172633.fb2 Die Bruderschaft - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 25

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FÜNFUNDZWANZIG

Das Team in der Abteilung Dokumente benutzte denselben Laptop wie für den letzten Brief an Ricky. Der Brief war von Deville persönlich entworfen und von Mr. Maynard gutgeheißen worden.

Lieber Ricky!

Ich habe mich gefreut, als ich las, dass du demnächst in ein Offenes Haus in Baltimore entlassen wirst. Gib mir ein paar Tage Zeit — ich werde mich um einen Vollzeitjob für dich kümmern. Der Arbeitgeber ist eine Kirchengemeinde, und du wirst nicht sehr viel verdienen, aber für einen Neuanfang ist es genau das Richtige.

Ich schlage vor, dass wir uns ein bisschen mehr Zeit lassen. Vielleicht treffen wir uns erst einmal zum Mittagessen und sehen dann weiter. Ich bin nicht der Typ, der die Dinge überstürzt.

Ich hoffe, es geht dir gut. Ich lasse dich nächste Woche die Einzelheiten über den Job wissen. Halt die Ohren steif.

Liebe Grüße, AI

Nur das» AI «war handgeschrieben. Der Umschlag wurde mit einem Washingtoner Poststempel versehen und dann per Kurier an Klockner in Neptune Beach weitergeleitet. Trevor war in Fort Lauderdale, wo er erstaunlicherweise normale anwaltliche Dinge zu erledigen hatte, und so lag der Brief zwei Tage lang im Postfach von Aladdin North. Als Trevor erschöpft nach Neptune Beach zurückkehrte, blieb er nur lange genug in seiner Kanzlei, um einen heftigen Streit mit Jan vom Zaun zu brechen; dann stürmte er hinaus, setzte sich in seinen Wagen und fuhr zum Postamt. Zu seiner Freude war das Postfach voll. Er sortierte die Reklamesendungen aus, fuhr zum einen Kilometer entfernten Postamt von Atlantic Beach und sah im Postfach von Laurel Ridge nach, der teuren Drogenklinik, in der Percy saß.

Nachdem er die Post abgeholt hatte, fuhr Trevor, sehr zu Klockners Enttäuschung, direkt nach

Trumble. Unterwegs telefonierte er nur einmal, und zwar mit seinem Buchmacher. Er hatte innerhalb von drei Tagen 2500 Dollar beim Eishockey verloren, einem Sport, für den Spicer sich nicht interessierte. Trevor hatte seine Favoriten selbst ausgesucht — mit vorhersehbarem Ergebnis.

Spicer wurde zwar ausgerufen, erschien aber nicht, und so kam Beech ins Anwaltszimmer und tauschte mit Trevor die Post aus: Acht Briefe gingen hinaus, und vierzehn Briefe kamen herein.

«Was ist mit Brant in Upper Darby?«fragte Beech und sah die Umschläge durch.

«Was soll mit ihm sein?«

«Wer ist er? Wir wollen ihn bluten lassen.«

«Ich hab's noch nicht rausgekriegt. Ich war ein paar Tage weg.«

«Beeil dich damit. Der Typ könnte der bislang dickste Fisch sein.«

«Ich werde mich morgen darum kümmern.«

Beech hatte keine Quoten aus Las Vegas zu bedenken und wollte nicht Karten spielen. Trevor ging nach zwanzig Minuten. Lange nach dem Abendessen, das sie hatten ausfallen lassen, und lange nach der Schließungszeit der Bibliothek saßen die Richter hinter verschlossener Tür in ihrem kleinen Zimmer. Sie sprachen wenig, sahen einander nicht an und starrten, tief in Gedanken versunken, an die Wand.

Auf dem Tisch lagen drei Briefe. Einer war mit Als Laptop geschrieben und vor zwei Tagen in Washington abgestempelt worden. Der zweite war Als handgeschriebene Karte, mit der er den Kontakt zu Ricky abbrach. Der dazugehörige Umschlag war vor drei Tagen in St. Louis abgestempelt worden. Diese beiden Nachrichten widersprachen sich und stammten offensichtlich von verschiedenen Leuten. Jemand hatte ihre Post manipuliert.

Der dritte Brief jedoch hatte sie wirklich alarmiert. Sie hatten ihn immer wieder gelesen, einzeln, gemeinsam, stumm und unisono. Sie hatten die Karte an den Ecken hochgehoben, sie gegen das Licht gehalten, ja sogar daran gerochen. Ihr haftete ein ganz leichter Rauchgeruch an, ebenso wie dem Umschlag und der Karte an Ricky.

Sie war mit der Hand geschrieben, trug das Datum 18. April, l Uhr 20, und war an eine Frau namens Carol gerichtet.

Liebe Carol!

Was für ein großartiger Abend! Die Debatte hätte nicht besser laufen können, und das verdanke ich nicht zuletzt Ihnen und den anderen freiwilligen Helfern aus Pennsylvania. Vielen Dank! Wir werden uns noch mehr anstrengen und gewinnen. In Pennsylvania liegen wir in Führung, und dort wollen wir auch bleiben. Bis nächste Woche. Unterschrieben war sie: Aaron Lake. Derselbe Name war oben links aufgedruckt. Und die Handschrift war identisch mit der auf der Karte, die AI an Ricky geschickt hatte.

Der Umschlag war an Ricky in Aladdin North adressiert, und als Beech ihn geöffnet hatte, war ihm die zweite Karte, die hinter der ersten gesteckt hatte, nicht aufgefallen. Sie war herausgerutscht, und als er sie aufgehoben hatte, war ihm der Name» Aaron Lake «ins Auge gesprungen.

Das war gegen vier Uhr gewesen, kurz nachdem Trevor gegangen war. Fast fünf Stunden lang hatten sie über den Briefen gebrütet, und nun waren sie sicher, dass a) der Laptop-Brief eine Fälschung war und von jemandem stammte, der sich auf so etwas verstand, dass b) die gefälschte Unterschrift» AI«

praktisch identisch war mit dem Original, was wiederum bedeutete, dass der Fälscher zu irgendeinem Zeitpunkt Einblick in den Briefwechsel zwischen Ricky und AI genommen hatte, dass c) die Karten an Ricky und Carol von Aaron Lakes Hand stammten und dass d) die Karte an Carol versehentlich bei ihnen gelandet war.

Vor allem aber: AI Konyers war in Wirklichkeit Aaron Lake. Der berühmteste Politiker des Landes war ihnen in die Falle gegangen.

Auch andere, weniger bedeutsame Hinweise ließen auf Lake schließen. Sein bei einer privaten Firma gemietetes Postfach befand sich in Washington, D. C., einem Ort, wo ein Abgeordneter den größten Teil seiner Zeit verbrachte. Als bekannter Volksvertreter, der vom Wohlwollen seiner Wähler abhängig war, verbarg er sich natürlich hinter einem falschen Namen. Und um nicht auf Grund seiner Handschrift identifizier bar zu sein, würde so jemand seine Briefe selbstverständlich auf einem Computer schreiben. AI hatte kein Foto geschickt- auch dies ein Zeichen dafür, dass er viel zu verbergen hatte. Sie studierten die Zeitungen der letzten Tage, um die Daten nachzuprüfen. Die handgeschriebenen Briefe waren am Tag nach der Fernsehdebatte aufgegeben worden, in St. Louis, wo Lake gewesen war, nachdem sein Flugzeug in Brand geraten war.

Es schien der gegebene Zeitpunkt gewesen zu sein, den Briefwechsel abzubrechen. Lake hatte ihn begonnen, bevor er sich in den Wahlkampf gestürzt hatte. Innerhalb von drei Monaten hatte er das Land im Sturm erobert und war sehr berühmt geworden. Er hatte jetzt sehr viel zu verlieren.

Langsam und ohne auf die Zeit zu achten, sammelten sie Beweismaterial. Als alles wasserdicht zu sein schien, versuchten sie, ihre eigene Beweisführung zu erschüttern. Der überzeugendste Einwand kam von Finn Yarber.

«Und wenn einer von Lakes Mitarbeitern Zugang zu seinem Briefpapier hatte?«gab er zu bedenken. Keine schlechte Frage. Sie diskutierten sie eine Stunde lang. Würde AI Konyers nicht genau das tun, um seine wahre Identität zu verbergen? Was, wenn er in Washington lebte und für Lake arbeitete?

Mal angenommen, Lake war ein sehr beschäftigter Mann und vertraute einem Assistenten genug, um ihn seine private Korrespondenz erledigen zu lassen. Yarber konnte sich nicht erinnern, damals, als er noch Oberrichter gewesen war, einem Assistenten so viel Handlungsfreiheit gegeben zu haben. Beech hatte nie private Mitteilungen von einem anderen schreiben lassen. Und Spicer hatte ohnehin keine privaten Mitteilungen geschrieben. Dafür gab es schließlich Telefone.

Aber Yarber und Beech hatten nie unter einer Belastung gestanden, die auch nur annähernd der ähnelte, die ein Präsidentschaftskandidat auf sich nehmen musste. Sie waren, dachten sie wehmütig, sehr beschäftigte Männer gewesen, aber nicht im Entferntesten so beschäftigt, wie Lake es sein musste. Angenommen also, es steckte einer von Lakes Mitarbeitern dahinter. Bis jetzt hatte dieser Mann die perfekte Tarnung, denn er hatte ihnen so gut wie nichts verraten. Kein Foto. Nur sehr unbestimmte Andeutungen über Familie und Beruf. Er mochte alte Filme und chinesisches Essen — das war schon so gut wie alles, was sie wussten. Konyers stand auf der Liste der Brieffreunde, die sie demnächst fallen lassen wollten, weil sie zu zurückhaltend waren. Warum wollte er den Kontakt zu diesem Zeitpunkt abbrechen?

Ihnen fiel keine überzeugende Antwort ein.

Und das Argument war ohnehin an den Haaren herbeigezogen. Beech und Yarber fanden, dass kein Mann in Lakes Position, ein Mann, der gute Chancen hatte, der nächste Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, irgendjemandem erlauben würde, in seinem Namen persönliche Briefe zu schreiben und zu unterzeichnen. Lake hatte hundert Mitarbeiter, die Briefe und Vermerke für ihn tippten, damit er sie dann nacheinander unterschreiben konnte.

Spicer hatte eine bessere Frage: Warum sollte Lake das Risiko eingehen, Ricky eine handschriftliche Karte zu schicken? Seine anderen Briefe waren mit der Maschine auf einfachem weißem Briefpapier geschrieben worden und hatten in einem ebenso einfachen weißen Umschlag gesteckt. Sie konnten einen Feigling an der Wahl seines Briefpapiers erkennen, und Lake war einer der ängstlichsten Männer gewesen, die auf ihre Anzeige geantwortet hatten. Sein Wahlkampfapparat verfügte über viel Geld und jede Menge Laptops und Schreibmaschinen, vermutlich allesamt auf dem neuesten Stand der Technik.

Um die Antwort auf diese Frage zu finden, wandten sie sich wieder dem wenigen zu, das sie hatten. Die Karte an Carol war um l Uhr 20 geschrieben worden. Laut einem Zeitungsbericht war die Notlandung um 2 Uhr 15 erfolgt, also weniger als eine Stunde später.

«Er hat die Karte im Flugzeug geschrieben«, sagte Yarber.»Es war spät, die Maschine war voller Leute — in der Zeitung steht was von sechzig Personen. Die waren allesamt müde, und wahrscheinlich hatte er keinen Computer zur Hand.«

«Warum hat er dann nicht gewartet?«fragte Spicer. Er hatte eine große Begabung dafür, Fragen zu stellen, die niemand, am allerwenigsten er selbst, beantworten konnte.

«Er hat einen Fehler begangen. Er dachte, er wäre schlau, und wahrscheinlich ist er das auch. Aber irgendwie ist diese Karte an Carol in den falschen Umschlag geraten.«

«Ihr müsst den großen Zusammenhang sehen«, sagte Beech.»Die Nominierung ist ihm sicher. Er hat gerade in einer landesweit ausgestrahlten Sendung seinen einzigen Konkurrenten fertig gemacht und ist endlich davon überzeugt, dass sein Name im November auf dem Wahlzettel stehen wird. Aber er hat ein Geheimnis. Er hat Ricky, und er denkt seit Wochen darüber nach, was er mit ihm machen soll. Der Junge wird demnächst entlassen und will sich mit ihm treffen und so weiter. Lake spürt den Druck von beiden Seiten: Da ist einerseits Ricky und andererseits die Erkenntnis, dass er, Aaron Lake, möglicherweise Präsident werden wird. Also beschließt er, Ricky abzuservieren. Er schreibt einen Brief, und die Chancen, dass irgendetwas schief geht, stehen eins zu einer Million — aber dann gerät das Flugzeug in Brand. Lake macht einen kleinen Fehler, aber dieser Fehler verwandelt sich in ein Monster.«

«Und er weiß es nicht«, fügte Yarber hinzu.»Noch nicht.«

Beechs Theorie klang überzeugend. In der lastenden Stille ihres kleinen Zimmers betrachteten sie sie von allen Seiten. Die Tragweite ihrer Entdeckung ließ sie verstummen. Die Stunden vergingen, und langsam begriffen sie. Die nächste große Frage betraf die beunruhigende Tatsache, dass jemand Einblick in ihre Post genommen hatte. "Wer? Warum sollte irgendjemand so etwas tun? Und wie hatte er die Briefe abgefangen? Das Rätsel erschien ihnen unlösbar.

Wieder erwogen sie die Theorie, es müsse sich um jemanden handeln, der Lake sehr nahe stand — ein Assistent vielleicht, der Zugang zu privaten Unterlagen hatte und über die Briefe gestolpert war. Möglicherweise wollte er Lake vor Ricky beschützen, indem er sich mit dem Ziel, die Beziehung eines Tages irgendwie zu beenden, in den Briefwechsel einmischte.

Doch letztlich wussten sie zu wenig, um sich ein genaues Bild machen zu können. Sie kratzten sich am Kopf, kauten an den Fingernägeln und mussten schließlich zugeben, dass es wohl besser war, alles noch einmal zu überschlafen. So lange sie sich mehr Fragen als Antworten gegenübersahen, konnten sie keine konkreten Pläne machen.

Sie schliefen nur wenig. Unrasiert und mit geröteten Augen kamen sie kurz nach sechs Uhr morgens

wieder zusammen und tranken dampfenden schwarzen Kaffee aus Styroporbechern. Sie verschlossen die Tür, holten die Briefe hervor, legten sie wie am Tag zuvor nebeneinander auf den Tisch und dachten nach.

«Ich finde, wir sollten rausfinden, wer das Postfach in Chevy Chase gemietet hat«, sagte Spicer.»Das ist leicht, sicher und geht meist ganz schnell. Trevor hat das bisher fast immer hingekriegt. Wenn wir wissen, wem das Ding gehört, haben wir eine Antwort auf viele Fragen.«

«Schwer zu glauben, dass jemand wie Aaron Lake ein Postfach mietet, um sich solche Briefe schicken zu lassen«, sagte Beech.

«Er ist nicht mehr derselbe Aaron Lake«, sagte Yarber.»Als er das Postfach gemietet und den Briefwechsel mit Ricky angefangen hat, war er bloß Abgeordneter, einer von 435. Kaum einer hatte je von ihm gehört. Aber das hat sich jetzt gründlich geändert.«

«Und das ist genau der Grund, warum er versucht, diesen Briefwechsel zu beenden«, ergänzte Spicer.»Er ist in einer völlig anderen Situation, denn er hat auf einmal viel mehr zu verlieren.«

Der erste Schritt musste also sein, Trevor damit zu beauftragen, den Mieter des Postfachs in Chevy Chase zu ermitteln.

Der zweite Schritt war schon schwieriger. Sie machten sich Sorgen, Aaron Lake — sie nahmen an, dass AI Konyers in Wirklichkeit Lake war — könnte das Versehen bemerkt haben. Ihm standen zweistellige Millionenbeträge zur Verfügung (eine Tatsache, die ihnen durchaus bewusst war), und er würde mit Leichtigkeit einen Teil davon einsetzen können, um Ricky aufzuspüren. Angesichts des enormen Einsatzes, der auf dem Spiel stand, konnte Lake, falls er seinen Fehler bemerkte, alles Mögliche tun, um Ricky zu neutralisieren.

Und so diskutierten sie, ob sie ihm einen Brief schreiben sollten, in dem Ricky AI anflehte, ihn nicht einfach fallen zu lassen. Ricky brauchte seine Freundschaft, seine väterliche Unterstützung, und so weiter. Damit würden sie den Eindruck erwecken, dass alles ganz normal war. Lake würde den Brief lesen und sich fragen, was eigentlich aus dieser verdammten Karte an Carol geworden war.

Doch sie kamen zu dem Schluss, dass es unklug wäre, einen solchen Brief zu schreiben, denn irgendjemand las ihre Post, und solange sie nicht wussten, wer es war, konnten sie keinen weiteren Kontakt mit AI riskieren.

Sie tranken ihren Kaffee aus und gingen zur Cafeteria. Sie aßen allein, Müsli und Obst und Joghurt — gesundes Zeug, denn nun erwartete sie ein Leben in Freiheit. Danach drehten sie in gemächlichem Tempo vier zigarettenlose Runden um die Aschenbahn, kehrten in ihr Besprechungszimmer zurück und versanken für den Rest des Morgens in tiefe Gedanken.

Armer Lake. Er eilte mit fünfzig Leuten im Schlepptau von einem Bundesstaat zum anderen, war stets in Zeitdruck, und ein Dutzend Assistenten flüsterte ihm unablässig Ratschläge und Anweisungen ins Ohr. Er hatte keine Zeit, einen klaren Gedanken zu fassen.

Die Richter dagegen konnten den ganzen Tag, Stunde um Stunde damit verbringen, Pläne zu schmieden und bis ins Kleinste zu durchdenken. Es war ein ungleicher Kampf.