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Garcia rief zum letzten Mal an. Grantham nahm den Anruf am Samstag vor Sonnenaufgang entgegen, knapp zwei Stunden, bevor sie sich zum ersten Mal treffen wollten. Er sagte, er würde aussteigen. Es war der falsche Zeitpunkt. Wenn die Story herauskam, dann würden einige sehr mächtige Anwälte und ihre sehr reichen Mandanten hart fallen, und diese Leute wären das Fallen nicht gewohnt und würden andere Leute mitziehen. Und Garcia konnte etwas passieren. Er hatte eine Frau und eine kleine Tochter. Er hatte einen Job, den er ertrug, weil die Bezahlung großartig war. Weshalb ein Risiko eingehen? Er hatte nichts Böses getan. Sein Gewissen war rein.
«Warum rufen Sie mich dann immer wieder an?«fragte Grantham.
«Ich glaube, ich weiß, weshalb sie umgebracht wurden. Ich bin nicht sicher, aber ich kann es mir sehr gut vorstellen. Ich habe etwas gesehen.«
«Über dieses Thema unterhalten wir uns jetzt seit einer Woche, Garcia. Sie haben etwas gesehen, oder Sie haben etwas in der Hand. Aber das hilft mir nicht weiter, solange Sie es mir nicht zeigen. «Grantham schlug eine Akte auf und zog eine der Vergrößerungen des Mannes am Telefon heraus.»Sie werden von einer Art Verantwortungsgefühl getrieben, Garcia. Deshalb möchten Sie gern reden.«
«Ja, aber es ist durchaus möglich, dass sie wissen, dass ich Bescheid weiß. Sie haben sich merkwürdig benommen, als wollten sie fragen, ob ich es gesehen habe. Aber sie können nicht fragen, weil sie nicht sicher sind.«
«Sie meinen die Leute in Ihrer Firma?«
«Ja. Nein. Einen Moment. Woher wissen Sie, dass ich in einer Firma arbeite? Ich habe es Ihnen nicht gesagt.«
«Ganz einfach. Um ein Regierungsanwalt zu sein, gehen Sie zu früh zur Arbeit. Sie stecken in einer dieser großen Firmen mit zweihundert oder mehr Anwälten, in denen man erwartet, dass die angestellten Anwälte und die jüngeren Partner hundert Stunden pro Woche arbeiten. Als Sie mich das erste Mal anriefen, sagten Sie, Sie wären auf dem Weg ins Büro, und da war es ungefähr fünf Uhr morgens.«
«Na schön. Was wissen Sie sonst noch?«
«Nicht viel. Wir reden um den heißen Brei herum, Garcia. Wenn Sie nicht reden wollen, dann legen Sie auf und lassen mich in Ruhe. Sie halten mich nur vom Schlafen ab.«
«Angenehme Träume. «Garcia legte auf. Grantham starrte den Hörer an.
In den vergangenen acht Jahren hatte er dreimal seine Telefonnummer aus dem Verzeichnis streichen lassen. Er lebte vom Telefon, und seine tollsten Storys kamen aus dem Nirgendwo über den Apparat. Aber nach jeder tollen Story hatte es an die tausend belanglose Anrufe gegeben von Leuten, die sich veranlasst fühlten, ihm mitten in der Nacht ihre heißen kleinen Informationen zukommen zu lassen. Er war bekannt als Reporter, der sich eher vor ein Erschießungskommando stellen lassen würde, als einen Informanten preiszugeben, also riefen immer wieder Leute an, bis er es endgültig satt hatte und sich eine neue, nicht eingetragene Nummer geben ließ. Dann kam eine Flaute, und er ließ sich schleunigst wieder ins Washingtoner Telefonbuch eintragen.
Im Moment stand er drin. Gray S. Grantham. Der einzige Teilnehmer dieses Namens. Sie konnten ihn zwölf Stunden am Tag in der Redaktion erreichen, aber es war wesentlich verschwiegener und intimer, ihn zu Hause anzurufen, insbesondere mitten in der Nacht, wenn er zu schlafen versuchte.
Er ärgerte sich eine halbe Stunde über Garcia, dann schlief er wieder ein. Er war in einen Traum versunken und tot für die Welt, als es abermals läutete. Er fand den Hörer im Dunkeln.»Hallo.«
Es war nicht Garcia. Es war eine Frau.»Spreche ich mit Gray Grantham von der Washington Post?«
«Ja. Und wer sind Sie?«
«Arbeiten Sie noch an der Story über Rosenberg und Jensen?«
Er setzte sich in der Dunkelheit auf und warf einen Blick auf die Uhr. Halb sechs.»Es ist eine große Story. Eine Menge Leute arbeiten daran, aber ja, ich recherchiere.«
«Haben Sie von dem Pelikan-Dossier gehört?«
Er atmete tief ein und versuchte nachzudenken.»Dem Pelikan-Dossier? Nein. Was ist das?«
«Eine harmlose kleine Theorie über die Frage, wer sie ermordet hat. Es wurde letzten Sonntag nach Washington gebracht, von einem Mann namens Thomas Callahan, Juraprofessor in Tulane. Er gab es einem Freund beim FBI, und es wurde herumgereicht. Die Dinge kamen ins Rollen, und am Mittwochabend wurde Callahan in New Orleans mit einer Autobombe ermordet.«
Die Lampe war eingeschaltet, und er machte sich Notizen.»Von wo rufen Sie an?«
«Aus New Orleans. Aus einer Telefonzelle, also machen Sie sich keine Mühe.«
«Woher wissen Sie das alles?«
«Ich habe das Dossier geschrieben.«
Er war jetzt hellwach und atmete hastig.»Okay. Wenn Sie es geschrieben haben, erzählen Sie mir davon.«»Das möchte ich nicht auf diese Art tun, denn selbst wenn Sie ein Exemplar hätten, könnten Sie die Story nicht bringen.«
«Weshalb nicht?«
«Sie könnten es nicht. Vorher wären gründliche Recherchen erforderlich.«
«Okay. Wir haben den Ku Klux Klan, den Terroristen Khamel, die Underground Army, die Arier, die…«
«Nichts da. Keiner von denen war es. Die wären zu naheliegend. In dem Dossier geht es um einen bisher nicht genannten Verdächtigen.«
Er wanderte mit dem Hörer in der Hand am Fußende des Bettes hin und her.»Weshalb können Sie mir nicht sagen, um wen es sich handelt?«
«Vielleicht später. Sie scheinen zu wissen, wie man an Material herankommt. Sehen wir zu, was Sie herausfinden.«
«Die Sache mit Callahan lässt sich leicht überprüfen. Dazu genügt ein Anruf. Geben Sie mir vierundzwanzig Stunden.«
«Ich werde versuchen, Montag früh wieder anzurufen. Wenn wir miteinander ins Geschäft kommen wollen, Mr. Grantham, dann müssen Sie etwas vorzuweisen haben. Wenn ich das nächste Mal anrufe, möchte ich etwas hören, das ich noch nicht weiß.«
Sie rief im Dunkeln von einer Telefonzelle aus an.»Sind Sie in Gefahr?«fragte er.
«Vermutlich. Aber im Augenblick bin ich okay.«
Sie hörte sich jung an, vielleicht Mitte Zwanzig. Sie hatte ein Dossier geschrieben. Sie kannte den Juraprofessor.»Sind Sie Anwältin?«
«Nein, und vergeuden Sie nicht Ihre Zeit damit, mir nachzuspionieren. Sie haben Arbeit vor sich, Mr. Grantham, sonst wende ich mich an jemand anderen.«
«Okay. Sie brauchen einen Namen.«
«Ich habe einen.«
«Ich meine einen Codenamen.«
«Sie meinen, wie Spione und solche Leute? Das wäre ein Spaß.«
«Entweder das, oder Sie nennen mir Ihren richtigen Namen.«
«Kommt nicht in Frage. Nennen Sie mich einfach Pelikan.«
Seine Eltern waren gute irische Katholiken, aber er war schon vor vielen Jahren gewissermaßen ausgestiegen. Sie waren ein gut aussehendes Paar, würdevoll in ihrer Trauer, sonnengebräunt und gut gekleidet. Hand in Hand betraten sie mit dem Rest der Familie die Rogers Chapel. Sein Bruder aus Mobile war kleiner und sah wesentlich älter aus. Thomas hatte gesagt, er hätte ein Alkoholproblem.
Eine halbe Stunde lang waren Studenten und Professoren in die kleine Kapelle geströmt. Am Abend sollte das Spiel stattfinden, und auf dem Campus hatten sich viele Leute versammelt. Auf der Straße parkte ein Übertragungswagen des Fernsehens. Ein Kameramann wahrte respektvollen Abstand und filmte die Vorderseite der Kapelle. Ein Campus-Polizist beobachtete ihn aufmerksam und sorgte dafür, dass er nicht zu nahe herankam.
Es war schon ein merkwürdiger Anblick, diese Jurastudenten in Kleidern und mit hohen Absätzen beziehungsweise in Anzügen und mit Krawatten. Darby saß in einem dunklen Zimmer im dritten Stock von Newcomb Hall am Fenster und beobachtete die Studenten, die unten herumwanderten, sich leise unterhielten und ihre Zigaretten aufrauchten. Unter ihrem Stuhl lagen vier Zeitungen, bereits gelesen und weggeworfen. Sie war schon seit zwei Stunden dort, hatte gelesen, solange die Sonne schien, und auf den Gottesdienst gewartet. Für sie gab es keinen anderen Platz. Sie zweifelte nicht daran, dass die bösen Buben in den Büschen rund um die Kapelle lauerten, aber sie lernte, geduldig zu sein. Sie war früh gekommen, würde später wieder verschwinden und sich im Schatten halten. Wenn sie sie fanden, dann würden sie es vielleicht schnell tun, und dann war alles vorbei.
Sie griff nach einem zerknüllten Papierhandtuch und trocknete ihre Augen. Jetzt war es in Ordnung, dass sie weinte, aber es musste das letzte Mal sein. Die Leute waren alle drinnen, und der Übertragungswagen fuhr ab. In der Zeitung hatte gestanden, es wäre ein Gedenkgottesdienst, dem später die private Beisetzung folgen sollte. Es war kein Sarg in der Kapelle.
Sie hatte sich diesen Augenblick ausgesucht, um zu verschwinden, einen Wagen zu mieten und nach Baton Rouge zu fahren, dann in die erste Maschine zu steigen, die irgendwohin flog, weg von New Orleans. Sie würde das Land verlassen, vielleicht Montreal oder Calgary. Sie würde dort für ein Jahr untertauchen und hoffen, dass die Verbrechen aufgeklärt und die bösen Buben eingelocht wurden.
Aber es war ein Traum. Der schnellste Weg zur Gerechtigkeit führte schnurstracks über sie. Sie wusste mehr als irgend jemand sonst. Die Fibbies waren nahe daran gewesen, dann hatten sie sich zurückgezogen und jagten jetzt hinter Werweißwem her. Verheek hatte nichts erreicht, dabei stand er dem Direktor nahe. Sie würde das Puzzle selbst zusammensetzen müssen. Ihr kleines Dossier hatte Thomas das Leben gekostet, und jetzt waren sie hinter ihr her. Sie kannte die Identität des Mannes, der hinter den Morden an Rosenberg und Jensen und Callahan steckte, und dieses Wissen isolierte sie.
Plötzlich lehnte sie sich vor. Die Tränen trockneten auf ihren Wangen. Da war er! Der dünne Mann mit dem schmalen Gesicht! Er hatte einen Anzug an und trug eine angemessene Trauermiene zur Schau, während er schnell auf die Kapelle zuging. Er war es! Der Mann, den sie zuletzt im Foyer des Sheraton gesehen hatte. Wann war das gewesen?
Donnerstagmorgen. Sie hatte gerade mit Verheek gesprochen, als er dort aufgetaucht war und sich umgesehen hatte.
Er blieb an der Tür stehen, blickte nervös über die Schulter er war wirklich ein Dämlack, sich so zu verraten. Eine Sekunde lang starrte er drei Wagen an, die harmlos auf der Straße parkten, keine fünfzig Meter entfernt. Er öffnete die Tür und verschwand in der Kapelle. Wundervoll. Die Schweine hatten ihn umgebracht, und nun gesellten sie sich zu seiner Familie und seinen Freunden, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.
Ihre Nase berührte die Fensterscheibe. Die Wagen waren zu weit weg, aber sie war sicher, dass auch dort ein Mann war, der nach ihr Ausschau hielt. Bestimmt wussten sie, dass sie nicht so dumm und ihr Herz nicht so gebrochen war, dass sie auftauchen und ihren toten Geliebten betrauern würde. Das wussten sie. Sie war ihnen zweieinhalb Tage entkommen. Die Tränen waren versiegt.
Zehn Minuten später kam der dünne Mann allein wieder heraus, zündete sich eine Zigarette an und schlenderte mit tief in den Taschen vergrabenen Händen auf die drei Wagen zu. Und mit einer Trauermiene. Verdammter Kerl.
Er ging an den Wagen vorbei, blieb aber nicht stehen. Als er außer Sicht war, ging eine Tür auf, und dem mittleren Wagen entstieg ein Mann in einem grünen Tulane-Sweatshirt. Er ging hinter dem Dünnen her die Straße entlang. Er war nicht dünn. Er war klein, untersetzt und kräftig. Ein Stummel.
Er verschwand auf dem Gehsteig hinter dem Dünnen, hinter der Kapelle. Darby lehnte sich so weit vor, dass sie auf der Kante des Klappstuhls saß. Binnen einer Minute kamen sie hinter dem Gebäude wieder zum Vorschein. Jetzt waren sie zusammen und flüsterten etwas, aber nur einen Moment lang; dann trennte sich der Dünne von dem Kräftigen und verschwand die Straße hinunter. Stummel ging schnell zu seinem Wagen und stieg ein. Er saß einfach da, wartete darauf, dass der
Gottesdienst zu Ende ging und er noch einen letzten Blick auf die Trauergäste werfen konnte für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie wirklich so dämlich gewesen war, daran teilzunehmen.
Der Dünne hatte keine zehn Minuten gebraucht, um sich hineinzuschleichen, die Versammlung von schätzungsweise zweihundert Leuten zu mustern und zu dem Schluss zu gelangen, dass sie nicht da war. Vielleicht hatte er nach dem roten Haar Ausschau gehalten. Oder nach blond gebleichtem. Nein, es war eher zu vermuten, dass sie Leute hatten, die bereits drinnen waren, die andächtig und mit Trauermiene dasaßen und nach ihr suchten oder nach jemandem, der vielleicht so ähnlich aussah wie sie. Sie hätten den Dünnen mit einem Nicken oder Kopfschütteln oder Blinzeln informieren können. An diesem Ort wimmelte es von ihnen.
Havanna war der ideale Zufluchtsort. Es spielte keine Rolle, ob zehn oder auch hundert Länder eine Prämie auf seinen Kopf ausgesetzt hatten. Fidel war ein Bewunderer und gelegentlicher Klient. Sie tranken zusammen, teilten sich Frauen und rauchten Zigarren. Er hatte alles, was das Herz begehrte: eine hübsche kleine Wohnung an der Calle de Torre in der Altstadt, einen Wagen mit Fahrer, einen Banker, der ein Genie im blitzschnellen Überweisen von Geld in der ganzen Welt war, jedes Boot, das er haben wollte, ein Militärflugzeug, wenn er eines brauchte, und massenhaft junge Frauen. Er sprach die Landessprache, und seine Haut war nicht blass. Er fühlte sich wohl in der Stadt.
Er hatte sich einmal bereiterklärt, Fidel umzubringen, schaffte es aber nicht. Er war an Ort und Stelle, und es waren nur noch zwei Stunden bis zur Tat, aber er brachte es einfach nicht fertig. Die Bewunderung war zu groß. Das war damals in der alten Zeit, als er noch nicht ausschließlich für Geld mordete. Er spielte ein doppeltes Spiel und informierte Fidel. Sie täuschten einen Hinterhalt vor, und anschließend wurde das Gerücht ausgestreut, der große Khamel wäre auf den Straßen von Havanna niedergeschossen worden.
Nie wieder würde er mit einer Linienmaschine fliegen. Die Fotografen in Paris waren eine Schande für einen Profi wie ihn. Er hatte einen Fehler gemacht, war nach so vielen Jahren Berufserfahrung leichtsinnig gewesen. In Amerika war sein Foto auf den Titelseiten erschienen. Äußerst unerfreulich. Seinem Klienten hatte das nicht gefallen.
Das Boot war ein zwölf Meter langer Schoner mit zwei Mann Besatzung und einer jungen Frau, sämtlich Kubanern. Sie war unten in der Kabine. Ein paar Minuten, bevor sie die Lichter von Biloxi sahen, war er mit ihr fertig geworden. Jetzt war er voll und ganz bei der Arbeit, inspizierte sein Schlauchboot, packte seine Tasche, sprach kein Wort. Die Besatzungsmitglieder hockten auf dem Deck und hielten sich von ihm fern.
Um genau neun Uhr ließen sie das Schlauchboot zu Wasser. Er warf seine Tasche hinein und sprang hinterher. Sie hörten den tuckernden Motor, als er in der Dunkelheit des Sundes verschwand. Sie sollten bis Tagesanbruch vor Anker liegen und dann nach Havanna zurückkehren. Sie hatten einwandfreie Papiere, die auswiesen, dass sie Amerikaner waren — für den Fall, dass sie entdeckt wurden und irgendjemand anfing, Fragen zu stellen.
Er glitt geduldig durch das ruhige Wasser, wich Leuchtbojen aus und machte einen großen Bogen um vereinzelte kleine Wasserfahrzeuge. Auch er hatte einwandfreie Papiere und drei Waffen in seiner Tasche.
Es war Jahre her, dass er in einem Monat zweimal zugeschlagen hatte. Nachdem er angeblich in Kuba niedergeschossen worden war, hatte es eine fünfjährige Trockenzeit gegeben. Geduld war seine Stärke. Sein Durchschnitt war ein Auftrag pro Jahr.
Und dieses kleine Opfer würde kein Aufsehen erregen.
Niemand würde ihn verdächtigen. Es war eine Kleinigkeit, aber sein Klient bestand darauf, und er war zufällig in der Gegend und die Bezahlung stimmte, und deshalb saß er wieder in einem kleinen Schlauchboot auf dem Weg zur Küste und hoffte, dass sein Kumpel Luke diesmal nicht als Farmer gekleidet war, sondern als Fischer.
Dies würde für lange Zeit das letzte Mal sein, vielleicht für immer. Er hatte mehr Geld, als er ausgeben oder verschenken konnte. Und er hatte angefangen, kleine Fehler zu machen.
In der Ferne sah er die Mole und bewegte sich von ihr fort. Er musste noch eine halbe Stunde warten. Er fuhr eine Viertelmeile an der Küste entlang, dann hielt er auf sie zu. Zweihundert Meter von ihr entfernt schaltete er den tuckernden Motor aus, hakte ihn los und ließ ihn ins Wasser fallen. Er lag ausgestreckt in dem Boot, arbeitete, wenn es erforderlich war, mit einem Plastikriemen und dirigierte sich unhörbar zu einer dunklen Stelle hinter eine Reihe von billigen, zehn Meter vom Strand entfernten Ziegelsteingebäuden. Er stand in halbmetertiefem Wasser und stach mit einem kleinen Taschenmesser Löcher in das Schlauchboot. Es sank und verschwand. Der Strand war menschenleer.
Luke saß allein am Ende der Mole. Es war genau elf Uhr, und er war mit einer Angelrute an Ort und Stelle. Er trug eine weiße Mütze, und ihr Schirm bewegte sich langsam vor und zurück, während er das Wasser nach dem Schlauchboot absuchte. Er sah auf die Uhr.
Plötzlich stand ein Mann neben ihm, aus dem Nirgendwo aufgetaucht wie ein Engel.»Luke?«sagte der Mann.
Das war nicht der Code. Luke fuhr zusammen. Er hatte eine Waffe in dem Kasten neben seinen Füßen, aber keine Möglichkeit, schnell genug an sie heranzukommen.»Sam?«fragte er. Vielleicht war ihm etwas entgangen. Vielleicht hatte Khamel von dem Schlauchboot aus die Mole nicht finden können.
«Ja, Luke, ich bin’s. Tut mir leid, dass ich abgekommen bin. Probleme mit dem Boot.«
Lukes Herz beruhigte sich, und er atmete erleichtert aus.
«Wo ist der Wagen?«fragte Khamel.
Luke warf einen ganz schnellen Blick auf ihn. Ja, es war Khamel, und er starrte hinter einer dunklen Brille aufs Meer hinaus.
Luke deutete mit einem Kopfnicken auf ein Gebäude.»Roter Pontiac neben dem Schnapsladen.«
«Wie weit ist es bis New Orleans?«
«Halbe Stunde«, sagte Luke, während er die Schnur einholte.
Khamel trat zurück und versetzte ihm zwei Schläge ins Genick. Mit jeder Hand einen. Die Wirbel brachen und zerrissen das Rückenmark. Luke stürzte hart und stöhnte einmal. Khamel sah zu, wie er starb, dann zog er ihm die Schlüssel aus der Tasche und beförderte die Leiche mit einem Fußtritt ins Wasser.
Edwin Sneller, oder wie immer er heißen mochte, öffnete nicht die Tür, sondern schob lautlos den Schlüssel darunter durch. Khamel hob ihn auf und schloss die Tür zum Nebenzimmer auf. Er trat ein und ging schnell zum Bett, wo er seine Tasche absetzte, dann ans Fenster, dessen Vorhänge offen waren, so dass er den fernen Fluss sehen konnte. Er zog die Vorhänge zu und trat vom Fenster zurück.
Er ging ans Telefon und wählte Snellers Nummer.
«Erzählen Sie mir von ihr«, sagte Khamel leise zum Fußboden.
«Im Aktenkoffer sind zwei Fotos.«
Khamel öffnete ihn und holte die Fotos heraus.»Ich habe sie.«
«Sie sind mit Eins und Zwei nummeriert. Das eine haben wir aus einem Jahrbuch der Juristischen Fakultät. Es ist ungefähr ein Jahr alt und das neueste, das wir bekommen konnten. Es ist eine Vergrößerung von einem winzigen Foto, es sind also eine Menge Details verlorengegangen. Das andere ist zwei Jahre alt und stammt aus einem Jahrbuch der Arizona State University.«
Khamel betrachtete beide Fotos.»Eine schöne Frau.«
«Ja. Sehr ansehnlich. Aber dieses hübsche Haar ist verschwunden. Donnerstagabend hat sie für ein Hotelzimmer mit einer Kreditkarte gezahlt. Freitagmorgen hätten wir sie fast erwischt. Wir fanden lange Haarsträhnen auf dem Boden und einen kleinen Rest von etwas, von dem wir inzwischen wissen, dass es schwarze Haarfarbe ist. Sehr schwarz.«
«Was für ein Jammer.«
«Seit Mittwochabend haben wir sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sie hat es offenbar geschafft, uns zu entwischen: Kreditkarte für ein Zimmer am Mittwoch, Kreditkarte in einem anderen Hotel am Donnerstag, dann nichts seit der letzten Nacht. Am Freitagnachmittag hat sie fünftausend in bar von ihrem Konto abgehoben. Die Spur ist also kalt geworden.«
«Vielleicht hat sie sich abgesetzt.«
«Kann sein, aber ich glaube es nicht. Gestern abend war jemand in ihrer Wohnung. Wir hatten die Bude verdrahtet, kamen aber zwei Minuten zu spät.«
«Dir seid nicht gerade die Schnellsten, wie?«
«Es ist eine große Stadt. Wir überwachen den Flughafen und die Bahnhöfe. Und das Haus ihrer Mutter in Idaho. Nichts. Ich glaube, sie ist noch hier.«
«Und wo könnte sie sein?«
«Wandert herum, wechselt die Hotels, benutzt Münzfernsprecher, hält sich fern von den üblichen Orten. Die Polizei von New Orleans sucht nach ihr. Sie hat nach der Bombe
am Mittwoch mit ihr gesprochen und sie dann aus den Augen verloren. Wir suchen nach ihr, sie suchen nach ihr. Irgendwann wird sie auftauchen.«
«Was ist mit der Bombe passiert?«
«Ganz einfach. Sie ist nicht in den Wagen gestiegen.«
«Wer hat die Bombe gemacht?«
Sneller zögerte.»Kann ich nicht sagen.«
Khamel lächelte ein wenig, als er einige Straßenkarten aus dem Aktenkoffer holte.»Was ist mit den Karten?«
«Oh, nur ein paar Punkte in der Stadt, die von Interesse sein könnten. Ihre Wohnung, seine Wohnung, die Juristische Fakultät, die Hotels, in denen sie übernachtet hat, die Stelle, an der die Bombe explodierte, ein paar kleine Studentenlokale, in denen sie öfters gewesen ist.«
«Bisher ist sie im Quarter geblieben.«
«Sie ist schlau. Da gibt es eine Million Orte, an denen sie sich verstecken kann.«
Khamel nahm das neueste Foto zur Hand und setzte sich auf das andere Bett. Ihm gefiel das Gesicht. Selbst mit kurzem, dunklem Haar würde es ein faszinierendes Gesicht sein. Er konnte es auslöschen, aber es würde nicht angenehm sein.
«Es ist ein Jammer, nicht wahr?«sagte er, fast zu sich selbst.
«Ja. Es ist ein Jammer.«