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Das hintere Schlafzimmer des Hauses war zu einem Konferenzraum umfunktioniert worden. Man hatte vier Klapptische zusammengeschoben, um eine große Tischfläche zu erhalten, die mit Zeitungen, Magazinen und Doughnut-Schachteln bedeckt war. Jeden Morgen um halb acht trafen sich Klockner und seine Leute hier, um bei Kaffee und Frühstücksgebäck die Ereignisse der Nacht zu besprechen und den Tag zu planen. Wes und Chap waren immer anwesend, außerdem sechs oder sieben andere Agenten, je nachdem, wer gerade aus Langley hierher abkommandiert war. Auch die Techniker aus dem vorderen Zimmer nahmen manchmal an diesen Besprechungen teil, obwohl Klockner nicht darauf bestand. Jetzt, wo Trevor auf ihrer Seite war, brauchten sie nicht mehr so viele Leute, um ihn zu überwachen.
Das dachten sie jedenfalls. Vor halb acht war keine Bewegung in seinem Haus auszumachen, was bei einem Mann, der sich abends oft betrank und morgens spät aufstand, nichts Ungewöhnliches war. Um acht Uhr, als Klockner im hinteren Zimmer seine Lagebesprechung abhielt, rief einer der Techniker unter dem Vorwand, eine falsche Nummer gewählt zu haben, bei Trevor an. Nach dreimaligem Läuten schaltete sich der Anrufbeantworter ein, und Trevors Stimme sagte, er sei nicht da, und man solle bitte eine Nachricht hinterlassen. Das kam gelegentlich vor, wenn Trevor verschlief, doch normalerweise weckte ihn ein solcher Anruf auf. Um 8 Uhr 30 wurde Klockner davon informiert, dass im Haus alles still war: keine Dusche, kein Fernseher, keine Musik, kein Geräusch, das auf die normale Frühstücksroutine hindeutete.
Es war durchaus möglich, dass er sich gestern Abend allein, zu Hause, betrunken hatte. Sie wussten, dass er nicht bei Pete's, sondern in einem Einkaufszentrum gewesen und anscheinend nüchtern nach Hause gekommen war.
«Vielleicht schläft er noch«, sagte Klockner. Er war nicht sonderlich beunruhigt.»Wo ist sein Wagen?«
«In der Einfahrt.«
Um neun klopften Wes und Chap an Trevors Tür und öffneten sie, als drinnen alles ruhig blieb, mit ihrem eigenen Schlüssel. Als sie meldeten, Trevor sei verschwunden und sein Wagen sei unbenutzt, setzten sich die andere Agenten in Bewegung. Klockner geriet nicht in Panik. Er — schickte seine Leute an den Strand, zu den Cafes in der Nähe des Sea Turtle, ja sogar zu Pete's Bar and Grill, das; um diese Zeit noch gar nicht geöffnet hatte. Zu Fuß und mit ihren Wagen suchten sie die Umgebung von Trevors; Haus und seiner Kanzlei ab — ohne Ergebnis.
Um zehn benachrichtigte Klockner Deville in Langley davon, dass der Anwalt verschwunden sei.
Jeder Flug nach Nassau wurde überprüft, doch Trevor Carson war wie vom Erdboden verschluckt. Deville konnte den Kontaktmann bei der Passkontrolle auf den Bahamas; nicht erreichen, ebenso wenig wie den Bankangestellten, den die CIA bestochen hatte.
Teddy Maynard war mitten in einer Besprechung über nordkoreanische Truppenbewegungen, als er die dringende Nachricht erhielt, Trevor Carson, der trunksüchtige Anwalt aus Neptune Beach, Florida, sei verschwunden.
«Wie könnt ihr einen Idioten wie ihn entwischen lassen?«fuhr Teddy Deville in einer seltenen Anwandlung voll Zorn an.
«Ich weiß es nicht.«»Das ist doch nicht zu glauben!«»Es tut mir Leid.«
Teddy verlagerte sein Gewicht und verzog vor Schmerz das Gesicht.»Findet ihn, verdammt!«zischte er.
Das Flugzeug war eine zweimotorige Beech Baron, die einigen Ärzten gehörte und von Eddie, dem Piloten, den Trevor um sechs Uhr morgens aus dem Bett geholt hatte, verchartert wurde. Trevor hatte ihm Bargeld und einen satten Aufpreis versprochen. Der offizielle Preis war 2200 Dollar für einen Flug von Daytona Beach nach Nassau und zurück, bei einer Flugzeit von jeweils zwei Stunden. Eine Flugstunde kostete 400 Dollar, hinzu kamen die Lande- und Zollgebühren sowie die bezahlte Bodenzeit des Piloten. Trevor war bereit, 2000 Dollar zusätzlich zu zahlen, wenn sie sofort starten würden.
Die Geneva Trust Bank in Nassau öffnete um neun Uhr, und als der Pförtner aufschloss, stand Trevor vor der Tür. Er stürmte in Brayshears Büro. Auf seinem Konto befanden sich beinahe eine Million Dollar: 900000 von Mr. AI Konyers und etwa 68 000 aus seiner Tätigkeit für die Bruderschaft.
Ohne die Tür aus den Augen zu lassen, drängte er Brayshears, ihm zu helfen, das Geld schnell zu transferieren. Da es Trevor Carson gehörte, hatte Brayshears keine andere Wahl. Es gab eine Bank auf Bermuda, deren Direktor ein Freund von ihm war. Das passte Trevor gut. Er traute Brayshears nicht und hatte vor, das Geld so lange von einer Bank zur anderen zu überweisen, bis er sich sicher fühlte.
Einen Augenblick lang dachte Trevor begehrlich an das Konto von Boomer Realty, derzeit mit einem Haben-Saldo von etwas über
189 000 Dollar. Er besaß eine Vollmacht und hätte auch dieses Geld weiterleiten können. Beech, Yarber und dieser ekelhafte Spicer waren doch nur Verbrecher. Und sie hatten die Frechheit besessen, ihn zu feuern, und ihn somit gezwungen zu fliehen. Er versuchte, genug Hass aufzubringen, um ihr Geld zu nehmen, doch während er mit sich kämpfte, merkte er, dass er Mitleid mit ihnen hatte: drei alte Männer, die im Gefängnis verrotteten.
Eine Million war genug. Außerdem hatte er keine Zeit. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn Wes und Chap plötzlich mit Pistolen in den Händen hereingestürmt wären. Er dankte Brayshears und eilte hinaus.
Als die Beech Baron von der Startbahn des Nassau International Airport abhob, musste Trevor einfach lachen. Er lachte über den Coup, über seine gelungene Flucht, über sein Glück, über Wes und Chap und ihren reichen Klienten, der jetzt um eine Million ärmer war, und er lachte über seine schäbige Kanzlei, in die er nun nie mehr einen Fuß setzen würde. Er lachte über seine Vergangenheit und seine herrliche Zukunft.
Aus 1000 Metern Höhe sah er hinab auf das ruhige, blaue Wasser der Karibik. Eine einsame Segelyacht durchpflügte die Wellen. Der Kapitän stand am Ruder, auf dem Deck räkelte sich eine spärlich bekleidete Frau. Das war er — in ein paar Tagen.
In einer Kühltasche entdeckte er eine Dose Bier. Er trank sie aus und schlief ein. Sie landeten auf der Insel Eleuthera. Trevor hatte in einem Reisemagazin davon gelesen, das er in der Nacht zuvor gekauft hatte. Dort gab es Strände und Hotels und alle möglichen Wassersportarten. Er bezahlte Eddie in bar und wartete eine Stunde lang vor dem kleinen Flughafengebäude, bis ein Taxi vorbeikam.
In einem Geschäft am Governor's Harbour kaufte er einige Kleidungsstücke, und dann ging er zu Fuß zu einem der Hotels am Strand. Es amüsierte ihn, wie schnell er aufhörte, über etwaige Verfolger nachzudenken. Natürlich hatte Mr. Konyers jede Menge Geld, doch wer konnte sich schon eine geheime Armee leisten, die groß genug war, um alle Inseln der Bahamas zu überwachen? Vor ihm lag eine wunderbare Zukunft, und er würde sie sich nicht verderben, indem er ständig über seine Schulter sah.
Im Hotel legte er sich an den Pool und trank den Rum so schnell, wie die Bedienung ihn bringen konnte. Trevor Carson war achtundvierzig Jahre alt und begann sein neues Leben mehr oder weniger genau so, wie er sein altes beendet hatte.
Trevor Carsons Kanzlei öffnete pünktlich, und alles lief wie immer. Der Besitzer hatte die Flucht ergriffen, doch sein Gehilfe und der Büroleiter waren bereit, sich aller unvermutet auftauchenden Probleme anzunehmen. Sie hörten sich in den einschlägigen Kneipen um, erfuhren aber nichts. Zweimal läutete am Vormittag das Telefon — Anfragen von potentiellen Mandanten, die sich im Branchenbuch verirrt hatten. Niemand brauchte Trevors fachlichen Beistand. Kein einziger Freund rief an, um ein wenig zu plaudern. Wes und Chap nahmen sich die wenigen Schubladen und Unterlagen vor, die sie noch nicht durchsucht hatten, stießen aber auf keinen Hinweis.
Ein anderes Team nahm Trevors Haus unter die Lupe und suchte in erster Linie nach dem Geld, das er erhalten hatte. Wie nicht anders zu erwarten, fanden sie nichts. Der billige Aktenkoffer lag leer in einem Wandschrank. Es gab keine einzige Spur. Trevor war einfach davon marschiert und hatte das Geld mitgenommen.
Der Angestellte der Bank auf den Bahamas wurde in New York aufgespürt, wo er sich im Auftrag seiner Regierung befand. Zunächst war er wenig geneigt, von dort aus Nachforschungen anzustellen, erklärte sich schließlich jedoch bereit, ein paar Anrufe zu tätigen. Gegen 13 Uhr informierte er Deville, das Geld sei transferiert worden. Der Besitzer sei persönlich erschienen und habe die Überweisung angeordnet — mehr könne er nicht sagen. Wohin war das Geld verschwunden? Alles, was Deville aus ihm herausbekommen konnte, war, dass das Geld telegrafisch überwiesen worden war.
Die Reputation der Banken seines Landes basierte auf der strikten Wahrung des Bankgeheimnisses.
Er war zwar korrupt, doch nur bis zu einem gewissen Punkt.
Nach anfänglichem Zögern war der amerikanische Zoll zur Kooperation bereit. Trevors Pass war frühmorgens am Nassau International Airport registriert worden, und bis jetzt hatte er die Bahamas nicht verlassen, jedenfalls nicht offiziell. Sein Pass stand auf der Fahndungsliste. Wenn er ihn benutzte, um in ein anderes Land einzureisen, würde die Zollbehörde es innerhalb von zwei Stunden erfahren.
Deville erstattete Teddy und York zum vierten Mal an diesem Tag Bericht und erwartete weitere Instruktionen.
«Er wird einen Fehler machen«, sagte York.»Irgendwann wird er irgendwo seinen Pass vorlegen, und dann haben wir ihn. Er weiß nicht, wer hinter ihm her ist.«
Teddy kochte vor Wut, sagte aber nichts. Die CIA hatte Regierungen gestürzt und Könige ermordet, und doch staunte er immer wieder, wie viele Kleinigkeiten schief gehen konnten. Ein dummer, tölpelhafter Anwalt aus Neptune Beach, der von zwölf Agenten überwacht wurde, war ihnen durch die Lappen gegangen. Und Teddy hatte gedacht, ihn könne nichts mehr überraschen.
Dieser Anwalt hatte ihre Verbindung ins Gefängnis sein sollen. Sie hatten ihm eine Million Dollar gegeben und gedacht, sie könnten ihm vertrauen. Es gab keinen Notplan für den Fall seiner Flucht. Jetzt mussten sie in aller Eile einen entwickeln.
«Wir brauchen jemanden im Gefängnis«, sagte Teddy.
«Wir sind fast so weit«, sagte Deville.»Es gibt Kontakte zum Justizministerium und zur Strafvollzugsbehörde.«
«Wie lange wird das dauern?«
«Tja, nach dem, was heute passiert ist, können wir wahrscheinlich innerhalb von achtundvierzig Stunden einen Mann nach Trumble einschleusen.«
«Wer ist es?«
«Er heißt Argrow. Neununddreißig Jahre, seit elf Jahren bei uns, gute Beurteilungen.«
«Seine Legende?«
«Er wird von einem Bundesgefängnis auf Virgin Islands nach Trumble verlegt. Die Papiere werden von der Vollzugsbehörde in Washington bearbeitet — der Gefängnisdirektor wird also keine Fragen stellen. Er ist bloß ein Gefangener, der eine Verlegung beantragt hat.«
«Und er ist bereit?«
«Fast. In achtundvierzig Stunden.«
«Sorgen Sie dafür, dass er sofort eingewiesen wird.«
Deville ging hinaus, auf den Schultern wieder einmal die Last einer schwierigen Aufgabe, die plötzlich auf der Stelle erledigt werden musste.
«Wir müssen herausfinden, wie viel sie wissen«, murmelte Teddy.
«Ja, aber wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass sie irgendeinen Verdacht hegen«, sagte York.»Ich habe all ihre Briefe gelesen. Es deutet nichts darauf hin, dass sie Konyers besonders ins Visier genommen haben. Er ist nur eines von mehreren potentiellen Opfern. Und wir haben den Anwalt bezahlt, damit er aufhört, dem Inhaber von Konyers' Postfach nachzuschnüffeln. Der Typ ist jetzt irgendwo auf den Bahamas und freut sich über seinen Reichtum. Er stellt keine Bedrohung mehr dar.«
«Trotzdem müssen wir ihn erledigen«, sagte Teddy. Es war eine Feststellung.
«Natürlich.«
«Ich werde mich besser fühlen, wenn er weg ist«, sagte Teddy.
Am Nachmittag betrat ein unbewaffneter Wärter in Uniform die juristische Abteilung der Gefängnisbibliothek. Joe Roy Spicer saß neben der Tür des Besprechungszimmers.
«Der Direktor will euch sprechen«, sagte der Wärter.»Dich und Yarber und Beech.«
«Und wieso?«fragte Spicer. Er blätterte in einer alten Ausgabe von Field & Stream.
«Das geht mich nichts an. Er will euch sprechen. In seinem Büro.«
«Sag ihm, wir sind beschäftigt.«
«Gar nichts sag ich ihm. Los, bewegt euch!«
Sie folgten ihm zum Verwaltungsgebäude. Andere Wärter schlössen sich ihnen an, so dass die Gruppe, die aus dem Aufzug trat und vor dem Tisch der Sekretärin des Direktors stehen blieb, einer regelrechten Entourage glich. Der Sekretärin gelang es irgendwie, die drei Richter allein in das geräumige Büro zu führen, wo Emmitt Broon sie erwartete. Als sie hinausgegangen war, sagte er barsch:»Das FBI hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass Ihr Anwalt verschwunden ist.«
Keiner der drei zeigte eine Reaktion, doch jeder von ihnen dachte sofort an das Geld, das auf dem Konto auf den Bahamas lag.
Der Direktor fuhr fort:»Er ist heute Morgen verschwunden und mit ihm offenbar einiges Geld. Über die Einzelheiten bin ich nicht informiert.«
Wessen Geld? Niemand wusste von ihrem geheimen Konto. Hatte Trevor jemand anders bestohlen?» Warum erzählen Sie uns das?«fragte Beech.
Der wirkliche Grund war, dass das Justizministerium in Washington Broon angewiesen hatte, die drei über die neueste Entwicklung zu informieren. Der Grund, den er selbst angab, lautete jedoch:»Ich dachte, Sie sollten das wissen, für den Fall, dass Sie mit ihm sprechen wollen.«
Es war erst einen Tag her, dass sie Trevor gefeuert hatten, und sie hatten der Gefängnisverwaltung noch nicht mitgeteilt, dass sie ihrem Anwalt das Mandat entzogen hatten.
«Woher sollen wir jetzt einen Anwalt nehmen?«fragte Spicer, als wäre soeben eine Katastrophe über ihn hereingebrochen.
«Das ist Ihr Problem. Offen gestanden habe ich den Eindruck, dass die anwaltliche Beratung, die Sie in letzter Zeit in Anspruch genommen haben, Ihnen für viele Jahre reichen dürfte.«
«Und was ist, wenn er sich mit uns in Verbindung setzt?«fragte Yarber, der sehr wohl wusste, dass sie nie wieder von Trevor hören würden.
«Dann sollten Sie mich auf der Stelle davon in Kenntnis setzen.«
Sie versicherten ihm, dass sie das tun würden. Was immer der Direktor sagte. Damit waren sie entlassen.
Busters Flucht war unkomplizierter als ein Gang zum Supermarkt. Sie warteten bis zum nächsten Morgen nach dem Frühstück, als die meisten Häftlinge mit ihren Arbeiten begonnen hatten. Beech und Yarber waren auf der Aschenbahn. Sie gingen mit einer halben Runde Abstand, so dass einer immer den Gefängniskomplex im Auge behalten konnte, während der andere den Waldrand beobachtete. Spicer saß in der Nähe des Basketballfelds und hielt nach Wärtern Ausschau.
Es gab in Trumble weder Zäune noch Wachtürme oder einschneidende Sicherheitsmaßnahmen, und auch die Wärter stellten keine große Gefahr dar. Spicer sah keinen einzigen.
Buster hatte sich den jaulenden Rasentrimmer umgehängt und arbeitete sich langsam in Richtung Aschenbahn vor. Dort legte er eine Pause ein und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Aus 50 Metern Entfernung hörte Spicer, wie das Motorengeräusch erstarb. Er drehte sich um und hob einen Daumen — das Zeichen für Buster, schnell zu handeln. Buster trat auf die Aschenbahn und ging für ein paar Schritte neben Yarber her.
«Bist du sicher, dass du es machen willst?«fragte Yarber.
«Ja, ganz sicher. «Der Junge machte einen ruhigen, entschlossenen Eindruck.
«Dann tu es jetzt. Bleib ruhig. Nicht rennen.«
«Danke, Finn.«
«Und lass dich nicht erwischen.«
«Auf keinen Fall.«
An der Kurve verließ Buster die Bahn und ging über das frisch gemähte Gras. Nach 100 Metern war er in einem Gebüsch am Waldrand verschwunden. Beech und Yarber sahen ihm nach, drehten sich dann um und beobachteten das Gefängnis. Spicer schlenderte zu ihnen. Auf den Grünflächen und in den Gebäuden des Komplexes blieb alles ruhig. Weit und breit war kein Wärter in Sicht.
In gemächlichem Tempo gingen sie zwölf Runden, knapp fünf Kilometer, und nach nicht ganz einer Stunde begaben sie sich in die Kühle der Bibliothek und warteten auf die Nachricht von Busters Flucht. Es sollte Stunden dauern, bis irgendjemand etwas merkte.
Busters Tempo war schneller. Sobald er den Wald erreicht hatte, begann er zu rennen. Er orientierte sich am Stand der Sonne und hielt sich eine halbe Stunde lang in südlicher Richtung. Der Wald war nicht dicht, und das Unterholz war spärlich und behinderte ihn kaum. Er kam an einem Hochsitz vorbei, der in sieben Metern Höhe an einer Eiche befestigt war, und stieß kurz darauf auf einen Pfad, der nach Südwesten führte.
In seiner linken Hosentasche hatte er 2000 Dollar, die Finn Yarber ihm gegeben hatte. In der anderen
Tasche befand sich eine von Beech gezeichnete Karte. Und in der hinteren Hosentasche hatte er einen gelben Umschlag, der an einen Mann namens AI Konyers in Chevy Chase, Maryland, adressiert war. Alles drei war wichtig, doch der Umschlag schien den Richtern am wichtigsten zu sein.
Nach einer Stunde blieb Buster stehen, um zu rasten und zu lauschen. Die Landstraße 30 war sein erstes Ziel. Sie verlief in ostwestlicher Richtung, und Beech hatte geschätzt, dass er etwa zwei Stunden brauchen würde, um sie zu erreichen. Buster hörte nichts und begann wieder zu rennen.
Er durfte sich nicht zu sehr verausgaben. Es bestand die Möglichkeit, dass sein Fehlen nach dem Mittagessen bemerkt werden würde, wenn die Wärter gelegentlich eine sehr oberflächliche Inspektion durchführten. Wenn einer von ihnen auf die Idee kam, nach Buster Ausschau zu halten, würde er vielleicht Fragen stellen. Doch nachdem sie die Wärter zwei Wochen lang beobachtet hatten, glaubten weder Buster noch die Richter, dass diese Gefahr besonders groß war.
Er hatte also mindestens vier Stunden Vorsprung, wahrscheinlich sogar mehr, denn sein Arbeitstag endete erst um fünf Uhr. Um diese Zeit musste er den Rasentrimmer zurückgeben, und wenn er nicht auftauchte, würden sie auf dem Gefängnisgelände nach ihm suchen. Nach weiteren zwei Stunden würden sie die umliegenden Polizeistationen darüber informieren, dass wieder einmal ein Gefangener aus Trumble ausgebrochen war. Da diese Ausbrecher nie bewaffnet oder gefährlich waren, regte sich niemand allzu sehr darüber auf. Keine Suchtrupps. Keine Spürhunde. Keine Hubschrauber über dem Wald. Der Sheriff und seine Männer würden die Hauptstraßen abfahren und die Leute auffordern, die Türen verschlossen zu halten.
Der Name des Ausbrechers würde in eine landesweite Fahndungsdatei eingegeben werden. Man würde sein Haus und seine Freundin überwachen und darauf warten, dass er eine Dummheit beging.
Nach anderthalb Stunden in Freiheit blieb Buster für einen Augenblick stehen und hörte das Summen eines Lastwagens, der in der Nähe vorbeifuhr. Der Wald hörte abrupt an einem Straßengraben auf- vor ihm lag die Landstraße. Laut Beechs Karte lag die nächste Ortschaft ein paar Kilometer weiter westlich. Buster hatte vor, an der Straße entlang zu gehen und sich vor nahenden Fahrzeugen im Graben oder unter Brücken zu verstecken, bis er die ersten Häuser erreichte.
Er trug die Gefängniskleidung, die aus einer khakifarbenen Hose und einem olivgrünen, kurzärmligen Hemd bestand — beides war inzwischen vom Schweiß dunkel gefärbt. Die Leute in der Gegend wussten, was die Gefangenen trugen, und jeder, der ihn auf der Landstraße 30 sah, würde den Sheriff benachrichtigen.»Du musst in die Stadt und dir andere Kleider besorgen«, hatten Beech und Spicer ihm gesagt.»Und dann kaufst du dir einen Fahrschein für den Bus und bleibst in Bewegung.«
Drei Stunden lang duckte er sich hinter Bäume und in den Straßengraben, dann sah er die ersten Häuser. Er verließ die Straße und ging über eine Wiese. Als er auf eine Straße stieß, zu deren Seiten große Wohnwagen aufgereiht standen, knurrte ihn ein Hund an. Hinter einem der Wohnwagen war eine Leine gespannt, an der Wäsche in der unbewegten Luft hing. Er nahm sich einen rot-weißen Pullover und warf das olivgrüne Hemd fort.
Das Zentrum des Ortes bestand aus zwei Häuserblocks mit Geschäften, ein paar Tankstellen, einer Bank, einer Art Rathaus und einem Postamt. Buster kaufte sich eine kurze Jeans, ein T-Shirt und ein Paar Wanderstiefel und zog sich auf der Toilette um. Das Postamt befand sich im Rathaus. Er lächelte und dankte im Stillen seinen Freunden in Trumble, als er ihren kostbaren Briefumschlag hervorzog und in den Schlitz für die überregionale Post schob.
Er fuhr mit dem Bus nach Gainesville, wo er sich für 480 Dollar einen Fahrschein kaufte, der ihn berechtigte, in den nächsten sechzig Tagen jeden beliebigen Bus innerhalb der Vereinigten Staaten zu benutzen. Sein Ziel lag im Westen. Er wollte in Mexiko untertauchen.