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VIERUNDZWANZIG

Aaron Lake und Gouverneur Tarry hatten zwei lange, anstrengende Monate damit verbracht, durch das Land zu reisen und 26 Bundesstaaten mit beinahe 25 Millionen Stimmen zu beackern. Dafür hatten sie 18-Stunden-Tage und einen Termin nach dem anderen auf sich genommen — den typischen Wahnsinn einer Präsidentschaftskandidatur.

Doch ebenso große Mühen hatten sie darauf verwendet, einer direkten Debatte aus dem Weg zu gehen. Während der ersten Vorwahlen hatte Tarry keine gewollt, weil er als Favorit galt. Er verfügte über Geld und die nötige Organisation, und die Umfrageergebnisse sprachen für ihn. Warum hätte er seinen Gegner aufwerten sollen? Lake wollte keine Debatte, weil er in diesem Präsidentschaftswahlkampf ein Neuling war, und außerdem war es weit angenehmer, sich hinter einem Drehbuch und einer freundlichen Kamera zu verstecken und Werbespots zu machen, wenn es nötig war. Die Risiken einer live übertragenen Auseinandersetzung waren viel zu hoch.

Auch Teddy gefiel dieser Gedanke gar nicht.

Doch Wahlkämpfe entwickeln eine eigene Dynamik. Favoriten verblassen, unbedeutende Themen werden bedeutend, und die Presse kann aus purer Langeweile Kleinigkeiten zu einer Krise hochstilisieren.

Tarry fand, dass er eine Debatte brauchte, weil seine Mittel erschöpft waren und er eine Vorwahl nach der anderen verlor.»Aaron Lake versucht, diese Wahl zu kaufen«, sagte er immer wieder.»Und ich will ihn zur Rede stellen, von Mann zu Mann. «Das klang gut, und die Presse walzte es genüsslich breit.

«Er läuft vor einer direkten Auseinandersetzung davon «, erklärte Tarry, und auch das gefiel der Meute.

«Der Gouverneur ist mir seit Michigan konsequent aus dem Weg gegangen«, war Lakes stereotype Antwort.

Und so spielten sie drei Wochen lang das Er-läuft-vor-mir-davon-Spiel, bis ihre Mitarbeiter die Einzelheiten ausgearbeitet hatten.

Lake zögerte, aber auch er brauchte ein Forum. Zwar gewann er Woche um Woche, doch gegen einen Konkurrenten, der schon seit geraumer Zeit immer schwächer wurde. Sowohl die von ihm selbst als auch die vom IVR in Auftrag gegebenen Umfragen zeigten, dass die Wähler sich ziemlich stark für ihn interessierten, allerdings hauptsächlich, weil er neu war, gut aussah und anscheinend die Qualifikationen für ein hohes Amt besaß.

Und was nur Eingeweihte wussten: Die Umfrageergebnisse enthüllten auch einige Bereiche, in denen Lake nicht sehr gut aussah. Der erste betraf Lakes Beschränkung auf ein einziges Thema. Der Rüstungsetat war für die Wähler nur für eine begrenzte Zeit von Interesse, und die Umfragen zeigten, dass viele wissen wollten, welche Haltung er zu anderen Fragen einnahm.

Zweitens lag Lake bei einer hypothetischen Gegenüberstellung noch immer fünf Prozent hinter dem Vizepräsidenten. Dem waren die Wähler zwar nicht sonderlich zugeneigt, doch immerhin wussten sie, wer er war. Lake dagegen war den meisten ein Rätsel. Außerdem würden Lake und der Vizepräsident vor den Wahlen im November einige Male aufeinander treffen. Lake, dessen Nominierung schon beinahe sicher war, brauchte Übung.

Tarry verschlimmerte die Sache, indem er ständig fragte:

«Wer ist Aaron Lake?«Mit einem Teil seines verbleibenden Geldes ließ er Aufkleber drucken, auf denen diese mittlerweile viel zitierte Frage stand: Wer ist Aaron Lake?

(Es war eine Frage, die auch Teddy sich inzwischen fast stündlich stellte, wenn auch aus anderen Gründen.)

Die Debatte sollte in einem kleinen Lutheranischen College in Pennsylvania stattfinden, das über ein Auditorium mit guter Akustik und Beleuchtung verfügte. Die Zahl der Zuschauer würde begrenzt bleiben. Die Mitarbeiter der gegnerischen Kandidaten stritten sich über die winzigsten Details, doch weil beide eine öffentliche Auseinandersetzung brauchten, einigte man sich schließlich. Bei der Festlegung des genauen Ablaufs wäre es fast zu Handgreiflichkeiten gekommen, doch als alles besprochen und geregelt war, war für jeden etwas dabei. Die Medien durften drei Journalisten auf die Bühne schicken, die beide Kandidaten gezielt befragen sollten. Die Zuschauer bekamen zwanzig Minuten, um unzensierte Fragen zu jedem beliebigen Thema zu stellen. Tarry, der eigentlich Anwalt war, forderte fünf Minuten Redezeit als Einleitung und zehn Minuten für eine Schlusserklärung. Lake wollte eine halbstündige, unmoderierte Diskussion mit Tarry: keine Regeln, kein Schiedsrichter — nur die beiden Kandidaten, die einander Zunder gaben. Das hatte Tarrys Leute hellauf entsetzt, und um ein Haar wäre die Vereinbarung daran gescheitert.

Der Moderator war ein örtlicher Rundfunkjournalist, und als er sagte:»Guten Abend, meine Damen und Herren, und herzlich willkommen zu der ersten und einzigen Debatte zwischen Gouverneur Wendeil Tarry und dem Kongressabgeordneten Aaron Lake«, sahen etwa 18 Millionen Menschen zu.

Tarry trug einen dunkelblauen Anzug, den seine Frau ihm ausgesucht hatte, dazu das übliche hellblaue Hemd und die übliche rot-blau gestreifte Krawatte. Lake trug einen schicken hellbraunen Anzug, ein weißes Hemd mit Haifischkragen und eine Krawatte, in der ein halbes Dutzend Farben vorkamen, vornehmlich aber Rot und Rotbraun. Das Ganze war von einem Modeberater zusammengestellt und auf die Farben des Sets abgestimmt worden. Man hatte Lakes Haar getönt und seine Zähne gebleicht. Er hatte Stunden auf einer Sonnenbank gelegen. Er wirkte frisch und durchtrainiert und schien es eilig zu haben, auf die Bühne zu kommen.

Auch Gouverneur Tarry war ein gut aussehender Mann. Obgleich er nur vier Jahre älter als Lake war, forderte der Wahlkampf von ihm einen schweren Tribut. Seine Augen waren müde und gerötet. Er hatte ein paar Pfund zugenommen, und das zeigte sich vor allem im Gesicht. Bei seiner Einleitung erschienen Schweißperlen auf seiner Stirn und glitzerten im Scheinwerferlicht.

Man war allgemein der Ansicht, dass für Tarry mehr auf dem Spiel stand, weil er bereits so viel verloren hatte. Anfangjanuar hatten so unfehlbare Propheten wie die Redakteure des Time Magazine bereits verkündet, seine Nominierung sei zum Greifen nah. Seit drei Jahren strebte er die

Präsidentschaftskandidatur an. Sein Wahlkampf basierte auf Laufarbeit und Präsenz an der Basis. Jeder Wahlkampfhelfer, jeder Revierleiter in lowa und New Hampshire hatte schon Kaffee mit ihm getrunken. Seine Organisation war perfekt.

Und dann kam Lake mit seinen abgefeimten Werbespots und seiner Beschränkung auf ein einziges Thema.

Tarry brauchte entweder einen beeindruckenden Auftritt oder einen schlimmen Patzer von Lake.

Er bekam weder das eine noch das andere. Man warf eine Münze, und er bekam den Vortritt. Bei seiner Einleitung geriet er ins Schwimmen. Er spazierte unbeholfen auf der Bühne herum und bemühte sich verzweifelt, locker zu wirken, vergaß aber, was auf seinen Notizkärtchen stand. Vor seinem Eintritt in die Politik hatte er zwar eine Anwaltskanzlei gehabt, doch sein Spezialgebiet waren Bürgschaften gewesen. Er vergaß einen Punkt nach dem anderen und kehrte zu seinem bekannten Argument zurück: Mr. Lake will diese Wahl kaufen, weil er nichts zu sagen hat. Tarrys Ton wurde gehässig, während Lake munter lächelte und die Worte an sich abperlen ließ.

Die schwache Eröffnung seines Gegners gab Lake Oberwasser. Sein Selbstvertrauen wuchs. Er blieb hinter seinem Podium, wo er die Notizen in Reichweite hatte. Er sagte, er sei nicht gekommen, um seinen Gegner mit Dreck zu bewerfen. Er respektiere Gouverneur Tarry, doch dieser habe soeben fünf Minuten und elf Sekunden lang kein einziges positives Wort gesagt.

Dann ging er nicht weiter auf Tarry ein, sondern brachte drei Themen zur Sprache, die seiner Meinung nach diskutiert werden müssten: Steuersenkungen, die Reform der Sozialausgaben, der Abbau der negativen Handelsbilanz. Kein Wort über den Verteidigungsetat.

Die erste Frage der Journalisten war an Lake gerichtet und betraf den Haushaltsüberschuss. Was sollte mit diesem Geld geschehen? Es war weniger eine Frage als vielmehr ein freundliches Stichwort, und Lake griff es eifrig auf. Man müsse das soziale Netz retten, war seine Antwort, und dann schilderte er in einer beeindruckenden Zurschaustellung finanzpolitischer Kompetenz, wie dieses Geld eingesetzt werden solle. Ohne einen einzigen Blick in sein Konzept zu werfen, nannte er Zahlen,

Prozentangaben und Prognosen.

Gouverneur Tarrys Antwort lautete einfach: Steuersenkungen. Man solle das Geld den Leuten zurückgeben, die es verdient hätten.

Bei der Befragung durch die Journalisten punktete keiner der Kandidaten besonders. Beide waren gut vorbereitet. Die einzige Überraschung war, dass Lake — der Mann, der das Pentagon mästen wollte — in anderen Themenbereichen so kompetent war. Die Debatte entwickelte sich zu dem üblichen Hin und Her. Die Fragen aus dem Publikum waren durchweg vorhersehbar. Brisant wurde es erst, als die Kandidaten begannen, einander zu befragen. Tarry bekam auch hier den Vortritt, und wie nicht anders zu erwarten fragte er Lake, ob er vorhabe, die Wahl zu kaufen.

«Als Sie noch mehr hatten als alle anderen, hat Ihnen das Geld nicht so viel Kopfzerbrechen bereitet«, gab Lake zurück, und das Publikum war mit einem Mal hellwach.

«Ich hatte keine 50 Millionen Dollar«, sagte Tary.

«Das habe ich auch nicht«, erwiderte Lake.»Es sind eher 60 Millionen, und die Spenden kommen schneller herein, als wir sie zählen können. Hauptsächlich von Arbeitern und Leuten mit mittlerem Einkommen. 81 Prozent der Spender verdienen weniger als 40 000 Dollar im Jahr. Wollen Sie diesen Leuten irgendwelche Vorwürfe machen, Gouverneur Tarry?«

«Die Wahlkampfausgaben der Kandidaten sollten begrenzt werden.«

«Das finde ich auch. Und ich habe bei verschiedenen Abstimmungen im Kongress achtmal für eine solche Begrenzung gestimmt. Sie dagegen sprechen erst von einer Begrenzung, seit Ihnen das Geld ausgegangen ist.«

Gouverneur Tarry sah mit dem erschrockenen Blick eines vom Scheinwerferlicht geblendeten Rehs in die Kamera. Ein paar Lake-Anhänger im Publikum lachten, gerade so laut, dass man sie hören konnte.

Als der Gouverneur in seinen zu großen Notizkarten blätterte, erschienen wieder Schweißperlen auf seiner Stirn. Er war zwar eigentlich kein amtierender Gouverneur, ließ sich aber trotzdem gern so nennen. Vor neun Jahren hatten die Wähler in Indiana ihn nach nur einer Amtszeit wieder nach Hause geschickt, doch diese Information sparte Lake sich für später auf.

Als Nächstes fragte Tarry, warum Lake in seinen vierzehn Jahren als Abgeordneter in vierundfünfzig Fällen für neue Steuern gestimmt habe.

«Ich kann mich nicht an vierundfünfzig Steuerfälle erinnern«, sagte Lake.»Aber einige davon betrafen Alkohol, Tabak und Glücksspiele. Ich habe gegen eine Erhöhung von Einkommensteuern, Körperschaftssteuern, Quellensteuern und Steuern auf Sozialhilfe gestimmt, und ich schäme mich dessen nicht. Aber da wir gerade von Steuern sprechen: In Ihren vier Jahren als Gouverneur von Indiana sind die Steuersätze dort um durchschnittlich sechs Prozent gestiegen. Haben Sie dafür eine Erklärung?«

Da Tarry nicht sogleich antwortete, fuhr Lake fort:»Sie wollen die Bundesausgaben senken, doch in Ihren vier Jahren als Gouverneur von Indiana sind die staatlichen Ausgaben dort um achtzehn Prozent gestiegen. Sie wollen die Körperschaftssteuer senken, doch in Ihren vier Jahren als Gouverneur von Indiana ist die Körperschaftssteuer dort um drei Prozent gestiegen. Sie wollen die Sozialhilfe einstellen, doch in Ihren vier Jahren als Gouverneur von Indiana hat die Zahl der Sozialhilfeempfänger dort um 40 000 zugenommen. Wie erklären Sie sich das?«

Jeder Verweis auf Indiana war ein harter Schlag, und Tarry hing in den Seilen.»Ich kann Ihre Zahlen nicht bestätigen«, brachte er heraus.»Wir haben in Indiana Stellen geschaffen.«

«Tatsächlich?«fragte Lake boshaft, nahm ein Papier von seinem Podium und hielt es in die Höhe, als wäre es eine Anklageschrift gegen Gouverneur Tarry.»Das mag schon sein, aber in Ihrer vierjährigen Amtszeit haben sich fast sechzigtausend Menschen arbeitslos gemeldet«, verkündete er, ohne einen Blick auf das Papier zu werfen.

Es stimmte, dass Tarrys vier Jahre nicht gerade erfolgreich gewesen waren, doch in seiner Amtszeit war die Gesamtwirtschaft den Bach runtergegangen. Das hatte er bereits des Öfteren erklärt, und er hätte es gern noch einmal getan, aber — verdammt! — ihm blieben nur noch ein paar Minuten landesweite Sendezeit, und er beschloss, keine Zeit mit Haarspaltereien über Vergangenes zu verschwenden.»Bei dieser Wahl geht es aber nicht um Indiana«, sagte er und rang sich ein Lächeln ab.»Bei dieser Wahl geht es um alle 50 Bundesstaaten. Es geht um die Menschen in unserem Land, die mehr Steuern zahlen sollen, um Ihre sündhaft teuren Rüstungsprojekte zu finanzieren, Mr. Lake. Sie können doch nicht im Ernst wollen, dass das Budget des Pentagons verdoppelt wird.«

Lake sah seinen Gegner fest an.»Oh doch, das will ich. Und wenn Ihnen die Verteidigung unseres Landes am Herzen läge, dann würden Sie es auch wollen. «Und dann rasselte er Statistiken herunter, eine nach der anderen, und jede baute auf der vorhergehenden auf. Insgesamt bewiesen sie überzeugend die mangelnde Einsatzbereitschaft der Streitkräfte, und als Lake schließlich fertig war, hatte er dargelegt, dass» unsere Jungs im Augenblick nicht mal zu einer Invasion Bermudas imstande wären«.

Doch Tarry hatte eine Studie, die das Gegenteil bewies. Es handelte sich um ein dickes, auf Hochglanzpapier gedrucktes Manuskript, das von ehemaligen Admiralen verfasst worden war. Er schwenkte es vor den Kameras und sagte, eine Aufrüstung sei vollkommen unnötig. Abgesehen von einigen regional begrenzten Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen, bei denen keine nationalen Interessen der USA gefährdet seien, herrsche weltweit Frieden. Amerika sei die einzige verbliebene Supermacht. Der Kalte Krieg sei vorüber, und China sei Jahrzehnte davon entfernt, auch nur annähernd gleich stark zu sein. Warum also solle man den Steuerzahler mit zweistelligen Milliardenbeträgen für neue Rüstungsprojekte belasten?

Sie diskutierten eine Weile darüber, wie dieses Geld aufzubringen sei, und Tarry machte ein paar Punkte wett. Doch sie bewegten sich auf Lakes Territorium, und bald war deutlich, dass dieser auch hier weit kompetenter war als der Gouverneur.

Lake sparte sich das Beste für den Schluss auf. In seiner zehnminütigen Zusammenfassung wandte er sich wieder dem Thema Indiana zu und zählte die Misserfolge auf, die Tarry in seiner einzigen Amtszeit zu verantworten gehabt hatte. Seine Argumentation war einfach und sehr wirkungsvoll: Wie sollte Tarry das Land regieren, wenn er es nicht einmal geschafft hatte, einen Bundesstaat zu regieren?

«Ich mache den Menschen in Indiana wirklich keinen Vorwurf«, sagte er,»denn sie sind klug genug gewesen, Mr. Tarry nach nur einer Amtszeit wieder nach Hause zu schicken. Sie haben erkannt, dass er seine Arbeit nicht gut gemacht hat. Darum hat er, als er sich zur Wiederwahl stellte, auch nur 38 Prozent der Stimmen bekommen. 38 Prozent! Wir sollten den Einwohnern von Indiana vertrauen. Sie kennen diesen Mann. Sie haben gesehen, was er unter Regieren versteht. Sie haben einen Fehler begangen und diesen Fehler wieder gutgemacht. Es wäre doch ein Jammer, wenn der Rest des Landes denselben Fehler begehen würde.«

Den sofort nach der Sendung vorgenommenen Umfragen zufolge lag Lake weit in Führung. Der IVR rief unmittelbar nach der Debatte 1000 Wähler an. Beinahe 70 Prozent fanden, Lake sei der bessere Kandidat.

An Bord von Lakes Maschine, die am späten Abend von Pittsburgh nach Wichita gestartet war, knallten die Korken, und eine kleine Party begann. Nach und nach wurden die Umfrageergebnisse — eins besser als das andere — durchgegeben, und es herrschte Siegesstimmung.

Alkohol war an Bord der Boeing zwar nicht verboten, aber auch nicht erwünscht. Wenn einer von Lakes Mitarbeitern einen Drink nehmen wollte, musste er es schnell und diskret tun. Doch gewisse Augenblicke musste man einfach feiern. Auch Lake trank zwei Gläser Champagner. Nur seine engsten Vertrauten waren anwesend. Er dankte und gratulierte ihnen, und während die nächste Flasche geöffnet wurde, sahen sie sich noch einmal die Höhepunkte der Debatte an. Das Video wurde jedes Mal angehalten, wenn Gouverneur Tarry besonders verwirrt aussah, und jedes Mal wurde das Gelächter lauter.

Die kleine Feier dauerte jedoch nicht lange. Nach und nach wurden alle von ihrer Müdigkeit eingeholt. Diese Leute hatten wochenlang nur fünf Stunden pro Nacht geschlafen, die meisten in der Nacht vor der Debatte sogar noch weniger. Auch Lake war erschöpft. Er trank sein drittes Glas Champagner aus — es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass er so viel getrunken hatte —, setzte sich in den Ledersessel mit der verstellbaren Lehne und deckte sich mit einer Steppdecke zu. Auch die anderen hatten sich auf den Liegesitzen in der abgedunkelten Kabine ausgestreckt.

Im Flugzeug konnte er meist nicht schlafen. Auch jetzt tat er es nicht. Es gab zu viele Dinge zu bedenken und zu erwägen, und er genoss seinen Sieg in der Fernsehdebatte. Während er die Decke zurechtstrich, wiederholte er in Gedanken noch einmal seine besten Sätze. Er war brillant gewesen, auch wenn er das niemandem gegenüber zugegeben hätte.

Die Nominierung war ihm sicher. Auf dem Parteitag würde man ihn wählen, und dann würden er und der Vizepräsident sich nach bester amerikanischer Tradition ein viermonatiges Duell liefern.

Er schaltete das kleine Leselicht ein, das über seinem Sitz montiert war. Weiter vorn, in der Nähe des Cockpits, leuchtete ein zweites Leselicht. Noch ein Schlafloser. Die anderen schnarchten unter ihren Decken und schliefen den Schlaf junger Leute, die mit hochoktanigem Treibstoff angetrieben wurden. Lake öffnete seinen Aktenkoffer und holte eine kleine Ledermappe hervor, in der sich seine privaten Briefkarten befanden. Sie waren zehn mal fünfzehn Zentimeter groß, aus handgeschöpftem, leicht getöntem Bütten und links oben in einer halbfetten Antiquaschrift mit dem Namen» Aaron Lake «bedruckt. Mit einem dicken, altmodischen Füller schrieb Lake einige Zeilen an seinen Zimmergenossen aus Collegezeiten, der jetzt an einer kleinen Universität in Texas Professor für Latein war. Er schrieb eine Dankeskarte an den Moderator der Fernsehdebatte und eine an seinen Wahlkampfkoordinator in Oregon. Lake liebte die Romane von Tom Clancy. Er hatte kürzlich das neueste und bislang dickste Buch von ihm gelesen und schrieb einen kurzen Glückwunsch an den Autor.

Manchmal reichte eine Karte nicht aus, und darum hatte er noch andere von derselben Größe und Farbe, jedoch ohne Namensaufdruck. Auf eine dieser Karten schrieb er, nachdem er sich mit einem kurzen Blick vergewissert hatte, dass seine Mitarbeiter fest schliefen:

Lieber Ricky!

Ich glaube, es ist am besten, wenn wir unseren Briefwechsel beenden. Ich wünsche dir alles Gute. Herzliche Grüße, AI

Die Adresse in Aladdin North hatte er im Kopf. Er schrieb sie auf einen ebenfalls unbedruckten Umschlag. Dann nahm er einige mit seinem Namen versehene Karten und formulierte Dankschreiben an Leute, die größere Summen gespendet hatten. Nach zwanzig Karten übermannte ihn die Müdigkeit. Die Karten lagen vor ihm auf dem Tischchen, und das Licht brannte noch, als er sich zurücklehnte. Innerhalb weniger Minuten war er eingeschlafen.

Nach nicht einmal einer Stunde wurde er von panischen Schreien geweckt. Die Kabinenbeleuchtung war eingeschaltet, Menschen eilten umher, und überall war Rauch. Aus dem Cockpit drang ein lautes Alarmsignal, und als Lake den Schlaf abgeschüttelt hatte, wurde ihm bewusst, dass die Boeing sich in einem steilen Sinkflug befand. Die Panik vergrößerte sich noch, als die Klappen in der Deckenverkleidung sich öffneten und die Sauerstoffmasken herausfielen. Nachdem man jahrelang gelangweilt zugesehen hatte, wie Flugbegleiter vor dem Start die Handhabung dieser Masken demonstrierten, sollten die verdammten Dinger nun tatsächlich benutzt werden. Lake legte seine Maske an und atmete tief ein.

Der Pilot verkündete, man werde eine Notlandung in St. Louis machen. Das Licht flackerte, und jemand schrie. Lake wollte von einem zum anderen gehen und die Leute beruhigen, doch seine Sauerstoffmaske hinderte ihn daran, sich von seinem Platz zu entfernen. Hinter ihm, in einem abgetrennten Teil der Maschine, befanden sich zwei Dutzend Reporter und etwa ebenso viele Secret-Service-Männer.

Vielleicht hat der Mechanismus, der die Sauerstoffmasken freigibt, dort versagt, dachte er und fühlte sich schuldig.

Der Rauch wurde dicker, und die Beleuchtung erlosch. Nach der ersten Panik gelang es Lake — wenn auch nur für einen kurzen Augenblick —, einen klaren Gedanken zu fassen. Rasch sammelte er die Briefkarten und Umschläge ein. Die Karte an Ricky schob er in den Umschlag mit der Adresse in Aladdin North. Er verschloss ihn und tat ihn in die Ledermappe, die er in den Aktenkoffer legte. Wieder flackerte das Licht, dann erlosch es ganz.

Der Rauch brannte in den Augen und wärmte die Gesichter. Das Flugzeug verlor schnell an Höhe.

Aus dem Cockpit ertönten Warnsignale und Sirenen.

Das kann nicht sein, dachte Lake und umklammerte die Armlehnen. Ich bin doch dabei, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Er dachte an Rocky Marciano, Buddy Holly, Otis Redding, Thurman Munson, den texanischen Senator Tower und an seinen Freund Mickey Leland aus Houston. Und an John F. Kennedy jr. und Ron Brown.

Plötzlich wurde die Luft kalt, und der Rauch verschwand schnell. Sie waren jetzt unterhalb von 3000 Metern Höhe, und der Pilot hatte es irgendwie geschafft, die Kabine zu lüften. Das Flugzeug sank jetzt nicht mehr, und durch die Fenster konnten sie unter sich Lichter sehen.

«Bitte behalten Sie die Masken auf«, sagte die Stimme des Piloten in der Dunkelheit.»Wir werden in wenigen Minuten landen. Wir glauben, dass es keine Probleme geben wird.«

Keine Probleme? Sollte das ein Witz sein? dachte Lake. Er musste auf die Toilette.

Zögernd machte sich Erleichterung breit. Kurz vor der Landung sah Lake die Blinklichter von hundert Einsatzfahrzeugen. Beim Aufsetzen hüpfte die Maschine, wie bei fast jeder Landung, ein wenig, und als sie am Ende der Bahn zum Stehen kam, flogen die Türen der Notausgänge auf.

Es entstand ein Gedränge, und innerhalb weniger Minuten wurden die Passagiere von Rettungssanitätern in Empfang genommen und zu den wartenden Krankenwagen geführt. Das Feuer im Frachtraum hatte sich während der Landung noch weiter ausgebreitet. Als Lake sich im Laufschritt von der Maschine entfernte, rannten Feuerwehrleute mit Gerät darauf zu. Unter den Flügeln quoll Rauch hervor.

Ein paar Minuten länger, dachte Lake, und wir wären allesamt tot gewesen.»Das war knapp, Sir«, sagte ein Sanitäter, der neben ihm her rannte. Lake umklammerte den Aktenkoffer mit den Briefkarten. Zum ersten Mal überkam ihn blankes Entsetzen.

Die Tatsache, dass er einer Katastrophe nur um Haaresbreite entgangen war, sowie die unvermeidliche Berichterstattung der Medien trug vermutlich nur wenig dazu bei, Lakes Popularität zu steigern. Allerdings schadete es ihm auch nicht. In den Morgennachrichten war er landesweit zu sehen: Er sprach über seinen entscheidenden Sieg in der Debatte mit Gouverneur Tarry und schilderte Einzelheiten dessen, was sein letzter Flug hätte sein können.

«Ich glaube, ich nehme in nächster Zeit lieber den Bus«, sagte er lachend. Er setzte allen Humor ein, der ihm zur Verfügung stand, und versuchte, den Zwischenfall mannhaft abzutun. Seine Mitarbeiter erzählten eine andere Geschichte: von Sauerstoffmasken und vom Warten in der Dunkelheit, während der Rauch dichter und heißer wurde. Und die Journalisten, die mitgeflogen waren, gaben natürlich nur zu gern detaillierte Beschreibungen der Angst an Bord zum Besten.

Teddy Maynard verfolgte alles von seinem Bunker aus. Drei seiner Männer waren dabei gewesen, und einer von ihnen hatte ihn aus dem Krankenhaus in St. Louis angerufen.

Es war ein eigenartiges Ereignis gewesen. Einerseits glaubte Teddy noch immer daran, dass es von entscheidender Bedeutung war, dass Lake Präsident wurde: Die Sicherheit des Landes hing davon ab.

Andererseits wäre ein Absturz keine Katastrophe gewesen. Lake und sein Doppelleben wären verschwunden, und ein gewaltiges Problem wäre erledigt gewesen. Gouverneur Tarry hatte am eigenen Leib erfahren, welche überragende Bedeutung unbegrenzte finanzielle Mittel spielten. Teddy hätte noch rechtzeitig eine Abmachung mit ihm treffen können, um den Wahlsieg im November zu sichern.

Aber Lake war unversehrt geblieben und dominierte die politische Landschaft noch mehr als zuvor. Sein sonnengebräuntes Gesicht war auf den Titelseiten aller Zeitungen, und wohin er auch ging, war eine Fernsehkamera nicht weit. Sein Wahlkampf war erfolgreicher, als Teddy es sich hatte träumen lassen.

Warum also diese Angst im Bunker? Warum feierte Teddy nicht?

Weil das Rätsel um die Richter noch immer nicht gelöst war. Und weil er diese Leute nicht einfach umbringen konnte.