172630.fb2
Mrs. Chen war die Besitzerin des Doppelhauses und vermietete seit fünfzehn Jahren die andere Hälfte an Jurastudentinnen. Sie war wählerisch, aber zurückhaltend; solange Ruhe herrschte, war ihre Devise leben und leben lassen. Das Haus lag sechs Blocks vom Campus entfernt.
Es war dunkel, als sie auf das Läuten hin an die Tür kam. Die Person, die davor stand, war eine hübsche junge Frau mit kurzem, dunklem Haar und einem nervösen Lächeln. Sehr nervös.
Mrs. Chen musterte sie argwöhnisch.
«Ich bin Alice Stark, eine Freundin von Darby. Darf ich hereinkommen?«Sie warf einen Blick über die Schulter. Die Straße war leer und still. Mrs. Chen lebte allein hinter fest verschlossenen Türen und Fenstern, aber Alice war eine hübsche Frau mit einem harmlosen Lächeln, und wenn sie eine Freundin von Darby war, konnte man ihr vertrauen. Sie öffnete die Tür, und Alice war drinnen.
«Irgend etwas stimmt nicht«, sagte Mrs. Chen.
«Ja. Darby steckt in einer Klemme, aber wir können nicht darüber reden. Hat sie heute nachmittag angerufen?«
«Ja. Sie sagte, eine junge Frau würde einen Blick in ihre Wohnung werfen.«
Alice holte tief Luft und versuchte, gelassen zu erscheinen.»Es dauert nur eine Minute. Sie hat gesagt, es gäbe eine Tür, die durch irgendeine Wand geht. Mir wäre es lieber, wenn ich nicht die Vorder- oder Hintertür benutzen müsste. «Mrs. Chen runzelte die Stirn und ihre Augen fragten:»Weshalb nicht?«Aber sie sagte nichts.
«Ist in den letzten zwei Tagen irgend jemand in der Wohnung gewesen?«fragte Alice. Sie folgte Mrs. Chen durch einen schmalen Korridor.
«Ich habe niemanden gesehen. Gestern morgen, vor Sonnenaufgang, hat jemand geklopft, aber ich habe nicht nachgesehen, wer es war. «Sie schob einen Tisch vor einer Tür beiseite, steckte einen Schlüssel ins Schloss und öffnete sie.
Alice trat vor sie.»Sie wollte, dass ich allein hineingehe, okay?«Mrs. Chen hätte selbst gern nachgesehen, aber sie nickte und machte die Tür hinter Alice zu. Sie führte auf einen winzigen Flur, in dem es stockfinster war. Links davon lag das Arbeitszimmer; da gab es einen Lichtschalter, den sie nicht benutzen durfte. Alice erstarrte in der Dunkelheit. Die Wohnung war dunkel und heiß und roch stickig nach altem Müll. Sie hatte damit gerechnet, allein zu sein, aber sie war schließlich eine Jurastudentin im zweiten Jahr und kein hartgesottener Privatdetektiv.
Nimm dich zusammen. Sie tastete in ihrer großen Handtasche herum und fand eine bleistiftdünne Stablampe. Sie hatte drei davon. Für alle Fälle. Welche Fälle? Sie wusste es nicht. Darby hatte sich unmissverständlich ausgedrückt. Durch die Fenster durfte kein Licht zu sehen sein. Es konnte sein, dass sie das Haus beobachteten.
Wer zum Teufel waren» sie«? Das hätte Alice gern gewusst. Darby wusste es auch nicht, sagte, sie würde es ihr später erklären, aber zuerst musste die Wohnung in Augenschein genommen werden.
Im Laufe des letzten Jahres war Alice Dutzende von Malen in der Wohnung gewesen, aber da durfte sie durch die Vordertür eintreten, und alle Lichter waren eingeschaltet gewesen. Sie kannte alle Zimmer und war zuversichtlich gewesen, dass sie sich auch im Dunkeln zurechtfinden würde. Jetzt war die Zuversicht verschwunden. Verflogen. Und an ihre Stelle war zitternde Angst getreten.
Nimm dich zusammen. Du bist allein. Sie würden sich hier nicht einnisten, nicht mit einer neugierigen Frau nebenan. Wenn sie wirklich hier gewesen waren, dann nur auf einen kurzen Besuch.
Sie drückte auf den Schalterknopf und stellte fest, dass die Stablampe funktionierte. Sie entwickelte die Helligkeit eines verlöschenden Streichholzes. Sie richtete sie auf den Boden und sah einen schwachen Lichtkreis von der Größe einer kleinen Apfelsine. Der Kreis zitterte.
Sie schlich auf Zehenspitzen um eine Ecke ins
Arbeitszimmer. Darby hatte gesagt, dort stünde eine kleine
Lampe auf dem Bücherregal neben dem Fernseher, die immer eingeschaltet war. Sie benutzte sie als Nachtlicht, und sie hätte eigentlich einen schwachen Lichtschein durch das Arbeitszimmer bis in die Küche werfen müssen. Entweder hatte Darby gelogen, oder die Birne war durchgebrannt. Oder jemand hatte sie herausgedreht. Aber das spielte in diesem Moment keine Rolle; das Arbeitszimmer und die Küche waren stockfinster.
Sie war auf dem Teppich in der Mitte des Arbeitszimmers und näherte sich vorsichtig dem Küchentisch, auf dem ein Computer stehen sollte. Sie stieß gegen die Kante des Couchtisches, und
die Stablampe erlosch. Sie schüttelte sie. Nichts. Sie fand
Nummer zwei in ihrer Handtasche.
In der Küche war der Geruch stärker. Der Computer stand auf dem Tisch, zusammen mit einer Kollektion leerer Aktenordner und einigen Nachschlagewerken. Sie untersuchte das Gerät mit Hilfe ihres jämmerlichen kleinen Lichtes. Der Schalter befand sich an der Vorderseite. Sie drückte darauf, und der Bildschirm des Monitors erwärmte sich langsam. Er gab ein grünliches Licht von sich, das den Tisch erhellte, aber nicht aus der Küche herausdrang.
Alice setzte sich vor die Tastatur und begann zu tippen. Sie fand das Menü, dann die Textverarbeitung, dann die Dokumente. Das Inhaltsverzeichnis erschien auf dem Bildschirm. Sie las es genau. Es sollten an die vierzig Dokumente vorhanden sein, aber sie sah nicht mehr als zehn. Der größte Teil des gespeicherten Materials war verschwunden. Sie schaltete den Laserdrucker ein, und Sekunden später hatte sie das Inhaltsverzeichnis auf dem Papier. Sie steckte das Blatt in ihre Handtasche.
Mit Hilfe der Taschenlampe inspizierte sie die Dinge, die um den Computer herumlagen. Darby hatte die Zahl ihrer Disketten auf zwanzig geschätzt, aber sie waren alle verschwunden. Keine einzige Diskette. Die Nachschlagewerke betrafen Verfassungsrecht und Ziviles Verfahrensrecht und waren so langweilig und speziell, dass niemand ein Interesse daran haben konnte. Die roten Aktendeckel waren säuberlich aufeinandergestapelt, aber leer.
Es war saubere, geduldige Arbeit. Jemand hatte ein paar Stunden mit Löschen und Einsammeln verbracht und dann die Wohnung mit nicht mehr als einem Aktenkoffer oder einer Tüte voller Material verlassen.
Im Arbeitszimmer schaute Alice durch das Fenster neben dem Fernseher. Der rote Accord stand noch da, kaum einen Meter vom Fenster entfernt. Er sah einwandfrei aus.
Sie drehte die Birne in dem Nachtlicht fest und schaltete die Lampe dann schnell ein und wieder aus. Funktionierte einwandfrei. Sie lockerte sie wieder genauso, wie sie sie vorgefunden hatte.
Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt; jetzt konnte sie die Umrisse von Türen und Möbelstücken erkennen. Sie schaltete den Computer aus und ging vorsichtig durch das Arbeitszimmer in den Flur.
Mrs. Chen wartete genau da, wo sie sie zurückgelassen hatte.
«Okay?«fragte sie.
«Alles in bester Ordnung«, sagte Alice.»Aber passen Sie bitte genau auf. Ich rufe morgen oder übermorgen an, um mich zu erkundigen, ob jemand aufgetaucht ist. Und bitte, sagen Sie niemandem, dass ich hier war.«
Mrs. Chen hörte aufmerksam zu, während sie den Tisch wieder vor die Tür schob.»Was ist mit ihrem Wagen?«
«Der bleibt vorerst hier stehen. Behalten Sie ihn bitte im Auge.«
«Geht es ihr gut?«
Sie hatten fast die Haustür erreicht.»Es kommt alles wieder in Ordnung. Ich denke, in ein paar Tagen wird sie wieder hier sein. Vielen Dank, Mrs. Chen.«
Mrs. Chen verschloss und verriegelte die Tür und schaute dann durch das kleine Fenster. Die junge Frau war auf dem Gehsteig, dann verschwand sie in der Dunkelheit.
Alice ging drei Blocks zu ihrem Wagen.
Freitagabend im French Quarter! Morgen sollte Tulane im Dome spielen und am Sonntag die Saints, und die Fans waren zu Tausenden unterwegs, parkten überall, blockierten die Straßen, streiften in lärmenden Horden umher, tranken aus Pappbechern, drängten sich in den Lokalen, machten sich einen vergnügten Abend und genossen das Leben. Um neun war im Inner Quarter kein Durchkommen mehr.
Alice parkte auf der Poydras, weit weg von der Stelle, an der sie eigentlich hatte parken wollen, und erreichte mit einer Stunde Verspätung das überfüllte Austernrestaurant an der St. Peter mitten im Quarter. Es gab keine freien Tische. An der Bar standen sie in Dreierreihen. Sie zog sich in eine Ecke zurück, stellte sich neben den Zigarettenautomaten und ließ den Blick durch das Restaurant schweifen. Die meisten Gäste waren
Studenten, die der Spiele wegen in die Stadt gekommen waren.
Ein Kellner kam auf sie zu.»Suchen Sie eine andere Dame?«fragte er.
Sie zögerte.»Nun — ja.«
Er zeigte über die Bar hinweg.»Um die Ecke herum, erste Tür rechts, dort stehen ein paar kleine Tische. Ich glaube, Ihre Freundin ist da drin.«
Darby saß in einer winzigen Nische, über eine Bierflasche gebeugt, mit Sonnenbrille. Alice drückte ihre Hand.»Schön, dich zu sehen. «Sie betrachtete die Frisur und wunderte sich darüber. Darby nahm die Sonnenbrille ab. Ihre Augen waren gerötet und sahen müde aus.
«Ich wusste nicht, wen ich sonst hätte anrufen können.«
Alice hörte mit unbewegtem Gesicht zu, nicht imstande, sich eine passende Entgegnung einfallen zu lassen, und nicht imstande, den Blick von der Frisur abzuwenden.»Wer hat dir die Haare abgeschnitten?«fragte sie.
«Hübsch, nicht wahr? Die Art von Punk-Look, die sicher bald wieder groß in Mode sein wird. Sie wird bestimmt Eindruck machen, wenn ich losgehe und mich um einen Job bewerbe.«
«Weshalb?«
«Jemand hat versucht, mich umzubringen, Alice. Mein Name steht auf einer Liste, die einige sehr gefährliche Leute in der Hand halten. Ich glaube, sie verfolgen mich.«
«Umbringen? Hast du >umbringen< gesagt, Darby? Wer sollte dich umbringen wollen?«
«Ich weiß es nicht genau. Was ist mit meiner Wohnung?«
Alice hörte auf, die Frisur zu betrachten, und gab Darby den Ausdruck des Inhaltsverzeichnisses. Darby studierte ihn. Es stimmte wirklich. Dies war kein Traum und auch kein Irrtum. Die Bombe hatte den richtigen Wagen gefunden. Rupert und der Cowboy waren ihr auf der Spur. Das Gesicht, das sie gesehen hatte, hielt nach ihr Ausschau. Sie waren in ihrer Wohnung gewesen und hatten gelöscht, was sie löschen wollten. Sie waren irgendwo da draußen.
«Was ist mit den Disketten?«
«Nichts. Keine einzige. Die Aktendeckel auf dem Küchentisch waren fein säuberlich aufeinandergestapelt und fein säuberlich geleert. Alles andere scheint in Ordnung zu sein. Sie haben die Birne in dem Nachtlicht losgeschraubt, es herrschte also totale Finsternis. Ich habe es überprüft. Funktioniert einwandfrei. Es sind sehr gewissenhafte Leute.«
«Was ist mit Mrs. Chen?«
«Sie hat nichts gesehen.«
Darby steckte den Ausdruck in ihre Tasche.»Weißt du, Alice, ich bekomme es plötzlich mit der Angst zu tun. Man sollte dich nicht mit mir zusammen sehen. Vielleicht war das doch keine so gute Idee.«
«Wer sind diese Leute?«
«Ich weiß es nicht. Sie haben Thomas umgebracht, und sie haben versucht, mich umzubringen. Ich habe Glück gehabt, aber jetzt sind sie hinter mir her.«
«Aber weshalb, Darby?«
«Das solltest du nicht wissen, und ich werde es dir nicht sagen. Je mehr du weißt, desto größer ist die Gefahr, in der du dich befindest. Vertrau mir, Alice. Ich kann dir nicht sagen, was ich weiß.«
«Aber ich würde es nicht verraten. Ich schwöre es.«
«Und was ist, wenn sie dich zwingen?«
Alice sah sich um, als wäre alles in bester Ordnung. Sie musterte ihre Freundin. Sie standen sich seit den Einführungskursen für Studienanfänger nahe. Sie hatten stundenlang zusammen gelernt, Notizen verglichen, Examen durchgestanden, gemeinsam fiktive Prozesse ausgearbeitet, über
Männer geredet. Alice war vermutlich unter den Studenten die einzige, die über Darby und Callahan Bescheid wusste.»Ich möchte dir helfen, Darby. Ich habe keine Angst.«
Darby hatte das Bier nicht angerührt. Sie drehte langsam die Flasche.»Nun, ich habe entsetzliche Angst. Ich war dabei, als er starb, Alice. Die Erde hat gebebt. Er wurde in Stücke zerfetzt, und normalerweise hätte ich neben ihm gesessen. Die Bombe war für mich bestimmt.«
«Dann geh zur Polizei.«
«Noch nicht. Vielleicht später. Ich traue mich nicht. Thomas hat sich an das FBI gewendet, und zwei Tage später sollten wir beide tot sein.«
«Also ist das FBI hinter dir her?«
«Das glaube ich nicht. Irgend jemand beim FBI hat geredet, und jemand anders hat sehr genau zugehört, und es ist den falschen Leuten zu Ohren gekommen.«
«Worüber geredet? Komm schon, Darby. Ich bin deine beste Freundin. Hör auf, um den heißen Brei herumzureden.«
Darby nahm den ersten winzigen Schluck aus der Flasche. Blickkontakt wurde vermieden. Sie starrte auf den Tisch.»Bitte, Alice. Lass mich abwarten. Es ist sinnlos, dir etwas zu erzählen, was dich das Leben kosten könnte. «Eine lange Pause.»Wenn du mir helfen willst, dann geh morgen zum Gedenkgottesdienst. Lass dir nichts entgehen. Lass verlauten, dass ich dich von Denver aus angerufen habe, wo ich bei einer Tante wohne, deren Namen du nicht weißt, und dass ich dieses Semester sausen lasse, aber im Frühjahr zurückkommen werde. Sorge dafür, dass das Gerücht die Runde macht. Ich glaube, einige Leute werden aufmerksam zuhören.«
«Okay. In der Zeitung war von einer weißen Frau in der Nähe des Tatorts die Rede, als wäre sie eine Verdächtige oder sowas.«
«Oder sowas. Ich war dort, und ich sollte eines der Opfer sein.
Ich lese die Zeitungen mit der Lupe. Die Polizei tappt im dunkeln.«
«Okay, Darby. Du bist schlauer als ich. Du bist die schlaueste Person, die mir je begegnet ist. Also — was nun?«
«Zuerst gehst du zur Hintertür hinaus. Am Ende des Flurs, wo die Toiletten sind, findest du eine weiße Tür. Sie führt in einen Lagerraum und dann durch die Küche zum Hintereingang. Bleib nirgendwo stehen. Die Gasse führt auf die Royal. Nimm dir ein Taxi und lass dich zu deinem Wagen bringen. Pass auf, ob du verfolgt wirst.«
«Ist das dein Ernst?«
«Sieh dir meinen Kopf an, Alice? Würde ich mich so verunstalten, wenn das Ganze nur ein Spiel wäre?«
«Okay, okay. Und weiter?«
«Geh morgen zu dem Gottesdienst, bring das Gerücht in Umlauf, und ich rufe dich innerhalb der nächsten zwei Tage wieder an.«
«Wo wohnst du?«
«Hier und da. Ich ziehe oft um.«
Alice stand auf und küsste sie auf die Wange. Dann war sie verschwunden.
Zwei Stunden lang stapfte Verheek herum, nahm Zeitschriften zur Hand, warf sie wieder beiseite, rief den Zimmerservice an, packte aus, stapfte herum. Die nächsten beiden Stunden saß er auf der Bettkante, trank ein warmes Bier und starrte das Telefon an. Er würde bis Mitternacht warten, erklärte er sich selbst, und dann — ja, was dann?
Sie hatte gesagt, sie würde anrufen.
Er konnte ihr das Leben retten, wenn sie nur anrufen würde.
Um Mitternacht warf er eine weitere Zeitschrift beiseite und verließ das Zimmer. Ein FBI-Agent in New Orleans hatte ihm ein bisschen geholfen und ihm ein paar von Jurastudenten frequentierte Lokale in der Nähe des Campus genannt. Er würde sie aufsuchen und sich unter die Leute mischen, ein Bier trinken und zuhören. Die Studenten waren zu dem Spiel in die Stadt gekommen. Sie würde nicht da sein, und das machte nichts, weil er sie noch nie gesehen hatte. Aber vielleicht würde er etwas aufschnappen, und er konnte seinen Namen erwähnen, eine Karte hinterlassen, sich mit jemandem anfreunden, der sie kannte oder vielleicht einen ihrer Freunde. Die Chancen waren ziemlich gering, aber das war immer noch sinnvoller, als herumzusitzen und das Telefon anzustarren.
Er fand einen Platz an der Bar in einem Lokal, das Barrister’s hieß und nur drei Blocks vom Campus entfernt war. Es war auf sportlich getrimmt, mit Mannschaftsaufstellungen und Fotos von Footballspielern an den Wänden. Die Gäste waren laut und unter dreißig.
Der Barkeeper sah wie ein Student aus. Nach zwei Bier ging ein Teil der Gäste, und die Bar war halb leer. Gleich würde eine weitere Horde hereinkommen.
Verheek bestellte Nummer drei. Es war halb zwei.»Studieren Sie Jura?«fragte er den Barkeeper.
«Leider.«
«Ganz so schlimm ist es doch wohl nicht, oder?«
Er wischte um die Erdnüsse herum.»Es gibt Dinge, die mehr Spaß machen.«
Verheek sehnte sich nach den Barkeepern, die ihm während seiner Studentenzeit das Bier serviert hatten. Die wussten noch, wie man Konversation machte. Behandelten niemanden als Fremden. Redeten über alles mögliche.
«Ich bin Anwalt«, sagte Verheek leicht verzweifelt.
Sieh mal einer an, der Bursche ist Anwalt. Was für ein seltener Vogel. Etwas ganz Besonderes. Der Junge verzog sich.
Kleiner Mistkerl. Ich hoffe, du fällst durch. Verheek nahm seine Flasche und drehte sich zu den Tischen um. Unter den jungen Leuten kam er sich vor wie ein Großvater. Obwohl er das Jurastudium und die Erinnerungen daran hasste, hatte es doch etliche lange Freitagnächte mit seinem Freund Callahan in den Bars von Georgetown gegeben. Das waren erfreuliche Erinnerungen.
«Auf welchem Gebiet?«Der Barkeeper war zurück. Gavin drehte sich zu ihm um und lächelte.
«Beratender Anwalt beim FBI.«
Er wischte immer noch.»Sie leben also in Washington.«
«Ja. Bin für das Spiel am Sonntag hergekommen. Ich bin ein Fan der Redskins. «Er hasste die Redskins und jede andere organisierte Football-Mannschaft. Er musste verhindern, dass der Junge nur noch von Football redete.»Wo studieren Sie?«
«Hier. Tulane. Im Mai werde ich fertig.«
«Und dann?«
«Wahrscheinlich Cincinnati für ein oder zwei Jahre Praktikum.«
«Sie müssen ein guter Student sein.«
Er tat es mit einem Achselzucken ab.»Wollen Sie noch ein Bier?«
«Nein. Haben Sie von Thomas Callahan gehört?«
«Klar. Kannten Sie ihn?«
«Wir haben zusammen in Georgetown studiert. «Verheek zog eine Visitenkarte aus der Tasche und gab sie dem Jungen.»Ich bin Gavin Verheek. «Der Junge betrachtete sie und legte sie dann anstandshalber neben das Eis. An der Bar herrschte Ruhe, und der Junge hatte das Geschwätz satt.
«Kennen Sie eine Studentin, die Darby Shaw heißt?«
Der Junge warf einen Blick auf die Tische.»Nein, ich kenne sie nicht persönlich, aber ich weiß, wer sie ist. Ich glaube, sie ist im zweiten Jahr. «Eine lange, ziemlich argwöhnische Pause.»Weshalb?«
«Wir müssen mit ihr reden. «Wir, wie FBI. Nicht einfach Ich, wie Gavin Verheek. Das» Wir «hörte sich wesentlich nachdrücklicher an.»Kommt sie öfters hierher?«
«Ich habe sie ein paar Mal gesehen. Sie ist ja auffallend genug.«
«Das habe ich gehört. «Gavin schaute zu den Tischen.»Glauben Sie, dass einer von den Leuten dort sie vielleicht kennt?«
«Das bezweifle ich. Sie sind alle im ersten Jahr. Hören Sie das nicht? Sie sitzen da und diskutieren über Eigentumsrechte und Durchsuchung und Pfändung.«
Ja, genauso war es damals gewesen. Gavin holte ein Dutzend Karten aus seiner Tasche und legte sie auf die Bar.»Ich wohne für ein paar Tage im Hilton. Wenn Sie sie sehen oder irgend etwas hören, geben Sie dem Betreffenden eine davon.«
«Klar. Gestern abend war ein Polizist hier und hat Fragen gestellt. Sie glauben doch nicht, dass sie etwas mit seinem Tod zu tun hat?«
«Nein, ganz bestimmt nicht. Wir müssen nur mit ihr reden.«
«Ich halte die Augen offen.«
Verheek bezahlte sein Bier, dankte dem Jungen noch einmal und war draußen auf der Straße. Er ging drei Blocks bis zum Half Shell. Es war fast zwei Uhr. Er war todmüde, halb betrunken, und im gleichen Augenblick, in dem er durch die Tür ging, legte eine Band los. Der Laden war dunkel, gedrängt voll, und an die fünfzig Studenten fingen sofort an, mit ihren Mädchen auf den Tischen zu tanzen. Er bahnte sich einen Weg durch das Chaos und konnte sich hinten, in der Nähe der Bar, in
Sicherheit bringen. Sie standen in Dreierreihe, Schulter an Schulter, und niemand trat beiseite. Er schob sich irgendwie hindurch, ließ sich ein Bier geben, um cool zu wirken; wieder wurde ihm bewusst, dass er hier bei weitem der Älteste war. Er zog sich in eine dunkle, aber gleichfalls überfüllte Ecke zurück. Es war hoffnungslos. Er konnte nicht einmal seine eigenen Gedanken hören, geschweige denn eine Unterhaltung führen.
Er beobachtete die Barkeeper: alle jung, alle Studenten. Der älteste sah aus, als wäre er Ende Zwanzig. Er tippte einen Bon nach dem anderen ein; offenbar machte er seine Abrechnung. Seine Bewegungen wirkten hastig, als wäre es Zeit, Feierabend zu machen. Gavin ließ ihn nicht aus den Augen.
Er nahm rasch seine Schürze ab, warf sie in eine Ecke, duckte sich unter dem Tresen hindurch und war verschwunden. Gavin bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menge und holte ihn ein, als er gerade durch die Küchentür ging. Er hatte eine FBI-Karte in der Hand.»Entschuldigung. Ich bin vom FBI. «Er hielt ihm die Karte vor die Nase.»Wie heißen Sie?«
Der junge Mann erstarrte und musterte Verheek nervös.»Äh, Fountain. Jeff Fountain.«
«Also, Jeff. Kein Grund zur Aufregung. Ich habe nur ein paar Fragen. «Die Küche hatte schon vor Stunden Schluss gemacht, und sie waren allein.»Dauert nur eine Sekunde.«
«Okay. Was wollen Sie wissen?«
«Sie studieren Jura, stimmt’s?«Bitte sag ja. Sein Freund hatte gesagt, die meisten Barkeeper wären Jurastudenten.
«Ja. In Loyola.«
Loyola! Pech!» Ja, das habe ich mir beinahe gedacht. Sie haben doch sicher von Professor Callahan von Tulane gehört. Die Beisetzung ist morgen.«
«Natürlich. Es stand in allen Zeitungen. Die meisten meiner Freunde studieren in Tulane.«»Kennen Sie dort zufällig eine Studentin im zweiten Jahr, die Darby Shaw heißt? Eine überaus gutaussehende Person.«
Fountain lächelte.»Ja, sie war im letzten Jahr mit einem Freund von mir liiert. Sie kommt gelegentlich her.«
«Wann war sie das letzte Mal hier?«
«Vor ein oder zwei Monaten. Weshalb?«
«Wir müssen mit ihr reden. «Er gab Fountain eine Handvoll Karten.»Behalten Sie die. Ich wohne für ein paar Tage im Hilton. Wenn Sie sie sehen oder irgend etwas hören, geben Sie dem Betreffenden eine davon.«
«Was sollte ich hören?«
«Irgend etwas über Callahan. Wir müssen unbedingt mit ihr Verbindung aufnehmen, okay?«
«Klar. «Er steckte die Karten in die Tasche.
Verheek dankte ihm und kehrte in das Chaos zurück. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge, versuchte, die Unterhaltungsversuche mitzuhören. Eine frische Horde drängte herein, und er boxte sich zur Tür durch. Er war zu alt für so etwas.
Sechs Blocks weiter parkte er vor einem Studentenwohnheim neben dem Campus. Seine letzte Station für diese Nacht würde eine dunkle, kleine Billardkneipe sein, die, jedenfalls im Moment, nicht überfüllt war. Es gab vier Billardtische, an denen kaum jemand spielte. Ein junger Mann mit einem T-Shirt trat an die Bar und bestellte ein Bier. Das Shirt war grün und grau, und auf der Vorderseite standen die Worte TULANE LAW SCHOOL und darunter etwas, was eine Kennziffer des Wohnheims zu sein schien.
Verheek kam sofort zur Sache.»Sie studieren Jura?«
Der junge Mann musterte ihn, während er in den Taschen seiner Jeans nach Geld fingerte.»Leider.«
«Haben Sie Thomas Callahan gekannt?«»Wer sind Sie?«
«FBI. Callahan war ein Freund von mir.«
Der Student nippte an seinem Bier und war misstrauisch.»Ich habe bei ihm Verfassungsrecht gehört.«
Bingo! Darby auch. Verheek versuchte, uninteressiert zu wirken.»Kennen Sie Darby Shaw?«
«Warum wollen Sie das wissen?«
«Wir müssen mit ihr reden. Das ist alles.«
«Wer ist wir?«Der Student war jetzt noch misstrauischer. Er trat einen Schritt näher an Gavin heran, als wollte er ein paar klare und deutliche Antworten hören.
«FBI«, sagte Verheek lässig.
«Haben Sie eine Marke oder so etwas?«
«Natürlich«, sagte er und zog eine Karte aus der Tasche. Der Student betrachtete sie genau, dann gab er sie zurück.»Sie sind Anwalt, kein Agent.«
Das traf den Nagel auf den Kopf, und der Anwalt wusste, dass er seinen Job verlieren würde, wenn sein Boss erfuhr, dass er Fragen stellte und sich so verhielt, als wäre er ein Agent.
«Ja, ich bin Anwalt. Callahan und ich haben zusammen studiert.«
«Was wollen Sie dann von Darby Shaw?«
Der Barkeeper war näher herangekommen und hörte zu.
«Kennen Sie sie?«
«Weiß nicht«, sagte der Student, und es war offensichtlich, dass er sie tatsächlich kannte, aber nicht reden wollte.»Steckt sie in der Klemme?«
«Nein. Sie kennen Sie, nicht wahr?«
«Kann sein.«
«Hören Sie, wie heißen Sie?«
«Zeigen Sie mir eine Marke, dann sage ch Ihnen, wie ich heiße.«
Gavin tat einen langen Zug aus der Flasche und lächelte den Barkeeper an.»Ich muss mit ihr reden, okay? Es ist sehr wichtig. Ich wohne für ein paar Tage im Hilton. Wenn Sie sie sehen, sagen Sie ihr, sie soll mich anrufen. «Er bot dem Studenten die Karte an, der einen Blick darauf warf und dann davonging.
Um drei schloss er die Tür seines Zimmers auf und hörte den Anrufbeantworter ab. Keine Nachrichten. Wo immer Darby sein mochte, sie hatte immer noch nicht angerufen. Vorausgesetzt natürlich, dass sie noch am Leben war.