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Harry Flint wird sich um die Frauen kümmern, dachte Tanner voller Genugtuung. Flint hatte ihn noch nie enttäuscht.
Tanner musste stets aufs Neue schmunzeln, wenn er daran dachte, wie er an Flint gekommen war. Vor etlichen Jahren hatte sein Bruder Andrew, der Inbegriff aller Gutmenschen auf der Welt, ein betreutes Heim für entlassene Strafgefangene eröffnet, in dem sie sich an das Leben in Freiheit gewöhnen sollten. Danach besorgte er ihnen einen Arbeitsplatz.
Tanner hatte etwas Besseres mit den ehemaligen Sträflingen vor, denn seiner Meinung nach gab es so etwas wie eine Resozialisierung nicht. Über private Quellen besorgte er sich Auskünfte über die Vergangenheit der unlängst entlassenen Häftlinge, und wenn sie über Fähigkeiten verfügten, die er gebrauchen konnte, kamen sie aus dem betreuten Heim sofort zu Tanner und erledigten für ihn so genannte »heikle persönliche Aufträge«.
So hatte er beispielsweise auch einen ehemaligen Sträfling namens Vince Carballo zur KIG geholt. Carballo war ein schwergewichtiger Mann mit einem zotteligen Bart und stechenden blauen Augen. Er hatte ein langes Vorstrafenregister und war einst wegen Mordes angeklagt worden. Die Beweise gegen ihn waren erdrückend, doch ein Geschworener beharrte darauf, dass der Mann freigesprochen werden sollte, sodass die Jury zu keinem einstimmigen Beschluss gelangte. Nur wenige Menschen wussten, dass die Tochter des Geschworenen verschwunden war und der Täter eine Nachricht mit folgendem Wortlaut hinterlassen hatte: Das Schicksal Ihrer Tochter hängt vom Urteil der Geschworenen ab. Solche Männer bewunderte Tanner Kingsley.
Auf ähnliche Weise hatte Tanner auch von einem ehemaligen Sträfling namens Harry Flint gehört. Er ließ Flints Leben gründlich durchleuchten und kam zu dem Entschluss, dass er der ideale Mann für seine Zwecke war.
Harry Flint war in Detroit geboren. Sein Vater war ein verkrachter und dementsprechend verbitterter Handelsvertreter, der die meiste Zeit zu Hause herumsaß und sich über Gott und die Welt beklagte. Gleichzeitig führte er ein strenges, ja geradezu sadistisches Regiment und genoss es regelrecht, seinen Sohn beim geringsten Verstoß mit einem Lineal, einem Hosengürtel oder irgendetwas anderem, das gerade zur Hand war, zu verdreschen. Es war, als wollte er ihn zu Leistung und Erfolg prügeln, um sein eigenes Versagen wettzumachen.
Harrys Mutter arbeitete als Maniküre in einem Friseursalon. Während der Vater ein Tyrann schlimmster Sorte war, liebte die Mutter ihren Sohn geradezu abgöttisch, sodass Harry in jungen Jahren ständig zwischen beiden Extremen hin- und hergerissen wurde.
Die Ärzte hatten Harrys Mutter erklärt, sie wäre zu alt, um Kinder zu bekommen; daher betrachtete sie ihre Schwangerschaft als ein Wunder. Nach Harrys Geburt verhätschelte sie ihn nach Strich und Faden, knuddelte, tätschelte und küsste ihn ständig, bis der Junge das Gefühl hatte, er werde von ihrer Liebe regelrecht erdrückt. Als er älter wurde, verabscheute er jegliche körperliche Berührung.
Als Harry Flint vierzehn Jahre alt war, fing er im Keller eine Ratte und zertrampelte sie. Er sah zu, wie die Ratte langsam und qualvoll starb. Für Harry Flint war das wie eine Offenbarung. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er Herr über Leben und Tod war. Er kam sich vor wie Gott. Er war omnipotent, allmächtig. Er wollte dieses Gefühl unbedingt wieder erleben, und deshalb stellte er kleinen Tieren in der Nachbarschaft nach und machte mit ihnen, wozu immer er Lust hatte. Flint tat das nicht etwa aus purer Boshaftigkeit oder aus Wut. Er nutzte einfach die Gabe, die ihm Gott gegeben hatte.
Aufgebrachte Nachbarn, deren Haustiere gequält und getötet worden waren, beschwerten sich bei den Behörden, worauf man dem Täter eine Falle stellte. Die Polizei leinte einen Scottish Terrier im Vorgarten eines Hauses an, damit er nicht davonlaufen konnte, und legte sich auf die Lauer. In der Nacht näherte sich Harry Flint dem Tier, zwängte ihm das Maul auf und steckte einen Feuerwerkskörper hinein. Die Polizisten, die das Ganze beobachtet hatten, schlugen sofort zu. Als Harry Flint durchsucht wurde, fand man in seiner Hosentasche einen blutigen Stein und ein Filetiermesser mit dreizehn Zentimeter langer Klinge.
Er wurde für zwölf Monate ins Challenger Memorial Youth Center geschickt, eine geschlossene Erziehungsanstalt für verhaltensauffällige Jugendliche.
Eine Woche nach seiner Einlieferung griff er einen der anderen Jungs an und richtete ihn übel zu. Der Psychiater, der Flint untersuchte, befand, dass er an schizophrener Paranoia litt.
»Er ist hochgradig psychotisch«, warnte der Arzt die Aufseher. »Seien Sie vorsichtig. Halten Sie ihn von den anderen fern.«
Harry war fünfzehn Jahre alt, als er seine Strafe verbüßt hatte und auf Bewährung entlassen wurde. Er kehrte auf die Schule zurück, wo er von einigen Klassenkameraden wie ein Held verehrt wurde. Die Jungs waren in allerlei kleine Gaunereien verwickelt, klauten zum Beispiel Handtaschen, entwendeten anderen Leuten die Geldbeutel und begingen Ladendiebstähle, und Flint wurde bald ihr Anführer.
Eines Nachts wurde er bei einer Messerstecherei in einer dunklen Gasse an der Oberlippe erwischt, und seither grinste er ständig.
Als die Jungs älter wurden, stahlen sie Autos und verlegten sich auf Einbrüche und Raubüberfälle. Einer dieser Überfälle ging schief, und ein Ladenbesitzer wurde getötet. Harry Flint wurde wegen bewaffneten Raubüberfalls und Beihilfe zum Mord zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Er war der abgefeimteste Häftling, den der Direktor der Strafanstalt jemals erlebt hatte.
Die anderen Häftlinge sahen ihm nur in die Augen, dann ließen sie ihn in Frieden. Er hingegen terrorisierte sie ständig, aber keiner von ihnen hatte den Mut, ihn zu melden.
Eines Tages ging ein Wärter an Flints Zelle vorbei und starrte dann ungläubig hinein. Flints Zellengenosse lag in einer Blutlache am Boden. Er war totgeschlagen worden.
Der Wärter schaute Flint an und lächelte dann voller Genugtuung. »Na schön, du Mistkerl. Diesmal kommst du nicht davon. Wir können schon mal den elektrischen Stuhl für dich vorwärmen.«
Flint funkelte ihn an und hob langsam den linken Arm. Ein blutiges Schlachtermesser steckte tief im Fleisch.
»Notwehr«, versetzte Flint eiskalt.
Der Häftling in der gegenüberliegenden Zelle erzählte niemandem, dass er gesehen hatte, wie Flint seinen Zellengenossen totgeschlagen, dann ein Schlachtermesser unter seiner Matratze herausgezogen und es sich selbst in den Arm gestoßen hatte.
Flint hatte Spaß an seiner Arbeit, und das bewunderte Tanner am allermeisten an ihm.
Tanner konnte sich noch genau daran erinnern, wie Flint ihm zum ersten Mal bewiesen hatte, wie nützlich er sein konnte. Es war bei einer dringenden Reise nach Tokio gewesen ...
»Sagen Sie dem Piloten, er soll die Challenger warmlaufen lassen. Wir fliegen nach Japan. Nur wir beide.«
Die Nachricht war zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt eingegangen, aber er musste sofort die entsprechenden Gegenmaßnahmen treffen, und die Aufgabe war zu heikel, als dass er jemand anderen damit betrauen konnte. Tanner hatte sich mit Akira Iso in Tokio verabredet und ihm ein Zimmer im Okura Hotel besorgt.
Während das Fluges über den Pazifischen Ozean überlegte sich Tanner, wie er vorgehen sollte. Und als die Maschine landete, hatte er sich eine Taktik zurechtgelegt, bei der nichts schief gehen konnte.
Auf der rund einstündigen Fahrt vom Flughafen Narita in die Innenstadt wunderte sich Tanner einmal mehr darüber, dass sich Tokio allem Anschein nach nie veränderte. Die Stadt strahlte stets etwas Gleichmütiges aus, so als ob wirtschaftlicher Aufschwung oder Niedergang spurlos an ihr vorübergingen.
Akira Iso erwartete ihn im Restaurant Fumiki Mashimo. Iso war um die fünfzig, hager, mit grauen Haaren und hellbraunen Augen. Er stand auf und begrüßte Tanner.
»Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Mr. Kingsley. Offen gesagt, war ich etwas überrascht, als ich von Ihnen hörte. Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb Sie die weite Reise auf sich nehmen, um mit mir zu sprechen.«
Tanner lächelte. »Ich überbringe Ihnen gute Nachrichten, die meiner Meinung nach zu wichtig sind, als dass man am Telefon darüber sprechen sollte. Ich glaube, ich kann Sie sehr glücklich machen. Und sehr reich.«
Akira Iso schaute ihn neugierig an. »Aha?«
Ein Kellner in einem weißen Frack kam an ihren Tisch.
»Bevor wir zum Geschäftlichen kommen, sollten wir uns erst etwas bestellen.«
»Wie Sie wünschen, Mr. Kingsley. Kennen Sie sich mit japanischen Gerichten aus, oder soll ich für Sie bestellen?«
»Danke. Ich komme schon klar. Mögen Sie Sushi?«
»Ja.«
Tanner wandte sich an den Kellner. »Ich nehme Hamachitemaki, Kaibashira und Ama-ebi.«
Akira Iso lächelte. »Das klingt gut.« Er blickte den Kellner an. »Ich nehme das Gleiche.«
Während sie aßen, sagte Tanner: »Sie arbeiten bei der Tokyo International Group; eine sehr gute Firma.«
»Vielen Dank.«
»Wie lange arbeiten Sie dort schon?«
»Zehn Jahre.«
»Das ist eine lange Zeit.« Er schaute Akira Iso in die Augen und sagte: »Möglicherweise ist es sogar höchste Zeit, dass Sie sich verändern.«
»Warum sollte ich das tun, Mr. Kingsley?«
»Weil ich Ihnen ein Angebot machen werde, das Sie nicht ablehnen können. Ich weiß nicht, wie viel Sie verdienen, aber ich bin bereit, Ihnen das Doppelte zu bezahlen, wenn Sie dort ausscheiden und für die KIG arbeiten.«
»Mr. Kingsley, das ist unmöglich.«
»Warum nicht? Wenn es an Ihrem Vertrag liegt, kann ich dafür sorgen .«
Akira Iso legte seine Essstäbchen weg. »Mr. Kingsley, in Japan ist das Unternehmen, bei dem man arbeitet, wie eine große Familie. Und wenn wir nicht mehr arbeiten können, sorgt die Firma für uns.«
»Aber das Geld, das ich Ihnen biete .«
»Nein. Aisha seishin.«
»Was?« »Das heißt, dass Loyalität für uns wichtiger ist als Geld.«
Akira Iso warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Weshalb haben Sie ausgerechnet mich ausgewählt?«
»Weil ich sehr viel Gutes über Sie gehört habe.«
»Ich fürchte, Sie haben Ihre lange Reise umsonst gemacht, Mr. Kingsley. Ich würde die Tokyo First National Group niemals verlassen.«
»Einen Versuch war es wert.«
»Und Sie nehmen es mir nicht übel?«
Tanner lehnte sich zurück und lachte. »Natürlich nicht. Ich wünschte, meine Mitarbeiter wären so loyal wie Sie.«
Dann fiel ihm etwas ein. »Übrigens habe ich Ihnen und Ihrer Familie ein kleines Geschenk mitgebracht. Einer meiner Mitarbeiter wird es Ihnen vorbeibringen. Er wird in einer Stunde in Ihrem Hotel sein. Er heißt Harry Flint.«
Am nächsten Morgen fand ein Zimmermädchen Akira Isos Leiche, die an einem Haken an der Garderobe hing. Der offizielle Befund lautete auf Selbstmord.