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»Jetzt noch nicht«, schrie Jason Borowski, als die Mauer hinter dem parkähnlichen, mit Flieder- und Rosenbüschen bestandenen Garten auseinanderflog. »Ich sage es Ihnen, wenn Sie springen sollen«, fügte er leise hinzu und hielt das kleine, runde Mikrofon in der anderen Hand.
Der Killer gab einen unartikulierten Laut von sich; seine Instinkte waren geweckt, der Drang, der ihn zum Töten trieb, war ebenso stark wie der zum Überleben, und einer hing vom anderen ab. Er schwebte am Rande des Wahnsinns; nur Deltas Waffe hinderte ihn an einem verrückten Angriff. Er war immer noch ein Mensch, und der Versuch, am Leben zu bleiben, war besser, als ckn Tod hinzunehmen. Aber wann, wann? Alcott-Price' Gesicht fing wieder zu zucken an; seine Unterlippe bewegte sich krampfhaft, während die Schreie und Rufe der erschrocken herumrennenden Männer den Garten erfüllten. Die Hände des Killers zitterten, während er Delta im schwachen, pulsierenden Licht der fernen Flammen anstarrte.
»Sie sollten nicht einmal daran denken«, sagte der Mann von Medusa. »Eine Bewegung, und Sie sind tot. Sie haben mich studiert, also wissen Sie, daß ich keinen Pardon gebe. Sie werden ganz genau das tun, was ich sage. Schwingen Sie Ihr Bein über die Mauer und halten Sie sich bereit, dann zu springen, wenn ich es Ihnen sage. Nicht vorher.« Ohne Warnung führte Borowski plötzlich das Mikrofon an seine Lippen und legte einen Schalter um. Als er sprach, hallte seine verstärkte Stimme gespenstisch über das Grundstück. Ein Ton, der an den Donner der Explosion erinnerte, und durch seine ruhige Redeweise und seine eisige Stimme unheilverheißender klang.
»Achtung, Ledernacken. Geht in Deckung und haltet euch hier raus. Das ist nicht euer Kampf. Ihr braucht nicht für die Männer zu sterben, die euch hierhergebracht haben. Für die seid ihr nicht mehr wert als Dreck. Ihr seid ersetzbar - so wie ich das war. Ihr seid einzig und allein hier, um Killer zu schützen. Der einzige Unterschied zwischen euch und mir ist die Tatsache, daß die mich benutzt haben, aber jetzt wollen sie mich umbringen, weil ich weiß, was sie getan haben. Sterbt nicht für diese Männer, sie sind es nicht wert. Ich gebe euch mein Wort, daß ich nicht auf euch schießen werde, wenn ihr nicht auf mich schießt, und dann habe ich keine Wahl. Aber hier ist noch ein Mann, der keinen Handel mit euch schließen wird -«
Ein Feuerstoß peitschte, zerfetzte den Lautsprecher, aus dem die Stimme über den Garten hallte. Delta war darauf vorbereitet; er hatte damit gerechnet. Einer der gesichtslosen, namenlosen Manipulatoren hatte einen Befehl erteilt, und der war ausgeführt worden. Er griff in seinen Beutel und holte einen Tränengaswerfer heraus. Man konnte damit auf fünfzig Meter Distanz schwere Glasscheiben zerschmettern; er zielte und drückte ab. In dreißig Meter Entfernung zersprang ein Erkerfenster, und eine Gaswolke quoll in den Raum. Er konnte hinter der zersprungenen Scheibe Gestalten laufen sehen. Lampen und Lüster wurden ausgelöscht, und an ihre Stelle traten Scheinwerfer, die unter den Dachsparren des großen Hauses und in den Bäumen angebracht waren. Plötzlich war das ganze Grundstück in blendend weißes Licht gehüllt. Die Äste des überhängenden Baumes würden wie ein Magnet sein, auf den sich Augen wie Waffen richteten; er begriff, daß nichts, was er sagen konnte, ausreichen würde, um die Befehle zu widerrufen. Er hatte das, was er gesagt hatte, als ehrliche Warnung gemeint, als eine Art Balsam für den Rest an Gewissen in einem kaum mehr denkfähigen, kaum mehr fühlenden Racheroboter. Ihm war vage bewußt, daß er diese jungen Leute, die man gerufen hatte, um dem paranoiden Ego der Drahtzieher zu dienen, nicht umbringen wollte - dergleichen hatte er vor Jahren in Saigon zuviel gesehen. Er wollte nur den Tod jener Männer im Haus, und er war fest entschlossen, sie umzubringen. Jason Borowski würde sich nicht davon abbringen lassen. Sie hatten ihm alles genommen, und jetzt würde er sein persönliches Konto ausgleichen. Für den Mann von Medusa war die Entscheidung gefallen - er war jetzt wie eine Marionette am Faden seines Zorns, und abgesehen von jenem Zorn war sein Leben vorbei.
»Springen Sie!« flüsterte Delta, schwang das rechte Bein über die Mauer und drückte den Killer zu Boden. Er folgte ihm, während der noch im Sprung war, und packte ihn an der Schulter, als sich der Killer verblüfft - die Arme ausgestreckt und auf den Knien kauernd - im Gras aufrichtete. Borowski zerrte ihn hinter ein Spalier, das über und über mit Bougainvillea bewachsen war, die fast zwei Meter hoch wucherte. »Ihre Pistole, Major«, sagte der echte Jason Borowski. »Meine ist auf Sie gerichtet, vergessen Sie das nicht!«
Der Brite packte mit einer Hand die Waffe und riß sich mit der anderen den Knebel vom Mund. Er hustete, spuckte Speichel aus, als ein wilder Feuerstoß Blätter und Zweige von der Mauer wegfetzte. »Viel ausgerichtet hat Ihr kleiner Vortrag nicht,
wie?«
»Das hatte ich auch nicht erwartet. In Wahrheit wollen die nämlich Sie, nicht mich. Sehen Sie, ich bin nämlich jetzt wirklich ersetzbar. So hatten die das von Anfang an geplant. Ich hole Sie heraus und bin tot. Meine Frau ist tot. Wir wissen zuviel. Sie, weil sie erfahren hat, was das für Leute waren - das mußte sie, sie war der Köder -, ich, weil sie wußten, daß ich mir in Peking einiges zusammenreimen würde. Sie stecken da mitten in einem Blutbad, Major. Eine Megabombe, die den ganzen Pazifikraum in Stücke reißen kann und das auch wird, wenn nicht ein paar vernünftige Köpfe in Taiwan diese verrückten Klienten, die Sie sich da angelacht haben, isolieren und ausmerzen. Nur daß mir das jetzt scheißegal ist. Spielen Sie Ihre gottverfluchten Spiele und jagen Sie sich selbst in die Luft. Ich will jetzt nur noch in dieses Haus hinein.«
Eine Gruppe Ledernacken griff die Mauer an, lief mit schußbereiten Karabinern an ihr entlang. Delta zog ein zweites Päckchen Plastiksprengstoff aus dem Beutel, stellte den Miniaturzünder auf zehn Sekunden und warf das Päckchen, so weit er konnte, in Richtung auf die hintere Gartenmauer, von den Wachen weg. »Kommen Sie!« befahl er dem Killer und rammte ihm die Waffe ins Kreuz. »Sie vorne! Diesen Weg hinunter. Näher zum Haus.«
»Geben Sie mir eines von diesen Dingern! Ein Sprengstoffpäckchen!«
»Ich glaube nicht, daß ich das tun werde.«
»Herrgott, Sie haben mir Ihr Wort gegeben!«
»Dann habe ich entweder gelogen oder es mir anders überlegt.«
»Warum? Ihnen kann das doch egal sein!«
»Es ist mir aber nicht egal. Ich wußte nicht, daß hier so viele junge Leute sind. Zu viele junge Leute, fast noch Kinder. Mit einem Päckchen Sprengstoff könnten Sie zehn von denen erledigen und noch eine ganze Menge mehr verstümmeln.«
»Die beschissene christliche Nächstenliebe fällt Ihnen reichlich spät ein!«
»Mit Nächstenliebe hat das nichts zu tun. Ich weiß, wen ich haben will und wen nicht. Und Kinder in gebügelten GI-Pyjamas will ich nicht. Ich will die Männer in dem Haus -«
Die Explosion hallte in etwa zehn Meter Entfernung aus dem hinteren Teil des Gartens. Bäume und Erde, Büsche und ganze Blumenbeete flogen in die Luft- ein Panorama aus Grün und Braun und verschiedenen Farbtupfern in der grauen Rauchwolke, die von den heißen, weißen Scheinwerfern angestrahlt wurde. »Weiter!« flüsterte Delta. »Dort hinüber. Das ist etwa zwanzig Meter vom Haus, und es gibt dort zwei Türen -« Borowski schloß in hilflosem Zorn die Augen, als eine Folge scheinbar endloser Feuerstöße aus Karabinern aus dem hinteren Teil des Gartens herüberhallte. Sie waren Kinder. Sie feuerten blindlings aus Angst und töteten imaginäre Dämonen, aber keine Ziele. Und sie wollten nicht hören.
Eine weitere Gruppe von Ledernacken, diesmal offensichtlich unter der Führung eines erfahrenen Offiziers, ging vor dem großen Haus in Stellung, umringte es, baute sich mit schußbereiten Waffen auf. Jetzt hatten die Drahtzieher ihre Leibwache ausgeschickt. Nun gut. Wieder griff Delta in seinen Beutel, suchte in seinem Arsenal herum und holte eine der zwei Brandbomben heraus, die er in Mongkok gekauft hatte. Oben ähnelten sie einer Handgranate - rund, aber mit einer Plastikabdeckung. Aber der Sockel war ein Handgriff, etwa zehn Zentimeter lang, so daß man die Bombe weiter und mit größerer Zielsicherheit werfen konnte. Der Trick lag im richtigen Wurf, der Treffsicherheit und dem Zeitpunkt. Sobald man nämlich einmal die Plastikkappe abgezogen hatte, würde der eigentliche Bombenkörper mittels eines blitzschnell hart werdenden Klebstoffs an jeder Oberfläche haften bleiben. Bei der Explosion schoß dann eine Chemikalie nach allen Richtungen hinaus, verlängerte die Flammen und fraß sich in jede poröse Oberfläche hinein. Vom Abnehmen der Plastikabdeckung bis zur Explosion waren es fünfzehn Sekunden. Die Fassade des großen Hauses bestand, wie bei viktorianischen Bauten üblich, aus Holz über einem imposanten Sockel aus Stein. Delta schob den Killer in einen Rosenbusch, riß die Plastikkappe ab und schleuderte die Feuerbombe gegen die Holzfassade links über den Verandatüren in etwa zehn Meter Entfernung. Sie blieb am Holz haften, und dann hieß es, die Sekunden abwarten, während das Karabinerfeuer - jetzt zögernd, immer schwächer werdend - ganz verstummte.
Die Hauswand flog auseinander. Ein gähnendes Loch ließ ein viktorianisches Schlafzimmer erkennen, mit Himmelbett und fein gearbeitetem englischem Mobiliar. Die Flammen breiteten sich sofort aus, schössen wie feurige Speichen von einer Mittelnabe davon, rasten über die Holzverschalung und ins Innere des Hauses.
Ein Befehl wurde erteilt, dann ertönte wieder Karabinerfeuer, peitschten Kugeln die Blumenbeete, Kommandos und Gegenkommandos ertönten, und schließlich tauchten zwei Offiziere auf, Pistolen in der Hand. Einer umrundete den Kreis von Wächtern, überprüfte ihre Positionen und ihre Waffen, sah sich jeden einzelnen an. Der andere eilte auf die Seitenmauer zu und folgte dem Weg, den die erste Gruppe genommen hatte, sah immer wieder auf die innere Flanke, die Blumenrabatten. Unter der Weide blieb er stehen und untersuchte zuerst die Mauer, dann das Gras. Er hob den Kopf und blickte zu der Bougainvillea-Laube hinüber. Jetzt hielt er seine Waffe mit beiden Händen und ging auf die Laube zu.
Delta beobachtete den Soldaten durch die Büsche. Seine Waffe bohrte sich immer noch in den Rücken des Killers. Er holte ein weiteres Sprengstoffpäckchen aus dem Beutel, stellte den Zünder ein und warf den Sprengkörper über die Büsche zu der Seitenmauer. »Gehen Sie dort durch!« befahl Borowski, riß den Killer an der Schulter herum und schickte ihn in die Büsche zur Linken. Jason hetzte hinter ihm her, drückte ihm den Lauf der Pistole gegen den Kopf und brachte ihn zum Stehen, als er nach dem Beutel greifen wollte. »Nur noch ein paar Minuten, Major, dann sind Sie frei.«
Die vierte Explosion riß ein zwei Meter langes Stück aus der Seitenmauer, und die Ledernacken eröffneten das Feuer auf die auseinanderbröckelnden Steine, als erwarteten sie, daß gleich feindliche Truppen durch die Bresche hereinstürmen würden. In der Ferne, auf den Straßen von Victoria Peak, heulten Sirenen wie im Kontrapunkt zu dem Kampflärm im Garten. Delta zog sein vorletztes Sprengstoffpäckchen heraus, stellte den Zünder auf neunzig Sekunden und schleuderte es zur Ecke der hinteren Mauer, wo zur Zeit niemand war. Das war der Anfang seines letzten Ablenkungsmanövers, der Rest würde eiskalte Mathematik sein. Er griff sich den Tränengaswerfer, schob eine Ladung ein und befahl seinem Gefangenen: »Umdrehen.« Der Brite befolgte den Befehl und sah sich jetzt Borowskis Pistolenlauf gegenüber, der auf seine Augen zielte. »Nehmen Sie das«, sagte Delta. »Sie können es mit einer Hand halten. Wenn ich es Ihnen sage, dann werfen Sie es auf die Steinmauer rechts von den Verandatüren. Das Gas wird sich ausbreiten und die meisten dieser Kinder blenden. Sie werden nicht schießen können, also vergeuden Sie keine Munition, soviel haben Sie nicht.«
Der Killer gab nicht gleich Antwort, sondern hob die Waffe, bis sie auf gleicher Höhe mit der Borowskis war, und zielte auf Jasons Kopf. »So, jetzt stehen die Chancen gleich, Mr. Original«, sagte er. »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich eine Kugel in den Kopf ertragen könnte, darauf warte ich schließlich seit Jahren. Aber irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, daß Sie den Gedanken ertragen könnten, nicht in dieses Haus zu kommen.« Plötzlich brüllten ein paar Stimmen auf, dann knatterte eine weitere Salve, und eine Gruppe Ledernacken rannte auf die eingestürzte Seitenmauer zu. Delta beobachtete, wartete auf den Augenblick, wo die Konzentration des Killers den Bruchteil einer Sekunde lang nachlassen würde. Aber der Augenblick kam nicht. Statt dessen fuhr der Killer ruhig mit angespannter, aber kontrollierter Stimme fort, während er Jason Borowski anstarrte: »Die müssen eine Invasion erwarten. Im Zweifelsfalle immer angreifen, solange nur die Flanken gedeckt sind, stimmt es nicht, Mr. Original? ... leeren Sie Ihre Wundertüte aus, Delta. Delta stimmt doch, nicht wahr?«
»Da ist nichts mehr.« Borowski zog den Hahn seiner Pistole zurück. Der Killer tat das gleiche.
»Dann wollen wir doch mal nachsehen«, sagte der Killer, und seine linke Hand schob sich langsam vor und berührte den Beutel, den Delta sich umgeschnallt hatte. Ihre Augen ließen einander nicht los. Der Killer betastete die Tasche, drückte den Stoff an einigen Stellen ein. Dann zog er - wieder ganz langsam
- die Hand zurück. »Unter den Geboten aus dem dicken Scheißbuch ist keins, wo was übers Lügen drinsteht, stimmt's? Mal abgesehen von falschem Zeugnis, und das ist natürlich nicht dasselbe. Sie scheinen das gründlich beherzigt zu haben. Da drinnen ist noch eine kleine Maschinenpistole mit mindestens drei Ladestreifen. So wie die sich anfühlen, würde ich die auf je fünfzig Schuß schätzen.«
»Vierzig, um es genau zu sagen.«
»Das ist eine Menge. Mit dem kleinen Monster könnte ich hier rauskommen. Her damit! Oder einer von uns beiden beißt jetzt ins Gras. Sofort.«
Die fünfte Explosion ließ den Boden erzittern; der verblüffte Killer blinzelte. Das reichte. Borowskis Hand schoß in die Höhe, lenkte die Waffe des Killers ab, und dann krachte seine schwere Pistole mit der Gewalt eines Hammerschlags gegen die linke Schläfe des Killers.
»Verdammtes Arschloch!« schrie der Killer heiser, während er zu Boden stürzte, Jasons Knie auf seinem Handgelenk, die Pistole seinem Griff entfallen.
»Sie betteln doch dauernd um einen schnellen Abgang, Major«, sagte Borowski, als der Höllenlärm auf dem Grundstück seinen Höhepunkt erreichte. Der Trupp Ledernacken, der die eingestürzte Seitenmauer angegriffen hatte, erhielt Befehl, den hinteren Teil des Gartens anzugreifen. »Sie können sich wirklich nicht leiden, was? Aber Sie haben eine gute Idee gehabt. Ich werde meine Wundertüte leeren.«
Borowski schnallte die Riemen auf und drehte den offenen Beutel um. Der Inhalt fiel ins Gras; die Flammen des sich beständig ausbreitenden Feuers im Obergeschoß des Hauses beleuchteten ihn. Eine Brandbombe und ein Sprengstoffpäckchen waren noch übrig, und, wie der Killer richtig ertastet hatte, eine Maschinenpistole, die nur noch einen Skelettkolben und einen Ladestreifen benötigte, um schußbereit zu sein. Er ließ den Kolben einschnappen, rammte einen der vier Ladestreifen hinein und steckte sich die restlichen drei in den Gurt. Dann löste er die Feder des Tränengaswerfers, schob eine Ladung hinein und stellte den Mechanismus nach. Der Werfer war schußbereit - um das Leben von Kindern zu retten, Kindern, die alt gewordene Drahtzieher in den Tod schicken wollten, weil ihr Ego es verlangte. Blieb noch die Brandbombe. Er wußte, wo die hin sollte. Er hob sie auf, riß die Plastikverkleidung ab und warf sie mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung stand, auf einen dreieckigen Erker über den Verandatüren. Sie blieb am Holz haften. Das war der Augenblick. Er betätigte den Abzug des Tränengaswerfers, worauf der Gaskanister gegen das
Steinfundament rechts von den französischen Türen
geschleudert wurde. Er explodierte, prallte von der Mauer ab und fiel zu Boden; die Dämpfe breiteten sich sofort aus, Gaswolken wallten auf und brachten die Männer, die von ihnen erfaßt wurden, zum Husten und Würgen. Sie ließen ihre Waffen nicht los, rieben sich aber mit der freien Hand die
anschwellenden, tränenden Augen und hielten sich die
entzündeten Nasen zu.
Die zweite Brandbombe explodierte, fetzte die elegante viktorianische Fassade über den Verandatüren weg, ließ die Glasscheiben zersplittern. Ganze Mauerteile stürzten in die geflieste Diele hinunter. Flammen züngelten bis zu den
Dachschindeln hinauf und erfaßten drinnen Gardinen und Polsterung. Die Ledernacken flohen vor der Explosion und den Flammen und rannten in die Tränengaswolken hinein. Ein paar ließen jetzt die Karabiner fallen, alle rannten wirr durcheinander, stießen einander an, versuchten, den Gaswolken zu entkommen, husteten, würgten, suchten Erleichterung.
Delta richtete sich auf und stand jetzt halb geduckt da, die Maschinenpistole in der Hand, und riß den Killer neben sich in die Höhe. Jetzt war der Zeitpunkt da; das Chaos war vollkommen. Die wirbelnden Gaswolken vor den zerschmetterten Verandatüren wurden von der Hitze der Flammen aufgesogen; das Gas würde sich schnell verteilen. Und sobald er drinnen war, würde seine Suche nur Augenblicke dauern. Die Führer einer Geheimoperation, für die ein abgeschottetes Haus auf fremdem Boden nötig war, würden sich aus zwei Gründen innerhalb der schützenden Grenzen des Hauses selbst aufhalten. Der erste Grund war, daß es unmöglich war, Umfang und Verteilung der angreifenden Kräfte richtig abzuschätzen, so daß die Gefahr, draußen gefangengenommen oder getötet zu werden, zu groß war. Der zweite Grund war praktischer Natur: Es galt, Papiere zu vernichten, zu verbrennen, nicht zu zerreißen, wie sie in Teheran gelernt hatten. Direktiven,
Akten, Berichte, Hintergrundmaterial, das alles mußte in Flammen aufgehen. Die Sirenen vom Victoria Peak wurden lauter, rückten näher, die wilde Jagd, die steile Straße hinauf, näherte sich ihrem Ende.
»Das ist jetzt der Countdown«, sagte Borowski und stellte den Zünder seines letzten Sprengstoffpäckchens ein. »Ich werde Ihnen das hier nicht geben, aber es zu unser beider Vorteil einsetzen. Dreißig Sekunden, Major Alcott-Price.« Jason schleuderte das Päckchen in weitem Bogen und so weit er konnte auf die rechte, vordere Mauer zu.
»Meine Waffe! Herrgott, geben Sie mir die Pistole!«
»Die liegt auf dem Boden. Unter meinem Fuß.«
Der Killer ging auf die Knie. »Lassen Sie sie los!«
»Sobald ich will - und ich werde wollen. Aber wenn Sie jetzt versuchen, sie wegzunehmen, werden Sie als nächstes eine Zelle in der Garnison von Hongkong sehen und - wie Sie gesagt haben
- ein Schafott, ein dickes Seil und einen Henker, und das alles in Ihrer unmittelbaren Zukunft.«
Der Killer blickte von Panik erfüllt auf. »Sie gottverdammter Lügner! Sie haben gelogen!«
»Ja, das tue ich häufig. Sie nicht?«
»Sie haben gesagt -«
»Ich weiß, was ich gesagt habe. Ich weiß auch, weshalb Sie hier sind und weshalb Sie statt neun Patronen drei haben.«
»Was?«
»Sie sind mein Ablenkungsmanöver, Major. Wenn ich Sie mit der Pistole freilasse, werden Sie auf das Tor zurennen oder auf ein Loch in der Mauer - wohin auch immer Sie wollen. Die werden versuchen, Sie aufzuhalten. Sie werden das Feuer natürlich erwidern, und während die sich auf Sie konzentrieren, komme ich hinein.«
»Sie Schwein!«
»Das tut weh, aber andererseits kann ich sowieso nichts mehr empfinden, das macht also nichts. Ich muß einfach dort hinein -
«
Die letzte Explosion ließ einen zurechtgestutzten Baum in die Luft fliegen; seine Wurzeln krachten gegen ein schon geschwächtes Stück der Mauer, Ziegelsteine fielen herunter, die Mauer selbst brach zusammen, und im Mittelpunkt des Aufpralls bildete sich eine Lücke, die wie ein V aussah. Ledernacken von der Gruppe am Tor rannten nach vorne.
»Jetzt!« brüllte Delta und richtete sich zu seiner ganzen Größe auf.
»Die Pistole! Lassen Sie los!«
Und Jason Borowski erstarrte. Er konnte sich nicht bewegen -nur daß irgendein Instinkt ihn dazu veranlaßte, dem Killer das Knie gegen den Hals zu schmettern, so daß der erneut zu Boden fiel. Ein Mann war hinter den zersplitterten Glastüren zur brennenden Diele aufgetaucht. Sein Gesicht war von einem Taschentuch bedeckt, aber man konnte deutlich sehen, daß er hinkte. Er hinkte! Mit ihrem Klumpfuß trat die schemenhaft erkennbare Gestalt den Rahmen der Verandatüren zur Seite und ging schwerfällig die drei Stufen zu dem kleinen, mit Steinplatten belegten Vorhof hinunter, an den sich einmal ein eleganter Park angeschlossen hatte. Er quälte sich vor und schrie, so laut er konnte, befahl den Wachen, die ihn hören konnten, das Feuer einzustellen. Die Gestalt brauchte das Taschentuch nicht wegzunehmen, Delta kannte das Gesicht. Es war das Gesicht seines Feindes. Er war in Paris, auf einem Friedhof außerhalb von Paris. Alexander Conklin war gekommen, um ihn zu töten. Er stand auf der Abschußliste.
»David! Ich bin's, Alex. Tu es nicht! Hör auf! Ich bin es, David! Ich bin hier, um dir zu helfen!«
»Du bist hier, um mich zu töten! Du bist nach Paris gekommen, um mich zu töten, und in New York hast du es wieder versucht! Treadstone einundsiebzig! Du hast ein kurzes Gedächtnis, du Schwein!«
»Und du hast gar kein Gedächtnis, verdammt! Du bist Delta geworden, das wollten die! Ich kenne die ganze Geschichte, David. Ich bin hierher geflogen, weil wir alles durchschaut haben! Marie, Mo Panov und ich! Wir sind alle hier. Marie ist in Sicherheit!«
»Lügen! Tricks! Ihr alle, ihr habt sie umgebracht. Ihr hättet sie in Paris auch umgebracht, aber da habe ich euch nicht an sie herangelassen! Ich habe sie von euch ferngehalten!«
»Sie ist nicht tot, David! Sie lebt! Ich kann sie zu dir bringen! Jetzt gleich!«
»Noch mehr Lügen!« Delta duckte sich und betätigte den Abzug, gab einen Feuerstoß aif den Vorhof ab, so daß die Kugeln in die brennende Diele hineinspritzten, aber aus Gründen, die er nicht begriff, mähten sie den Mann vor ihm nicht nieder. »Du willst mich aufhalten, damit du den Befehl erteilen kannst und ich tot bin. Klappt nicht, Vollzugsbeamter! Ich gehe jetzt hinein! Ich will die stummen Männer, die sich hinter dir verstecken! Sie sind da! Ich weiß, daß sie da sind!« Borowski packte den gestürzten Killer und zog ihn in die Höhe, reichte ihm die Pistole. »Du wolltest einen Jason Borowski, er gehört dir! Ich lasse ihn jetzt zwischen den Rosen los. Bring ihn um, während ich dich umbringe!«
Halb von Sinnen, halb zum Überleben entschlossen, warf sich der Killer nach vorne, auf die Büsche zu, weg von Borowski. Er rannte zuerst den Weg hinunter, machte aber sofort kehrt, als er sah, daß im Nord- und Südbereich der Mauer Ledernacken Stellung bezogen hatten. Wenn er sich an der Ostseite des Gartens blicken ließ, stand er zwischen zwei Feuern. Eine Bewegung, und er war ein toter Mann.
»Ich habe keine Zeit mehr, Conklin!« brüllte Borowski. Warum war er nicht imstande, den Mann zu töten, der ihn verraten hatte? Drück doch ab! Töte den letzten von Treadstone einundsiebzig. Töte, töte! Was hielt ihn ab?
Der Killer warf sich über das Blumenbeet, packte den warmen Lauf von Borowskis Maschinenpistole, riß die Waffe nach unten und richtete gleichzeitig die eigene Waffe auf Jason und feuerte. Die Kugel streifte Borowskis Stirn, und er riß wütend den Abzug der Maschinenpistole durch. Kugeln donnerten in die Erde, ließen den Boden erzittern. Er packte die Pistole des Engländers, drehte sie herum. Der verletzte rechte Arm des Killers war dem Mann von Medusa nicht gewachsen. Die Waffe entlud sich, während Borowski sie dem anderen wegriß. Der Brite fiel ins Gras, wissend, daß er verloren hatte.
»David! Um Himmels willen, hör mir zu! Du mußt -«
»Hier gibt es keinen David!« schrie Jason und rammte dem Killer das Knie in die Brust. »Mein rechtmäßiger Name ist Borowski, gezeugt von Delta und Medusa! Das Schlangenweib! Erinnerst du dich?«
»Wir müssen reden!«
»Wir müssen sterben! Du mußt sterben! Die Männer da drinnen sind mein Kontrakt mit mir selbst, mit Marie! Sie müssen sterben!«
Borowski packte den Killer am Revers und zog ihn in die Höhe. »Ich wiederhole, er ist euer Jason Borowski! Er gehört dir!«
»Nicht schießen! Bitte!« brüllte Conklin, während die verwirrten Überreste der drei Trupps von Ledernacken langsam näherrückten und die Fahrzeuge der Polizei von Hongkong mit schrillenden Sirenen an dem demolierten Tor anhielten.
Der Mann von Medusa rammte dem Killer die Schulter in den Rücken, stieß ihn in den Schein der lodernden Flammen und der Scheinwerfer. »Da ist er! Ihn habt ihr gewollt!«
Ein Feuerstoß peitschte, als der Killer davontaumelte, sich sofort zu Boden warf und sich wegwälzte, um den Kugeln zu entgehen.
»Aufhören! Nicht er! Um Himmels willen, nicht schießen. Ihr dürft ihn nicht töten!«
»Nicht ihn?« brüllte Jason Borowski. »Nicht ihn? Nur mich! Stimmt das etwa nicht, du Scheißkerl? Und jetzt wirst du sterben! Für Marie, für Echo, für uns alle!«
Er drückte den Abzug der Maschinenpistole durch, aber die Kugeln wollten immer noch nicht ihr Ziel treffen! Er wirbelte herum, richtete die tödliche Waffe auf die zwei näherrückenden Trupps von Ledernacken. Wieder gab er ein paar Feuerstöße ab, kauerte sich nieder, duckte sich, suchte hinter den Rosen Deckung. Und doch hatte er den Lauf der Waffe über ihre Köpfe gerichtet! Warum? Diese Kinder konnten ihn nicht aufhalten. Aber diese Kinder in ihren gebügelten Gl-Uniformen sollten auch nicht für die Drahtzieher sterben. Er mußte in das Haus. Jetzt! Er durfte keinen Augenblick mehr vergeuden. Jetzt mußte er hinein.
»David!« Eine Frauenstimme. O Gott, eine Frauenstimme! »David, David, David!« Eine Gestalt in weitem Rock kam aus dem Haus gerannt. Sie packte Alexander Conklin und stieß ihn weg. Jetzt stand sie allein im Hof. »Ich bin es, David! Ich bin hier! Ich bin in Sicherheit! Alles ist gut, mein Liebster!«
Wieder ein Trick, wieder eine Lüge. Es war eine alte Frau mit grauem Haar, mit weißem Haar! »Gehen Sie mir aus dem Weg, Lady, sonst muß ich Sie töten. Sie sind wieder nur eine Lüge, ein Trick!«
»David, ich bin es! Kannst du mich nicht hören -«
»Sehen kann ich Sie! Ein Trick!«
»Nein, David!«
»Ich heiße nicht David. Ich habe Ihrem Freund schon gesagt, daß es hier keinen David gibt!«
»Nicht!« schrie Marie, schüttelte verzweifelt den Kopf und rannte vor ein paar Ledernacken weg, die jetzt aus dem Gras gekrochen waren, weg von den wirbelnden, sich langsam verziehenden Gaswolken. Sie waren auf den Knien, konnten Borowski deutlich sehen und begannen, ihre Karabiner auf ihn zu richten. Marie stellte sich zwischen die sich langsam erholenden Wachen und ihr Ziel. »Habt ihr ihm noch nicht genug angetan? Um Himmels willen, kann denn keiner die aufhalten?«
»Damit so ein Schweinehund von einem Terroristen uns in die Luft jagt?« schrie eine jugendliche Stimme von der vorderen Mauer.
»Er ist nicht das, was Sie denken! Was auch immer er ist - die Leute dort drinnen haben ihn dazu gemach!. Sie haben ihn doch gehört. Er wird nicht auf Sie feuern, wenn Sie nicht schießen!«
»Er hat bereits gefeuert!« brüllte ein Offizier.
»Sie stehen aber doch noch!« brüllte Alex Conklin vom Rand des Innenhofs zurück. »Und der ist ein besserer Schütze, und zwar mit mehr Waffen als irgendeiner hier! Das sollten Sie überlegen!«
»Ich brauche dich nicht«, donnerte Jason Borowski und gab wieder einen Feuerstoß auf die brennende Wand des Hauses ab.
Plötzlich war der Killer aufgesprungen, duckte sich kurz und warf sich auf den Ledernacken in seiner Nähe, einen jungen Mann ohne Mütze, der immer noch hustete. Der Killer packte seinen Karabiner, trat ihm gegen den Schädel und feuerte die Waffe auf den ihm am nächsten stehenden Ledernacken ab, worauf der zurücktaumelte und sich den Leib hielt. Der Killer fuhr herum; er entdeckte einen Offizier mit einer Maschinenpistole, ähnlich der, die Borowski in der Hand hielt; er schoß ihm ins Genick und entriß dem Stürzenden die Waffe.
Er brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um seine Chancen abzuwägen. Dann riß er die Maschinenpistole unter dem linken Arm hoch. Delta sah zu und wußte instinktiv, was der Killer tun würde, wußte zugleich, daß jetzt sein Ablenkungsmanöver anlaufen würde.
Und der Killer handelte wie erwartet. Er feuerte wieder, gab einen Schuß nach dem anderen auf die Reihen der jungen, unerfahrenen Ledernacken an der vorderen Mauer ab, raste im Zickzack über den kurzen Rasenstreifen auf die schulterhohen Blumenrabatten auf Borowskis linker Seite zu. Das war sein einziger Fluchtweg, die am wenigsten beleuchtete eingestürzte rechte Mauer.
»Haltet ihn auf!« schrie Conklin und hinkte schnell über die Platten des Innenhofs. »Aber nicht schießen! Ihr dürft ihn nicht töten! Um Himmels willen, nicht töten!«
»Blödsinn!« rief einer der Ledernacken von der linken Mauer. Der Killer hetzte geduckt und im Zickzack, die Waffe auf Repetierfeuer geschaltet, auf die zerbrochene Mauer zu, hielt die Ledernacken mit schnellen Feuerstößen in Schach. Jetzt war der Ladestreifen seines Karabiners leergeschossen; er warf die Waffe weg, riß die mörderische Maschinenpistole hoch und setzte zur letzten Etappe seines Rennens auf die Mauer zu an, feuerte unablässig auf die Ledernacken, die sich zu Boden geworfen hatten. Jetzt war er angelangt! Die Dunkelheit dahinter war sein Fluchtweg!
»Du beschissenes Arschloch!« Das war der Schrei eines Teenagers, eine noch brüchige Stimme, gequält, aber nichtsdestoweniger tödlich. »Du hast meinen Kumpel umgebracht! Und jetzt mußt du dran glauben, du Scheißer!«
Ein junger schwarzer Ledernacken sprang auf, von seinem toten weißen Kameraden weg, und feuerte vier Schüsse ab.
Ein qualvoll langgezogener, hysterischer Schrei ertönte, ein Schrei, in dem sich Hohn und Herausforderung mischten. Es war der Schrei des Todes; der Killer, die Augen vor Haß geweitet, fiel zu Boden. Major Alcott-Price war tot.
Borowski setzte sich in Bewegung, die Waffe erhoben. Marie rannte an den Rand des Plattenbelags, war jetzt nur noch ein oder zwei Meter von ihm entfernt. »Tu es nicht, David!«
»Ich bin nicht David, Lady. Fragen Sie doch Ihren Freund hier, das Dreckstück, wir kennen uns schon lange. Aus dem Weg!« Warum konnte er sie nicht töten? Ein Schuß, und er war frei, würde das tun können, was er tun mußte! Warum?
»Also gut!« schrie Marie, ohne von der Stelle zu weichen. »Es gibt also keinen David, okay? Du bist Jason Borowski. Du bist Delta! Du bist alles, was du sein willst, aber du gehörst auch mir! Du bist mein Mann!« Auf die Wachen, die das hörten, wirkte das wie ein Blitzschlag. Die Offiziere hoben die Hände -der in der ganzen Welt gültige Befehl, das Feuer einzustellen -, und sie und ihre Männer starrten erstaunt auf die Szene, die sich ihnen darbot.
»Ich kenne Sie nicht!«
»Das ist meine Stimme. Du kennst sie, Jason.«
»Ein Trick! Eine Schauspielerin! Eine Lüge! Das wäre nicht das erstemal.«
»Und wenn ich anders aussehe, dann deinetwegen, Jason Borowski!«
»Gehen Sie mir aus dem Weg, sonst sind Sie tot!«
»Du hast mir das in Paris beigebracht! An der Rue de Rivoli, das Hotel Meurice, der Zeitungsstand an der Ecke. Kannst du dich nicht erinnern? Die Zeitungen mit der Geschichte aus Zürich, mein Foto auf allen Titelblättern! Und das kleine Hotel am Montparnasse, der Portier, der die Zeitung las und mein Bild sah! Du hattest solche Angst, daß du zu mir gesagt hast, ich soll hinausrennen ... Das Taxi! Erinnerst du dich an das Taxi? Auf dem Weg nach Issy-les-Moulineaux - den Namen werde ich nie vergessen. >Du mußt dein Haar verändernc, hast du gesagt. >Kämm es nach oben oder nach hinten!< Du hast gesagt, es sei dir egal, was ich tun würde, solange ich es nur veränderte! Du hast mich gefragt, ob ich einen Augenbrauenstift hätte - du hast mir gesagt, ich solle meine Brauen dicker machen, länger! Deine Worte, Jason! Wir rannten um unser Leben, und du wolltest, daß ich anders aussah, ich sollte jede Ähnlichkeit mit dem Foto vertuschen, dem Foto, das in ganz Europa verbreitet wurde! Ich mußte zu einem Chamäleon werden, weil Jason Borowski ein Chamäleon war. Er mußte es der Frau beibringen, die er liebte, seiner Frau! Das ist alles, was ich getan habe, Jason!«
»Nein!« schrie Delta und zog das Wort zu einem Schrei in die Länge, und die Nebel der Verwirrung hüllten ihn ein, trieben ihn an den Rand der Panik. Da waren die Bilder! Rue de Rivoli, der Montparnasse, das Taxi. Hör mir zu. Ich bin ein Chamäleon, das man Kain nennt, und ich kann dich viele Dinge lehren, die ich dich nicht lehren möchte, aber das muß ich. Ich kann meine Farbe verändern und mich dem Wald anpassen, ich kann mich mit dem Wind bewegen, indem ich ihn wittere. Ich kann mich in Dschungeln zurechtfinden, natürlichen Dschungeln und solchen, die Menschen gemacht haben. Alpha, Bravo, Charlie, Delta ... Delta ist für Charlie und Charlie ist für Kain. Ich bin Kain. Ich bin der Tod. Und ich muß, dir sagen, wer ich bin, und dich verlieren.
»Also erinnerst du dich!« schrie David Webbs Frau.
»Ein Trick! Die Drogen - ich habe die Worte gesagt. Die haben Ihnen die Worte beigebracht! Sie sollen mich aufhalten!«
»Gar nichts haben sie mir beigebracht! Ich will nichts von denen. Ich will nur meinen Mann! Ich bin Marie!«
»Eine Lüge sind Sie! Die haben sie getötet!« Delta betätigte den Abzug, und der Feuerstoß ließ die Erde um Maries Füße aufspritzen. Schnell hoben sich Karabiner in Feuerstellung.
»Nicht!« schrie Marie und riß den Kopf in die Höhe, sah die Ledernacken mit funkelnden Augen an, und ihre Stimme war ein Befehl. »Also gut, Jason, wenn du mich nicht erkennst, dann will ich nicht leben. Deutlicher kann ich es nicht sagen, mein Liebster. Deshalb verstehe ich auch, was du tust. Du wirfst dein Leben weg, weil ein Teil von dir, der dich jetzt ganz beherrscht, denkt, es gäbe mich nicht mehr, und du nicht ohne mich leben willst. Ich kann das sehr gut verstehen, weil ich auch nicht ohne dich leben will.« Marie ging ein paar Schritte über das Gras und blieb reglos stehen.
Delta hob die Maschinenpistole, und das Korn auf dem Lauf richtete sich auf das graue Haar mit den weißen Strähnen. Sein Zeigefinger schloß sich um den Abzug. Und dann begann plötzlich, ohne daß er das wollte, seine rechte Hand zu zittern, und dann die linke. Die mörderische Waffe begann zu zucken, zuerst langsam, dann schneller, und Borowskis Kopf schwankte krampfartig; das Zittern breitete sich aus.
In der Menge, die sich um die rauchenden Überreste des Tors und des Wachhäuschens gebildet hatte, begann sich etwas zu bewegen. Ein Mann versuchte, sich Zutritt zu verschaffen; zwei Ledernacken hielten ihn fest. »Laßt mich durch, ihr gottverdammten Idioten! Ich bin Arzt, sein Arzt!« Mit fast übermenschlicher Gewalt riß Morris Panov sich los und rannte quer über den Rasen in das grelle Licht der Scheinwerfer. Sechs Meter vor Borowski blieb er stehen. Delta begann zu stöhnen; das Geräusch und der Rhythmus waren barbarisch. Jason Borowski ließ die Waffe fallen ... und David Webb fiel auf die Knie, weinte. Marie eilte auf ihn zu.
»Nicht!« befahl Panov mit leiser Stimme und doch eindringlich, brachte Webbs Frau zum Stehen. »Er muß zu Ihnen kommen. Er muß.«
»Er braucht mich!«
»Aber nicht auf die Weise. Er muß Sie erkennen. David muß Sie erkennen und seinem anderen Ich befehlen, ihn freizulassen. Das können Sie nicht für ihn tun. Er muß es für sich selbst tun.«
Stille. Scheinwerfer. Feuer.
Und wie ein verängstigtes, geschlagenes Kind hob David Webb den Kopf, und die Tränen strömten ihm über die Wangen. Langsam, unter Schmerzen, richtete er sich auf und lief in die Arme seiner Frau.