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Das Taxi hielt an der Ecke von Fifth Avenue und Zweiundvierzigster Straße, und Grantham tat genau, was er tun sollte: er zahlte schnell und sprang mit seiner Tasche heraus. Die Fahrer der Wagen dahinter hupten und zeigten den Vogel, und er dachte, wie schön es doch war, wieder einmal in New York zu sein.
Es war kurz vor fünf Uhr nachmittags, auf der Fifth herrschte dichtes Gedränge, und er konnte sich gut vorstellen, dass das genau das war, was sie gewollt hatte. Sie hatte ihm ganz exakte Anweisungen gegeben. Fliegen Sie mit dieser Maschine vom National nach La Guardia. Nehmen Sie ein Taxi zum Vista Hotel im World Trade Center. Gehen Sie an die Bar, bestellen Sie sich einen Drink oder auch zwei, stellen Sie fest, ob Sie verfolgt wurden, und nach einer Stunde nehmen Sie ein Taxi und fahren damit zur Ecke Fifth und Zweiundvierzigste. Bewegen Sie sich schnell, tragen Sie eine Sonnenbrille und halten Sie unablässig Ausschau, denn wenn Sie verfolgt werden, könnte das uns beide das Leben kosten.
Sie verlangte, dass er alles aufschrieb. Es war ein bisschen albern, ein bisschen übertrieben, aber ihre Stimme ließ keine Einwände zu. Sie hatte Glück, dass sie noch am Leben war, sagte sie, und sie würde keinerlei Risiken mehr eingehen. Und wenn er mit ihr reden wollte, dann musste er genau das tun, was sie wollte.
Er schrieb es auf. Er kämpfte sich durch das Gedränge und ging so schnell wie möglich die Fifth Avenue entlang bis zur Neunundfünfzigsten, zum Plaza, die Stufen hinauf und ins Foyer, dann an der anderen Seite hinaus zum Central Park South. Niemand konnte ihm folgen. Und wenn sie auf die gleiche Weise vorsichtig war, konnte auch ihr niemand folgen.
Auch auf Central Park South herrschte dichtes Gedränge, und als er sich der Sixth Avenue näherte, ging er sogar noch schneller. Er bemühte sich zwar um Gelassenheit, war aber schrecklich aufgeregt bei dem Gedanken, dass er sie bald kennenlernen würde. Am Telefon hatte sie sich ruhig und methodisch angehört, aber mit einer Spur von Angst und Unsicherheit. Sie war nur eine Jurastudentin, die nicht wusste, was sie tat, und wahrscheinlich würde sie in einer Woche tot sein, wenn nicht schon früher, aber jedenfalls war das die Art, auf die das Spiel gespielt werden musste. Gehen Sie immer davon aus, dass Sie verfolgt werden, hatte sie gesagt. Sie hatte sieben Tage überlebt, an denen Bluthunde hinter ihr her waren, also bitte tun Sie, was ich sage.
Sie hatte gesagt, er sollte an der Ecke der Sixth im St. Moritz verschwinden, und er tat es. Sie hatte für ihn unter dem Namen Warren Clark ein Zimmer reservieren lassen. Er bezahlte für das Zimmer in bar und fuhr mit dem Fahrstuhl in den neunten Stock. Dort sollte er warten. Einfach hinsetzen und warten, hatte sie gesagt.
Er stand eine Stunde lang am Fenster und sah zu, wie der Central Park dunkel wurde. Dann läutete das Telefon.
«Mr. Clark?«fragte eine Frauenstimme.
«Ja.«
«Ich bin’s. Sind Sie allein angekommen?«
«Ja. Wo sind Sie?«
«Sechs Stockwerke über Ihnen. Nehmen Sie den Fahrstuhl zum achtzehnten und gehen Sie über die Treppe in den fünfzehnten. Zimmer 1520.«
«Okay. Jetzt gleich?«
«Ja. Ich warte auf Sie.«
Er putzte sich noch einmal die Zähne, bürstete sein Haar, und
zehn Minuten später stand er vor Zimmer 1520. Ihm war zumute wie einem Schuljungen bei seiner ersten Verabredung. Seit den Football-Spielen an der High School hatte er kein solches Lampenfieber mehr gehabt.
Aber er war Gray Grantham von der Washington Post, und dies war nur eine Story unter anderen, und sie war nur eine Frau unter anderen, also reiß dich am Riemen, Mann.
Er klopfte an und wartete.»Wer ist da?«
«Grantham«, sagte er zu der Tür.
Der Riegel klickte, und sie machte langsam die Tür auf. Das Haar war verschwunden, aber sie lächelte, und sie sah großartig aus. Sie gab ihm die Hand.»Kommen Sie herein.«
Sie machte die Tür hinter ihm zu und verriegelte sie wieder.»Möchten Sie einen Drink?«
«Gern. Was haben Sie?«
«Wasser, mit Eis.«
«Hört sich gut an.«
Sie ging in ein kleines Wohnzimmer, in dem der Fernseher eingeschaltet war, aber ohne Ton.»Hier herein«, sagte sie. Er stellte seine Tasche auf den Tisch und setzte sich auf die Couch. Sie stand an der Bar, und eine Sekunde lang bewunderte er ihre Jeans. Keine Schuhe. Überlanges Sweatshirt, dessen Halsausschnitt an einer Seite tiefer hing, so dass ein Träger ihres Büstenhalters zu sehen war.
Sie gab ihm das Wasser und setzte sich auf einen Stuhl neben der Tür.
«Danke«, sagte er.
«Haben Sie gegessen?«, fragte sie.
«Sie haben nicht gesagt, dass ich es tun sollte.«
Sie lachte leise.»Entschuldigung. Ich habe ziemlich viel durchgemacht. Wir können beim Zimmerservice bestellen.«
Er nickte und lächelte sie an.»Okay. Ich bin mit allem einverstanden, was Sie wollen.«
«Ich möchte einen großen Cheeseburger mit Pommes frites und ein kaltes Bier.«
«Hört sich gut an.«
Sie griff zum Telefon und bestellte. Grantham trat ans Fenster und betrachtete die auf der Fifth Avenue entlangschleichenden Lichter.
«Ich bin vierundzwanzig. Wie alt sind Sie?«Sie saß jetzt auf der Couch und trank Eiswasser.
Er ließ sich auf dem Stuhl nieder, der ihr am nächsten stand.»Achtunddreißig. Einmal verheiratet. Vor sieben Jahren und drei Monaten geschieden. Keine Kinder. Ich lebe allein mit einer Katze. Weshalb haben Sie sich für das St. Moritz entschieden?
«Es waren Zimmer frei, und ich konnte sie davon überzeugen, dass es wichtig ist, dass ich bar bezahle und keinen Ausweis vorzeige. Gefällt es Ihnen?«
«Es ist in Ordnung. Scheint seine beste Zeit hinter sich zu haben.«
«Wir sind nicht hier, um Urlaub zu machen.«
«Es ist in Ordnung. Was meinen Sie — wie lange werden wir hier bleiben?«
Sie beobachtete ihn genau. Vor sechs Jahren hatte er ein Buch über Skandale im Wohnungsbau und bei der Stadtentwicklung geschrieben, und obwohl es sich nicht gut verkauft hatte, war es ihr doch gelungen, es in einer öffentlichen Bibliothek in New Orleans zu finden. Er sah sechs Jahre älter aus als auf dem Schutzumschlag-Foto, aber er alterte gut mit einem Anflug von Grau über den Ohren.
«Wie lange Sie bleiben, weiß ich nicht«, sagte sie.»Meine Pläne können sich von Minute zu Minute ändern. Es kann sein, dass ich auf der Straße ein Gesicht sehe und nach Neuseeland fliege.«
«Wann haben Sie New Orleans verlassen?«
«Montagabend. Ich bin mit einem Taxi nach Baton Rouge gefahren, und das wäre leicht zu verfolgen gewesen. Dann flog ich nach Chicago, wo ich vier Tickets zu vier verschiedenen Städten kaufte, einschließlich Boise, wo meine Mutter lebt. In die Maschine nach La Guardia bin ich erst im allerletzten Moment eingestiegen. Ich glaube nicht, dass mir jemand gefolgt ist.«
«Sie sind in Sicherheit.«
«Vielleicht im Augenblick. Man wird auf uns beide Jagd machen, sobald die Story erschienen ist. Sofern sie überhaupt erscheint.«
Grantham ließ sein Eis klirren und musterte sie.»Das hängt davon ab, was Sie mir erzählen. Und davon, wieviel davon aus anderen Quellen verifiziert werden kann.«
«Die Verifizierung ist Ihre Sache. Ich werde Ihnen erzählen, was ich weiß, und danach müssen Sie selbst sehen, wie Sie zurechtkommen.«
«Okay? Wann fangen wir an?«
«Nach dem Essen. Ich rede lieber mit vollem Magen. Sie sind doch nicht in Eile, oder?«
«Natürlich nicht. Ich habe die ganze Nacht Zeit und morgen den ganzen Tag und den nächsten und den übernächsten. Schließlich wollen Sie mir die tollste Story seit zwanzig Jahren erzählen, also rühre ich mich nicht von der Stelle, solange Sie mit mir reden.«
Darby lächelte und wandte den Blick ab. Vor genau einer Woche hatten sie und Callahan in der Bar im Mouton’s auf ihr Essen gewartet. Thomas hatte einen schwarzen Seidenblazer, ein Baumwollhemd, eine rote Paisley-Krawatte und eine Khakihose. Schuhe, aber keine Socken getragen. Das Hemd war aufgeknöpft und die Krawatte gelockert gewesen. Sie hatten sich über die Virgin Islands und Thanksgiving und Gavin Verheek unterhalten, während sie auf ihren Tisch warteten. Er trank rasch, und das war nicht ungewöhnlich. Später war er betrunken gewesen, und das hatte ihr das Leben gerettet.
In den letzten sieben Tagen hatte sie ein Jahr durchlebt, und jetzt unterhielt sie sich mit einem lebendigen Menschen, der nicht ihren Tod wollte. Sie schlug die Füße auf dem Couchtisch übereinander. Es war nicht unerfreulich, ihn bei sich im Zimmer zu haben. Sie entspannte sich. Sein Gesicht sagte:»Vertrau mir. «Und warum nicht? Wem sonst konnte sie vertrauen?
«Woran denken Sie?«fragte er.
«Es war eine lange Woche. Vor sieben Tagen war ich nur eine Jurastudentin, die wie eine Besessene schuftete, um an die Spitze zu kommen. Und sehen Sie mich jetzt an.«
Er sah sie an. Versuchte, gelassen zu wirken, nicht wie ein hingerissener Schuljunge, aber er sah sie an. Das Haar war dunkel und sehr kurz geschnitten; die lange Version auf dem gestrigen Fax hatte ihm besser gefallen.
«Erzählen Sie mir von Thomas Callahan«, sagte er.
«Weshalb?«
«Ich weiß nicht. Er ist ein Teil der Geschichte, oder etwa nicht?«
«Doch. Ich erzähle Ihnen später von ihm.«
«In Ordnung. Ihre Mutter lebt in Boise?«
«Ja, aber sie weiß nichts. Wo ist Ihre Mutter?«
«In Short Hills, New Jersey«, erwiderte er mit einem Lächeln. Er zerkaute einen Eiswürfel und wartete ab. Sie dachte nach.
«Was gefällt Ihnen an New York?«fragte sie.
«Der Flughafen. Es ist der schnellste Weg heraus.«
«Thomas und ich waren im Sommer hier. Es ist heißer als
New Orleans.«
Plötzlich war sie, wie Grantham erkannte, nicht einfach eine reizvolle Studentin, sondern eine trauernde Witwe. Das arme Mädchen litt. Sie hatte keinen Gedanken an sein Haar oder seine Kleidung oder seine Augen verschwendet. Sie grämte sich, verdammt nochmal!
«Das mit Thomas tut mir sehr leid«, sagte er.»Ich werde Sie nicht wieder nach ihm fragen.«
Sie lächelte, sagte aber nichts.
Jemand klopfte laut an. Darby riss die Füße vom Tisch und starrte auf die Tür. Dann holte sie tief Luft. Es war das Essen.
«Ich hole es«, sagte Gray.»Kein Grund zur Aufregung.«