172633.fb2 Die Bruderschaft - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 5

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FÜNF

Die Bekanntgabe der Präsidentschaftskandidatur fand in der ausgelassenen Atmosphäre einer Siegesfeier statt: Von der Decke hingen rote, weiße und blaue Flaggen und Banner und Marschmusik dröhnte aus den Lautsprechern des Hangars. Die Teilnahme an der Veranstaltung war für alle 4000 Arbeiter und Angestellten von D-L Trilling obligatorisch, und um ihre Stimmung zu heben, hatte man ihnen einen Tag Extra-Urlaub versprochen. Das bedeutete acht bezahlte Stunden zu einem Durchschnittssatz von 22 Dollar 40, doch das kümmerte den Vorstand wenig. Sie hatten ihren Wunschkandidaten gefunden. Die eilig errichtete Bühne war ebenfalls mit Fähnchen geschmückt und mit allen verfügbaren Anzugträgern aus den mittleren und oberen Etagen besetzt, die allesamt breit lächelten und wild klatschten, während die Musik die Anwesenden in Schwung brachte. Noch vor drei Tagen hatte praktisch niemand hier gewusst, wer Aaron Lake eigentlich war. Jetzt war er ihr Retter.

Er sah jedenfalls aus, wie man sich einen Präsidentschaftskandidaten vorstellte. Ein neuer Berater hatte ihm einen neuen, schneidigeren Haarschnitt vorgeschlagen und er trug einen dunkelbraunen Anzug, zu dem ihn ein anderer Berater überredet hatte. Nur Reagan hatte braune Anzüge tragen können und der hatte immerhin zwei überwältigende Wahlsiege errungen.

Als Lake endlich energischen Schrittes auf die Bühne trat und die Hände der leitenden Angestellten schüttelte, deren Gesichter er wenige Stunden später vergessen haben würde, brachen die Arbeiter in begeisterten Jubel aus. Der Tontechniker stellte die Lautstärke der Musik noch ein wenig höher. Lakes Leute hatten ihn und sein Team für 24 000 Dollar eigens für diesen Auftritt angeheuert. Geld spielte kaum eine Rolle.

Ballons fielen wie Manna von der Decke. Einige wurden von Arbeitern, die man zuvor dazu aufgefordert hatte, zum Platzen gebracht, so dass im Hangar eine Geräuschkulisse entstand, die an die erste Welle eines Sturmangriffs erinnerte. Macht euch bereit. Macht euch bereit für einen Krieg.

Wählt Lake, bevor es zu spät ist.

Der Vorstandsvorsitzende umarmte Lake, als wären sie uralte Freunde — dabei waren sie sich zwei Stunden zuvor zum ersten Mal begegnet. Dann trat der Vorstandsvorsitzende ans Rednerpult und wartete, bis der Lärm sich gelegt hatte. Er zog ein Blatt mit Notizen hervor, die man ihm am Vortag gefaxt hatte, und begann mit einer weitschweifigen und ziemlich wohlwollenden Vorstellung Aaron Lakes, des zukünftigen Präsidenten. Auf Zeichen wurde er fünfmal durch Applaus unterbrochen.

Lake winkte wie ein siegreicher Held und wartete einige Sekunden, bevor er ans Mikrofon trat und verkündete:»Mein Name ist Aaron Lake und ich bewerbe mich um das Amt des Präsidenten. «Noch mehr donnernder Applaus. Noch mehr Marschmusik. Noch mehr Luftballons.

Als er lange genug gewartet hatte, begann er mit seiner Rede. Sein Thema, sein Programm, sein einziger Grund für die Kandidatur war die nationale Sicherheit und er schnurrte die bestürzenden Zahlen herunter, die bewiesen, wie gründlich die gegenwärtige Regierung das Militär vernachlässigt

hatte. Kein anderes Thema sei von vergleichbarer Bedeutung, sagte er mit schonungsloser Offenheit. Das Land brauche nur in einen Krieg verwickelt zu werden, den es nicht gewinnen könne, und schon würden die alten Streitigkeiten über die Abtreibung, die Rassenfrage, die Waffenkontrolle, die Förderung von Minderheiten, die Steuergesetzgebung nebensächlich sein. Traditionelle Familienwerte seien in Gefahr? Sobald Soldaten im Kampf fielen, werde man Familien mit echten Problemen sehen.

Lake war sehr gut. Er hatte die Rede selbst geschrieben. Seine neuen Berater hatten sie bearbeitet, einige Spezialisten hatten daran gefeilt und gestern Abend hatte er sie dann Teddy Maynard im Bunker von Langley vorgetragen. Teddy hatte nur noch ein paar kleine Änderungen vorgenommen und sie abgesegnet.

Teddy saß zugedeckt im Rollstuhl und sah mit großem Stolz den Bericht über die Veranstaltung. York war bei ihm und schwieg wie gewöhnlich. Die beiden saßen oft allein im Bunker, starrten auf Leinwände und sahen zu, wie die Welt immer gefährlicher wurde.

Irgendwann sagte York leise:»Er ist gut.«

Teddy nickte und verzog das Gesicht sogar zu einem kleinen Lächeln.

Etwa in der Mitte seiner Rede wurde Lake herrlich wütend auf die Chinesen.»Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre haben wir sie vierzig Prozent unseres geheimen atomaren Wissens stehlen lassen!«sagte er und die Arbeiter zischten.

«Vierzig Prozent!«rief er.

In Wirklichkeit waren es eher 50 Prozent, doch Teddy hatte beschlossen, die Zahl ein wenig niedriger anzusetzen. Die CIA hatte für die erfolgreiche chinesische Agententätigkeit bereits genug Prügel bekommen.

Fünf Minuten lang stellte Lake die Chinesen, ihre Spionagetätigkeit und ihre beispiellose Aufrüstung an den Pranger. Diese Strategie hatte Teddy sich ausgedacht: Er sollte nicht die Russen, sondern die Chinesen gebrauchen, um den amerikanischen Wählern Angst einzujagen. Der wahre Feind, die wahre Bedrohung sollte erst im Lauf des Wahlkampfs enthüllt werden.

Lakes Timing war nahezu perfekt. Am Schluss seiner Rede stand der Hangar Kopf. Als er versprach, den Militärhaushalt in den ersten vier Jahren seiner Amtszeit zu verdoppeln, brachen die 4000 Arbeiter und Angestellten des Unternehmens, das Kampfhubschrauber herstellte, in wilden Jubel aus.

Teddy sah schweigend zu und war sehr stolz auf seinen Kandidaten. Sie hatten es geschafft, den Vorwahlen in New Hampshire die Schau zu stehlen, indem sie sie einfach ignoriert hatten. Lakes Name hatte dort nicht auf der Liste gestanden und er war seit Jahrzehnten der erste Kandidat, der mit Genugtuung auf diese Tatsache hingewiesen hatte.»Wen interessiert denn schon die Vorwahl in New Hampshire?«wurde er zitiert.»Ich werde im ganzen Rest des Landes gewinnen.«

Lake verabschiedete sich von den jubelnden Arbeitern und schüttelte noch einmal die Hände der Bosse auf der Bühne. Der CNN-Reporter gab wieder zurück ins Studio, wo Journalisten und Kommentatoren die nächsten fünfzehn Minuten damit verbringen würden, den Zuschauern zu erklären, was sie gerade gesehen hatten.

Teddy drückte ein paar Knöpfe auf dem Tisch und auf der Leinwand erschien ein neues Bild.»Hier ist der fertige Spot«, sagte er.»Unser erster.«

Es war ein Fernsehwerbespot für den Kandidaten Lake. Er begann mit einer kurzen Einstellung, die eine Reihe grimmig blickender chinesischer Generäle zeigte. Sie nahmen eine Militärparade ab, und

vor ihnen rollten Kolonnen mit schwerem Gerät vorbei.»Glauben Sie, dass die Welt sicherer geworden ist?«fragte eine tiefe, ernste Stimme aus dem Off. Dann kamen kurze Aufnahmen der aktuellen Bösewichter der Welt, die allesamt Militärparaden abnahmen: Saddam Hussein, Gaddafi, Milosevic, Kim. Sogar Bilder des armen Castro und seiner zerlumpten Armee würden für eine Sekunde über Amerikas Bildschirme flimmern.»Unsere Armee wäre im Augenblick nicht imstande, den Auftrag zu erfüllen, den sie 1991 im Golfkrieg erfüllt hat«, sagte die Stimme so unheilverkündend, als wäre bereits ein neuer Krieg ausgebrochen. Dann eine Explosion, gefolgt von einem Atompilz, und Tausende von Indern tanzten auf den Straßen. Eine zweite Explosion, und Tausende von Pakistanis taten dasselbe.

«China will Taiwan besetzen«, fuhr der Sprecher fort, während eine Million chinesischer Soldaten im Gleichschritt marschierten.»Nordkorea will in Südkorea einmarschieren«, sagte er, während Panzer durch die entmilitarisierte Zone rollten.»Und die Vereinigten Staaten sind immer ein leichtes Ziel.«

Eine neue Stimme war zu hören. Sie klang heller, und im Bild erschien ein mit zahlreichen Orden geschmückter General, der zu den Mitgliedern eines Kongressausschusses sprach.»Sie, die gewählten Vertreter dieses Volkes, geben mit jedem Jahr weniger für die Verteidigung aus. Das diesjährige Verteidigungsbudget ist niedriger als vor fünfzehn Jahren. Sie erwarten von uns, für einen Krieg in Korea, im Nahen Osten und jetzt auch auf dem Balkan gerüstet zu sein, aber die Ausgaben für das Militär sinken und sinken. Die Situation ist kritisch. «Der Bildschirm wurde dunkel und dann sagte die erste Stimme:»Vor zwölf Jahren gab es noch zwei Weltmächte. Jetzt gibt es keine mehr. «Dann erschien das gutaussehende Gesicht von Aaron Lake, und der Sprecher sagte:»Wählen Sie Lake, bevor es zu spät ist!«

«Ich bin mir nicht sicher, ob es mir gefällt«, sagte York nach kurzem Schweigen.

«Warum nicht?«

«Es ist so negativ.«

«Gut. Ihnen ist unbehaglich zumute, nicht?«

«Allerdings.«

«Umso besser. Wir werden das eine Woche lang zu allen möglichen Zeiten im Fernsehen laufen lassen, und ich nehme an, dass die bislang geringe Zustimmung für Lake noch mehr abnehmen wird. Dieser Spot erzeugt Unbehagen, und das wird den Leuten nicht gefallen.«

York kannte den Plan. Den Leuten würde tatsächlich unbehaglich zumute sein, und sie würden die Spots nicht mögen. Aber dann würde man ihnen Angst machen, und Lake würde auf einmal ein visionärer Führer sein. Teddy hatte vor, die Angst zu erzeugen.

In Trumble gab es in jedem Flügel zwei Fernsehzimmer — kleine, kahle Räume, in denen man rauchen und sich die Sendungen ansehen konnte, die die Wärter ausgesucht hatten. Es gab keine Fernbedienung. Das hatte man probiert, aber es hatte zu viel Ärger gegeben. Die bei weitem schlimmsten Streitigkeiten waren immer dann ausgebrochen, wenn die Männer sich nicht auf ein Programm hatten einigen können. Also lag die Programmgestaltung bei den Wärtern.

Die Gefangenen durften in ihren Zellen keine Fernsehgeräte haben.

Der Dienst habende Wärter hatte eine Vorliebe für Basketball. Auf dem Sportkanal lief ein Spiel zwischen College-Mannschaften, und der Raum war voller Gefangener, die zusahen. Hatlee Beech hasste Sport. Er saß allein in dem anderen Raum und sah sich eine seichte Familienkomödie nach der anderen an. Als er noch Richter mit einem Zwölf-Stunden-Tag gewesen war, hatte er nie ferngesehen. Dafür war einfach keine Zeit gewesen. Er hatte zu Hause ein Arbeitszimmer gehabt, in dem er bis spät in der Nacht Urteilsbegründungen auf ein Diktiergerät sprach, während alle anderen vor dem Fernseher klebten. Als er sich jetzt dieses geistlose Zeug ansah, begriff er, wie viel Glück er gehabt hatte. Und zwar in vielerlei Hinsicht. Er zündete sich eine Zigarette an. Seit dem Studium hatte er nicht mehr geraucht und in den ersten zwei Monaten in Trumble hatte er der Versuchung noch widerstanden. Jetzt half ihm das Rauchen, die Langeweile zu ertragen, doch er beschränkte sich auf eine Schachtel täglich. Sein Blutdruck war mal zu hoch, mal zu niedrig. Herzkrankheiten waren in seiner Familie häufig. Er war sechsundfünfzig, hatte noch neun Jahre vor sich und war überzeugt, dass er Trumble in der Kiste verlassen würde.

Drei Jahre, einen Monat und eine Woche war er nun schon hier. Er zählte noch immer die Tage und er zählte auch die Tage bis zu seiner Entlassung. Vor kaum vier Jahren noch war er ein harter, frisch ernannter Bundesrichter gewesen, der eine glänzende Karriere vor sich hatte. Vor vier verdammten Jahren. Wenn er in Ost-Texas von einem Gericht zum anderen reiste, wurde er von einem Fahrer, einer Sekretärin, einem juristischen Berater und einem U. S. Marshall begleitet. Wenn er einen Gerichtssaal betrat, erhoben die Leute sich aus Respekt vor ihm. Bei den Anwälten erwarb er sich durch Fairness und Fleiß großes Ansehen. Seine Frau war nicht sehr liebenswert, aber angesichts ihres Vermögens, das aus dem familieneigenen Öltrust stammte, schaffte er es, friedlich mit ihr zusammenzuleben. Die Ehe war nicht gerade von Liebe erfüllt, aber immerhin stabil und drei gut geratene Kinder auf dem College waren etwas, auf das man stolz sein konnte. Seine Frau und er hatten stürmische Zeiten hinter sich und waren entschlossen, zusammen alt zu werden. Sie hatte das Geld und er hatte den Status. Gemeinsam hatten sie ihre Kinder großgezogen. Was sollte die Zukunft schon noch bereithalten?

Gewiss nicht das Gefängnis.

Vier beschissene Jahre.

Das Trinken kam aus dem Nichts. Vielleicht fing er wegen der Arbeitsbelastung damit an, vielleicht auch, um der Nörgelei seiner Frau zu entgehen. Nach dem Studium trank er jahrelang nur wenig und dann auch nur in Gesellschaft. Es war nichts Ernsthaftes und ganz gewiss keine Sucht. Einmal, als die Kinder noch klein waren, flog seine Frau mit ihnen für zwei Wochen nach Italien. Beech blieb allein zu Hause und das war ihm sehr recht. Aus irgendeinem Grund, an den er sich nicht erinnerte und den er auch nicht rekonstruieren konnte, begann er Bourbon zu trinken. Er trank viel und hörte nicht mehr auf. Der Whiskey wurde zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens. Er hatte immer eine Flasche in seinem Arbeitszimmer und genehmigte sich spät abends ein paar Gläser. Da er und seine Frau getrennte Schlafzimmer hatten, fiel ihr das nur selten auf.

Der Anlass für die Reise zum Yellowstone Park war eine Richtertagung. Er lernte die junge Frau in einer Bar in Jackson Hole kennen. Nachdem sie stundenlang Whiskey in sich hineingeschüttet hatten, kamen sie auf die verhängnisvolle Idee, eine Spritztour zu machen. Während Hatlee fuhr, zog sie sich ohne besonderen Grund aus. Sex stand nicht zur Debatte, und er war inzwischen so betrunken, dass er ohnehin keine Pläne in dieser Richtung verfolgte.

Die beiden Wanderer aus Washington, D. C., waren Studenten, die von einem Ausflug zurückkehrten. Beide starben am Unfallort, am Rand einer schmalen Straße, umgenietet von einem betrunkenen Fahrer, der sie nicht gesehen hatte. Den Wagen der jungen Frau fand man im Straßengraben. Am Steuer saß Hatlee, so betrunken, dass er nicht imstande war auszusteigen. Die Frau war nackt und bewusstlos.

Er konnte sich an nichts erinnern. Als er Stunden später erwachte, sah er zum ersten Mal in seinem Leben eine Gefängniszelle von innen.»Gewöhnen Sie sich schon mal daran«, sagte der Sheriff mit einem höhnischen Grinsen.

Beech setzte alle nur erdenklichen Hebel in Bewegung und forderte alle Gefallen ein, die er jemals jemandem erwiesen hatte, doch es war zwecklos. Zwei junge Leute waren gestorben. Er war in Begleitung einer nackten Frau gewesen. Sein Frau besaß das Geld aus dem Öltrust und seine Freunde ergriffen wie feige Hunde die Flucht. Niemand trat für den Ehrenwerten Hatlee Beech ein.

Er konnte von Glück sagen, dass er mit zwölf Jahren davongekommen war. Am ersten Verhandlungstag marschierten Bürgerinitiativen gegen Trunkenheit am Steuer vor dem Gerichtsgebäude auf. Sie forderten lebenslänglich. Lebenslänglich!

Er, der Ehrenwerte Hatlee Beech, wurde der zweifachen fahrlässigen Tötung angeklagt und hatte nichts zu seiner Verteidigung zu sagen. Die Alkoholmenge in seinem Blut hätte jeden anderen umgebracht. Ein Zeuge sagte aus, Beech sei mit überhöhter Geschwindigkeit auf der falschen Straßenseite gefahren.

Er konnte von Glück reden, dass der Unfall in einem Nationalpark stattgefunden hatte, denn sonst wäre er in einem Staatsgefängnis gelandet, wo die Verhältnisse weit unerfreulicher waren. Man konnte sagen, was man wollte, aber ein Bundesgefängnis hatte durchaus seine Vorzüge.

Allein saß er rauchend im Halbdunkel, als die von Zwölfjährigen geschriebene Familienkomödie für eine Wahlwerbung unterbrochen wurde, von der es in letzter Zeit so viele gab. Es war ein Spot, den Beech noch nie gesehen hatte, ein sinistres kleines Ding mit einer düsteren Stimme, die eine Katastrophe vorhersagte für den Fall, dass nicht sofort mehr Bomben gebaut würden. Es war sehr gut gemacht, dauerte anderthalb Minuten, hatte eine Stange Geld gekostet und transportierte eine Botschaft, die niemand hören wollte. Wählen Sie Lake, bevor es zu spät ist.

Wer zum Teufel war Aaron Lake?

Im politischen Geschehen kannte Beech sich aus. Damals, in seiner Vergangenheit, war Politik eine seiner Leidenschaften gewesen und in Trumble galt er als ein Mann, der die Vorgänge in Washington verfolgte. Er war einer der wenigen, die sich dafür interessierten.

Aaron Lake? Beech hatte noch nie von ihm gehört. Was für eine seltsame Strategie, sich nach den Vorwahlen in New Hampshire als völlig Unbekannter in den Wahlkampf zu stürzen. Aber es gab ja nie einen Mangel an Narren, die Präsident werden wollten.

Beechs Frau hatte sich von ihm getrennt, bevor er sich schuldig bekannt hatte. Natürlich war sie über die nackte Frau aufgebrachter gewesen als über die beiden toten Wanderer. Die Kinder hatten sich auf ihre Seite geschlagen, weil sie das Geld besaß und weil er so unglaublichen Mist gebaut hatte. Die Entscheidung war ihnen nicht schwer gefallen. Eine Woche nach seiner Einlieferung in Trumble war die Scheidung rechtskräftig gewesen.

In diesen drei Jahren, einem Monat und einer Woche hatte ihn sein Jüngster zweimal besucht — heimlich, damit seine Mutter nichts davon erfuhr. Sie hatte den Kindern verboten, nach Trumble zu fahren.

Dann war er von den Familien der beiden Opfer auf Schadenersatz verklagt worden. Da keiner seiner Freunde bereit war, den Fall zu übernehmen, hatte er versucht, sich vom Gefängnis aus zu verteidigen. Allerdings hatte er zu seiner Verteidigung nicht viel vorbringen können. Er war zu fünf Millionen Dollar Schadenersatz verurteilt worden. Er hatte von Trumble aus Berufung eingelegt, die

abgelehnt worden war, worauf er noch einmal Berufung eingelegt hatte.

Unter der Zigarettenschachtel lag auf dem Stuhl neben ihm ein Umschlag, den Trevor, der Anwalt, heute mitgebracht hatte. Seine Berufung war abermals vom Gericht abgelehnt worden. Das Urteil war damit rechtskräftig.

Das spielte eigentlich keine Rolle mehr, denn er hatte außerdem einen Insolvenzantrag gestellt. Er hatte das Schreiben in der Gefängnisbibliothek selbst aufgesetzt und zusammen mit der schriftlichen eidesstattlichen Versicherung an das Gericht in Texas geschickt, wo er einst ein Gott gewesen war.

Verurteilt, geschieden, von der Anwaltsliste gestrichen, eingesperrt, verklagt, bankrott.

Die meisten der Versager, die in Trumble saßen, kamen ganz gut damit zurecht, weil sie nicht besonders tief gefallen waren. Die meisten waren Wiederholungstäter, die sich ihre dritte oder vierte Chance vermasselt hatten. Die meisten waren sogar fast gern hier, weil dieses Gefängnis so viel besser war als die anderen, in denen sie gesessen hatten.

Doch Beech hatte so viel verloren und war so tief gefallen. Noch vor vier Jahren war er mit einer Frau verheiratet gewesen, die Millionen besaß, er hatte drei Kinder gehabt, die ihn liebten, und er hatte in einem großen Haus in einer kleinen Stadt gewohnt. Er war ein vom Präsidenten auf Lebenszeit ernannter Bundesrichter gewesen und hatte 140000 Dollar im Jahr verdient — das war zwar weniger als die Einkünfte seiner Frau, aber alles andere als ein schlechtes Einkommen. Zweimal im Jahr hatte man ihn zu einer Konferenz ins Justizministerium nach Washington eingeladen. Beech war ein wichtiger Mann gewesen.

Ein Anwalt und alter Freund hatte ihn auf dem Weg nach Florida, wo seine Kinder lebten, zweimal besucht und ihm ein bisschen Klatsch erzählt. Das meiste davon war unbedeutend, aber es gab hartnäckige Gerüchte, dass die ehemalige Mrs. Beech einen neuen Freund hatte. Mit ein paar Millionen Dollar und schmalen Hüften war das wohl nur eine Frage der Zeit.

Noch eine Wahlkampfwerbung. Wieder:»Wählen Sie Lake, bevor es zu spät ist. «Dieser Spot begann mit körnigen Videoaufnahmen von Männern mit Sturmgewehren, die durch eine Wüstenlandschaft robbten, in Deckung gingen, feuerten und anscheinend irgendeine Art von militärischer Ausbildung erhielten. Dann das finstere Gesicht eines Terroristen — dunkle Haut, schwarzes Haar, stechender Blick, offenbar irgendein radikaler Moslem —, der auf Arabisch mit englischen Untertiteln sagte:»Wir werden die Amerikaner töten, wo wir sie finden. Wir sind bereit, in unserem heiligen Krieg gegen den großen Satan zu sterben. «Danach kurze Einstellungen von brennenden Häusern, zerbombten Botschaften, einer Busladung Touristen und den auf einer Wiese verstreuten Trümmern eines Verkehrsflugzeugs.

Ein gut aussehendes Gesicht erschien: Mr. Aaron Lake persönlich. Er sah Hatlee Beech direkt an und sagte:»Ich bin Aaron Lake. Wahrscheinlich kennen Sie mich nicht. Ich bewerbe mich um die Präsidentschaft, weil ich mir Sorgen mache. Ich mache mir Sorgen wegen China und Osteuropa und dem Nahen Osten. Ich mache mir Sorgen um den Zustand unserer Streitkräfte. Im letzten Jahr hatte unser Haushalt einen gewaltigen Überschuss, doch für unsere Verteidigung haben wir weniger ausgegeben als vor fünfzehn Jahren. Wir sind leichtsinnig geworden, weil unsere Wirtschaft stark ist, aber die Welt ist weit gefährlicher, als wir glauben. Unsere Feinde sind zahlreich und wir können uns nicht vor ihnen schützen. Als Präsident werde ich in den vier Jahren meiner Amtszeit die Verteidigungsausgaben verdoppeln.«

Kein Lächeln, keine Wärme. Nur deutliche Worte von einem Mann, der das, was er sagte, auch zu meinen schien. Eine Stimme aus dem Off sagte:»Wählen Sie Lake, bevor es zu spät ist.«

Nicht schlecht, dachte Beech.

Er zündete sich noch eine Zigarette an, die letzte für heute Abend, und starrte den Briefumschlag auf dem leeren Stuhl an: Er schuldete den beiden Familien fünf Millionen Dollar. Und er hätte das Geld bezahlt, wenn er gekonnt hätte. Er hatte die beiden Studenten noch nie gesehen, nicht vor dem Unfall. Am Tag darauf waren ihre Fotos in der Zeitung gewesen. Ein Junge und ein Mädchen. Zwei Studenten, die den Sommer hatten genießen wollen.

Der Bourbon fehlte ihm.

Die Hälfte der Summe war mit seinem Insolvenzantrag erledigt. Die andere Hälfte war eine Schadenswiedergutmachung im Rahmen der Strafe und unterlag damit nicht dem Insolvenzrecht. Das bedeutete, dass diese Schulden ihm folgen würden, wohin er auch ging. Er glaubte jedoch, dass er nirgendwohin gehen würde. Am Ende seiner Strafe würde er fünfundsechzig sein, aber er würde schon vorher sterben. Man würde ihn im Sarg hinaustragen und nach Texas schaffen, wo man ihn hinter der kleinen ländlichen Kirche beerdigen würde, in der er getauft worden war. Vielleicht würde eines seiner Kinder ihm einen Grabstein spendieren.

Beech ging hinaus, ohne den Fernseher auszuschalten. Es war beinahe zehn Uhr, das Licht würde bald gelöscht werden. Er teilte seine Zelle mit Robbie, einem Jungen aus Kentucky, der in 240 Häuser eingebrochen war, bevor man ihn geschnappt hatte. Er hatte die Revolver, Mikrowellenherde und Stereoanlagen gegen Kokain eingetauscht. Robbie war seit vier Jahren in Trumble und somit ein alter Hase und als solcher hatte er sein Vorrecht geltend gemacht und sich das untere Bett ausgesucht. Beech kletterte in das obere Bett, sagte:»Gute Nacht, Robbie«, und schaltete das Licht aus.

«Nacht, Hatlee«, antwortete Robbie leise.

Manchmal unterhielten sie sich noch im Dunkeln. Die Wände waren aus Ziegelsteinen, die Tür war aus Stahl, und ihre Worte drangen nicht nach draußen. Robbie war fünfundzwanzig und würde bei seiner Entlassung fünfundvierzig sein. Vierundzwanzig Jahre — je ein Jahr für zehn Einbrüche.

Die Zeit zwischen dem Hinlegen und dem Einschlafen war die schlimmste des ganzen Tages. Die Vergangenheit holte Beech mit aller Macht ein: die Fehler, das Unglück, was hätte sein können und was hätte sein sollen. Sosehr er es auch versuchte — Beech konnte nicht einfach die Augen schließen und einschlafen. Zuvor musste er sich erst noch bestrafen. Es gab eine Enkeltochter, die er nie sehen würde, und mit ihr fing er immer an. Dann seine drei Kinder. An seine Frau dachte er nicht, wohl aber an ihr Geld. Und an seine Freunde. Ach, ja, seine Freunde. Wo waren sie jetzt?

Seit drei Jahren war er nun schon hier, und da er keine Zukunft hatte, blieb ihm nur die Vergangenheit. Selbst der arme Robbie träumte von einem Neuanfang mit 45. Beech tat das nicht. Manchmal sehnte er sich geradezu nach der warmen Erde von Texas, die hinter der kleinen Kirche seinen Leichnam bedecken würde.

Bestimmt würde jemand einen Grabstein bezahlen.