnie Maude, zu der Tante Vespasia so großes Zutrauen zu haben schien, nicht unnötig zu erschrecken.
Während er auf der Schwelle von einem Fuß auf den anderen trat, überlegte er, welche Veränderungen er wohl vorfinden würde. Was war unerledigt geblieben, und was an seinem vertrauten Heim hatte sich so verändert, dass er es nicht wiedererkennen würde? Vor allem hätte Charlotte da sein müssen, denn ohne sie war das Ganze nur eine leere Hülle.
Eine schlanke junge Frau öffnete und sah ihn zurückhaltend an.
»Was kann ich für Se tun, Sir?«, fragte sie höflich, wobei sie mitten im Türrahmen stehenblieb, damit er nicht einfach an ihr vorbei eintreten konnte. Sie war nicht hübsch, hatte aber schöne leuchtende Locken. Außerdem war ihr Gesicht voller Sommersprossen. Sie war deutlich größer als Gracie, doch ihr Blick war genauso offen und fast ebenso herausfordernd wie ihrer.
»Sind Sie Minnie Maude?«, fragte er.
»Entschuldigung, Sir, aber das geht Sie nichts an«, gab sie zur Antwort. »Wenn Sie mit dem Hausherrn sprechen wollen, geben Sie mir einfach Ihre Karte. Ich sag ihm dann, dass er sich bei Ihnen melden soll.«
Unwillkürlich musste er lächeln. »Dann gebe ich Ihnen in Gottes Namen meine Karte.« Er nahm eine aus der Tasche und hielt sie ihr hin, wobei er sich fragte, ob sie wohl lesen könne. Von Gracie wusste er, dass sie diese Kunst beherrschte, denn Charlotte hatte es ihr beigebracht.
Minnie Maude warf einen Blick auf die Karte, sah dann zu ihm hin und erneut auf die Karte.
Er lächelte.
Sie errötete bis an die Haarwurzeln. »Entschuldigung, Sir«, sagte sie stockend. »Ich hab Se ja nich’ gekannt.«
»Kein Grund, sich zu entschuldigen«, sagte er rasch. »Es war völlig richtig, niemanden einzulassen, von dem Sie nicht wussten, wer er ist.«
Sie tat einen Schritt zurück und ließ ihn eintreten. Kaum stand er in der vertrauten Diele, nahm er den Lavendelgeruch des frisch gebohnerten Fußbodens wahr. Der Spiegel an der Wand war fleckenlos, nirgendwo lag das kleinste Stäubchen, und Jemimas Schuhe standen ordentlich und sauber geputzt unter der Flurgarderobe.
Als Nächstes sah er sich in der Küche um. Alles war, wie es sein sollte: im Herd brannte ein Feuer, ohne dass der Raum überheizt gewesen wäre, die blau-weißen Teller und Untertassen waren säuberlich ins Tellerbord der Anrichte eingeräumt, das Kupfergeschirr hing blankgeputzt an der Wand, und der Küchentisch war blitzsauber. Der Geruch von frisch gebackenem Brot stieg ihm ebenso in die Nase wie jener der Wäsche, die zum Trocknen auf dem Gestell unter der Decke hing. Er war wieder daheim. Alles war, wie es sich gehörte, mit Ausnahme dessen, dass seine Frau und seine Kinder nicht da waren. Doch wusste er immerhin, wo sich Charlotte aufhielt, und die Kinder waren in der Schule.
»Möcht’n Se ’ne Tasse Tee, Sir?«, fragte Minnie Maude zögernd.
Zwar war das so kurz nach seinem Besuch bei Lady Vespasia nicht erforderlich, aber er hatte den Eindruck, dass sich die junge Frau nützlich machen wollte.
»Danke«, nahm er das Angebot an. »Ich muss anschließend noch einmal in die Stadt und weiß nicht, ob ich zum Abendessen zurück sein werde. Falls ja, genügt eine kalte Mahlzeit.« Dann wies er auf den in Frankreich gekauften kleinen Koffer, in dem er die Dinge des täglichen Bedarfs mitgebracht hatte, die er dort ebenfalls hatte kaufen müssen. »Außerdem ist hier drin etwas Wäsche, die gewaschen werden muss.«
»Ja, Sir. Und möcht’n Se sonst kalt’n Lammbrat’n mit heißem Eintopf aus Kohl un’ Kartoffeln? Das krieg’n Daniel un’ Jemima heute Abend, weil se das gerne ess’n. Se mög’n auch Eier dazu.«
»Eier sind genau das Richtige, vielen Dank.« Es war ihm ernst damit. Was sie gesagt hatte, klang vertraut, versprach Behaglichkeit, und sicher würde es ihm schmecken.
Zwar hatte ihn Lady Vespasia gemahnt, sich von Lisson Grove fernzuhalten, doch blieb ihm seiner Ansicht nach nichts
Auch um für Narraway – und damit automatisch für Charlotte – etwas tun zu können, war er dringend auf Informationen angewiesen, die er nirgendwo anders als in Lisson Grove bekommen konnte.
Hinzu kam, dass er unbedingt die Sache mit Gower aufklären musste. Er hatte keine Vorstellung davon, wie sehr ihn der Sturz aus dem Zug entstellt hatte, doch würde die Polizei sicherlich alles tun, um ihn zu identifizieren und damit zweifellos früher oder später Erfolg haben. Es war nicht auszuschließen, dass man in Lisson Grove bereits Bescheid wusste, wenn er dort eintraf.
Was sollte er den Kollegen sagen? Einen wie großen Teil der Wahrheit konnte er enthüllen? Er wusste nicht, wer seine Feinde waren, sie hingegen kannten ihn nur allzu gut. Instinktiv neigte er dazu, sich so unwissend wie möglich zu stellen. Je weniger man in ihm einen ernst zu nehmenden Gegner sah, desto weniger musste er damit rechnen, dass man ihn aus dem Weg zu räumen versuchte. Diese vorgetäuschte Unwissenheit konnte ihm zumindest für eine Weile als Tarnung dienen.
Was den Angriff im Zug auf ihn anging, dürfte es das Beste sein, die Sache nicht zu verschweigen, da die Polizei den Fall bereits kannte. Nur war es sicher besser, zu erklären, er habe keine Vorstellung, wer der Angreifer war – das würde durchaus glaubwürdig klingen.
In Bezug auf Gower würde er sagen, er habe ihn zuletzt in Saint Malo gesehen, als sie gemeinsam beschlossen hatten, Pitt solle nach London zurückkehren, um sich zu erkundigen, was man in Lisson Grove über eine mögliche Verschwörung wusste, während Gower in Frankreich die Stellung halten und Frobisher, Wrexham und andere mögliche Verdächtige nicht aus den Augen lassen sollte. Selbstverständlich musste er so tun, als wisse er nicht das Geringste über die Sache mit Narraway, und auf jeden Fall würde er sich über die Ungeheuerlichkeit von dessen Handlungsweise entsetzt zeigen müssen, wenn man ihm die Zusammenhänge mitteilte.
Er traf kurz vor vier Uhr im Hauptquartier ein, ging an der Wache vorbei ins Haus und bat darum, mit Narraway sprechen zu können.
Man forderte ihn auf zu warten. Damit hatte er gerechnet und war umso erstaunter, dass Charles Austwick bereits nach vergleichsweise kurzer Zeit nach unten kam und ihn in sein Büro führte. Pitt sah auf den ersten Blick, dass dort nichts mehr auf Narraway hinwies: seine Bilder waren ebenso von den Wänden verschwunden wie das Foto seiner Mutter von dem Bücherregal. Auch Narraways Bücher, überwiegend Gedichtbände und Lebenserinnerungen bedeutender Persönlichkeiten, wie auch die gravierte Messingschale aus dessen Militärdienstzeit in Afrika hatte man entfernt.
Er sah Austwick betont verwirrt an.
»Nehmen Sie Platz, Pitt.« Der neue Leiter des Sicherheitsdienstes wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Ich verstehe gut, dass Sie sich fragen, was zum Teufel hier passiert ist. Zu meinem großen Bedauern muss ich Ihnen eine Eröffnung machen, die Sie vermutlich bestürzen wird.«
Pitt zwang sich, beunruhigt dreinzublicken, als könne er sich keinen Reim auf die Situation machen. »Ist Mr Narraway etwas zugestoßen? Ist er verletzt? Oder krank?«
»In gewisser Weise ist es schlimmer als das«, teilte ihm Austwick mit düsterer Miene mit. »Es besteht Grund zu der Annahme, dass er eine beträchtliche Geldsumme unrechtmäßig an sich gebracht hat. Als man ihn mit diesem Verdacht konfrontiert hat, ist er verschwunden. Niemand weiß, wo er sich aufhält. Selbstverständlich hat man ihn sofort seines Amtes enthoben, und ich habe – jedenfalls einstweilen – seine Aufgabe übernommen. Bis ein offizieller Nachfolger ernannt wird, unterstehen Sie also mir. Mir ist klar, dass das für Sie ein schwerer Schlag sein muss. Offen gestanden war es das für uns alle. Wohl niemand hat sich vorstellen können, dass ausgerechnet Narraway dieser Art von Versuchung erliegen würde.«
Pitts Gedanken jagten sich. Wie sollte er auf diese Eröffnung reagieren? Er hatte geglaubt, sich alles zurechtgelegt zu haben, doch als er jetzt in Narraways einstigem Büro saß, an dem man eigentlich nur wenig verändert hatte, das aber gleichwohl vollständig anders wirkte, überfiel ihn erneut Unsicherheit. Ob Austwick der Judas war, der Narraway ausgebootet hatte? In dem Fall musste der Mann weit klüger sein, als Pitt angenommen hatte. Ohne zu ahnen, dass es im Sicherheitsdienst einen Verräter gab, hatte er Gower rückhaltlos vertraut, mit dem bekannten Ergebnis. Inwieweit konnte er sich auf sein Urteilsvermögen verlassen?
»Ich sehe, dass Sie sprachlos sind«, sagte Austwick verständnisvoll. »Wir hatten hier inzwischen Gelegenheit, uns mit der Vorstellung und der veränderten Situation vertraut zu machen. Die Unterschlagung ist unmittelbar nach Ihrem Weggang aufgeflogen. Wo ist übrigens Gower?«
Pitt holte tief Luft und stürzte sich in die Geschichte, die er sich zurechtgelegt hatte. »In Frankreich, in Saint Malo.« Während er das sagte, achtete er möglichst unauffällig auf Austwicks Gesichtsausdruck und versuchte an dessen Augen und
Austwick sprach betont langsam, als wäge er jedes seiner Worte ab, und schien Pitt dabei ebenso aufmerksam zu mustern wie dieser ihn. Ob ihm womöglich Somerset Carlisles erstklassig geschnittenes Hemd oder dessen Krawatte mit den Bordeauxtönen aufgefallen war?
Pitt wiederholte genau, was – seinem damaligen Kenntnisstand nach – zu dem Zeitpunkt geschehen war, als er Narraway von der Notwendigkeit unterrichtet hatte, in Frankreich zu bleiben. Er hatte zu keinem Zeitpunkt schriftlich Bericht erstattet, weil er weder der Briefpost noch einem Telegramm Einzelheiten anvertrauen wollte. Eine solche Mitteilung wäre zu vielen Menschen zugänglich gewesen, und das hätte selbst dann gefährlich sein können, wenn er die Begriffe vorsichtig umschrieben hätte. Alles, was er inzwischen über Gower wusste, verschwieg er.
Austwick schien konzentriert zuzuhören. Seinem Gesichtsausdruck ließ sich nicht entnehmen, ob er die wirklichen Hintergründe kannte.
»Aha«, sagte er schließlich und trommelte auf der Tischplatte herum. »Sie haben also Gower in Frankreich gelassen, weil Sie hofften, dass es da noch etwas Lohnendes zu beobachten gibt?«
»Ja, Sir …« Es kostete ihn Mühe, das Wort »Sir« über die Lippen zu bringen. In ihm wuchs die Wut darüber, dass jener Mann dort an Narraways Schreibtisch auf dem Stuhl seines einstigen Vorgesetzten saß. War auch Austwick in dieser Partie nur eine Spielfigur – oder war er derjenige, der die Figuren führte?
»Halten Sie das für wahrscheinlich?«, fragte er Pitt. »Sie sagen, dass Ihnen nichts mehr aufgefallen ist, seit Sie die beiden Männer gesehen haben … wer war das noch mal? Meister und Linsky?«
»Ja. In Frobishers Haus herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, aber außer den beiden haben wir keinen der Gäste dort erkannt. Möglicherweise war es ein Zufall, dass Meister und Linsky da aufgetaucht sind, aber andererseits muss man bedenken, dass West brutal und offen ermordet worden ist und der Täter Zuflucht in dem Haus gesucht hat. Dafür muss es einen Grund geben.«
Austwick schien eine Weile darüber nachzudenken. Schließlich hob er den Kopf und sagte mit geschürzten Lippen: »Sie haben Recht. Bestimmt ist da etwas im Gange, und selbst wenn die Sache von Frankreich ausgeht, kann sie ohne weiteres mit der Planung von Gewalttaten hier im Lande zusammenhängen. Wir müssen auch an unsere Verbündeten denken und daran, welchen Einfluss es auf unsere Beziehungen zu ihnen hat, wenn wir es nicht fertigbringen, sie rechtzeitig auf solche Umtriebe hinzuweisen. Ich jedenfalls würde mich hintergangen fühlen, wenn unsere Verbündeten von einer Bedrohung unseres Landes Wind bekämen, ohne uns etwas darüber mitzuteilen.«
»Ja, Sir«, stimmte Pitt zu, obwohl er die Worte nur mühsam herausbrachte. Er stand auf. »Sie werden mich bitte entschuldigen, ich habe noch Verschiedenes zu erledigen. «
»Natürlich.« Austwick wirkte gelassen, geradezu beruhigt. Pitt zitterte vor Wut, als er den Raum verließ, und es kostete ihn große Mühe, die Tür leise zu schließen.
Am Abend suchte er den für den Sicherheitsdienst zuständigen Minister Sir Gerald Croxdale auf. Dieser hatte ihn aufgefordert, zu ihm nach Hause zu kommen, da es, wie er gesagt hatte, angesichts der privaten Art und der Dringlichkeit von Pitts Anliegen das Beste sein dürfte, wenn niemand von ihrem Zusammentreffen erfuhr.
Croxdale bewohnte ein schönes altes Haus in Hampstead am Rande der Heide. Die Bäume zeigten erstes Laub, und die Vögel sangen.
Der Butler führte Pitt in die Bibliothek. Dort stand Croxdale an den Fenstertüren, die auf den Garten hinausführten, allem Anschein nach in den Anblick des blassen Abendhimmels im letzten Licht des Tages versunken. Bei Pitts Eintritt drehte er sich um und hielt ihm die Hand hin.
»Scheußlich«, sagte er voll Mitgefühl. »War für uns alle ein harter Schlag. Ich kenne Narraway seit vielen Jahren. Kein einfacher Mann, eher ein Einzelgänger als jemand, der sich in eine Mannschaft einfügt, aber ein glänzender Kopf. Hatte ihn immer für absolut zuverlässig gehalten. Man könnte glauben, dass niemand je vollständig den Schatten seiner Vergangenheit entkommt.« Er wies auf einen der Sessel am Kamin. »Setzen Sie sich doch, und berichten Sie, was in Saint Malo vorgefallen ist. Haben Sie überhaupt schon zu Abend gegessen?«
Überrascht merkte Pitt, dass er Hunger hatte. So intensiv war er damit beschäftigt gewesen, die verschiedenen Möglichkeiten durchzugehen, so sehr hatte ihn die Sorge im Griff gehabt, dass ihm das überhaupt nicht aufgefallen war. Jetzt suchte er nach einer höflichen Antwort.
»Vielleicht belegte Brote?«, bot Croxdale an. »Wie wäre es mit Roastbeef?«
Da Pitt aus bitterer Erfahrung wusste, wie schwer es fällt, auf leeren Magen vernünftige Gedanken zu fassen, sagte er: »Ja, bitte, Sir.«
Croxdale klingelte nach dem Butler und bestellte Whisky sowie mit Roastbeef belegte Brote.
Als der Mann gegangen war, setzte sich Croxdale bequem hin, nickte Pitt zu und sagte: »Wie war das also in Saint Malo?«
Pitt machte ihm dieselben Angaben wie Austwick. Noch war er nicht bereit, jemandem die ganze Wahrheit anzuvertrauen.
Der Butler brachte die Brote, die Pitt köstlich mundeten. Dazu ließ er sich entgegen seiner Gewohnheit ein Glas Whisky aufnötigen, lehnte aber das zweite höflich ab. Das Feuer in den Adern zu spüren, zu merken, dass sein Herz etwas schneller schlug, war zwar ein angenehmes Gefühl, doch konnte es katastrophale Folgen haben, sich vom Alkohol benebeln zu lassen.
Croxdale dachte eine Weile schweigend nach, bevor er auf Pitts Darlegungen antwortete.
»Ich bin überzeugt, dass Sie richtig gehandelt haben«, sagte er schließlich. »Offensichtlich erfordert die Situation dort eine gründliche Überwachung, doch auf der anderen Seite können wir Sie im Augenblick in Lisson Grove nicht entbehren. Die entsetzliche Geschichte mit Narraway hat dort das reinste Chaos angerichtet.«
Pitt fiel auf, dass Croxdale ihn sehr viel aufmerksamer musterte, als man auf den ersten Blick hätte annehmen können. Er wartete respektvoll mit besorgtem Gesicht, als kenne er noch nicht alle Einzelheiten.
Mit einem Seufzer fuhr Croxdale fort: »Ich nehme an, dass diese Sache Sie ebenso entsetzt hat wie mich. Vielleicht hätten wir das voraussehen müssen, aber offen gestanden habe ich mit dieser Möglichkeit nicht gerechnet. Natürlich ist uns bewusst, dass die Mehrzahl der Menschen auf ihren finanziellen Vorteil bedacht ist – es wäre ein schwerer Fehler, wenn wir das bei unseren Erwägungen nicht berücksichtigten. Soweit wir wissen, ist Narraway nicht unbedingt auf Geld angewiesen, und die Geschichte mit O’Neil liegt lange zurück, zwanzig
»Nein, Sir.«
»Lange zurückliegender Fall. Hässliche Geschichte. Hatte ich ehrlich gesagt für erledigt gehalten, wie alle anderen auch. Narraway war vor Jahren für kurze Zeit nach Irland abgeordnet, weil der Dienst annahm, dass es da Ärger geben würde. Genauso war es auch. Hat die Sache so erfolgreich abgebogen, dass öffentlich nie etwas davon bekanntgeworden ist. Um welchen Preis, hat man erst später erfahren.«
Pitts Unwissenheit war jetzt echt und auch seine immer mehr zunehmende Angst.
Mit kaum wahrnehmbarem Kopfschütteln sagte Croxdale, wobei er betrübt das Gesicht verzog: »Hat eine Irin gegen ihre eigenen Leute eingesetzt, eine gewisse Kate O’Neil. Einzelheiten sind mir nicht bekannt. Ist mir auch lieber so. Jedenfalls hat ihr Mann sie auf ziemlich üble Weise umgebracht, wofür er gehängt worden ist.«
Pitt war wie vor den Kopf geschlagen. Welches Ausmaß an Schuld und Kummer! War Narraway tatsächlich so grausam und skrupellos, wie es nach Croxdales Worten den Anschein hatte? Er rief sich in Erinnerung, wie Narraways Gesicht unter den verschiedensten Umständen ausgesehen hatte, in Zeiten des Erfolgs wie solchen des Fehlschlags; wenn er erschöpft war, besorgt, enttäuscht, am Ende Dutzender gewonnener oder verlorener Kämpfe. Das Vertrauensverhältnis, das sich im Laufe der Zeit zwischen ihnen herausgebildet hatte, beruhte auf Instinkt, entzog sich jeglicher auf den Verstand gegründeten Analyse. Es fiel Pitt schwer, seine Empfindungen zu verbergen, und er bemühte sich, verwirrt dreinzublicken.
»Wenn all das zwanzig Jahre zurückliegt, was hat sich dann jetzt geändert?«, erkundigte er sich.
Croxdale zeigte sich von dieser Frage nur einen kurzen Augenblick lang verblüfft. »Das wissen wir nicht«, gab er zurück. »Vermutlich hat es mit O’Neils Situation zu tun.«
»Ich dachte, den hat man gehängt?«
»Das war Sean O’Neil, der Ehemann jener Kate. Aber sein Bruder Cormac lebt noch. Die beiden haben einander selbst für irische Verhältnisse ungewöhnlich nahegestanden«, erläuterte Croxdale.
»Und warum hat dieser Cormac dann mit seiner Rache zwanzig Jahre lang gewartet? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat Narraway das Geld doch in irgendeinem Zusammenhang mit diesem O’Neil an sich genommen.«
Croxdale zögerte und sah Pitt wachsam an. »Offen gestanden ahne ich das nicht. Augenscheinlich müssen wir noch eine Menge mehr in Erfahrung bringen, als wir zur Zeit wissen. Meine Vermutung, dass die Sache mit O’Neil zu tun haben könnte, hängt damit zusammen, dass Narraway nahezu unmittelbar nach seiner Enttarnung nach Irland aufgebrochen ist. Entweder hat er viele Feinde dort und schwebt in höchster Gefahr, oder er hat neue Verbündete gefunden, indem er Mulhare die Flucht verunmöglicht hat, und beabsichtigt nun, mit ihnen in Irland gegen uns zu arbeiten.«
Pitt fühlte sich, als habe ihn jemand mit einem Sandsack niedergeschlagen. In dem Versuch, die Wirklichkeit nicht aus den Augen zu verlieren, sah er benommen zu Croxdale hin, dessen Gesicht vor seinen Augen zu verschwimmen begann. Der Raum schien sich um ihn zu drehen.
»Tut mir außerordentlich leid«, sagte Croxdale. »Ich kann mir denken, wie sehr Sie das mitnimmt. Natürlich konnten Sie von diesem Wesenszug Narraways nichts wissen. Ich muss zugeben, dass auch ich nichts davon geahnt habe. Es kommt mir jetzt geradezu sträflich vor, dass ich einen solchen Mann in unserer empfindlichsten Abteilung an so exponierter Stelle
Pitt war nicht bereit zu glauben, was er da gehört hatte, zum Teil allein schon deshalb, weil ihm die Vorstellung unerträglich war. Immerhin befand sich Charlotte mit Narraway in Irland. Was war mit ihr? Wie konnte er Croxdale danach fragen, ohne preiszugeben, dass er im Bilde war? Er dachte nicht im Traum daran, Lady Vespasia mit in die Sache hineinzuziehen. Schließlich war sie für ihn ein Posten auf seiner Habenseite – möglicherweise der einzige.
Croxdale sprach mit gedämpfter Stimme weiter, als befürchte er, ein Dienstbote könne ihn belauschen.
»Pitt, die Sache ist äußerst schwerwiegend. Ich bin froh, dass Sie das sofort begriffen haben. Um mit dieser katastrophalen Situation fertigzuwerden, müssen wir unsere Kräfte neu gruppieren. Sieht ganz so aus, als ob um uns herum lauter Verschwörungen lauerten. Meiner Überzeugung nach gehört das, was Sie und Gower ermittelt haben, zu einem umfassenden und möglicherweise äußerst gefährlichen Plan. Wir alle wissen, dass die Welle des Sozialismus in Europa schon seit längerer Zeit immer höher schwappt. Aus Gründen, die ich nicht zu erläutern brauche, konnte ich Narraway unmöglich länger im Amt lassen. Auf diesem Posten brauche ich den besten Mann, den ich finden kann. Er muss in jeder Hinsicht vertrauenswürdig sein, und in seiner Vergangenheit darf es keinen dunklen Punkt geben, nichts, was unsere gegenwärtigen Bemühungen um die Sicherheit unseres Landes gefährden könnte.«
Pitt zwinkerte. »Das versteht sich von selbst.« Wollte Croxdale mit diesen Worten durchblicken lassen, dass er Austwick für den Judas hielt? Dieser Frage war Pitt bisher bewusst ausgewichen
Im nächsten Augenblick fragte sich Pitt, ob er sich auf seine eigene Urteilskraft verlassen konnte. Immerhin hatte er auch Gower vertraut.
Croxdale sah ihn nach wie vor unverwandt an.
Pitt wusste nicht, was er hätte sagen können.
»Wir brauchen einen Mann, der weiß, was Narraway getan hat, und die Zügel da wieder aufnehmen kann, wo dieser sie hat fallen lassen«, fuhr Croxdale fort. »Der einzige Mann, auf den all das zutrifft, sind Sie, Pitt. Mir ist klar, dass ich damit eine Menge von Ihnen verlange, aber es gibt keinen anderen. Ich bin überzeugt, dass Narraways Urteil über Ihre Fähigkeiten und Ihre Integrität voll und ganz zutrifft.«
»Aber … Austwick … «, stotterte Pitt. »Er …«
»Als Lückenbüßer ganz in Ordnung«, sagte Croxdale kühl, »aber in Zeiten wie diesen nicht der richtige Mann für die Aufgabe. Ehrlich gesagt besitzt er weder die nötigen Führungsqualitäten, noch ist er imstande, Entscheidungen dieser Größenordnung zu treffen. Als einstweiliger Stellvertreter war er durchaus brauchbar.«
Pitt wurde schwindelig. Weder hatte er bei seiner bisherigen Tätigkeit im Sicherheitsdienst Entscheidungen treffen müssen, noch verfügte er über Erfahrungen mit den politischen Dimensionen der Stellung als dessen Leiter. Ganz davon abgesehen war er auch nicht so sehr von sich selbst überzeugt, dass er seine eigene Urteilskraft höher einschätzte als die anderer. Ihm war klar, dass er auf keinen Fall imstande wäre, schwierige Situationen so rasch, unauffällig und machtvoll zu lösen, wie Narraway das getan hatte. Erst in diesem Augenblick, während er Croxdale benommen ansah, ging ihm auf, eine
»Auch ich besitze nicht die erforderlichen Fähigkeiten«, sagte er schließlich. »Und ich bin auch noch nicht lange genug dabei, als dass mir die anderen Mitarbeiter rückhaltloses Vertrauen entgegenbringen würden. Ich werde Austwick bereitwillig nach Kräften unterstützen, fühle mich aber der Führungsposition nicht gewachsen.«
Croxdale lächelte. »Mit Ihrer Bescheidenheit habe ich mehr oder weniger gerechnet. Es ist eine positive Eigenschaft, denn aus Überheblichkeit entstehen Fehler. Ich bin überzeugt, dass Sie bei anderen Rat suchen und ihn auch befolgen werden – jedenfalls in der Mehrzahl der Fälle. Soweit mir bekannt ist, hat Sie bisher weder Ihre Urteilskraft im Stich gelassen noch Ihnen der Mut gefehlt, Ihren Überzeugungen entsprechend zu handeln. Ihre früheren Leistungen sind mir bekannt, Pitt. Glauben Sie wirklich, dass die unbemerkt geblieben sind?« Er fragte das mit einer Stimme, in der ein Anflug von Belustigung lag.
»Schon möglich«, räumte Pitt ein. »Sicher wissen Sie eine ganze Menge über Leute, die Sie in Dienst nehmen. Aber …«
»In Ihrem Fall war das anders«, widersprach ihm Croxdale, »denn Narraway hat Sie eingestellt. Aber ich habe Sie von Anfang an ganz bewusst im Auge behalten. Ihr Land braucht Sie, Pitt. Narraway hat unser Vertrauen auf die schändlichste Weise missbraucht. Sie waren seine rechte Hand, und so ist es für Sie nicht nur eine Ehre, die Ihnen angetragene Aufgabe zu übernehmen, sondern auch Ihre Pflicht.« Er hielt ihm die Hand hin.
Pitt wusste nicht, was er sagen sollte. Er empfand weder Freude noch das Gefühl, einer hohen Ehre teilhaftig zu werden, wohl aber überfielen ihn Trauer um Narraway und Angst um Charlotte. Überdies bedrückte ihn das Bewusstsein, dass
»Wir zählen auf Sie, Pitt«, sagte Croxdale. »Lassen Sie Ihr Land nicht im Stich, Mann!«
»Nein, Sir«, sagte Pitt unglücklich. »Ich werde tun, was ich kann, Sir …«
»Gut.« Croxdale lächelte. »Ich habe ja gleich gewusst, dass ich mich auf Sie verlassen kann. In dieser Hinsicht hatte Narraway Recht. Ich werde die entsprechenden Stellen von der Veränderung in Kenntnis setzen, unter anderem natürlich auch den Premierminister. Danke, Pitt, Sie haben uns eine große Last von der Seele genommen.«
Ihm blieb keine Wahl, als anzunehmen. Sogleich machte sich Croxdale daran, seinen künftigen Aufgabenbereich zu umreißen, ihm seine Vollmachten zu erklären und ihm mitzuteilen, welche Gegenleistungen er dafür erwarten durfte.
Es war Mitternacht, als Pitt in die von Laternen erhellte Nacht hinaustrat. Auf der Straße stand Croxdales Kutsche bereit, die ihn nach Hause bringen sollte.