172630.fb2
Der Streit begann beim Dessert, einem Teil der Mahlzeit, den Callahan am liebsten in flüssiger Form zu sich nahm. Sie war bemüht, den Ton des Vorwurfs zu vermeiden, als sie die Drinks aufzählte, die er bereits konsumiert hatte: zwei doppelte Scotch, während sie auf ihren Tisch warteten, einen weiteren, bevor sie bestellten, und zum Fisch zwei Flaschen Wein, von denen sie zwei Gläser getrunken hatte. Er trank zu schnell, man merkte es ihm an, und als sie ihre Liste heruntergerattert hatte, war er verärgert. Er bestellte Drambuie als Dessert, weil er ihn mochte und weil es plötzlich eine Sache des Prinzips war. Er kippte ihn hinunter und bestellte noch einen, und sie war wütend.
Darby rührte ihren Kaffee um und ignorierte ihn. Mouton’s war bis auf den letzten Platz besetzt, und ihr lag daran, es ohne eine Szene zu verlassen und allein in ihre Wohnung zurückzukehren.
Als sie sich auf dem Gehsteig vom Restaurant entfernten, wurde der Streit unerfreulich. Er holte die Schlüssel zu seinem Porsche aus der Tasche, und sie sagte, er wäre zu betrunken, um fahren zu können. Er sollte ihr die Schlüssel geben. Er umklammerte den Bund und torkelte auf den drei Blocks entfernten Parkplatz zu. Sie sagte, sie würde zu Fuß gehen. Viel Vergnügen, sagte er. Sie folgte ihm mit ein paar Schritten Abstand, redete auf ihn ein. Er hatte mindestens zwei Promille. Er war Juraprofessor, verdammt noch mal. Er würde jemanden umbringen. Er torkelte schneller, kam dem Bordstein gefährlich nahe, entfernte sich dann wieder von ihm. Er schrie sie über die Schulter an, etwas von der Art, dass er betrunken besser fahren könnte als sie nüchtern. Sie blieb zurück. Sie war schon mit ihm gefahren, wenn er in einer derartigen Verfassung war, und sie wusste, was ein Betrunkener in einem Porsche anrichten kann.
Er überquerte die Straße blindlings, die Hände in den Taschen, als unternähme er einen spätabendlichen Spaziergang. Er schätzte die Bordsteinkante falsch ein, traf sie mit den Zehen statt mit der Fußsohle, stürzte fluchend auf den Gehsteig, rappelte sich aber wieder auf, bevor sie ihn erreichen konnte. Lass mich verdammt noch mal in Ruhe, herrschte er sie an. Bitte, gib mir die Schlüssel, sonst gehe ich zu Fuß. Er stieß sie beiseite. Viel Vergnügen, sagte er mit einem Auflachen. Sie hatte ihn noch nie so betrunken erlebt. Er hatte sie noch nie im Zorn angerührt, weder betrunken noch nüchtern.
Gegenüber dem Parkplatz war eine schmierige kleine Kneipe mit Neonreklamen für Bier in den Fenstern. Sie warf einen hilfesuchenden Blick durch die offene Tür und dachte gleichzeitig, wie blöde. Die Kneipe war voll von Betrunkenen.
Sie rief ihm nach, als er sich dem Porsche näherte.
«Thomas! Bitte! Lass mich fahren!«Sie stand auf dem Gehsteig, aber weiter wollte sie nicht gehen.
Er torkelte weiter, bedeutete ihr zu verschwinden, murmelte vor sich hin. Dann schloss er die Tür auf, bückte sich und verschwand zwischen den anderen Wagen. Der Motor sprang an und heulte auf, als er Gas gab.
Darby lehnte sich ein paar Meter von der Parkplatzausfahrt entfernt an die Seite des Gebäudes. Sie schaute die Straße hinunter und hoffte beinahe auf einen Polizisten. Sie würde ihn lieber verhaftet sehen als tot.
Es war zu weit, um zu Fuß zu gehen. Sie würde zusehen, wie er davonfuhr, dann ein Taxi bestellen und ihn danach eine Woche lang ignorieren. Mindestens eine Woche. Viel Vergnügen, wiederholte sie in Gedanken. Er gab wieder Gas und ließ die Reifen quietschen.
Die Explosion schleuderte sie auf den Gehsteig. Sie landete auf allen Vieren, mit dem Gesicht nach unten, eine Sekunde lang betäubt, spürte dann aber sofort die Hitze und die winzigen brennenden Trümmer, die auf die Straße fielen. Sie starrte voller Grausen auf den Parkplatz. Der Porsche flog in die Luft, vollführte einen perfekten Salto und landete auf dem Dach. Reifen, Türen und Kotflügel rissen ab. Der Wagen war ein greller Feuerball, eine Masse aus prasselnden Flammen, die ihn sofort verschlangen.
Darby stürzte auf ihn zu, schrie seinen Namen. Trümmer regneten um sie herum herab, und die Hitze ließ sie innehalten. Sie blieb zehn Meter entfernt stehen, schrie mit der Hand vor dem Mund.
Dann schleuderte eine zweite Explosion den Wagen abermals in die Luft und trieb sie zurück. Sie stolperte, und ihr Kopf schlug hart auf die Stoßstange eines anderen Wagens. Das Pflaster fühlte sich heiß an unter ihrem Gesicht, und das war das letzte, woran sie sich einen Augenblick später erinnern konnte.
Die Kneipe leerte sich, und die Betrunkenen waren überall. Sie standen auf dem Gehsteig und starrten. Ein Paar versuchte näher heranzukommen, aber die Hitze rötete ihre Gesichter und hielt sie fern. Dicker schwarzer Rauch stieg aus dem Feuerball auf, und binnen Sekunden brannten zwei weitere Wagen. Es gab Entsetzensschreie und panische Stimmen.
«Wem gehört der Wagen?«
«911 anrufen!«
«War jemand drin?«
«911 anrufen!«
Sie zerrten sie an den Ellbogen zurück auf den Gehsteig, in die Mitte der Menge. Sie wiederholte den Namen Thomas. Von irgendwoher kam ein kaltes Tuch und wurde ihr auf die Stirn gelegt.
Die Menge wurde dichter, auch auf der Straße waren Leute. Sirenen, sie hörte Sirenen, als sie wieder zu sich kam. An ihrem Hinterkopf war eine Beule und auf ihrem Gesicht etwas Kaltes. Ihr Mund war trocken.»Thomas, Thomas«, wiederholte sie.
«Ist schon gut, ist schon gut«, sagte ein schwarzes Gesicht dicht über ihr. Der Mann hielt behutsam ihren Kopf und tätschelte ihren Arm. Andere Gesichter schauten auf sie herab.»Ist schon gut.«
Jetzt kreischten die Sirenen. Sie nahm vorsichtig das Tuch ab, und ihr Blick wurde wieder klar. Auf der Straße blitzten rote und blaue Lichter. Die Sirenen gellten ohrenbetäubend. Sie setzte sich auf. Sie lehnten sie an die Hauswand unterhalb der Neon-Bierreklamen. Sie wichen zurück, beobachteten sie aufmerksam.
«Alles in Ordnung, Miss?«fragte der Schwarze.
Sie konnte nicht antworten. Versuchte es gar nicht erst.»Wo ist Thomas?«fragte sie und starrte auf einen Riss im Gehsteig.
Sie schauten sich gegenseitig an. Der erste Feuerwehrwagen kam mit quietschenden Bremsen sechs Meter entfernt zum Stehen, und die Menge wich auseinander. Feuerwehrleute sprangen heraus und rannten in alle Richtungen.
«Wo ist Thomas?«wiederholte sie.
«Miss, wer ist Thomas?«fragte der Schwarze.
«Thomas Callahan«, sagte sie leise, als musste jeder ihn kennen.
«War er in diesem Wagen?«
Sie nickte, dann schloss sie die Augen. Die Sirenen heulten und verstummten, und zwischendurch hörte sie die Rufe besorgter Männer und das Prasseln des Feuers. Sie roch den stickigen Qualm.
Ein zweites, ein drittes Feuerwehrauto kamen heulend aus verschiedenen Richtungen. Ein Polizist bahnte sich einen Weg durch die Menge.»Polizei. Aus dem Weg. Polizei. «Er schob und drängte, bis er sie gefunden hatte. Er ging auf die Knie und schwenkte eine Marke vor ihrer Nase.»Madam, Sergeant Rupert, New Orleans Police Department.«
Darby hörte es, dachte sich aber nichts dabei. Er war direkt vor ihrem Gesicht, dieser Rupert, mit buschigem Haar, einer Baseballmütze, schwarzer und goldener Saints Jacke. Sie starrte ihn verständnislos an.
«Ist das Ihr Wagen, Madam? Jemand hat gesagt, es wäre Ihr Wagen.«
Sie schüttelte den Kopf. Nein.
Rupert packte ihre Ellenbogen und zog sie hoch. Er redete auf sie ein, fragte sie, ob ihr etwas passiert wäre, und gleichzeitig zog er sie hoch, und es tat teuflisch weh. Ihr Schädel war gespalten, kaputt, und sie stand unter Schock, aber was kümmerte das diesen Idioten. Sie war auf den Beinen. Ihre Knie wollten nicht funktionieren, und sie war schlaff. Er fragte immer wieder, ob ihr etwas passiert wäre. Der Schwarze starrte Rupert an, als wäre er verrückt.
So, nun funktionierten die Knie, und sie und Rupert gingen durch die Menge, hinter einem Feuerwehrwagen vorbei und um einen anderen herum zu einem ungekennzeichneten Polizeifahrzeug. Sie senkte den Kopf und weigerte sich, zum Parkplatz hinüberzusehen. Rupert redete unaufhörlich. Irgendetwas von einem Krankenwagen. Er öffnete die Wagentür und beförderte sie behutsam auf den Beifahrersitz.
Ein weiterer Polizist hockte sich vor die Tür und fing an, Fragen zu stellen. Er trug Jeans und spitze Cowboystiefel. Darby lehnte sich vor und legte den Kopf in die Hände.»Ich glaube, ich brauche Hilfe«, sagte sie.
«Natürlich, Lady. Hilfe ist unterwegs. Nur ein paar Fragen. Wie heißen Sie?«
«Darby Shaw. Ich glaube, ich stehe unter Schock. Mir ist ganz schwindlig, und ich glaube, ich muss mich übergeben.«
«Der Krankenwagen ist unterwegs. Ist das Ihr Wagen da drüben?«
«Nein.«
Ein weiteres Polizeifahrzeug, eines mit Emblemen und Blinklichtem, kam quietschend vor dem von Rupert zum Stehen. Rupert verschwand blitzschnell. Der Cowboy-Polizist knallte plötzlich die Tür zu, und sie war allein im Wagen. Sie beugte sich vor und übergab sich zwischen ihre Beine. Sie begann zu weinen. Ihr war kalt. Sie legte langsam den Kopf auf den Fahrersitz und rollte sich ganz fest zusammen. Stille. Dann Dunkelheit.
Jemand klopfte ans Fenster über ihr. Sie öffnete die Augen. Der Mann trug eine Uniform und einen Hut mit einem Abzeichen daran. Die Tür war verriegelt.
«Machen Sie die Tür auf, Lady«, rief er.
Sie setzte sich auf und öffnete die Tür.»Sind Sie betrunken, Lady?«
Ihr Kopf hämmerte.»Nein«, sagte sie mühsam.
Er machte die Tür weiter auf.»Ist das Ihr Wagen?«
Sie rieb sich die Augen. Sie musste überlegen.
«Lady, ist das Ihr Wagen?«
«Nein. «Sie starrte ihn an.»Nein. Er gehört Rupert.«
«Okay. Wer zum Teufel ist Rupert?«
Es war nur noch ein Feuerwehrfahrzeug da, und der größte Teil der Zuschauer war verschwunden. Dieser Mann an der Tür war zweifelsohne ein Polizist.»Sergeant Rupert. Ein Kollege von Ihnen«, sagte sie.
Das machte ihn wütend.»Steigen Sie aus, Lady.«
Bereitwillig mühte sich Darby an der Beifahrerseite heraus und trat auf den Gehsteig. In einiger Entfernung hielt ein
Feuerwehrmann seinen Schlauch auf den ausgebrannten Rahmen des Porsche.
Ein anderer uniformierter Polizist näherte sich und gesellte sich zu ihnen.
Der erste Polizist fragte:»Wie heißen Sie?«
«Darby Shaw.«
«Weshalb sind Sie in dem Wagen ohnmächtig geworden?«
Sie betrachtete den Wagen.»Ich weiß es nicht. Ich wurde verletzt, und Rupert brachte mich in den Wagen. Wo ist Rupert?«
Die Polizisten sahen sich an.»Wer zum Teufel ist Rupert?«fragte der erste Polizist.
Das machte sie zornig, und der Zorn vertrieb die Spinnweben.
«Er hat gesagt, er wäre Polizist.«
Der zweite Polizist fragte:»Wie sind Sie verletzt worden?«
Darby funkelte ihn an. Sie deutete auf den Parkplatz auf der anderen Straßenseite.»Eigentlich hätte ich auch in dem Wagen da drüben sitzen sollen. Aber ich habe nicht darin gesessen. Deshalb bin ich hier und beantworte Ihre dämlichen Fragen. Wo ist Rupert?«
Die beiden sahen sich mit ausdrucksloser Miene an. Der erste Polizist sagte:»Bleiben Sie hier«, und dann ging er über die Straße zu einem anderen Polizeifahrzeug, wo sich ein Mann in Zivil mit ein paar Leuten unterhielt. Sie flüsterten, dann kehrte der erste Polizist mit dem Mann in Zivil zurück auf den Gehsteig, wo Darby wartete. Der Mann in Zivil sagte:»Ich bin Lieutenant Olson, New Orleans Police Department. Kannten Sie den Mann in dem Wagen?«Er zeigte auf den Parkplatz.
Ihre Knie wurden weich, und sie biss sich auf die Lippe. Dann nickte sie.
«Wie hieß er?«
«Thomas Callahan.«
Olson sah den ersten Polizisten an.»Das hat auch der Computer gesagt. So, und wer ist nun dieser Rupert?«
«Er hat gesagt, er wäre Polizist!«
Olson schaute mitfühlend drein.»Tut mir leid, aber es gibt bei uns keinen Polizisten, der Rupert heißt.«
Sie schluchzte laut. Olson half ihr zur Kühlerhaube von Ruperts Wagen und hielt ihre Schultern, bis das Weinen nachließ und sie sich bemühte, ihre Beherrschung zurückzugewinnen.
«Überprüfen Sie das Kennzeichen«, wies Olson den zweiten Polizisten an, der sich schnell die Nummer von Ruperts Wagen notierte und sie durchgab.
Olson hielt ihre Schultern sanft mit beiden Händen umfasst und sah ihr in die Augen.»Waren Sie mit Callahan zusammen?«
Sie nickte, immer noch weinend, aber wesentlich leiser. Olson warf dem ersten Polizisten einen Blick zu.
«Wie sind Sie in diesen Wagen gekommen?«fragte er langsam und sanft.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah Olson an.»Dieser Rupert, der gesagt hat, er wäre Polizist, kam und hat mich von dort drüben hierher gebracht. Er hat mich in den Wagen gesetzt, und dieser andere Polizist mit den Cowboystiefeln hat angefangen, mir Fragen zu stellen. Ein anderes Polizeifahrzeug kam an, und sie verschwanden. Und dann bin ich wohl ohnmächtig geworden. Ich weiß es nicht. Ich möchte zu einem Arzt.«
«Holen Sie meinen Wagen«, sagte Olson zu dem ersten Polizisten.
Der zweite Polizist kehrte mit verblüffter Miene zurück.»Die Zulassungsnummer ist nicht im Computer. Müssen gefälschte Kennzeichen sein.«
Olson nahm ihren Arm uid führte sie zu seinem Wagen. Er sprach rasch mit den beiden Polizisten.»Ich bringe sie ins Charity. Seht zu, dass ihr hier fertig werdet, und kommt dann nach. Stellt den Wagen sicher. Wir werden ihn später untersuchen.«
Sie saß in Olsons Wagen, hörte dem Quaken des Funkgeräts zu und starrte auf den Parkplatz. Vier Wagen waren ausgebrannt. Der Porsche lag umgedreht mittendrin, nur noch ein verbogener Rahmen. Eine Handvoll Feuerwehrleute und anderes Notfallpersonal wieselte darum herum. Ein Polizist sperrte den Parkplatz mit gelbem Plastikband ab.
Sie betastete die Beule an ihrem Hinterkopf. Kein Blut. Tränen tropften ihr vom Kinn.
Olson schlug seine Tür zu und steuerte den Wagen zwischen den geparkten Fahrzeugen hindurch. Er fuhr in Richtung St. Charles Avenue. Er hatte das Blinklicht eingeschaltet, aber nicht die Sirene.
«Ist Ihnen nach Reden zumute?«fragte er.
Sie waren auf der St. Charles.»Ich denke schon«, sagte sie.»Er ist tot, nicht wahr?«
«Ja, Darby. Tut mir leid. Soweit ich weiß, saß er allein im Wagen.«
«Ja«
«Wie wurden Sie verletzt?«
Er gab ihr ein Taschentuch, und sie trocknete die Tränen ab.»Ich bin auf etwas gefallen. Es gab zwei Explosionen, und ich glaube, die zweite hat mich umgeworfen. Ich kann mich nicht an alles erinnern. Bitte, sagen Sie mir, wer Rupert ist.«
«Ich habe keine Ahnung. Ich kenne keinen Polizisten, der Rupert heißt, und es war auch kein Polizist mit Cowboystiefeln da.«
Sie dachte anderthalb Blocks lang darüber nach.»Womit hat
sich Callahan seinen Lebensunterhalt verdient?«
«Er war Juraprofessor in Tulane. Ich studiere dort.«
«Wer hätte ein Interesse daran gehabt, ihn umzubringen?«Sie starrte auf die Ampel vor ihnen und schüttelte den Kopf.»Sie sind sicher, dass es Absicht war?«
«Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Es war ein sehr starker Sprengstoff. Wir haben ein Stück Fuß gefunden, das fünfundzwanzig Meter entfernt in einem Maschendrahtzaun hing. Entschuldigung, okay. Er wurde ermordet.«
«Vielleicht hat jemand den falschen Wagen erwischt.«
«Das ist natürlich möglich Wir werden alles genau überprüfen. Wenn ich richtig verstanden habe, hätten Sie normalerweise zusammen mit ihm in dem Wagen gesessen.«
Sie versuchte, etwas zu sagen, konnte aber die Tränen nicht zurückhalten. Sie vergrub ihr Gesicht in dem Taschentuch.
Sie hielten zwischen zwei Krankenwagen in der Nähe der Notaufnahme des Charity und ließen das Blinklicht eingeschaltet. Er führte sie rasch in einen schmutzigen Raum, in dem an die fünfzig Leute mit Schmerzen und Beschwerden verschiedenen Ausmaßes saßen. Sie fand einen Platz neben dem Trinkwasserbehälter. Olson sprach mit der Frau hinter dem Schalter, und er hob die Stimme, aber Darby konnte nicht verstehen, was er sagte. Ein kleiner Junge mit einem blutigen Handtuch um den Fuß weinte auf dem Schoß seiner Mutter. Eine junge Schwarze war kurz vor der Niederkunft. Weder ein Arzt noch eine Schwester waren zu sehen. Alle schienen zu warten.
Olson hockte sich vor ihr nieder.»Es wird ein paar Minuten dauern. Bleiben Sie hier sitzen. Ich stelle nur den Wagen um, bin gleich wieder zurück. Ist Ihnen nach Reden zumute?«
«Ja, natürlich.«
Er war fort. Sie tastete wieder nach Blut und fand keins. Die
Doppeltür schwang weit auf, und zwei Schwestern kamen, um die Frau in den Wehen zu holen. Sie schleppten sie gewissermaßen ab, durch die Doppeltür und den Flur entlang.
Darby wartete einen Augenblick, dann folgte sie ihnen. Mit den geröteten Augen und dem Taschentuch sah sie aus wie die Mutter irgendeines Kindes. Der Flur war ein Zoo mit Schwestern und Pflegern und Verletzten, die schrieen und es eilig hatten. Sie bog um eine Ecke und sah ein Schild, auf dem EXIT stand. Durch die Tür, einen anderen Flur entlang, der wesentlich ruhiger war, eine weitere Tür, und sie stand auf einer Laderampe. Die Gasse war beleuchtet. Nicht rennen. Stark sein. Es ist okay. Niemand beobachtet dich. Sie war auf der Straße, schritt rasch aus. Die kühle Luft klärte ihre Augen. Sie wollte nicht weinen.
Olson würde einige Zeit brauchen, und wenn er zurückkam, würde er denken, sie wäre aufgerufen worden und wäre jetzt drinnen und würde behandelt. Er würde warten. Und warten.
Sie bog um mehrere Ecken und sah die Rampart Street. Das French Quarter lag direkt vor ihr. Da konnte sie untertauchen. Auf der Royal waren Leute, umherschlendernde Touristen. Sie fühlte sich sicherer. Sie betrat das Holiday Inn, bezahlte mit ihrer Kreditkarte und bekam ein Zimmer im fünften Stock. Nachdem sie die Tür verriegelt und die Kette vorgelegt hatte, rollte sie sich auf dem Bett zusammen, ohne das Licht auszuschalten.
Mrs. \ferheek rollte ihren dicken, aber reichen Hintern von der Mitte des Bettes weg und griff nach dem Hörer.»Es ist für dich, Gavin!«rief sie ins Badezimmer. Gavin erschien, das halbe Gesicht voller Rasierschaum, und nahm seiner Frau, die sich tief im Bett vergrub, den Hörer ab. Wie ein Schwein, das sich im Schlamm wälzt, dachte er.
«Hallo«, sagte er ungehalten.
Es war eine Frauenstimme, die er noch nie gehört hatte.»Hier ist Darby Shaw. Sie wissen, wer ich bin?«
Er lächelte sofort und dachte eine Sekunde lang an den knappen Bikini auf St. Thomas.»Natürlich. Ich glaube, wir haben einen gemeinsamen Freund.«
«Haben Sie meine kleine Niederschrift gelesen?«
«Ach ja. Das Pelikan-Dossier, wie wir es nennen.«
«Und wer ist wir?«
Verheek setzte sich auf den Stuhl neben dem Nachttisch. Dies war kein belangloser Anruf.»Weshalb rufen Sie an, Darby?«
«Ich brauche ein paar Antworten, Mr. Verheek. Ich habe fürchterliche Angst.«
«Ich heiße Gavin, okay?«
«Also Gavin. Wo ist das Dossier jetzt?«
«Hier und dort. Was ist passiert?«
«Das kommt gleich. Zuerst sagen Sie mir, was Sie mit dem Dossier gemacht haben.«
«Nun, ich habe es gelesen und dann an eine andere Abteilung geschickt, und ein paar andere Leute vom FBI haben es gesehen und dann Direktor Voyles gezeigt, dem es offenbar gefallen hat.«
«Hat es auch jemand außerhalb des FBI gesehen?«
«Diese Frage kann ich nicht beantworten, Darby.«
«Dann sage ich Ihnen auch nicht, was mit Thomas passiert ist.«
Verheek dachte eine lange Minute darüber nach. Sie wartete geduldig.»Okay. Es wurde auch von Leuten außerhalb des FBI gesehen. Aber ich weiß nicht, von wem und von wie vielen.«
«Er ist tot, Gavin. Er wurde gestern abend gegen zehn ermordet. Jemand hat für uns beide eine Bombe ins Auto gelegt. Ich habe Glück gehabt, aber jetzt sind sie hinter mir her.«
Verheek hing über dem Telefon, kritzelte Notizen.»Sind Sie verletzt?«
«Körperlich bin ich okay.«
«Wo sind Sie?«
«In New Orleans.«
«Sind Sie ganz sicher, Darby? Ich meine, ich weiß, dass Sie ganz sicher sind, aber, verdammt noch mal, wer sollte ihn umbringen wollen?«
«Ich bin zweien von ihnen begegnet.«
«Wie können Sie… «
«Es ist eine lange Geschichte. Wer hat das Dossier gesehen, Gavin? Thomas hat es Ihnen am Montagabend gegeben. Es hat die Runde gemacht, und achtundvierzig Stunden später ist er tot. Ich sollte zusammen mit ihm sterben. Es ist in die falschen Hände geraten, meinen Sie nicht auch?«
«Sind Sie in Sicherheit?«
«Woher zum Teufel soll ich das wissen?«
«Wo sind Sie jetzt? Wie ist Ihre Telefonnummer?«
«Nicht so schnell, Gavin. Im Augenblick bewege ich mich ganz langsam. Ich spreche von einer Zelle aus, also keine krummen Touren.«
«Sie haben keinen Grund, über mich herzufallen, Darby! Thomas Callahan war mein bester Freund. Sie müssen zu uns kommen.«
«Und wie stellen Sie sich das vor?«
«Geben Sie mir eine Viertelstunde, Darby, und dann ist ein Dutzend Agenten da, die Sie abholen. Ich nehme die nächste Maschine und bin vor Mittag bei Ihnen. Sie können nicht auf der Straße bleiben.«
«Warum, Gavin? Wer ist hinter mir her? Reden Sie, Gavin.«
«Wir reden miteinander, wenn ich dort bin.«
«Ich weiß nicht. Thomas ist tot, weil er mit Ihnen geredet hat. Im Augenblick bin ich ganz und gar nicht scharf darauf, Sie zu sehen.«
«Hören Sie, Darby. Ich weiß nicht, wer es getan hat oder warum, aber ich versichere Ihnen, Sie sind in einer sehr gefährlichen Situation. Wir können Sie beschützen.«
«Vielleicht später.«
Er holte tief Luft und setzte sich auf die Bettkante.»Sie können mir vertrauen, Darby.«
«Okay, ich vertraue Ihnen. Aber was ist mit diesen anderen Leuten? Das ist kein Kinderspiel, Gavin. Mein kleines Dossier hat irgend jemanden fürchterlich aufgeregt, meinen Sie nicht auch?«
«Hat er gelitten?«
Sie zögerte.»Nein, ich glaube nicht. «Die Stimme wurde brüchig.
«Können Sie mich in zwei Stunden wieder anrufen? Im Büro. Ich gebe Ihnen eine Geheimnummer.«
«Geben Sie mir die Nummer, und ich denke darüber nach.«
«Bitte, Darby. Sowie ich im Büro bin, gehe ich zum Direktor. Rufen Sie mich um acht an, Ihre Ortszeit.«
«Geben Sie mir die Nummer.«
Die Bombe war zu spät explodiert, um noch in die Donnerstagmorgen-Ausgabe der Times-Picayune zu gelangen. Darby blätterte sie in ihrem Hotelzimmer hastig durch. Nichts. Sie schaltete den Fernseher ein, und da war es. Eine LiveAufnahme des ausgebrannten Porsche, der immer noch inmitten der Trümmer auf dem Parkplatz lag, säuberlich von gelbem Band umgeben, das überall ausgespannt worden war. Die Polizei ging von Mord aus. Keine Verdächtigen. Kein Kommentar. Dann der Name von Thomas Callahan, fünfundvierzig Jahre alt, namhafter Juraprofessor in Tulane. Dann war plötzlich der Dekan da mit einem Mikrofon vor dem Gesicht und redete über Professor Callahan und den schweren Schock, den all das hinterlassen hatte.
Der Schock, die Erschöpfung, die Angst, der Schmerz, und Darby vergrub ihren Kopf im Kissen. Sie hasste es zu weinen, und es würde für eine Weile das letzte Mal sein. Trauern würde nur dazu führen, dass sie umgebracht wurde.