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Als Roger Halsted am Tag der monatlichen Zusammenkunft der Schwarzen Witwer oben auf der Treppe erschien, waren nur Avalon und Rubin anwesend. Sie begrüßten ihn freudig.
Emmanuel Rubin sagte: »So ist es dir endlich gelungen, dich soweit aufzuraffen, um mit deinen alten Freunden zusammenzukommen?« Er ging auf Halsted zu und streckte mit einem breiten Lächeln die Arme aus und den struppigen Bart vor.
»Abend, Roger«, sagte Geoffrey Avalon, von seiner steifen Höhe herablächelnd. »Nett, dich zu sehen.«
Halsted schälte sich aus dem Mantel. »Verdammt kalt draußen. Henry, bringen...«
Henry jedoch, der einzige Kellner, den die Schwarzen Witwer jemals hatten, hielt den Drink schon bereit. »Ich freue mich, Sie wieder zu sehen, Sir.«
Halsted nahm das Glas und nickte dankend.
Mario Gonzalo kam die Stufen herauf geeilt. Er war der Gastgeber an dem Abend und fragte: »Sonst noch jemand hier?«
»Keiner außer uns Alten«, sagte Avalon freundlich.
»Mein Gast ist auf dem Weg herauf. Ein wirklich interessanter Mensch. Er wird Henry gefallen, weil er niemals lügt.«
Henry zog die Brauen hoch, als er den Drink für Mario servierte.
»Erzähl mir nicht, daß du George Washington mitbringst?« sagte Halsted.
»Roger! Ein Vergnügen, dich wiederzusehen... Übrigens, Jim Drake wird heute nicht bei uns sein. Er sandte eine Karte, er muß an irgendeiner Familienfeier teilnehmen. Der Gast, den ich mitbringe, ist ein gewisser Sand - John Sand. Ich kenne ihn mehr oder minder seit Jahren. Verrückter Kerl. Ein Pferderennennarr, der nie lügt. Es ist aber auch so ziemlich seine einzige Tugend.« Und Gonzalo zwinkerte.
Avalon nickte ominös. »Wer das kann, hat Glück. Aber wenn man älter wird ...« »Und ich glaube, es wird ein interessanter Abend werden«, fuhr Gonzalo eilig fort, sichtlich Avalons züchtigen vertraulichen Mitteilungen ausweichend. »Ich erzählte ihm von dem Klub und daß wir die beiden letzten Male Kriminalrätsel zu lösen hatten... «
»Kriminalrätsel?« fragte Halsted mit plötzlichem Interesse.
Gonzalo sagte: »Du bist ein Klubmitglied von Rang, also dürfen wir es dir erzählen. Aber das soll Henry besorgen. Er war beide Male eine Hauptperson.«
»Henry?« Halsted blickte mit leisem Staunen über seine Schulter. »Werden Sie jetzt in unsere Dummheiten einbezogen?«
»Ich versichere Ihnen, Mr. Halsted, daß ich dem auszuweichen versuchte«, sagte Henry.
»Auszuweichen versuchte!« sagte Rubin hitzig. »Hör mal, bei dem letzten Abend war Henry der Sherlock Holmes. Er...«
»Die Sache ist die«, sagte Avalon, »daß du vielleicht zu viel geredet hast, Mario. Was hast du deinem Freund über uns erzählt?«
»Wieso - zu viel geredet? Ich bin doch nicht Manny! Ich sagte Sand ausdrücklich, ich könnte ihm keine Einzelheiten angeben, denn wir sind alle nur Priester im Beichtstuhl, insoweit es diesen Raum angeht; und er sagte, er wäre gern ein Mitglied, er habe eine Schwierigkeit, die ihn rasend mache, und ich sagte, er könne das nächstemal mitkommen, denn ich bin an der Reihe als Gastgeber, und er könne mein Gast sein - hier ist er!«
Ein schlanker Mann mit einem dicken Schal um den Hals kam die Treppe heraufgestiegen. Seine schlanke Figur wurde noch auffallender, als er den Mantel ablegte. Unter dem Schal trug er einen blutroten Schlips, der seinem mageren, bleichen Gesicht Farbe verlieh. Er schien etwas über dreißig Jahre alt.
»John Sand«, sagte Mario und stellte ihn rundum vor, dann wurde er durch Thomas Trumbulls schweren Schritt auf der Treppe unterbrochen und durch den lauten Ruf: »Henry, einen Scotch mit Soda für einen Sterbenden!«
Rubin sagte: »Tom, du könntest früh kommen, wenn du dich entspanntest und deine heftigen Bemühungen, zu spät zu kommen, aufgäbest.«
»Je später ich komme«, sagte Trumbull, »desto kürzer muß ich mir deine blöden Bemerkungen anhören. Denkst du daran?« Dann wurde auch er dem Gast vorgestellt, und alle nahmen Platz.
Da das Menü für dieses Treffen unbedachtsamerweise mit Artischocken begann, erging sich Rubin in einen Vortrag über die Zubereitung der einzig dafür geeigneten Sauce. Als Trumbull dann angewidert erklärte, daß zu der einzig entsprechenden Saucenzubereitung für Artischocken eine große Mülltonne gehöre, sagte Rubin: »Gewiß, wenn du nicht die richtige Sauce hast...»
Sand aß unbehaglich und ließ zumindest ein Drittel eines ausgezeichneten Steaks unberührt. Halsted, der zu Beleibtheit neigte, beäugte neidisch die Überreste. Sein Teller war als erster leer; nur ein nackter Knochen und etwas Fett blieben übrig.
Sand schien Halsteds Blick zu bemerken und sagte ihm: »Offen gestanden verderben mir Sorgen den Appetit. Hätten Sie Lust, diesen Rest zu essen?«
»Ich? Nein, danke«, sagte Halsted verdrießlich.
Sand lächelte. »Darf ich aufrichtig sein?«
»Natürlich. Wenn Sie die Gespräche an diesem Tisch angehört haben, ist Ihnen doch klar, daß Aufrichtigkeit für diesen Abend an der Tagesordnung ist.«
»Gut, denn ich wäre es auch ohnedies. Es ist mein - Steckenpferd. Sie lügen, Mr. Halsted. Natürlich wollen Sie den Rest meines Steaks und würden ihn auch essen, wenn Sie annähmen, daß es keiner merkt. Das ist völlig klar. Doch die gesellschaftliche
Konvention verlangt, daß Sie lügen. Sie wollen nicht gierig erscheinen und wollen nicht die Hygienegrundlagen ignorieren, indem Sie etwas essen, das durch den Speichel eines Fremden verunreinigt ist.«
Halsted runzelte die Stirn. »Und wenn es umgekehrt wäre?«
»Und ich Appetit auf mehr Steak hätte?«
»Ja.«
»Nun, vielleicht würde ich Ihr Steak aus hygienischen Gründen nicht essen, aber ich würde zugeben, daß ich es wollte. Fast alles Lügen ist ein Ergebnis des Wunsches nach Selbstschutz oder geschieht aus Respekt für gesellschaftliche Konventionen. Mir erscheint jedoch eine Lüge selten als nützliche Verteidigung, und gesellschaftliche Konventionen interessieren mich gar nicht.«
Rubin sagte: »Tatsächlich ist eine Lüge eine wirksame Verteidigung, wenn sie kompromißlos ist. Der Fehler der meisten Lügen liegt darin, daß sie nicht gründlich genug durchgehalten werden.«
Henry brachte den Rumkuchen und goß vorsichtig Kaffee ein, dann sagte Avalon: »Kommen wir nun zu unserem geehrten Gast.«
Gonzalo sagte: »Als Gastgeber und Vorsitzender dieser Sitzung werde ich das Kreuzverhör abblasen. Unser Gast hat ein Problem, und ich ersuche ihn, es uns vorzutragen.« Er zeichnete eine schnelle Karikatur Sands auf die Rückseite der Speisekarte, die ein mageres, trauriges, zum Antlitz eines Bluthundes verzerrtes Gesicht zeigte.
Sand räusperte sich. »Soviel ich weiß, wird alles, was in diesem Raum gesagt wird, vertraulich behandelt, aber... «
Trumbull folgte seinem Blick und brummte: »Keine Sorge wegen Henry. Er ist der beste von uns allen. Wenn Sie an der Diskretion irgendeines von uns zweifeln wollen, zweifeln Sie an einem anderen!«
»Danke, Sir«, murmelte Henry, indem er die Cognacgläser auf die Anrichte stellte.
Sand sagte: »Das Schlimme ist, meine Herren, daß ich eines Verbrechens verdächtigt werde.«
»Welcher Art von Verbrechen?« fragte Trumbull sofort. Gewöhnlich war es seine Aufgabe, die Gäste zu befragen, und sein Blick verriet, daß er nicht die Absicht hatte, sich das Verhör entgehen zu lassen.
»Diebstahl«, sagte Sand. »Aus dem Panzerschrank in meiner Firma fehlen eine Geldsumme und ein Bündel verwertbarer Obligationen. Ich bin einer von denen, welche die Kombination haben, und ich hatte Gelegenheit, unbeobachtet daran heranzukommen. Ich hatte auch ein Motiv, denn ich hatte Pech beim Rennen und brauchte dringend Bargeld. Es sieht also für mich nicht gut aus.«
»Aber er hat es nicht getan«, sagte Gonzalo eifrig. »Das ist es eben. Er hat es nicht getan.«
Avalon drehte den halben Drink, den er nicht austrinken würde, in seinem Glas und sagte: »Ich glaube, wir sollten im Interesse des Zusammenhangs Mr. Sand seine Geschichte zu Ende erzählen lassen.«
»Ja«, sagte Trumbull, »wieso weißt du, daß er es nicht getan hat, Mario?«
»Das ist es ja eben, verdammt noch mal! Er sagt, daß er es nicht getan hat«, antwortete Gonzalo, »und das genügt. Vielleicht nicht für den Gerichtshof, aber mir und jedem, der ihn kennt, genügt es. Ich habe ihn genug schlimme Dinge gestehen hören... «
»Vielleicht frage ich ihn selbst, ja?« sagte Trumbull. »Mr. Sand, haben Sie das Zeug genommen?«
Sand zögerte. Seine blauen Augen wanderten von einem Gesicht zum anderen, und er sagte: »Meine Herren, ich sage die Wahrheit. Das Bargeld oder die Obligationen habe ich nicht genommen. Das ist bloß mein unbestätigtes Wort, aber jeder, der mich kennt, wird Ihnen sagen, daß man sich auf mich verlassen kann.«
Halsted strich sich mit der Hand aufwärts über die Stirn, als wolle er Zweifel beseitigen. »Mr. Sand«, sagte er, »Sie scheinen eine gewisse Vertrauensstellung einzunehmen. Sie haben Zutritt zu einem Tresor, in dem sich Werte befinden. Dennoch spielen Sie beim Pferderennen.«
»Das tun viele.«
»Und verlieren.«
»Ich plante es nicht ganz so.«
»Aber laufen Sie nicht Gefahr, Ihren Posten zu verlieren?«
»Ich genieße den Vorteil, Sir, daß ich bei meinem Onkel angestellt bin, dem meine Schwäche bekannt ist, der aber auch weiß, daß ich nicht lüge. Er wußte, daß ich die Mittel und die Gelegenheit besaß, und er wußte, daß ich Schulden hatte. Auch wußte er, daß ich in letzter Zeit meine Spielschulden abbezahlt habe. Das erzählte ich ihm. Der Indizienbeweis sah schlimm aus. Doch dann fragte er mich unmittelbar, ob ich für den Verlust verantwortlich sei, und ich sagte ihm genau, was ich Ihnen sagte: das Bargeld oder die Obligationen habe ich nicht genommen. Da er mich gut kennt, glaubt er mir.«
»Wie kommt es, daß Sie Ihre Schulden bezahlt haben?« fragte Avalon.
»Weil ein unwahrscheinlicher Außenseiter gewann, auf den ich gesetzt hatte. Auch das kommt manchmal vor. Es geschah kurz, bevor der Diebstahl entdeckt wurde, und ich zahlte die Buchmacher aus. Auch das ist wahr, und ich erzählte es meinem Onkel.«
»Dann hatten Sie aber kein Motiv«, sagte Gonzalo.
»Das kann ich nicht sagen. Der Diebstahl konnte bereits zwei Wochen vor der Entdeckung begangen worden sein. So lange hatte niemand in der betreffenden Schublade in dem Tresor nachgesehen - außer dem Dieb natürlich. Es könnte behauptet werden, daß das Pferd auf Sieg kam, nachdem ich die Wertsachen genommen hatte, und den Diebstahl - zu spät - unnötig machte.«
»Man könnte behaupten«, sagte Halsted, »daß Sie das Geld zu dem Zweck nahmen, um eine große Wette auf das Pferd zu placieren, das hereinkam.«
»So groß war die Wette nicht, und ich besaß andere Quellen, aber das ist richtig, es könnte behauptet werden.«
»Wenn Sie aber Ihre Stellung noch haben«, warf Trumbull ein, »und wenn Ihr Onkel Sie nicht strafrechtlich verfolgt, was ich als gegeben annehme... Hat er sich denn überhaupt an die Polizei gewandt?«
»Nein, er kann den Verlust schlucken und ist der Ansicht, daß die Polizei versuchen wird, mir die Sache anzuhängen. Er weiß, daß das, was ich ihm sagte, wahr ist.«
»Worin besteht dann, um Himmels willen, Ihr Problem?«
»Es gibt keinen anderen, der es getan haben kann. Mein Onkel kann sich keine andere Möglichkeit als Erklärung für den Diebstahl denken. Und ich auch nicht. Und solange er es nicht kann, wird immer ein Rest von Unbehagen, von Verdacht zurückbleiben. Er wird mich dauernd im Auge behalten, er wird mir immer nur zögernd vertrauen. Ich werde meinen Posten behalten, werde aber nicht befördert werden und könnte mich in der Firma so unbehaglich fühlen, daß ich gezwungen wäre, sie zu verlassen. Dann könnte ich nicht auf eine aufrichtige Empfehlung zählen, und eine laue von einem Onkel wäre katastrophal.«
Rubin runzelte die Stirn. »Sie kamen also hierher, Mr. Sand, weil Gonzalo sagte, daß wir rätselhafte Kriminalfälle lösen. Wir sollen Ihnen sagen, wer den Diebstahl tatsächlich begangen hat.«
Sand zog die Schultern hoch. »Vielleicht nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich Ihnen genügend Information geben kann. Es ist nicht so, als wären Sie Detektive, die Nachforschungen anstellen können. Wenn Sie mir nur sagen könnten, wie der Diebstahl ausgeführt werden konnte - das würde mir helfen, selbst wenn es weit hergeholt wäre. Wenn ich zu meinem Onkel gehen und sagen könnte: >Onkel, so und so hätte man es doch machen können, nicht wahr?< Sogar wenn wir nicht sicher wären, sogar wenn wir die Wertsachen nie wiederbekämen, würde es wenigstens den Verdacht zerstreuen. Er würde nicht den ewig nagenden Gedanken haben, ich sei der einzig mögliche Schuldige.«
»Nun«, sagte Avalon, »wir könnten doch wohl versuchen, logisch vorzugehen. Wie steht es mit den anderen, die mit Ihnen und Ihrem Onkel arbeiten? Ist von denen irgendeiner in Geldnot?«
Sand schüttelte den Kopf. »So sehr, um die möglichen Folgen eines Ertapptwerdens zu riskieren? Ich weiß nicht. Vielleicht hat einer von ihnen Schulden oder einer könnte erpreßt werden, oder habgierig sein oder einfach die Gelegenheit haben und impulsiv handeln. Wenn ich ein Detektiv wäre, könnte ich umhergehen und Fragen stellen, oder ich könnte Dokumente überprüfen oder was immer die zu tun pflegen. Unter den gegebenen Umständen... «
»Natürlich«, sagte Avalon, »das können wir auch nicht... Nun, Sie hatten sowohl die Möglichkeit wie die Gelegenheit, aber hatte die auch jemand anders?«
»Mindestens drei Leute hätten ebensoleicht Zugang zu dem Tresor gehabt und hätten noch leichter ungestraft davonkommen können, aber keiner davon kannte die Kombination, und der Tresor wurde nicht erbrochen, das ist sicher. Außer meinem Onkel und mir gibt es zwei Leute, welche die Kombination kennen, aber der eine Mann befand sich in der ganzen in Frage kommenden Zeit im Hospital, und der andere ist ein so altes und verläßliches Firmenmitglied, daß es undenkbar wäre, ihn zu verdächtigen.«
»Aha«, sagte Mario Gonzalo, »und genau der ist unser Mann.«
»Du hast zu viele Kriminalromane gelesen«, sagte Rubin sofort. »Tatsache ist, daß bei fast jedem Verbrechen der am meisten Verdächtige auch wirklich der Verbrecher ist.«
»Das gehört nicht zur Sache«, sagte Halsted, »und ist außerdem uninteressant. Was wir hier haben, ist eine rein logische Aufgabe. Lassen wir uns doch von Mr. Sand erzählen, was er über jedes Firmenmitglied weiß, dann können alle versuchen, ein Motiv, Mittel und eine Gelegenheit für eine bestimmte Person herauszubringen.«
»Ach, zum Teufel«, warf Trumbull ein, »wer sagt denn, daß es eine Person sein muß? Es war also einer im Hospital. Großartig! Es gibt doch das Telefon. Er ruft an und sagt die Kombination einem Mitschuldigen.«
»Gut, gut«, sagte Halsted hastig, »wir erwägen natürlich allerlei Möglichkeiten, von denen manche plausibler sind als andere. Nachdem wir sie analysiert haben, kann Mr. Sand die glaubwürdigste auswählen und auch benutzen.«
»Darf ich etwas sagen, Sir?« Henry sprach so schnell und um so viel lauter als sein übliches Murmeln, daß sich alle ihm zuwandten.
Henry sagte, nun wieder leise: »Obwohl ich kein Schwarzer Witwer bin -«
»Das stimmt nicht«, sagte Rubin. »Sie wissen, daß Sie einer sind. Tatsächlich sind Sie der einzige, der noch keine Zusammenkunft versäumt hat.«
»Dann darf ich auf etwas hinweisen, meine Herren: Wenn Mr. Sand Ihre Entscheidungen, wie immer sie lauten mögen, seinem Onkel mitteilt, wird er die Ergebnisse dieser Zusammenkunft aus den Wänden dieses Raumes hinaustragen.«
Es entstand eine unbehagliche Stille. Halsted sagte: »Um das Leben eines Unschuldigen vor dem Ruin zu retten, ist es doch sicher... «
Henry schüttelte den Kopf. »Aber das würde Verdacht auf einen oder mehrere Menschen fallen lassen, die auch unschuldig sein könnten.«
Avalon sagte: »Damit hat Henry nicht unrecht. Das scheint unseren Plan zu vereiteln.«
»Es sei denn«, sagte Henry, »wir gelangen zu einer endgültigen Schlußfolgerung, welche den Klub zufriedenstellt und die Außenwelt nicht einbezieht.«
»Was haben Sie im Sinn, Henry?« fragte Trumbull.
»Wenn ich es erklären darf... Es interessierte mich, einen Mann kennenzulernen, von dem Mr. Gonzalo vor dem Essen erzählte, er sage nie eine Lüge.«
»Aber hören Sie, Henry«, sagte Rubin, »Sie sind doch selbst pathologisch ehrlich. Sie wissen es. Das wurde festgestellt.«
»Das mag schon sein«, sagte Henry, »aber mitunter lüge ich doch.«
»Zweifeln Sie an Mr. Sand? Glauben Sie, daß er lügt?« fragte Rubin.
»Ich versichere Ihnen...«, begann Sand fast besorgt.
»Nein«, sagte Henry, »ich glaube, jedes Wort, das Mr. Sand sagte, ist wahr. Das Geld oder die Obligationen hat er nicht genommen. Dennoch ist logisch er es, auf dem der Verdacht vielleicht liegen bleibt. Seine Karriere könnte zugrunde gerichtet werden. Andererseits brauchte das nicht der Fall zu sein, wenn annehmbare Eventualitäten gefunden werden könnten, auch wenn das nicht wirklich zu einer Lösung führt. Und da er selbst keine annehmbare Eventualität zu finden vermag, sucht er eine bei uns. Ich bin überzeugt, daß all dies wahr ist.«
Sand nickte. »Nun schön, danke.«
»Aber was ist denn Wahrheit?« sagte Henry. »Ich glaube zum Beispiel, Mr. Trumbull, daß Ihre Gewohnheit, immer zu spät zu kommen mit dem Ruf >Scotch und Soda für einen Sterbendem, ungesittet und unnötig und, noch schlimmer, langweilig geworden ist. Ich hege den Verdacht, daß auch andere Anwesende dieser Ansicht sind.«
Trumbull errötete, aber Henry fuhr unbeirrt fort. »Wenn ich jedoch, unter normalen Umständen, gefragt würde, ob ich das mißbillige, würde ich es verneinen. Genau genommen, wäre das eine Lüge, aber ich schätze Sie aus anderen Gründen, Mr. Trumbull, welche bei weitem ausschlaggebender sind als diese Ihre Eigenheit, so daß die strikte Wahrheit, mit der ich eine Mißbilligung Ihrer Person ausdrücken würde, letzten Endes eine große Lüge wäre. Ich lüge also, um die Wahrheit - meine Sympathie für Sie - auszudrücken.«
Trumbull brummte: »Ich bin nicht sicher, daß mir Ihre Art von Sympathie zusagt.«
»Nach Mr. Sands Ansicht«, meinte Henry, »werden alle Lügen in Selbstschutz oder aus gesellschaftlicher Konvention ausgesprochen. Wir können aber Selbstschutz und gesellschaftliche Konvention nicht immer ignorieren. Wenn wir nicht lügen können, müssen wir die Wahrheit für uns lügen lassen.«
»Das ist unverständlich, Henry«, sagte Gonzalo.
»Ich glaube nicht, Mr. Gonzalo. Nur wenige Menschen horchen genau auf die Worte, und so manche wörtliche Wahrheit ist in ihrer eigentlichen Bedeutung eine Lüge. Wer sollte das besser wissen als einer, der stets die wörtliche Wahrheit spricht?«
Sands bleiche Wangen wurden weniger bleich, oder sein roter Schlips reflektierte besser das Licht nach oben. »Worauf zum Teufel wollen Sie hinaus?« fragte er.
»Ich möchte Sie etwas fragen, Mr. Sand. Wenn die Klubmitglieder einverstanden sind, natürlich.«
»Es ist mir gleichgültig, ob sie das sind oder nicht«, sagte Sand mit einem finsteren Blick auf Henry. »Wenn Sie einen solchen Ton anschlagen, werde ich vielleicht nicht antworten.«
»Das brauchen Sie vielleicht gar nicht«, sagte Henry. »Es geht darum, daß Sie jedesmal, wenn Sie das Verbrechen bestreiten, es mit genau den gleichen Worten tun. Es mußte mir auffallen, denn ich war entschlossen, genau auf Ihre Worte zu achten, seit ich hörte, daß Sie nie lügen. Sie sagten jedesmal >Das Bargeld oder die Obligationen habe ich nicht genommene
»Und das ist völlig wahr«, sagte Sand laut.
»Dessen bin ich sicher, denn sonst hätten Sie es nicht gesagt«, antwortete Henry. »Hier ist also die Frage, die ich Ihnen stellen möchte: Haben Sie vielleicht das Bargeld und die Obligationen genommen?«
Darauf folgte eine kurze Stille. Dann erhob sich Sand und sagte: »Ich werde nun meinen Mantel nehmen. Guten Abend. Ich erinnere Sie alle daran, daß nichts von dem, was hier vorgeht, draußen wiederholt werden darf.«
Als Sand fort war, sagte Trumbull: »Da holt mich aber der Teufel!«
Worauf Henry antwortete: »Vielleicht nicht, Mr. Trumbull. Man darf nie verzweifeln.«
Die Geschichte erschien zum erstenmal im EQMM unter dem Titel >Der Mann, der niemals log<. Ich halte den Magazintitel für uninteressant, deshalb kehrte ich hier zu dem ursprünglichen zurück.
Ich schrieb die Geschichte am 14. Februar 1972. An das Datum erinnere ich mich nicht, weil ich ein großartiges Gedächtnis habe, sondern weil sie im Hospital am Tag vor meiner (bisher) einzigen Operation geschrieben wurde. An dem Tag besuchte mich mein Lektor von Doubleday, und ich gab ihm das Manuskript mit der Bitte, es mit einem Boten an EQMM zu schicken.
Das tat Larry natürlich, und als ich nach der Operation noch im Hospital lag, erfuhr ich, daß die Kurzgeschichte angenommen worden war. Seither fragte ich mich (wenn ich nichts Besseres zu tun hatte), ob sie aus Sympathie für mich armen Leidenden angenommen wurde, aber es scheint nicht der Fall zu sein. Sie wurde für eine Sammlung der besten Krimigeschichten des Jahres ausgewählt, daher nehme ich doch an, sie ist gut.
Ach, und die Erklärung, weshalb es die kürzeste Geschichte des Buchs ist: Ich mußte sie fertigstellen, bevor der Chirurg sein Skalpell aus den Zähnen nahm, es an seinem Oberschenkel wetzte und an die Arbeit ging.