172632.fb2 Die bosen Geschichten der schwarzen Witwer - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 9

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Außer Sicht

Das allmonatliche Bankett der Schwarzen Witwer war an jenem Punkt angelangt, wo von dem Mixed Grill nur mehr wenig übrig war außer einem betont unberührten Stück Leber auf Emmanuel Rubins Teller — da erhoben sich die Stimmen zu homerischem Streit.

Rubin, zweifellos erzürnt über das bloße Vorhandensein von Leber, sagte noch entschiedener, als es bei ihm üblich war: »Dichtung ist Klang. Man sieht sich Dichtung nicht an. Es kümmert mich nicht, ob eine Kultur Reim, Alliteration, Wiederholung, Ausgewogenheit oder Rhythmus betont, schließlich ist sie doch nur Klang.«

Roger Halsted sprach nie laut, doch man konnte den Grad seiner Erregung immer an der Farbe seiner hohen Stirn erkennen. Nun war sie dunkelrosa. Er sagte: »Wozu generalisieren, Manny? Das taugt im allgemeinen nichts ohne ein von anfang an unangreifbares System von Axiomen. Literatur ...«

»Wenn du von figurativen Versen reden willst«, sagte Rubin hitzig, »spar dir die Mühe. Das ist viktorianischer Unsinn.«

»Was sind figurative Verse?« fragte Gonzalo faul. »Hat er das erfunden, Jeff?« Er zierte seine sorgfältige Karikatur des Bankettgastes, Waldemar Long, mit etwas gekräuseltem Haar. Der Gast hatte von Beginn des Banketts an in düsterem Schweigen gespeist, folgte aber offenbar jedem Wort.

»Nein«, sagte Avalon überlegt, »obwohl ich es Manny durchaus zutrauen würde, etwas zu erfinden, wenn es die einzige Möglichkeit für ihn wäre, einen Streit erfolgreich zu beenden. Figurative Verse sind solche, bei denen die Worte oder Zeilen drucktechnisch so angeordnet sind, daß sie ein visuelles Bild ergeben, das den Sinn verstärkt. Das bekannteste Beispiel dafür ist der >Mäuseschwanz< in >Alice im Wunderland«.«

Darauf entspann sich eine längere Diskussion, bis Trumbull rief: »Henry, wo ist der verdammte Nachtisch?«

»Schon hier, Sir«, sagte Henry leise. Ungerührt von Trumbulls Ton räumte er den Tisch ab und servierte den mürben Heidelbeerkuchen.

Der Kaffee war schon eingegossen, und Trumbulls Gast sagte leise: »Könnte ich bitte Tee haben?«

Der Gast hatte eine lange Oberlippe und ein gleichfalls langes Kinn. Das Haar auf seinem Kopf war struppig, er war glattrasiert. Als er vorgestellt worden war, hatte ihn anscheinend nur Rubin erkannt.

»Sind Sie nicht bei der NASA?« hatte er gefragt.

Long hatte mit einem erschrockenen »Ja« geantwortet, als würde er aus einer halb verärgerten Resignation in der Anonymität gestört.

Trumbull sagte: »Ich glaube, es wäre für unseren Gast an der Zeit, sich an der Diskussion zu beteiligen und unserem heutigen ungewöhnlich albernen Abend vielleicht ein wenig Sinn zu verleihen.«

»Nein, Tom, es ist gut so«, sagte Long. »Ich habe nichts gegen witziges Geplauder.« Er hatte eine tiefe und recht schöne Stimme, die entschieden ein wenig traurig klang. »Ich bin unbegabt für Scherze, höre aber gern zu.«

Halsted sagte plötzlich: »Ich finde, daß Manny heute nicht den Inquisitor spielen soll.«

»Nein?« sagte Rubin mit kriegerisch vorgestrecktem Bart.

»Nein. Ich stelle es dir anheim, Tom. Wenn Manny unseren Gast fragt, wird er, da es eine Verbindung mit der NASA gibt, sicher das Raumfahrtprogramm aufs Tapet bringen. Dann werden wir, wie schon hundertmal, die verdammte Diskussion durchmachen. Ich habe das ganze Weltraumthema schon satt.«

»Nicht halb so sehr wie ich«, sagte Long etwas unerwartet. »Ich würde am liebsten keinen Aspekt der Raumforschung erörtern.«

Die recht entschiedene Bemerkung schien die Stimmung rundum zu dämpfen. Sogar Halsted schien im Moment einem Mitglied der NASA kein anderes Thema vorschlagen zu können.

Dann rückte Rubin auf seinem Stuhl zurecht und sagte: »Ich nehme an, Dr. Long, diese Einstellung hat sich erst jüngst bei Ihnen entwickelt.«

Long wandte sich plötzlich Rubin zu; er kniff die Augen zusammen. »Warum sagen Sie das, Mr. Rubin?«

Rubins Miene wirkte beinahe einfältig. »Selbstverständlich, mein lieber Dr. Long. Sie nahmen im vorigen Winter an der Fahrt teil, bei welcher der Apolloabschuß besichtigt wurde. Ich war als literarischer Vertreter der Intellektuellen eingeladen, war aber verhindert. Ich erhielt jedoch das Pressematerial zugeschickt und entsinne mich, daß Sie dort waren. Sie sollten einen Vortrag über einen Aspekt des Raumfahrtprogramms halten, ich vergaß welchen, und das freiwillig. Ihre Enttäuschung an dem Thema muß in den sechs Monaten seit der Kreuzfahrt entstanden sein.«

Long nickte mehrmals und sagte: »Man scheint von mir in diesem Zusammenhang mehr gehört zu haben als je in meinem Leben. Die verdammte Kreuzfahrt hat mich auch berühmt gemacht.«

»Ich gehe noch weiter«, sagte Rubin entzückt, »und äußere die Annahme, daß auf der Kreuzfahrt etwas vorgefallen ist, das Sie an der Raumforschung ernüchterte, vielleicht so sehr, daß Sie daran denken, die NASA zu verlassen und sich auf ein völlig anderes Gebiet zu verlegen.«

Long starrte nun Rubin an, streckte ihm einen langen, keineswegs zitternden Finger entgegen und sagte: »Treiben Sie keine Spiele mit mir!« Dann erhob er sich mit unterdrücktem Zorn und sagte: »Entschuldige, Tom. Danke für die Mahlzeit, aber ich gehe jetzt.«

Sofort sprangen alle auf und redeten gleichzeitig; alle außer Rubin, der verwundert sitzen blieb.

Trumbulls Stimme übertönte die anderen. »Nun warte ein wenig, Waldemar. Verdammt, wollt ihr euch wohl hinsetzen? Auch du, Waldemar. Was soll die Aufregung? Rubin, was bedeutet das alles?«

»Ich wollte eine logische Kette demonstrieren. Schließlich schreibe ich Krimis. Ich scheine einen Nerv getroffen zu haben.«

»Welche logische Kette?« fragte Trumbull.

»Nun gut, diese: Dr. Long sagte >Die verdammte Kreuzfahrt hat mich auch berühmt gemachte Er betonte das Wort >auch<. Das heißt, sie hat noch etwas anderes für ihn getan, und da wir von seiner Abneigung gegen das ganze Thema Raumforschung sprachen, folgerte ich, daß das andere darin bestand, ihn mit dieser Abneigung zu erfüllen. Aus seinem Verhalten schloß ich, daß sie heftig genug war, ihn zu dem Wunsch zu veranlassen, seinen Job aufzugeben. Das war alles.«

Wieder nickte Long, dann lehnte er sich zurück. »Gut, entschuldigen Sie, Mr. Rubin, ich bin zu rasch hochgefahren. Tatsache ist, ich werde die NASA verlassen. Ich habe es praktisch schon getan — gezwungenermaßen. Das ist alles... Wechseln wir das Thema. Du sagtest mir, Tom, es würde meine schlechte Laune vertreiben, wenn ich herkäme, aber es hat nicht geklappt. Meine Stimmung hat euch alle angesteckt, und ich habe der Party einen Dämpfer aufgesetzt. Verzeihen Säe mir, meine Herren!«

Avalon strich mit dem Finger über seinen ergrauten Schnurrbart und sagte: »Tatsächlich haben Sie uns etwas geliefert, das wir über alles schätzen — die Gelegenheit, unsere Neugier zu äußern. Dürfen wir Sie diesbezüglich befragen?«

»Es ist etwas, worüber ich nicht frei sprechen darf«, sagte Long vorsichtig.

»Du kannst, wenn du willst, Waldemar. Heikle Einzelheiten brauchst du nicht zu erwähnen, doch was das Übrige anlangt, wird alles in diesem Raum Gesagte geheimgehalten. Und zu der Geheimhaltung gehört auch unser Freund Henry, was ich immer hinzufüge, wenn ich diese Erklärung für nötig halte.«

Henry, der bei der Anrichte stand, lächelte kurz.

Long zögerte, dann sagte er: »Ich stehe unter dem Verdacht, eine absichtliche oder fahrlässige Indiskretion begangen zu haben; ich werde vielleicht inoffiziell, aber sehr wirkungsvoll, von jeder künftigen Stellung in meinem Fachgebiet ausgeschlossen sein.«

»Sie meinen, daß Sie auf der schwarzen Liste stehen?« sagte Drake.

»Diese Worte werden nie verwendet«, sagte Long. »Aber darauf läuft es hinaus.«

»Ich nehme an«, sagte Drake, »Sie waren nicht indiskret.«

»Im Gegenteil, ich war es.« Long schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht geleugnet. Der Haken ist, daß man glaubt, die Sache sei schlimmer, als ich zugebe.«

Nach einer weiteren Pause sagte Avalon in seinem eindrucksvoll nüchternen Ton: »Welche Sache, Sir? Können Sie uns etwas darüber sagen oder müssen Sie sich auf das bereits Gesagte beschränken?«

Long sagte: »Es ist verdammt undramatisch. Ich war auf dieser Kreuzfahrt, wie Mr. Rubin Ihnen sagte. Ich sollte einen Vortrag über gewisse ziemlich fortgeschrittene Raumfahrtprojekte halten und wollte genaue Einzelheiten darüber angeben, was in manchen faszinierenden Richtungen unternommen wurde. Diese Einzelheiten darf ich Ihnen nicht mitteilen. Das habe ich auf Umwegen herausgefunden. Manches davon war auf Geheimhaltungsstufe, aber man hatte mir gesagt, ich könne darüber sprechen. Einen Tag vor meinem Vortrag erhielt ich einen Anruf über Funk, es sei alles abgesagt. Keine Aufhebung der Geheimhaltungsstufe.

Ich war wütend. Ich will gar nicht leugnen, daß ich jähzornig bin, und ich habe auch kein Talent für spontane Vorträge. Ich hatte den Vortrag sorgfältig ausgearbeitet und hätte ihn vorgelesen. Ich weiß, das ist keine gute Methode für einen Vortag, aber ich kann es nicht besser. Nun blieb mir nichts, das ich einer Gruppe von Menschen bieten konnte, die ziemlich viel Geld dafür gezahlt hatte, mich zu hören. Es war eine verdammt peinliche Lage.«

»Was haben Sie getan?« fragte Avalon.

»Am nächsten Tag hielt ich eine recht armselige Frage-und-Antwort-Stunde ab. Sie hatte gar keinen Erfolg. Es war schlimmer, als wenn ich keinen Vortrag gehalten hätte. Damals wußte ich bereits, daß ich große Schwierigkeiten hatte, Sie verstehen.«

»Inwiefern, Sir?« fragte Avalon.

»Wenn Sie die komische Geschichte hören wollen«, sagte Long, »hier ist sie. Ich bin bei Mahlzeiten nicht gerade gesprächig, wie Sie vielleicht bemerkt haben. Nach dem Anruf kam ich zum Abendessen, wahrscheinlich imitierte ich ganz annehmbar einen Toten, der mit zornigem Gesichtsausdruck gestorben ist. Die anderen versuchten mich ins Gespräch zu ziehen, vermutlich nur, um mich daran zu hindern, die Atmosphäre zu vergiften. Endlich sagte einer von ihnen: >Nun, Dr. Long, worüber werden Sie morgen sprechen?< Da ging ich hoch und sagte: >Überhaupt nichts! Gar nichts! Ich habe den Vortrag fertig, er liegt in meiner Kabine auf dem Schreibtisch, und ich kann ihn nicht halten, weil ich soeben erfahren habe, daß das Material weiter unter Geheimhaltung steht.<«

»Und dann wurde das Papier gestohlen?« sagte Gonzalo erregt.

»Nein. Wozu soll man heute etwas stehlen? Es wurde fotografiert.«

»Sind Sie sicher?«

»Ich war damals schon sicher. Als ich nach dem Abendessen in meine Kabine zurückkam, war die Tür nicht abgeschlossen, und die Papiere waren von der Stelle bewegt worden. Seither war es gewiß. Wir haben Beweise dafür, daß die Information nach draußen gelangt ist.«

Hierauf entstand eine eher drückende Stille. Dann sagte Trumbull: »Wer könnte es getan haben? Wer hat dich gehört?«

»Alle am Tisch«, sagte Long mutlos.

Rubin sagte: »Sie haben eine kräftige Stimme, Dr. Long, und wenn Sie so zornig waren, wie ich annehme, haben Sie laut gesprochen. Wahrscheinlich hörten auch mehrere Leute an den umliegenden Tischen Ihre Worte.«

»Nein«, sagte Long kopfschüttelnd, »ich sprach mit zusammengepreßten Zähnen, nicht laut. Außerdem wissen Sie nicht, wie die Kreuzfahrt verlief. Sie war bei weitem nicht ausgebucht, verstehen Sie — schlechte Werbung, schlechtes Management. Das Schiff war nur zu vierzig Prozent belegt, und die Gesellschaft soll eine Menge Geld verloren haben.«

»Dann muß es«, sagte Avalon, »abgesehen von Ihrem Mißgeschick, eine langweilige Angelegenheit gewesen sein.«

»Im Gegenteil, bis dahin war es sehr angenehm für mich und für alle anderen auch weiterhin, denke ich. Es gab fast mehr Besatzung als Passagiere, und die Bedienung war hervorragend. Nirgends war ein Gedränge. Man verteilte uns im ganzen Speisesaal und ließ uns ungestört. Wir waren zu siebent an unserem Eßtisch. Glückliche Sieben, sagte einer zu Beginn.« Longs düstere Laune verschlimmerte sich noch für einen Augenblick. »Keiner der Tische neben uns war besetzt. Ich bin ganz sicher, daß nichts, was einer von uns sagte, anderswo als an unserem Tisch gehört wurde.«

»Dann gibt es sieben Verdächtige«, sagte Gonzalo nachdenklich.

»Sechs, denn mich brauchen Sie nicht dazu zu rechnen«, sagte Long. »Ich wußte, wo das Papier war und was darin stand. Ich brauchte mich nicht zu hören, um davon zu erfahren.«

»Sie stehen auch unter Verdacht. Sie deuteten das jedenfalls an«, sagte Gonzalo.

»Für mich nicht«, sagte Long.

»Ich wünschte, du wärst mit der Sache zu mir gekommen, Waldemar«, sagte Trumbull sauer. »Seit Monaten mache ich mir Sorgen über dein unverständliches Benehmen.«

»Was hättest du getan, wenn ich es dir erzählt hätte?«

Trumbull überlegte. »Verdammt, ich hätte dich hierher gebracht... Also gut, erzähle uns von den Sechs am Tisch. Wer waren sie?«

»Einer war der Schiffsarzt; ein gut aussehender Holländer in dekorativer Uniform.«

»Natürlich«, sagte Rubin. »Es war ein Schiff der Holland-Amerikalinie, nicht wahr?«

»Ja. Die Offiziere waren Holländer und die Mannschaft — Kellner, Stewards und dergleichen — meist Indonesier. Alle hatten dreimonatige Schnellkurse in Englisch hinter sich, wir verständigten uns aber meist in der Zeichensprache, und ich kann mich nicht beklagen. Sie waren freundlich und arbeitsam — und um so tüchtiger, als es viel weniger Passagiere gab als gewöhnlich.«

»Gibt es einen Grund, den Arzt zu verdächtigen?« fragte Drake.

Long nickte. »Ich verdächtige sie alle. Der Arzt war ein schweigsamer Mann; wir waren die zwei Schweigsamen. Die fünf anderen waren in dauerndem Aufruhr, ganz ähnlich wie Sie hier am Tisch. Er und ich hörten zu. Was mir im Zusammenhang mit ihm auffiel, war, daß er mich über meinen Vortrag gefragt hatte. Es war ungewöhnlich für ihn, eine so persönliche Frage zu stellen.

Ich erinnere mich an alle Einzelheiten jenes Abendessens, bei dem besondere indonesische Gerichte serviert wurden. Ich mag Curryspeisen nicht, und der Arzt fragte in dem Augenblick nach meinem Vortrag, als mir eine Portion Currylamm als Vorspeise serviert wurde. Vor Zorn über die Dummheit der Regierungsbeamten, gepaart mit der durch den Currygeruch verursachten Übelkeit, kam es zu meinem Wutausbruch. Vielleicht, wenn der Curry nicht gewesen wäre ...

Jedenfalls entdeckte ich nach der Mahlzeit, daß jemand in meiner Kabine gewesen war. Der Inhalt der Papiere, geheim oder nicht geheim, war nicht so bedeutsam, wohl aber daß jemand so schnell gehandelt hatte. Irgend jemand auf dem Schiff gehörte einem Spionagenetz an, und das war wichtiger als die eigentliche Tat. Auch wenn der damalige Gegenstand nicht wichtig war, mochte es der nächste sein. Es war wichtig, die Sache zu melden, und das tat ich als loyaler Staatsbürger.«

Rubin sagte: »Ist nicht der Arzt der logische Verdächtige? Er stellte die Frage und hörte die Antwort. Die anderen vielleicht nicht. Als Offizier war er mit dem Schiff vertraut und wußte, wie schnell er in die Kabine gelangen konnte, hatte vielleicht einen Nachschlüssel. Hatte er Gelegenheit, vor Ihnen die Kabine zu betreten?«

»Ja, die hatte er«, sagte Long. »Ich habe das alles bedacht. Der Haken ist der: Alle an dem Tisch hörten mich, denn die anderen sprachen dann eine Weile über das System der Geheimhaltung. Und alle wußten, wo meine Kabine war, denn ich hatte am Vortag dort eine kleine Party für unseren Tisch gegeben. Und diese Schlösser sind mit ein wenig Geschicklichkeit für jeden leicht zu öffnen — wenn es auch ein Fehler war, die Tür nicht wieder abzuschließen, aber der Eindringling mußte es eilig gehabt haben. Und zufällig hatte jeder am Tisch Gelegenheit, während der Mahlzeit in die Kabine zu gehen.«

»Wer waren also die anderen?« fragte Halsted.

»Zwei Ehepaare und eine alleinstehende Frau. Diese — nennen Sie sie Miß Robinson — war hübsch, ein wenig rundlich, hatte Sinn für Humor, aber die üble Angewohnheit, während des Essens zu rauchen. Ich glaube, sie hatte eine Schwäche für den Arzt. Sie saß zwischen ihm und mir — wir hatten immer dieselben Plätze.«

»Wann hatte sie die Möglichkeit, Ihre Kabine zu betreten?« fragte Halsted.

»Sie entfernte sich kurz nach meiner Bemerkung und kam knapp vor dem Vorfall mit der heißen Schokolade zurück, denn ich erinnere mich, daß sie versuchte, dabei zu helfen.«

»Wohin ist sie angeblich gegangen?«

»Damals hat sie niemand gefragt. Später sagte sie, sie hätte in ihre Kabine gehen müssen, um das Badezimmer aufzusuchen. Vielleicht tat sie es. Aber ihre Kabine lag nicht weit von meiner.«

»Hat sie niemand gesehen?«

»Das war unmöglich. Alle waren im Speisesaal, und für Indonesier sehen alle Amerikaner gleich aus.«

»Was war mit der heißen Schokolade«, fragte Avalon, »Sie erwähnten diesen Vorfall?«

Long sagte: »Der passierte einem der Ehepaare. Nennen Sie sie die Smiths und die anderen Jones. Mr. Smith war einer der Vortragenden, eigentlich waren es beide, Smith und Jones. Smith sprach schnell, lachte gern, ließ alles zweideutig klingen und schien solchen Gefallen an allem zu finden, daß er auch uns ansteckte. Jones war viel stiller und schien anfangs entsetzt über Smiths unverschämte Bemerkungen, tat es ihm aber schließlich gleich, wie ich feststellte — worüber Smith, glaube ich, eher enttäuscht war.«

»Auf welchem Gebiet arbeiteten sie?« fragte Avalon.

»Smith war Soziologe und Jones Biologe. Das Durcheinander wurde durch Mrs. Smith verursacht. Sie war eine ziemlich große, schlanke Frau, nicht besonders anziehend. An dem Abend, an dem ich mich verplapperte, bestellte sie heiße Schokolade. Sie wurde in einem hohen, kopfschweren Glas, noch dazu auf einem Tablett, serviert.

Smith plauderte wie gewöhnlich angeregt und bewegte dabei die Arme hin und her. Das Schiff neigte sich, er neigte sich — nun ja, die heiße Schokolade ergoß sich in Mrs. Smiths Schoß.

Sie sprang auf, ebenso alle anderen. Miß Robinson eilte ihr zu Hilfe. Das fiel mir auf, deshalb weiß ich, daß sie da schon zurück war. Mrs. Smith lehnte jede Hilfe ab und entfernte sich eilig. Smith schien plötzlich verwirrt und erschrocken und folgte ihr. Fünf Minuten später kam er wieder an den Tisch und sagte, Mrs. Smith habe ihn heruntergeschickt, um uns zu versichern, daß es ihr gut gehe. Wir sollten doch bei Tisch bleiben, bis seine Frau wiederkäme, sie ziehe sich bloß um. Wir waren natürlich einverstanden.«

»Und das bedeutet«, sagte Avalon, »daß sie Zeit hatte, in Ihre Kabine zu gehen.«

Long nickte. »Ja, das vermute ich. Ich hätte es ihr nicht zugetraut, aber in diesem Spiel muß man wohl vom äußeren Eindruck absehen.«

»Und ihr habt alle gewartet?«

»Der Arzt nicht. Er erhob sich und sagte, er wolle eine Salbe aus seinem Dienstraum holen, für den Fall, daß sie Verbrennungen habe und sie brauche; er kam etwa eine Minute vor ihr zurück.«

»Und kann somit auch in der Kabine gewesen sein«, bemerkte Avalon.

»Wie steht es nun mit den Jones'?« fragte Rubin.

»Als Mrs. Smith zurückkam«, fuhr Long fort, »sagte sie, sie habe keine Verbrennungen erlitten und der Arzt brauchte ihr keine Salbe zu geben, daher wissen wir nicht, ob er sie wirklich geholt hat. Vielleicht bluffte er.«

»Und wenn sie ihn darum gebeten hätte?« fragte Halsted.

»Dann hätte er sagen können, er habe nicht finden können, was er suchte, doch wenn sie mit ihm käme, würde er ihr nach besten Kräften helfen. Wer weiß? Jedenfalls saßen wir noch eine Zeitlang dort, als ob nichts geschehen wäre, dann gingen wir auseinander. Wir waren der letzte noch besetzte Tisch. Alle gingen, nur Mrs. Jones und ich blieben noch eine Weile sitzen.«

»Mrs. Jones?« fragte Drake.

»Ich habe Mrs. Jones noch nicht geschildert. Dunkle Haare und Augen, sehr lebhaft. Ich glaube, Jones war auf seine stille Art ziemlich eifersüchtig; zumindest sah ich ihn nie mehr als einen halben Meter weit von ihr entfernt, jenen Abend ausgenommen. Er stand damals auf und ging in seine Kabine, und sie sagte, sie werde bald nachkommen. Dann wandte sie sich zu mir und sagte: >Können Sie mir erklären, warum die terrassenförmigen Eisfelder auf dem Mars bedeutungsvoll sind? Ich wollte Sie schon während des ganzen Abendessens fragen, hatte aber keine Gelegenheit dazu.<

An jenem Tag hatte eine großartige Vorlesung über den Mars stattgefunden, und ich war ziemlich geschmeichelt, daß sie sich an mich wandte und nicht an den Astronomen, der den Vortrag gehalten hatte. Ich redete also einige Zeit mit ihr, und sie sagte immer wieder >Wie interessante«

»Und inzwischen könnte Jones in Ihrer Kabine gewesen sein«, sagte Avalon.

»Möglich. Später dachte ich daran. Es war sicher ein atypisches Verhalten von beiden.«

»Fassen wir also zusammen«, sagte Avalon. »Es gibt vier Möglichkeiten. Miß Robinson könnte es getan haben, als sie vor dem Zwischenfall mit der Schokolade wegging. Die Smiths können es gemeinsam getan haben, indem Mr. Smith absichtlich die Schokolade verschüttete, so daß Mrs. Smith die Schmutzarbeit besorgen konnte. Der Arzt könnte es getan haben, als er die Salbe holte. Oder die Jones' könnten es gemeinsam getan haben, wobei Mr. Jones die Schmutzarbeit tat, während Mrs. Jones Dr. Long vom Schauplatz fernhielt.«

Long nickte. »All das wurde in Betracht gezogen, und als das Schiff wieder in New York war, hatten Sicherheitsagenten die Vergangenheit aller sechs Personen bereits durchforscht. In solchen Fällen braucht man nur Verdacht zu haben, verstehen Sie. Ein Geheimagent kann nur dann unentdeckt bleiben, wenn er unverdächtigt bleibt. Kaum fällt das Auge der Spionageabwehr auf ihn, wird er unvermeidlich entlarvt. Einer gründlichen Nachforschung kann kein Deckmantel widerstehen.. «

»Wer erwies sich als der Schuldige?« fragte Drake.

Long seufzte. »Das war eben das Schlimme. Keiner von ihnen. Alle waren einwandfrei. Wie ich es verstehe, gab es keine Möglichkeit, einem von ihnen nachzuweisen, daß sie etwas anderes waren, als sie schienen.«

»Warum sagen Sie, Sie >verstehen<?« fragte Rubin. »Gehören Sie nicht zu den Untersuchten?«

»Am falschen Ende. Je einwandfreier diese sechs sind, desto stärker bin ich belastet. Ich sagte den Untersuchungsorganen — ich mußte es ihnen sagen —, daß diese sechs die einzigen waren, die es getan haben konnten, und wenn es keiner von ihnen war, muß man mich verdächtigen, eine Geschichte erfunden zu haben, um etwas Schlimmeres zu verbergen.«

»Zum Teufel, Waldemar«, sagte Trumbull, »das können sie doch nicht glauben. Was hättest du durch die Meldung des Vorfalls zu gewinnen, wenn du dafür verantwortlich wärst?«

»Das wissen sie nicht«, sagte Long. »Aber die Information drang nach draußen, und wenn sie es keinem der Sechs anhängen können, werden sie es mir anhängen.«

»Sind Sie sicher«, sagte Rubin, »daß diese Sechs tatsächlich die einzig möglichen Täter sind? Sind Sie sicher, daß Sie es wirklich niemandem anderen gegenüber erwähnten?«

»Ganz sicher«, sagte Long entschieden. »Das Funkgespräch kam kurz vor dem Abendessen durch. Es war einfach keine Zeit, es irgend jemandem vor dem Essen zu sagen. Und als ich dann den Tisch verließ, war ich wieder in der Kabine, ohne zu irgend jemandem auch nur ein Wort gesprochen zu haben.«

»Wer hörte Ihr Gespräch am Sprechfunk? Vielleicht gab es Horcher?«

»Gewiß, es standen Schiffsoffiziere herum. Aber mein Chef drückte sich verschleiert aus. Ich wußte, was er meinte, sonst konnte es aber niemand wissen.«

»Drückten Sie sich verschleiert aus?« fragte Halsted.

»Ich werde Ihnen genau erzählen, was ich sagte.

»Hallo, Dave.< Dann sagte ich: >Das soll der Teufel holen. < Dann legte ich auf. Ich sagte diese sieben Worte. Sonst nichts.«

Plötzlich klatschte Gonzalo entzückt in die Hände. »Hören Sie, mir fällt etwas ein. Warum muß die Sache geplant worden sein? Sie könnte spontan erfolgt sein. Schließlich wußte jeder, daß die Kreuzfahrt stattfand und NASA-Leute Vorträge halten würden und etwas Interessantes daran seih könnte. Irgend jemand — wer immer es sein mochte — durchsuchte verschiedene Räume täglich während des Abendessens und stieß schließlich auf Ihre Papiere ... «

»Nein«, sagte Long entschieden. »Die Annahme, daß in den ein oder zwei Stunden jemand rein zufällig meine Papiere hatte finden können, nachdem ich bekanntgemacht hatte, daß ein Vortrag mit Geheimhaltungsstufe auf meinem Schreibtisch lag, ist nicht plausibel. Außerdem stand in dem Papier nichts, das für einen Nichtfachmann einen Hinweis auf seine Wichtigkeit enthalten hätte. Nur meine Bemerkung konnte jemandem verraten, daß es dort und daß es wichtig war.

Sicher wird die Untersuchung weitergeführt; schließlich wird die Wahrheit zutage kommen, und es wird klar sein, daß ich nur einer unglückseligen Indiskretion schuldig bin. Aber dann wird meine Karriere bereits im Eimer sein.«

»Dr. Long«, sagte leise eine Stimme. »Darf ich eine Frage stellen?«

Long blickte überrascht auf. »Eine Frage?«

»Zum Teufel, ja, Henry!« sagte Trumbull. »Haben Sie etwas bemerkt, das uns entgangen ist?«

»Ich bin nicht sicher«, sagte Henry. »Offensichtlich glaubt Dr. Long, daß nur die sechs anderen am Tisch beteiligt sein können, und die Untersuchungsorgane sind anscheinend seiner Ansicht... «

»Etwas anderes wäre undenkbar«, sagte Long.

»Dann möchte ich wissen«, sagte Henry, »ob Dr. Long ihnen von seiner Abneigung gegen Curry erzählt hat.«

»Sie meinen, daß ich Curry nicht mag?«

»Ja«, sagte Henry. »Wurde das erwähnt?«

Long breitete die Hände aus und schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Weshalb auch? Es ist unerheblich, bloß eine zusätzliche Entschuldigung dafür, daß ich wie ein Esel geredet habe. Ich erzählte es hier wohl bloß, um Sympathie zu finden, aber es würde bei der Nachforschung keine Rolle spielen.«

Henry schwieg einen Augenblick, und Trumbull sagte: »Finden Sie, Henry, daß der Curry eine Bedeutung hat?«

»Vielleicht«, sagte Henry. »Ich glaube, wir sind etwa in der Situation, die vorhin im Zusammenhang mit figurativen Versen beschrieben wurde. Manche muß man sehen, um sie zu verstehen; der Klang genügt nicht. Und manche Szenen muß man sehen, damit sie verständlich sind.«

»Das begreife ich nicht«, sagte Long.

»Nun, Dr. Long«, sagte Henry. »Sie aßen im Schiffsrestaurant an einem Tisch mit sechs anderen Personen, und daher hörten nur diese sechs Menschen Ihre Worte. Wenn wir aber die Szene sehen könnten, anstatt Ihre Beschreibung zu hören, würden wir dann etwas bemerken, das Sie vergessen haben?«

»Nein, das würden Sie nicht«, sagte Long verbissen.

»Sind Sie sicher?« fragte Henry. »Sie sitzen auch hier mit sechs anderen Personen am Tisch, genau wie auf dem Schiff. Wie viele Menschen hören Ihre Geschichte?«

»Sechs...«, begann Long.

Und dann mischte sich Gonzalo ein. »Sieben, Sie eingeschlossen, Henry.«

»Und dort hat Sie niemand bei Tisch bedient, Dr. Long? Sie sagten, der Arzt habe Sie nach Ihrem Vortrag gefragt, als ein Teller mit Currylamm vor Sie hingestellt wurde, und der Currygeruch ärgerte Sie so, daß Sie Ihre Indiskretion hervorsprudelten. Sicher hat sich das Currylamm nicht selbsttätig vor Ihnen auf den Tisch gelegt. Tatsächlich waren im Augenblick Ihrer Erklärung sechs Leute vor Ihnen am Tisch, und eine siebente Person stand, außer Sicht, hinter Ihnen.«

»Der Kellner«, flüsterte Long.

Henry sagte: »Man neigt dazu, einen Kellner nicht zu bemerken, es sei denn, er ärgert einen. Ein tüchtiger Kellner ist unsichtbar, und Sie erwähnten die ausgezeichnete Bedienung. Könnte der Kellner das Verschütten der heißen Schokolade nicht vorsätzlich herbeigeführt haben, um eine Ablenkung herbeizuführen, oder vielleicht, wenn es ein Zufall war, die Ablenkung ausgenutzt haben? Da es viele Kellner und wenige Gäste gab, wurde sein Verschwinden für eine Weile vermutlich nicht bemerkt. Oder wenn es bemerkt wurde, konnte er behaupten, die Toilette aufgesucht zu haben. Er kannte die Lage der Kabine ebensogut wie der Arzt und mochte ebenso wahrscheinlich einen Nachschlüssel besitzen.«

»Aber er war Indonesier«, sagte Long. »Er konnte nicht Englisch.«

»Sind Sie sicher? Er hatte einen dreimonatigen Schnellkurs besucht, sagten Sie. Und vielleicht konnte er besser Englisch, als er vorgab. Sie wären bereit anzunehmen, daß Mrs. Smith in Wirklichkeit nicht so nett und aufmerksam war, wie sie schien, und daß Mrs. Jones' Lebhaftigkeit vorgeschützt war, oder etwa die Ehrbarkeit des Arztes und Smiths Munterkeit und Jones' Zuneigung und Miß Robinsons Bedürfnis, die Toilette aufzusuchen. Konnten nicht die mangelnden Englischkenntnisse des Kellners auch vorgeschützt sein?«

»Bei Gott«, sagte Long mit einem Blick auf seine Uhr, »wenn es nicht so spät wäre, würde ich sofort in Washington anrufen.«

»Wenn du eine private Telefonnummer kennst«, sagte Trumbull, »ruf gleich jetzt an. Es geht um deine Karriere. Sag ihnen, der Kellner muß um Himmels willen überprüft werden, und sag ihnen nicht, daß es dir jemand anders gesagt hat.«

»Du meinst, ich soll ihnen sagen, es sei mir soeben eingefallen? Sie werden mich fragen, warum ich nicht früher daran gedacht habe.«

»Frag sie, warum sie nicht daran gedacht haben. Warum sie nicht daran dachten, daß zu einem Tisch ein Kellner gehört?«

Henry sagte leise: »Keiner hat Grund, daran zu denken. Nur sehr wenige interessieren sich so für Kellner wie ich.«

Anmerkung

Diese Geschichte erschien in der Dezemberausgabe 1973 des EQMM unter dem Titel >Die sechs Verdächtigem Auch diesmal ziehe ich meinen Titel vor.

Die Inspiration stammte hier aus dem Umstand, daß ich an einer Kreuzfahrt teilnahm, wie sie in der Geschichte beschrieben wird. Einige der Vorfälle ereigneten sich sogar, aber es gab, das möchte ich gleich sagen, keine wissenschaftlichen Geheimnisse an Bord und keinen Kriminalfall, soviel ich weiß.

Ein letztes Wort. Ich werde, das weiß ich aus Erfahrung, viele Briefe bekommen mit der Frage, ob ich noch mehr Schwarze-Witwer-Geschichten schreiben werde. Das will ich mit einem entschiedenen Ja beantworten. Damit sind vielleicht die Briefe unnötig geworden.

Tatsächlich habe ich in diesem Augenblick sechs weitere Schwarze Witwer beendet und verkauft, fünf an EQMM und eine an The Magazin of Fantasy and Science Fiction. Sie sehen also, daß Sie wahrscheinlich schließlich aufgefordert werden könnten, weitere >Geschichten der Schwarzen Witwer< zu lesen.

Ich hoffe es, denn es macht Spaß, diese Geschichten zu schreiben — und ich danke allen, die sie lesen.