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Nach acht Tagen in der Sonne war die Haut braun genug, und das Haar nahm wieder seine natürliche Farbe an. Vielleicht hatte sie es doch nicht ruiniert. Sie wanderte meilenweit an den Stränden entlang und aß nur gegrillten Fisch und einheimische Früchte. An den ersten paar Tagen schlief sie sehr viel, dann hatte sie genug davon.
Die erste Nacht hatte sie in San Juan verbracht, wo sie eine Reiseveranstalterin fand, die behauptete, eine Expertin für die Virgin Islands zu sein. Die Dame besorgte ihr ein kleines Zimmer in einer Pension in der Innenstadt von Charlotte Amalie auf der Insel St. Thomas. Darby wollte Gedränge und dichten Verkehr in engen Straßen, zumindest für ein paar Tage. In dieser Beziehung war Charlotte Amalie ideal. Die Pension lag auf einer Anhöhe, vier Blocks vom Hafen entfernt, und ihr Zimmer lag im dritten Stock. An dem gesprungenen Fenster gab es weder Vorhänge noch Läden, und am ersten Morgen wurde sie von der Sonne geweckt, ein sinnlicher Weckruf, der sie ans Fenster lockte und vor ihr die Majestät des Hafens ausbreitete. Es war atemberaubend. Ein Dutzend Kreuzfahrtschiffe verschiedener Größe lag unbewegt auf dem schimmernden Wasser und erstreckte sich in einer zufälligen Formation fast bis zum Horizont. Im Vordergrund, nahe der Mole, war der Hafen mit zahllosen Segelbooten übersät, die die massigen Touristenschiffe in Schach zu halten schienen. Das Wasser unter den Segelbooten war klar, blassblau und glatt wie Glas. Es wogte sanft um Hassel Island und wurde dunkler, bis es indigofarben war und dann violett, wo es den Horizont berührte. Eine makellose Reihe von Kumuluswolken markierte die Linie, an der Wasser und Himmel zusammentrafen.
Ihre Uhr steckte in einem Koffer, und sie gedachte, sie mindestens die nächsten sechs Monate nicht zu tragen. Trotzdem warf sie einen Blick auf ihr Handgelenk. Das Fenster ließ sich mit einiger Mühe öffnen, und die Geräusche des Einkaufsviertels hallten durch die Straßen. Die Wärme drang herein wie in einer Sauna.
An diesem ersten Morgen auf der Insel stand sie eine Stunde lang an dem kleinen Fenster und sah zu, wie der Hafen zum Leben erwachte. Niemand hatte es eilig. Er erwachte gemächlich; die großen Schiffe schoben sich langsam übers Wasser, und von den Decks der Segelboote kamen leise Stimmen.
Daran konnte sie sich gewöhnen. Dir Zimmer war klein, aber sauber. Es hatte keine Klimaanlage, aber der Ventilator funktionierte gut. Das Wasser lief fast immer. Sie beschloss, ein paar Tage, vielleicht eine Woche, hierzubleiben. Das Gebäude war eines von Dutzenden, die dicht aneinandergedrängt an zum Hafen hinabführenden Straßen standen. Im Augenblick gefiel ihr die Sicherheit, die Menschenmengen und Straßen ihr boten. Sie konnte herumwandern und sich besorgen, was immer sie brauchte. St. Thomas war berühmt für seine Geschäfte, und die Idee, Kleider kaufen zu können, die sie behalten konnte, stimmte sie froh.
Es gab elegantere Zimmer, aber dieses würde es fürs erste tun. Als sie San Juan verließ, hatte sie sich geschworen, nie wieder ängstlich nach hinten über die Schulter zu sehen. Sie hatte in Miami eine Zeitung gelesen und an einem Fernseher am Flughafen den ganzen Wirbel mitbekommen, und sie wusste, dass Mattiece verschwunden war. Wenn sie ihr jetzt noch folgten, dann war es pure Rache. Und wenn sie sie trotz des Zickzackkurses, auf dem sie geflogen war, hier fanden, dann waren sie Übermenschen, und sie würde sie nie loswerden.
Sie waren nicht da draußen, davon war sie überzeugt. Zwei Tage lang blieb sie immer in der Nähe des kleinen Zimmers und wagte sich nicht weit von ihm fort. Das Einkaufsviertel lag dicht vor ihrer Haustür. Nur vier Blocks lang und zwei Blocks tief, war es ein Labyrinth von Hunderten kleiner Geschäfte, in denen alles Erdenkliche verkauft wurde. Auf den Gehsteigen und in den engen Gassen wimmelte es von Amerikanern von den großen Schiffen. Sie war nur eine weitere Touristin mit einem breitkrempigen Strohhut und farbenfrohen Shorts.
Sie kaufte ihren ersten Roman seit anderthalb Jahren und las ihn innerhalb von zwei Tagen, unter dem leisen Schwirren des Ventilators auf dem schmalen Bett liegend. Sie schwor sich, nichts Juristisches mehr zu lesen, bevor sie fünfzig war. Jede Stunde trat sie mindestens einmal ans Fenster und schaute auf den Hafen hinaus. Einmal zählte sie zwanzig Kreuzfahrtschiffe, die darauf warteten, anlegen zu können.
Das Zimmer erfüllte seinen Zweck. Sie verbrachte einige Zeit mit Thomas und weinte und war entschlossen, dass es das letzte Mal sein sollte. Sie wollte das Schuldgefühl und den Kummer in dieser winzigen Ecke von Charlotte Amalie zurücklassen und mit schönen Erinnerungen und einem guten Gewissen fortgehen. Es war nicht so schwierig, wie sie es zu machen versuchte, und am dritten Tag kamen keine Tränen mehr. Sie hatte das Taschenbuch nur einmal an die Wand geworfen.
Am vierten Morgen packte sie ihre neuen Koffer und bestieg eine Fähre nach Cruz Bay, zwanzig Minuten entfernt auf der Insel St. John. Von einem Taxi ließ sie sich zur North Shore Road fahren. Die Fenster waren offen, und der Wind wehte über die Hintersitze. Die Musik war eine rhythmische Mischung aus Blues und Reggae. Der Taxifahrer trommelte aufs Lenkrad und sang mit. Sie trommelte mit dem Fuß und schloss die Augen vor der Brise. Es war berauschend.
Das Taxi verließ die Straße bei Maho Bay und fuhr langsam aufs Wasser zu. Sie hatte sich unter Hunderten von Inseln für diesen Ort entschieden, weil er noch so unentwickelt war. An dieser Bucht waren nur eine Handvoll Strandhäuser und Cottages zugelassen. Der Fahrer hielt auf einer schmalen, von Bäumen gesäumten Straße, und sie bezahlte ihn.
Das Haus lag fast an der Stelle, an der der Berg mit dem Meer zusammentraf. Die Architektur war rein karibisch — weißes Fachwerk unter einem roten Ziegeldach —, und es war der Aussicht wegen ein Stückchen den Hang hinauf gebaut worden. Sie bog von der Straße auf einen kurzen Pfad ein und stieg die Stufen zum Haus hinauf. Es war eingeschossig mit zwei Schlafzimmern und einer Terrasse zum Wasser hin. Es kostete zweitausend pro Woche, und sie hatte es für einen Monat gemietet.
Sie stellte ihr Gepäck im Wohnzimmer ab und trat auf die Terrasse. Zehn Meter unterhalb davon begann der Strand. Die Wellen rollten fast lautlos ans Ufer. Zwei Segelboote lagen unbewegt in der Bucht, die an drei Seiten von Bergen umschlossen war. Zwischen den Booten bewegte sich ziellos ein Schlauchboot voll planschender Kinder.
Das nächste Wohnhaus war so weit entfernt, dass sie gerade noch sein Dach über den Baumkronen sehen konnte. Sie zog schnell einen winzigen Bikini an und ging hinunter ans Wasser.
Es war schon fast dunkel, als das Taxi endlich an dem Pfad hielt. Er stieg aus, bezahlte den Fahrer und sah den Rücklichtern nach, als das Taxi an ihm vorbeifuhr und dann verschwand. Er hatte einen Koffer bei sich, und er ging den Pfad zum Haus hinauf. Die Lichter brannten. Er fand sie auf der Terrasse mit einem eisgekühlten Getränk in der Hand. Sie war braungebrannt und sah aus wie eine Einheimische.
Sie wartete auf ihn, und das war ungeheuer wichtig. Er wollte nicht behandelt werden wie ein Hausgast. Ihr Gesicht blühte auf, sobald sie seiner ansichtig wurde, und sie stellte ihren Drink auf den Tisch.
Sie küssten sich eine lange Minute auf der Terrasse.
«Du bist spät dran«, sagte sie, während sie sich in den Armen lagen.
«Es war nicht ganz einfach, diesen Ort zu finden«, sagte Gray. Er streichelte ihren Rücken, der nackt war bis zur Taille, wo ein langer Rock begann und den größten Teil der Beine verdeckte. Er würde sie später sehen.
«Ist das nicht schön?«sagte sie und schaute auf die Bucht hinaus.
«Es ist großartig«, sagte er. Er stand hinter ihr, und sie beobachteten, wie ein Segelboot aufs Meer hinausglitt. Er hielt ihre Schultern.»Du bist phantastisch.«
«Lass uns einen Spaziergang machen.«
Er wechselte seinen Anzug schnell gegen Shorts aus und fand sie am Wasser wartend. Sie hielten sich bei den Händen und gingen langsam.
«Deine Beine brauchen Sonne«, sagte sie.
«Ziemlich bleich, nicht wahr?«sagte er. Ja, dachte sie, sie waren bleich, aber sie waren nicht schlecht. Ganz und gar nicht schlecht. Der Bauch war flach. Eine Woche mit ihr am Strand, und er würde aussehen wie ein Rettungsschwimmer. Sie spritzten mit den Füßen Wasser auf.
«Du bist früh abgereist«, sagte sie.
«Ich hatte es satt. Seit der großen habe ich jeden Tag eine Story geschrieben, und trotzdem wollten sie noch mehr. Keen wollte dies und Feldman wollte jenes, und ich habe täglich achtzehn Stunden gearbeitet. Gestern habe ich Adieu gesagt.«
«Ich habe seit einer Woche keine Zeitung mehr gesehen«, sagte sie.
«Coal ist draußen. Sie haben ihm die ganze Schuld zugeschoben, aber eine Anklage ist fraglich. Ich glaube nicht, dass der Präsident viel damit zu tun hatte. Er ist einfach dämlich, und dafür kann er nichts. Du hast von Wakefield gehört?«»Ja.«
«Velmano, Schwabe und Einstein wurden angeklagt, aber Velmano ist unauffindbar. Natürlich wurde auch Mattiece angeklagt, zusammen mit vier seiner Leute. Später werden noch mehr Anklagen erhoben werden. Vor ein paar Tagen ist mir klar geworden, dass es im Weißen Haus keinen großen Vertuschungsversuch gegeben hat, und danach war die Luft raus. Ich glaube, es wird ihn die Wiederwahl kosten, aber er ist kein Verbrecher. Washington ist ein Zirkus.«
Es wurde dunkler, und sie gingen schweigend weiter. Sie hatte genug von alledem gehört, und er hatte es gleichfalls satt. Am Himmel stand ein Halbmond, der sich in dem stillen Wasser spiegelte. Sie legte ihm den Arm um die Taille, und er zog sie näher an sich heran. Sie waren im Sand, ein Stück vom Wasser entfernt. Das Haus lag ein paar hundert Meter hinter ihnen.
«Du hast mir gefehlt«, sagte sie leise.
Er holte tief Luft, sagte aber nichts.
«Wie lange wirst du bleiben?«fragte sie.
«Ich weiß es nicht. Ein paar Wochen. Vielleicht ein Jahr. Das liegt bei dir.«
«Wie wäre es mit einem Monat?«
«Einen Monat kann ich brauchen.«
Sie lächelte ihn an, und seine Knie wurden weich. Sie schaute hinaus auf die Bucht, auf das Spiegelbild des Mondes, an dem das Segelboot vorbei glitt.»Nehmen wir uns jeweils einen Monat, einverstanden, Gray?«
«Einverstanden.«