172633.fb2
Der Brief traf zusammen mit einer Million anderer Briefe in Washington ein — Tonnen von Papier, die die Hauptstadt einen weiteren Tag beschäftigen würden. Er wurde anhand der Postleitzahl weitergeleitet und landete im Fach des Zustellers. Drei Tage nachdem Buster ihn in den Briefkasten geworfen hatte, war Rickys letzter Brief an AI Konyers in Chevy Chase. Bei einer Routineüberprüfung entdeckten ihn die Agenten, die die Mailbox-America-Filiale überwachten. Der Umschlag wurde untersucht und sogleich nach Langley gebracht.
Teddy hatte sich zwischen zwei Besprechungen in sein Büro zurückgezogen, als Deville hereinkam und einen dünnen Schnellhefter schwenkte.»Das hier ist vor einer halben Stunde gekommen«, sagte er und reichte Teddy drei Seiten Papier.»Das sind die Kopien. Die Originale sind im Hefter.«
Teddy rückte seine Zweistärkenbrille zurecht und musterte die Kopien, bevor er zu lesen begann. Der Umschlag trug wie immer einen Stempel aus Florida. Die Handschrift war ihm zu vertraut. Noch bevor er zu lesen begann, wusste er, dass es ernste Probleme gab.
Lieber AI!
In deinem letzten Brief hast du versucht, unseren Briefwechsel zu beenden. Tut mir leid, aber so einfach wird das nicht sein. Ich will gleich zur Sache kommen: Ich heiße nicht Ricky, und du heißt nicht AI. Ich bin nicht in irgendeiner teuren Drogenklinik, sondern im Gefängnis.
Ich weiß also, wer Sie sind, Mr. Lake. Ich weiß auch, dass dies ein sehr erfolgreiches Jahr für Sie ist, dass Sie die Nominierung praktisch in der Tasche haben und von allen Seiten jede Menge Geld auf Ihr Konto strömt. Wir kriegen hier Zeitungen und haben Ihren kometenhaften Aufstieg mit großem Stolz verfolgt.
Jetzt, da ich weiß, wer AI Konyers ist, werden Sie sicher wollen, dass ich mein kleines Geheimnis für
mich behalte. Ich bin auch bereit, Ihrem Wunsch zu entsprechen — allerdings wird Sie das viel Geld kosten.
Ich will Geld, und ich will hier raus. Ich kann Geheimnisse bewahren, und ich weiß, wie man verhandelt.
Das Geld ist das kleinere Problem, denn davon haben Sie, wie ich weiß, genug. Meine Entlassung wird ein bisschen komplizierter werden. Aber Sie haben ja jetzt viele mächtige Freunde, und ich bin sicher, Ihnen wird etwas einfallen.
Ich habe nichts zu verlieren, und wenn Sie sich weigern, mit mir zu verhandeln, mache ich Sie fertig.
Ich heiße Joe Roy Spicer, und ich bin Häftling im Bundesgefängnis in Trumble. Finden Sie einen Weg, sich mit mir in Verbindung zu setzen, und verlieren Sie dabei keine Zeit.
Ich werde Sie nicht in Ruhe lassen.
Mit freundlichen Grüßen Joe Roy Spicer
Die anstehende Besprechung wurde abgesagt. Deville benachrichtigte York, und zehn Minuten später saßen sie im Bunker und berieten sich.
Die Ermordung der Richter war die erste Option, die sie erwogen. Mit den adäquaten Mitteln — Tabletten, Gift und so weiter — konnte Argrow das erledigen. Yarber würde im Schlaf sterben. Spicer würde auf der Aschenbahn einem Herzanfall erliegen. Und der Hypochonder Beech würde ein falsches Medikament einnehmen. Alle drei waren nicht sonderlich gesund und durchtrainiert, und Argrow würde leicht mit ihnen fertig werden. Ein böser Sturz, ein gebrochenes Genick — es gab viele Möglichkeiten, einen natürlichen Tod oder einen Unfall vorzutäuschen.
Es würde schnell geschehen müssen, noch während sie auf eine Antwort von Lake warteten.
Aber es würde zu viel Aufsehen erregen und unnötig kompliziert sein. Drei Leichen auf einmal, und das in einem harmlosen kleinen Gefängnis wie Trumble. Und die drei waren eng befreundet und verbrachten den größten Teil ihrer Zeit gemeinsam. Alle drei würden innerhalb kurzer Zeit auf verschiedene Weise sterben. Das würde gewaltigen Verdacht erregen. Und was, wenn dieser Verdacht auf Argrow fiel? Seine Legende war nicht sonderlich gut abgesichert.
Und Trevor machte ihnen Sorgen. Wo immer er auch war — es bestand die Möglichkeit, dass er vom Tod der drei Richter erfuhr. Diese Nachricht würde ihm noch mehr Angst einjagen, aber sie konnte ihn auch unberechenbar machen. Vielleicht wusste er mehr, als sie annahmen.
Deville würde Pläne zu ihrer Beseitigung ausarbeiten, aber Teddy hatte große Bedenken. Nicht dass er Skrupel gehabt hätte, die drei umbringen zu lassen — er war nur nicht überzeugt, dass er Lake dadurch würde schützen können.
Was, wenn die Richter noch jemanden eingeweiht hatten?
Es gab zu viele unbekannte Faktoren. Deville wurde angewiesen, die entsprechenden Pläne zu entwickeln; sie würden jedoch erst umgesetzt werden, wenn es keine anderen Optionen mehr gab.
Alle Szenarien wurden erörtert. Theoretisch, sagte York, konnten sie den Brief ja wieder in das Postfach legen, damit Lake ihn dort fand.
«Aber dann wird er nicht wissen, was er tun soll«, sagte Teddy.
«Wissen wir es denn?«
«Noch nicht.«
Der Gedanke daran, wie Aaron Lake auf diesen Angriff reagieren würde, wie er versuchen würde, die drei Richter zum Schweigen zu bringen, war fast belustigend und entbehrte nicht einer gewissen Gerechtigkeit. Lake hatte einen Fehler gemacht — sollte er doch sehen, wie er ihn wieder aus der Welt schaffte.
«Eigentlich sind wir es, die einen Fehler begangen haben«, sagte Teddy.»Und wir werden ihn wieder ausbügeln.«
Sie konnten nicht vorhersehen, was Lake tun würde, und deshalb konnten sie ihn auch nicht steuern. Irgendwie war er ihnen lange genug entschlüpft, um Ricky eine Nachricht zukommen zu lassen. Und was er geschrieben hatte, war so dumm gewesen, dass die Richter nunmehr wussten, wer er war.
Ganz zu schweigen von dem, was offensichtlich war: Lake war jemand, der einen geheimen Briefwechsel mit einem Schwulen unterhielt. Er führte ein Doppelleben und verdiente nicht allzu viel Vertrauen.
Sie diskutierten die Möglichkeit, ihn mit den Tatsachen zu konfrontieren. York hatte das bereits nach dem ersten Brief aus Trumble befürwortet, doch Teddy hatte sich nicht überzeugen lassen. Das Problem hatte ihm den Schlaf geraubt; er hatte gehofft, diesen Briefwechsel unterbinden zu können.
Er wollte die Sache diskret aus der Welt schaffen und sich dann in aller Ruhe mit dem Kandidaten unterhalten.
Ach, wie würde er es genießen, Lake zur Rede zu stellen. Er würde ihn in dem Sessel da drüben Platz nehmen lassen und Kopien dieser verdammten Briefe auf die Leinwand projizieren. Und eine Kopie der Kleinanzeige in Out and About. Er würde ihm von Quince Garbe in Bakers, lowa, erzählen, einem anderen Idioten, der auf diese Sache hereingefallen war, und von Curtis Vann Gates in Dallas.»Wie konnten Sie nur so dumm sein?«würde er Aaron Lake anschreien.
Aber Teddy konzentrierte sich auf das große Ganze. Die Probleme mit Lake waren klein im Vergleich zu der Dringlichkeit der Aufstockung der Rüstungsausgaben. Die Russen entwickelten sich zu einer Gefahr, und wenn Natty Tschenkow und seine Leute erst einmal erfolgreich geputscht hatten, würde sich die Welt drastisch und dauerhaft verändern.
Teddy hatte weit mächtigere Männer kaltgestellt als diese drei kriminellen Richter, die in einem Bundesgefängnis saßen. Sorgfältige Planung war seine Stärke. Mühselige, geduldige Planung.
Die Besprechung wurde durch eine Meldung aus Devilles Büro unterbrochen: Trevor Carsons Pass war bei der Ausreisekontrolle am Flughafen von Hamilton auf Bermuda registriert worden. Er hatte die Insel mit einer Maschine nach San Juan in Puerto Rico verlassen und würde in 50 Minuten dort eintreffen.
«Wussten wir, dass er auf Bermuda ist?«fragte York.
«Nein, das wussten wir nicht«, antwortete Deville.»Offenbar ist er dort eingereist, ohne seinen Pass vorzulegen.«
«Vielleicht ist er nicht der Säufer, für den wir ihn halten.«
«Haben wir jemanden in Puerto Rico?«fragte Teddy. Seine Stimme klang nur eine Spur erregter als sonst.
«Natürlich«, sagte York.
«Dann soll er die Spur aufnehmen.«
«Neue Pläne mit dem guten alten Trevor?«wollte Deville wissen.
«Nein, ganz und gar nicht«, sagte Teddy.»Ganz und gar nicht.«
Deville verließ sie, um sich mit der neuesten Entwicklung in Sachen Trevor zu befassen. Teddy rief einen Assistenten und bestellte Pfefferminztee. York las noch einmal Spicers Brief. Als sie allein waren, fragte er:»Und wenn wir sie trennen?«
«Daran habe ich auch schon gedacht. Wir müssten schnell handeln, bevor sie Zeit haben, sich zu beraten. Wir würden sie in drei weit auseinander liegende Gefängnisse verlegen lassen, sie für eine gewisse Zeit isolieren und dafür sorgen, dass sie keine Post erhalten und keine Gelegenheit haben, ein Telefon zu benutzen. Aber was würde uns das bringen? Sie hätten noch immer ihr Geheimnis. Jeder von ihnen könnte Lake fertig machen.«
«Und ich bin nicht sicher, ob wir die erforderlichen Kontakte zur Strafvollzugsbehörde haben.«
«Es wäre zu machen. Wenn nötig, könnte ich mit dem Justizminister sprechen.«
«Seit wann sind Sie mit dem Justizminister befreundet?«
«Es geht hier um die nationale Sicherheit.«
«Drei kriminelle Richter in einem Bundesgefängnis in Florida stellen eine Gefahr für die nationale Sicherheit dar? Bei dem Gespräch wäre ich gern dabei.«
Teddy hielt die Tasse in beiden Händen und nippte mit geschlossenen Augen an seinem Tee.»Es ist zu riskant«, flüsterte er.»Wenn wir sie reizen, werden sie nur noch unberechenbarer. Wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen.«
«Nehmen wir mal an, Argrow findet ihre Unterlagen«, sagte York.»Diese Männer sind Verbrecher, verurteilte Kriminelle. Niemand wird ihnen ihre Geschichte über Lake abnehmen, wenn sie keine Beweise vorlegen können. Und diese Beweise müssen schriftlich sein: Dokumente, Kopien und Originale des Briefwechsels. Diese Beweise existieren irgendwo. Wenn wir sie finden und beschlagnahmen, wird ihnen niemand glauben.«
Teddy nippte abermals mit geschlossenen Augen an seinem Tee und schwieg lange. Er verlagerte sein Gewicht und biss die Zähne zusammen.»Stimmt«, sagte er.»Aber meine Befürchtung ist, dass sie jemanden draußen haben, jemanden, von dem wir nichts wissen. Diese Burschen sind uns immer einen Schritt voraus, und daran wird sich nichts ändern. Wir versuchen herauszufinden, was sie schon seit einiger Zeit wissen. Ich bin nicht sicher, ob es uns jemals gelingen wird, ihren Vorsprung einzuholen. Vielleicht haben sie schon Vorkehrungen für den Fall getroffen, dass sie ihre Unterlagen verlieren. Im Gefängnis gibt es bestimmt Regeln, die den Besitz von schriftlichen Unterlagen verbieten, und das bedeutet, dass sie diese Papiere gut versteckt haben. Die Briefe von Lake sind viel zu wertvoll — sie haben mit Sicherheit Kopien gemacht und sie irgendwo außerhalb des Gefängnisses deponieren lassen.«
«Trevor war ihr Postbote. Wir haben jeden Brief gesehen, den er in den letzten vier Wochen aus dem Gefängnis geschmuggelt hat.«
«Das glauben wir. Aber wir wissen es nicht mit Sicherheit. «»Aber wer könnte es außerdem gewesen sein?«
«Spicer hat eine Frau, und sie hat ihn besucht. Yarber lässt sich scheiden, aber wer weiß, was die beiden miteinander abgesprochen haben? Seine Frau hat ihn in den vergangenen drei Monaten besucht. Vielleicht haben die Richter auch ein paar Wärter bestochen, damit sie Unterlagen für sie rausbringen. Diese Männer langweilen sich, und sie sind gerissen und sehr einfallsreich. Wir können nicht einfach annehmen, dass wir genau wissen, was sie vorhaben. Und wenn wir hier einen Fehler machen, wenn wir nicht alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, steht Mr. Aaron Lake auf einmal in der Unterhose da.«
«Aber wie? Wie würden sie es an die Öffentlichkeit bringen?«
«Wahrscheinlich, indem sie mit einem Reporter Kontakt aufnehmen und ihm einen Brief nach dem anderen zukommen lassen, so lange, bis er überzeugt ist. Das würde funktionieren.«
«Die Presse würde durchdrehen.«
«Das darf nicht geschehen, York. Wir dürfen es nicht zulassen.«
Deville kam hereingestürmt. Der amerikanische Zoll war zehn Minuten nach dem Start der Maschine nach San Juan von den Behörden auf Bermuda informiert worden. Trevor würde in achtzehn Minuten landen.
Trevor folgte seinem Geld. Er hatte das Prinzip der telegrafischen Überweisung schnell begriffen und war nun dabei, diese Kunst zur Perfektion zu entwickeln. Von Bermuda hatte er die Hälfte der Summe auf ein Schweizer Konto überwiesen, die andere Hälfte an eine Bank in Grand Cayman. Sollte er nun nach Osten oder Westen fliegen? Das war die große Frage. Der schnellste Flug ging nach London, aber der Gedanke an die Einreisekontrollen in Heathrow machte ihm Angst. Er wurde nicht gesucht, jedenfalls nicht von den amerikanischen Behörden. Es lag keine Anklage gegen ihn vor. Aber der britische Zoll war so gründlich. Trevor entschied sich für Westen — er würde sein Glück in der Karibik versuchen.
Nach der Landung in San Juan ging er in eine Bar, bestellte ein großes Bier vom Fass und studierte den Flugplan. Er hatte keine Eile, er stand nicht unter Druck und hatte die Taschen voller Geld. Er konnte überallhin fliegen, er konnte tun, was er wollte, und sich so viel Zeit nehmen, wie er wollte. Beim zweiten Bier beschloss er, für ein paar Tage nach Grand Cayman zu fahren, wo die Hälfte seines Geldes war. Am Air-Jamaica-Schalter kaufte er ein Ticket; danach setzte er sich wieder in die Bar, denn es war kurz vor fünf, und er hatte noch eine halbe Stunde Zeit.
Natürlich flog er erster Klasse. Er bestieg die Maschine als einer der Ersten, damit er noch etwas trinken konnte, und als die anderen Passagiere an seinem Platz vorbeigingen, fiel ihm ein Gesicht auf, das er vorher schon einmal gesehen hatte.
Wo war das gewesen? Vor ein paar Minuten, irgendwo im Flughafen. Ein langes, schmales Gesicht mit einem grau melierten Spitzbart und kleinen, schlitzartigen Augen hinter einer eckigen Brille. Der Mann sah Trevor ganz kurz an und wendete dann den Blick ab, als wäre nichts gewesen.
Es war in der Nähe des Air-Jamaica-Schalters gewesen, als Trevor sein Ticket gekauft und sich zum Gehen gewandt hatte. Der Mann hatte ihn beobachtet. Er hatte in der Nähe gestanden und so getan, als studiere er die Abflugzeiten.
Wenn man auf der Flucht ist, erscheinen einem die Aufmerksamkeit und die zufälligen Blicke anderer verdächtig. Man sieht ein Gesicht, und es ist das irgendeines Fremden. Doch wenn man es eine halbe
Stunde später noch einmal sieht, ist man auf einmal davon überzeugt, dass man auf Schritt und Tritt verfolgt wird.
Hör auf zu trinken, befahl Trevor sich selbst. Nach dem Start bestellte er einen Kaffee und stürzte ihn hinunter. In Kingston war er der erste Passagier, der die Maschine verließ. Mit schnellen Schritten ging er durch die Zollkontrolle. Der Mann aus dem Flugzeug war nirgends zu sehen.
Trevor nahm seine beiden kleinen Reisetaschen und rannte zum Taxistand.