172636.fb2 Die Galgenfrist - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

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8

Früh am nächsten Morgen brachte Sally ihnen einen Korb mit Speck, hart gekochten Eiern, Brot und einem Krug kalten Tee, und sie teilten das Frühstück mit ihren Gefangenen. Mackeson, der Kutscher, nahm sein Schicksal ergeben hin. »Du hast keine große Wahl, was?«, sagte er zu Berrigan. »Du musstest uns gefangen nehmen, aber es wird dir nicht gut bekommen, Sam.«

»Warum nicht?«

»Hast du je einen Lord am Galgen baumeln sehen?«

»Earl Ferres wurde gehenkt«, schaltete Sandman sich ein, »wegen Mordes an seinem Diener.«

»Nein!«, sagte Sally ungläubig. »Sie haben einen Earl aufgehängt? Wirklich?«

»Er fuhr mit seiner eigenen Kutsche zur Hinrichtung«, erzählte Sandman, »in seinem Hochzeitsanzug.«

»Tod und Teufel!« Sie freute sich offensichtlich darüber. »Ein Lord, was?«

»Aber das ist schon lange her«, tat Mackeson den Einwand ab, »schon sehr, sehr lange.« Sein Schnurrbart, den Sandman gestern so schneidig gewichst gesehen hatte, hing nun schlaff und strähnig herunter. »Und was passiert jetzt mit uns?«, fragte er finster.

»Wir fahren nach Nether Cross«, sagte Sandman, »wir holen das Mädchen, und anschließend fahren Sie uns zurück nach London, wo ich euren Arbeitgebern in einem Brief mitteilen werde, dass eure Abwesenheit erzwungen war.«

»Das wird auch was nützen«, grummelte Mackeson.

»Du bist Kutscher, Mack, du findest schon eine Arbeit«, sagte Berrigan. »Die ganze Welt könnte verhungern, aber für einen Kutscher gibt es immer Arbeit.«

»Zeit, aufzubrechen«, sagte Sandman mit einem Blick auf den dämmrigen Himmel. Leichter Nebel driftete über die Heide, als sie die vier Pferde an einem Steintrog tränkten und wieder zur Kutsche führten. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihnen das Geschirr mit Zaumzeug, Bauchgurten, Rückengurten, Martingalen, Kummets, Zugriemen, Schwanzriemen und Stirnbändern wieder angelegt hatten. Nachdem Mackeson und Billy die Pferde eingespannt hatten, ließ Sandman den Jüngeren Schuhe und Gürtel ausziehen. Der Stallknecht hatte darum gebeten, ihm die Fesseln an Händen und Füßen zu lösen, und Sandman hatte eingewilligt, aber ohne Schuhe und mit einer Hose, die ständig auf die Knie zu rutschen drohte, würde der Junge schwerlich flüchten können. Sandman und Sally setzten sich mit dem verlegenen Billy in die Kutsche, während Mackeson und Berrigan auf den Bock stiegen. Unter Gerassel und Geklimper fuhren sie mit einem Ruck an und holperten über das Gras auf die Straße. Sie waren wieder unterwegs.

Sie fuhren nach Südosten, vorbei an Hopfenfeldern, Obstwiesen und großen Landgütern. Gegen Mittag war Sandman gegen seinen Willen eingeschlafen und fuhr erschrocken auf, als die Kutsche durch eine ausgefahrene Spur rumpelte. Blinzelnd sah er, dass Sally seine Pistole genommen hatte und den gründlich eingeschüchterten Billy anstarrte. »Sie können ruhig schlafen, Captain«, sagte sie.

»Tut mir Leid, Sally.«

»Er hat sich nicht getraut, was zu machen«, sagte Sally höhnisch, »nicht, nachdem ich ihm erzählt habe, wer mein Bruder ist.«

Sandman schaute aus dem Fenster und sah, dass sie einen Hang in einem Buchenwald hinauffuhren. »Ich dachte gestern Nacht, wir würden ihm vielleicht begegnen.«

»Er geht nicht gern über den Fluss«, erklärte Sally, »er arbeitet nur auf den Straßen gen Norden und Westen.« Sie sah, dass er wieder völlig wach war, und gab ihm seine Pistole zurück. »Glauben Sie, dass ein Mann, der auf die schiefe Bahn geraten ist, wieder anständig werden kann?«, fragte sie.

Sandman ahnte, dass die Frage nicht ihrem Bruder galt, sondern Berrigan. Nicht dass der Sergeant auf die schiefe Bahn geraten war, wenn man es an den Maßstäben des Wheatsheaf maß, aber als Diener der Seraphim hatte er gewiss seinen Teil an Verbrechen begangen. »Sicher kann er das«, erklärte Sandman zuversichtlich.

»Das schaffen nicht viele«, wandte Sally ein, aber nicht als Gegenargument, vielmehr wollte sie beruhigt werden.

»Wir alle müssen sehen, wie wir unseren Lebensunterhalt bestreiten, Sally«, sagte Sandman. »Und wenn wir ehrlich sind, möchte keiner von uns allzu hart arbeiten. Das macht ja den Reiz der schiefen Bahn aus, nicht wahr? Dein Bruder kann davon leben, dass er nur eine von drei Nächten arbeitet.«

»Er ist eben Jack.« Sie klang etwas trostlos, und statt Sandman in die Augen zu sehen, schaute sie durch das staubige Fenster auf eine Obstwiese.

»Vielleicht wird Ihr Bruder ja gesetzter, wenn er die richtige Frau trifft«, versuchte Sandman sie zu trösten. »Das ist bei vielen Männern so. Anfangs sind sie Gauner, aber dann suchen sie sich anständige Arbeit, und zwar häufig, nachdem sie eine Frau kennen gelernt haben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele meiner Soldaten echte Taugenichtse waren’, verdammte Dummköpfe, die dem Feind mehr genützt haben als uns, und dann trafen sie ein spanisches Mädchen, das nur halb so viel wog wie sie, und innerhalb einer Woche waren sie vorbildliche Soldaten.« Als sie ihn ansah, lächelte er. »Ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen, Sally.«

Sie erwiderte sein Lächeln. »Sind Sie ein guter Menschenkenner, Captain?«

»Ja, Sally, das bin ich.«

Sie lachte und schaute Billy an. »Mach die Klappe zu, dass du keine Fliegen fängst. Und hör auf, Privatgespräche zu belauschen!«

Er wurde rot und starrte auf eine Hecke, die am Fenster vorüberzog. Da sie die Pferde nicht wechseln konnten, zügelte Mackeson die Reisegeschwindigkeit. Sie kamen nur langsam voran, zumal die Straße schlecht war und sie jedes Mal an den Rand fahren mussten, wenn ein Horn verkündete, dass eine Post- oder Frachtkutsche hinter ihnen war. Die Postkutschen kündeten ihr Herannahen mit dramatischem Hörnerklang an, und dann rasten die leichten Fahrzeuge mit der hohen Federung schaukelnd wie ein Artilleriegeschütz vorbei. Sandman beneidete sie um ihre Geschwindigkeit und machte sich Gedanken über die Fahrtdauer, aber dann sagte er sich, dass schließlich erst Samstag sei, und sofern Meg sich tatsächlich in Nether Cross versteckt hielte, dürften sie bis Sonntagabend wieder in London sein und genügend Zeit haben, Lord Sidmouth aufzutreiben und für Cordays Begnadigung zu sorgen. Der Innenminister hatte gesagt, er wolle am Tag des Herrn nicht mit Geschäften behelligt werden, aber Sandman scherte sich keinen Deut um die Gebete Seiner Lordschaft. Er hätte die gesamte Regierung von ihren Gebeten abgehalten, wenn er damit der Gerechtigkeit dienen könnte.

Im Laufe des Vormittags tauschte Sandman den Platz mit Berrigan. Nun bewachte er den Kutscher und knöpfte seinen Rock auf, um ihm seine Pistole zu zeigen, aber der Mann war eingeschüchtert und lammfromm. Er lenkte die Kutsche über immer schmalere Straßen unter dicht belaubten Bäumen hindurch, sodass er und Sandman sich ständig unter tief hängenden Asten ducken mussten. An einer Furt hielten sie, um die Pferde trinken zu lassen, und Sandman beobachtete die schillernden Libellen, die zwischen den hohen Binsen flatterten, bis Mackeson mit der Zunge schnalzte und die Pferde die Kutsche spritzend durch das Wasser zogen. Es ging zwischen warmen Feldern bergan, wo Männer und Frauen mit Sensen Getreide mähten. Gegen Mittag machten sie an einem Gasthof Halt, und Sandman kaufte Bier, Brot und Käse, die sie während der letzten Meilen der Fahrt aßen und tranken. Sie kamen an einer Kirche in hochzeitlichem Blumenschmuck vorbei und ratterten durch ein Dorf, wo Männer auf einer Wiese Kricket spielten. Sandman beobachtete das Spiel, solange die Kutsche am Rand der Wiese entlangholperte. Es war ländliches Kricket, das weit vom Raffinement des Londoner Spiels entfernt war. Die Spieler benutzten hier nur zwei Torpfosten mit einer breiten Querlatte und warfen ausschließlich von unten, aber der Schlagmann hatte eine gute Haltung und ein gutes Auge, und Sandman hörte die Männer jubeln, als der Mann einen schlechten Wurf zur Strafe in einen Ententeich beförderte. Ein kleiner Junge planschte hinein, um ihn zu holen. Mackeson lenkte die Pferde mit mühelosem Geschick zwischen zwei Backsteinmauern durch, vorbei an zwei Hopfendarren in eine schmale Gasse, die steil durch einen dichten Eichenwald führte. »Jetzt ist es nicht mehr weit«, sagte er.

»Sie haben den Weg erstaunlich gut wiedergefunden«, lobte Sandman den Kutscher in ehrlicher Bewunderung, denn angesichts der gewundenen Route hatte er sich schon gefragt, ob Mackeson sie bewusst in dem Gewirr kleiner Straßen in die Irre führen wollte, aber an der letzten Abzweigung hatte er ein Hinweisschild nach Nether Cross gesehen.

»Ich bin die Strecke ein halbes Dutzend Mal mit Seiner Lordschaft gefahren«, erklärte Mackeson und schaute Sandman zögernd an. »Und was passiert, wenn Sie die Frau nicht finden?«

»Wir werden sie finden«, sagte Sandman. »Sie haben sie schließlich hergebracht, oder nicht?«

»Das ist schon lange her, Meister«, sagte Mackeson.

»Wie lange?«

»Fast sieben Wochen«, antwortete der Kutscher. Sandman überschlug, dass man Meg unmittelbar nach dem Mord, also einen vollen Monat vor dem Prozess gegen Corday aufs Land gebracht haben musste. »Ganze sieben Wochen ist das her«, fuhr Mackeson fort, »und in sieben Wochen kann alles passieren, oder?« Er warf Sandman einen verstohlenen Blick zu. »‘Vielleicht ist Seine Lordschaft ja hier? Das würde Ihnen die Suppe schön versalzen, was?«

Sandman hatte tatsächlich schon befürchtet, dass Skavadale auf seinem Landsitz in Nether Cross sein könnte, fand es aber sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Entweder er war da und man musste sich mit ihm auseinander setzen, oder nicht. Wesentlich größere Sorgen machte Sandman die Vorstellung, dass Meg verschwunden sein könnte. Vielleicht war sie tot? Wenn sie Skavadale tatsächlich erpresste, lebte sie vielleicht in ländlichem Luxus und würde ihr neues Leben nicht aufgeben wollen. »Was für ein Haus ist es?«, fragte er den Kutscher.

»Es ist nicht so wie die großen Güter im Norden«, antwortete Mackeson. »Dieses hier haben sie früher mal durch eine Heirat bekommen, habe ich gehört.«

»Komfortabel?«

»Besser als alles, wo Sie oder ich je wohnen werden«, sagte Mackeson und schnalzte mit der Zunge. Die Pferde spitzten die Ohren und bogen, als er mit dem Führungszügel zuckte, gehorsam vor ein Tor zwischen hohen Steinpfeilern.

Sandman öffnete das Tor, das eingeklinkt, aber nicht verschlossen war, und schloss es wieder, nachdem die Kutsche durchgefahren war. Sobald er auf den Kutschbock gestiegen war, lenkte Mackeson die Pferde über die lange Zufahrt, die zwischen schönen Rotbuchen durch ein Wildgehege führte, bis sie eine kleine Brücke überquerte und vor einem kleinen elisabethanischen Haus mündete, das mit seinem schwarzen Fachwerk, dem weißen Putz und den roten Backsteinschornsteinen von erlesener Schönheit war. »Es heißt Cross Hall«, sagte Mackeson.

»Eine schöne Mitgift«, sagte Sandman neidvoll, denn das Haus wirkte in der Nachmittagssonne einfach vollkommen.

»Alles verschuldet, wie man sich erzählt«, sagte Mackeson. »Der Kasten verschlingt ein Vermögen. Ich muss mich um die Pferde kümmern. Sie brauchen Wasser, ordentliches Futter, müssen gestriegelt werden und ausruhen.«

»Alles zu seiner Zeit«, sagte Sandman. Er musterte die Fassade. Keines der Fenster stand offen, was an diesem heißen Sommertag ein schlechtes Zeichen war, aber er sah ein Rauchwölkchen aus einem der hohen Schornsteine im hinteren Teil des Hauses aufsteigen, was ihn wieder hoffen ließ. Die Kutsche hielt, er sprang vom Bock und verzog das Gesicht, da sein verstauchter Knöchel bei der Belastung schmerzte. Berrigan öffnete den Wagenschlag und klappte mit dem Fuß den Tritt herunter, aber Sandman wies ihn an, zu warten und dafür zu sorgen, dass Mackeson nicht mit der Kutsche davonfuhr.

Sandman humpelte an die Haustür und hämmerte an die alte, dunkle Türfüllung. Er hatte kein Recht, hier zu sein, dachte er, vermutlich war sein Eindringen widerrechtlich. Er tastete nach dem Schreiben des Innenministeriums. Bisher hatte er es noch kein einziges Mal gebraucht, aber vielleicht würde es ihm nun helfen. Er klopfte noch einmal und trat zurück, um zu schauen, ob jemand aus einem der Fenster lauerte. Rund um den Eingang wuchs Efeu, und unter den Blättern über der Tür erkannte er im Putz schwach das Relief eines Wappenschildes mit fünf Kammmuscheln. Da sich niemand am Fenster zeigte, trat er wieder an die Tür, und hob gerade die Faust, um erneut zu klopfen, als sie sich öffnete und ein hagerer alter Mann zunächst ihn anstarrte und anschließend die Kutsche mit dem Wappen des Seraphim Clubs musterte. »Wir erwarten heute keine Besucher«, sagte er offensichtlich verwundert.

»Wir sind gekommen, um Meg abzuholen«, antwortete Sandman aus einem Impuls heraus. Der Mann – nach seiner Kleidung zu urteilen ein Dienstbote – hatte die Kutsche eindeutig erkannt und fand ihr Erscheinen keineswegs merkwürdig. Überraschend vielleicht, was den Zeitpunkt anging, aber nicht seltsam. Sandman hoffte, der Diener würde annehmen, dass der Marquess sie geschickt habe.

»Mir hat niemand gesagt, dass sie wegfährt.« Der Mann war misstrauisch.

»Nach London«, sagte Sandman.

»Und wer sind Sie?« Der Mann war groß und hatte ein runzeliges Gesicht, das von ungekämmtem, weißem Haar gerahmt war.

»Das habe ich doch schon gesagt. Wir sind gekommen, um Meg zu holen. Sergeant Berrigan und ich.«

»Sergeant?« Der Mann erkannte den Namen offenbar nicht, klang aber beunruhigt. »Sie haben einen Anwalt mitgebracht?«

»Er ist aus dem Club«, sagte Sandman und hatte den Eindruck, dass sie vollständig aneinander vorbeiredeten.

»Seine Lordschaft hat nichts davon gesagt, dass sie wegfährt«, wiederholte der Mann argwöhnisch.

»Er braucht sie in London«, erklärte Sandman.

»Dann hole ich das Mädchen«, sagte der Mann. Bevor Sandman reagieren konnte, schlug er so schnell die Tür zu und schob die Riegel vor, dass Sandman völlig verdutzt war. Er starrte immer noch die Tür an, als er eine Glocke im Inneren des Hauses hörte und wusste, dass sie Meg warnen sollte. Er fluchte.

»Verdammt guter Anfang«, sagte Berrigan sarkastisch.

»Aber die Frau ist hier«, antwortete Sandman, als er wieder an die Kutsche trat, »und er sagt, er will sie holen.«

»Wirklich?«

Sandman schüttelte den Kopf. »Verstecken wohl eher. Das bedeutet, wir müssen sie suchen, aber was machen wir mit diesen beiden hier?« Er deutete auf Mackeson.

»Wir erschießen die Kerle und verbuddeln sie«, knurrte Berrigan und erntete von Mackeson eine eindeutige Geste. Letzten Endes brachten sie die Kutsche zu den Pferdeställen, wo sie Boxen und Futterraufen leer vorfanden. Aber in einem der Backsteingebäude entdeckten sie einen fensterlosen Sattelraum mit solider Tür, in den sie Mackeson und den Stallknecht sperrten, während sie die Pferde eingespannt vor der Kutsche im Hof stehen ließen. »Wir kümmern uns später um sie«, erklärte Sandman.

»Dann sammeln wir auch ein paar Eier ein«, sagte Berrigan grinsend, denn auf dem Hof wimmelte es von Hühnern, einige schauten von der Dachkante, andere saßen auf den Fensterbänken, die meisten pickten Körner auf, die jemand auf das von Unkraut überwucherte und von Hühnerkot weiße Pflaster gestreut hatte. Ein Hahn beäugte sie vom Steigbock, zuckte mit dem Kamm und krähte aus voller Kehle, als Sandman mit Berrigan und Sally zur Hintertür von Cross Hall ging. Sie war verschlossen. Alle Türen waren verschlossen, aber das Haus war keine Festung, und Sandman entdeckte ein Fenster, das nicht richtig verriegelt war. Er rüttelte fest daran, bis es nachgab und er in ein kleines holzvertäfeltes Wohnzimmer mit leerem Kamin und mit Tüchern verhängten Möbeln klettern konnte. Berrigan folgte ihm. »Bleiben Sie draußen«, wies Sandman Sally an, die zwar nickte, aber ebenfalls durchs Fenster stieg. »Es könnte zum Kampf kommen«, warnte Sandman sie.

»Ich komme mit«, beharrte Sally. »Ich kann Hühner nicht ausstehen.«

»Das Mädchen könnte das Haus inzwischen verlassen haben«, sagte Berrigan.

»Ja«, bestätigte Sandman, aber er hatte das Gefühl, dass sie sich irgendwo im Haus versteckt hielt. »Wir suchen sie trotzdem.« Er öffnete die Tür, die auf einen langen getäfelten Gang führte. Im Haus war alles still. An den Wänden hingen keine Bilder, auf den dunklen Dielen, die bei jedem Schritt knarrten, lagen keine Teppiche. Sandman öffnete verschiedene Türen und sah, dass die wenigen verbliebenen Möbel mit Tüchern gegen den Staub abgedeckt waren. Eine elegante Treppe mit kunstvoll geschnitztem Endpfosten führte aus der Halle ins Obergeschoss, das Sandman im Dämmerlicht liegen sah, als er an der Treppe vorbei in den hinteren Teil des Hauses ging.

»Hier wohnt niemand außer den Hühnern«, sagte Sally, als sie auf weitere leere Räume stießen.

Sandman öffnete eine Tür und sah einen langen Esstisch, der mit Laken abgedeckt war. »Lord Alexander erzählte mir, dass sein Vater ein Haus, das ihm gehörte, einmal völlig vergessen hatte«, erzählte er Sally. »Es war ein großes Haus. Es moderte so vor sich hin, bis ihnen einfiel, dass es ihnen gehörte.«

»Nachlässiges Pack«, schimpfte Sally.

»Redest du von deinem Verehrer?«, fragte Berrigan amüsiert.

»Pass ja auf, Sam Berrigan«, entgegnete Sally. »Ich brauche nur mit dem kleinen Finger zu winken, dann werde ich Lady Soundso und du kannst vor mir katzbuckeln und Kratzfüße machen.«

»Ich werd dich schon kratzen, Mädchen, mit Vergnügen«, sagte Berrigan.

»Kinder, Kinder«, mahnte Sandman seine Gefährten und drehte sich abrupt um, als am Ende des Ganges eine Tür geöffnet wurde.

Der große, hagere Mann mit dem wilden, weißen Haarschopf stand mit einem Knüppel in der Tür. »Das Mädchen, das Sie suchen, ist nicht hier«, sagte er und hob halbherzig den Knüppel, als Sandman auf ihn zukam, ließ ihn aber dann sinken und schlurfte beiseite. Sandman schob sich an ihm vorbei in eine Küche mit großem, schwarzem Herd, Schrank und langem Tisch. Eine Frau, vermutlich die Ehefrau des hageren Mannes, saß am Kopfende des Tisches und rührte Teig in einer großen Porzellanschüssel. »Wer sind Sie?«, fragte Sandman den Mann.

»Der Verwalter«, antwortete er und mit einer Kopfbewegung zu der Frau: »Und meine Frau ist die Haushälterin.«

»Wann ist das Mädchen gegangen?«, fragte Sandman.

»Das geht Sie nichts an!«, fuhr die Frau ihn an. »Sie haben hier nichts zu suchen. Sie haben kein Recht, hier einzudringen! Also verschwinden Sie, bevor man Sie verhaftet.«

Sandman bemerkte eine Vogelflinte über dem Kaminsims. »Wer soll mich verhaften?«, fragte er.

»Wir haben nach Hilfe geschickt«, antwortete die Frau abwehrend. Ihr weißes Haar war straff nach hinten gekämmt und zu einem Knoten aufgesteckt, in ihrem harten Gesicht krümmte sich eine Hakennase zum spitzen Kinn. Ein Nussknackergesicht, dachte Sandman, ohne jede Menschlichkeit.

»Sie haben um Hilfe geschickt«, stellte Sandman fest, »aber ich komme vom Innenministerium. Von der Regierung. Ich besitze Amtsgewalt, und wenn Sie keinen Arger bekommen wollen, rate ich Ihnen, mir zu sagen, wo das Mädchen ist.«

Der Mann schaute seine Frau besorgt an, aber sie ließ sich von Sandmans Worten offenbar nicht beirren. »Sie haben hier drin gar kein Recht, Mister, also schlage ich vor, dass Sie gehen, bevor ich Sie für die Nacht einsperre!«

Sandman achtete gar nicht auf sie. Er öffnete die Tür zur Spülküche und schaute in einen Schrank, aber dort war Meg nicht versteckt. »Sie suchen hier unten weiter, Sergeant, ich schaue oben nach«, sagte er zu Berrigan.

»Glauben Sie wirklich, dass sie hier ist?«, fragte Berrigan skeptisch.

Sandman nickte. »Sie ist hier«, sagte er mit einer Sicherheit, die er nicht begründen konnte, aber er spürte, dass der Verwalter und seine Frau die Unwahrheit sagten. Zumindest der Verwalter hatte Angst. Seine Frau zwar nicht, aber der hagere Mann war viel zu nervös. Er hätte ebenso aufsässig wie seine Frau sein und Sandman des unbefugten Eindringens beschuldigen müssen, stattdessen benahm er sich wie jemand, der etwas zu verbergen hatte. Sandman lief die Treppe hinauf, um dort zu suchen.

Die Räume im Obergeschoss wirkten ebenso leer und verlassen wie die Zimmer im Erdgeschoss, aber am Ende des Korridors, unmittelbar neben einer schmalen Speichertreppe, gelangte Sandman in ein großes Schlafzimmer, das eindeutig bewohnt war. Auf dem dunklen Dielenboden lagen Teppiche, das schöne Himmelbett mit den fadenscheinigen Vorhängen war mit einem Laken bezogen und darüber lag eine zerwühlte Bettdecke. Frauenkleider hingen über einem Stuhl, weitere waren achtlos auf die beiden Bänke am offenen Fenster gehäuft, das jenseits eines Rasens und einer Backsteinmauer den Blick auf die erstaunlich nahe Kirche freigab. Eine rothaarige Katze schlief zwischen den Unterröcken auf einer der Fensterbänke. Megs Zimmer, dachte Sandman, und spürte, dass sie es eben erst verlassen hatte. Er ging an die Tür und schaute in den Flur, sah aber nichts außer tanzenden Staubflöckchen in den Strahlen der Spätnachmittagssonne.

Im Sonnenschein auf den unebenen Dielenbrettern erkannte er seine Fußabdrücke im Staub. Langsam ging er durch den Flur zurück und schaute noch einmal in jedes Zimmer. Im größten Schlafzimmer, das unmittelbar gegenüber der eleganten Treppe lag und einen breiten Kamin besaß, verziert mit sechs Vögeln in einem Wappenschild, entdeckte er weitere Spuren im Staub. Jemand war vor kurzem in diesem Zimmer gewesen, die Schritte führten zu dem steinernen Kamin, von dort zum Fenster, das dem Kamin am nächsten war, kehrten aber nicht wieder zurück zur Tür. Das Zimmer war leer, und die beiden Fenster geschlossen. Stirnrunzelnd betrachtete Sandman die Spuren und fragte sich, ob er sich vom Spiel aus Licht und Schatten in die Irre führen ließ, aber er hätte schwören können, dass es tatsächlich Fußabdrücke waren, die am Fenster endeten. Er ging hinüber, konnte es aber nicht öffnen, weil der eiserne Fensterrahmen festgerostet war. Meg war also nicht durch das Fenster entkommen, obwohl ihre Fußabdrücke, nun von Sandmans eigenen verwischt, hier endeten. Verdammt, dachte er, aber sie war hier! Er hob den Staubschutz des Bettes an und öffnete einen Schrank, aber niemand versteckte sich dort.

Er setzte sich auf das Fußende des Himmelbettes und starrte in den leeren Kamin, dessen Feuerraum von zwei rußgeschwärzten Hunden flankiert war. Aus einer Eingebung heraus ging er an den Kamin, beugte sich hinunter und schaute in den Rauchfang, aber der schwarze Schlot verengte sich rasch und verbarg niemanden. Meg war hier gewesen, dessen war er sicher.

Schritte auf der Treppe veranlassten ihn, sich aufzurichten und nach der Pistole zu greifen, aber es waren Berrigan und Sally, die in der Tür erschienen. »Sie ist nicht hier«, sagte Berrigan verärgert.

»Im Haus muss es unzählige Verstecke geben«, erklärte Sandman.

»Sie ist abgehauen«, meinte Sally.

Sandman setzte sich wieder auf das Bett und starrte auf den Kamin. Sechs Vögel auf einem Wappenschild, drei in der oberen Reihe, zwei in der mittleren und ein einzelner unten. Wieso hatte das Haus im Inneren dieses Wappen, aber außen ein Schild mit fünf Kammmuscheln? Fünf Muscheln. Er starrte die Vögel an, und plötzlich fiel ihm eine Melodie ein, eine Melodie und Fragmente eines Liedtextes, den er an einem Lagerfeuer in Spanien gehört hatte. »Ich gebe dir ein O«, sagte er.

»Was?«, fragte Berrigan, während Sally Sandman anstarrte, als habe er den Verstand verloren.

»Sieben für die sieben Sterne am Himmel«, sagte Sandman, »sechs für die sechs stolzen Wanderer.«

»Fünf für die Zeichen an deiner Tür«, trug Berrigan die nächste Zeile bei.

»Und über der Haustür sind fünf Kammmuscheln«, sagte Sandman leise, weil er plötzlich das Gefühl hatte, belauscht zu werden. Der Text des Liedes war großenteils ein Rätsel. Vier für die Evangelisten war noch recht offenkundig, aber was die sieben Sterne und die sechs stolzen Wanderer bedeuteten, wusste Sandman nicht, allerdings kannte er den Zweck der fünf Zeichen an der Tür. Das hatte er vor Jahren gelernt, als Lord Alexander ganz aufgeregt herausgefunden hatte, dass fünf Muscheln über einer Haustür oder an einem Giebel ein Zeichen waren, dass dort Katholiken lebten. Diese Muscheln hatte man während der Katholikenverfolgung unter Königin Elisabeth angebracht, als katholischen Priestern in England Gefängnis, Folter und Tod drohte, manche aber nicht ohne die Tröstungen ihres Glaubens leben konnten und ihre Häuser markierten, um Glaubensbrüdern und -Schwestern zu zeigen, dass sie dort Zuflucht finden konnten. Da aber Elisabeths Leute die Bedeutung der fünf Muscheln ebenso gut kannten wie jeder Katholik, musste es in einem solchen Haus ein sicheres Versteck geben, in dem ein Priester sich verkriechen konnte. Der Hausherr schuf daher ein Priesterloch, ein so geschickt getarntes Versteck, dass man die protestantischen Verfolger tagelang hinters Licht führen konnte.

»Sie sehen aus, als ob Sie nachdächten«, stellte Berrigan fest.

»Ich brauche Anmachholz«, sagte Sandman leise. »Anmachholz, Feuerholz, eine Zunderbüchse, und schauen Sie nach, ob es in diesem Haus einen großen Kochtopf gibt.«

Berrigan zögerte. Er hätte Sandman gern gefragt, was er vorhabe, doch dann fand er, dass er es bald genug erfahren würde, und ging mit Sally nach unten. Sandman durchquerte den Raum und ließ die Finger über die Faltenfüllung der Vertäfelung zu beiden Seiten des Kamins gleiten. Soweit er beurteilen konnte, gab es dort keine Fuge. Er klopfte an die Paneele, aber sie klangen nicht hohl. Aber genau das war der Zweck der Priesterlöcher: Sie waren fast unmöglich zu finden. Die Fenstermauer und die Mauer zum Flur wirkten zu dünn, es musste also entweder in der Kaminwand oder in der gegenüberliegenden Wand sein, wo der tiefe Schrank stand. Aber Sandman fand nichts. Er rechnete aber auch nicht damit, das Versteck ohne weiteres zu entdecken. Die Verfolger im Namen der Königin Elisabeth waren gut ausgebildet, skrupellos und gut entlohnt worden, um Priester zu finden, aber manche Verstecke waren ihnen trotz intensiver Suche entgangen.

»Wiegt eine ganze Tonne«, beschwerte sich Berrigan, als er ins Schlafzimmer stolperte und einen riesigen Kochtopf auf den Boden stellte. Sally kam einige Schritte hinter ihm mit einem Bündel Feuerholz.

»Wo ist der Verwalter?«, fragte Sandman.

»Sitzt in der Küche und sieht aus, als ob er Schießpulver fräße«, sagte Berrigan.

»Und seine Frau?«

»Weg.«

»Wollte er nicht wissen, was Sie damit vorhaben?«

»Ich habe ihm gesagt, ich würde ihm ein Loch ins Gesicht schießen, wenn er zu fragen wagt«, erzählte Berrigan fröhlich.

»Takt wirkt immer«, stellte Sandman fest.

»Was haben Sie denn nun vor?«, erkundigte sich Sally.

»Wir brennen das verdammte Haus nieder«, sagte Sandman laut. Er schob den Kessel auf die Kaminumrandung. »Es wird ja doch nicht genutzt«, sagte er laut genug, dass man ihn noch zwei Zimmer weiter hätte hören können. »Außerdem muss das Dach repariert werden. Da ist es billiger, es niederzubrennen, als es zu renovieren, finden Sie nicht?« Er legte das Anmachholz in den Kessel, schlug mit der Zunderbüchse einen Funken und blies auf den verkohlten Docht, bis er eine Flamme hatte, die er an das Anmachholz hielt. Er schürte das Feuer, bis es sich knisternd ausbreitete, und legte einige Scheite Holz auf.

Es dauerte ein Weilchen, bis die größeren Scheite brannten, doch dann quoll dicker blau-weißer Rauch aus dem Topf. Da er ein Stück vor der Kaminschürze stand, zog kaum Rauch durch den Schornstein ab. Sandman wollte Meg ausräuchern. Für den Fall, dass der Eingang zum Priesterloch vom Flur ausging, hatte er Berrigan vor dem Schlafzimmer postiert, während er und Sally bei geschlossener Tür im Zimmer blieben. Da der beißende Rauch ihnen den Atem raubte, kauerte Sally neben dem Bett, wollte aber nicht gehen, falls die List wirken sollte. Sandmans Augen tränten, seine Kehle war rau, aber er legte ein weiteres Scheit auf das Feuer und sah, dass der Kessel matt rot zu glühen begann. Er öffnete die Tür einen Spalt, um etwas Rauch hinaus und frische Luft hereinzulassen. »Wollen Sie gehen?«, flüsterte er Sally zu, aber sie schüttelte den Kopf.

Sandman ging in die Hocke, wo der Rauch dünner war, und dachte an Meg im Priesterloch, einem dunklen, engen, angsterregenden Schlupfwinkel. Er hoffte, dass der Brandgeruch ihre Ängste schürte und der Rauch durch die geschickten Klappen, Schiebetüren und Geheimtüren drang, die ihr uraltes Versteck verbargen. Sally hielt sich das Laken über den Mund. Sandman war klar, dass sie nicht mehr viel länger aushalten konnten, doch in diesem Augenblick hörte er ein Quietschen, einen Schrei und einen Knall wie von einem Kanonenschlag und sah, dass ein ganzer Teil der Vertäfelung sich öffnete wie eine Tür – aber nicht am Kamin, sondern an der Außenwand, zwischen den Fenstern, wo er die Mauer für zu dünn gehalten hatte, um einen Schlupfwinkel zu verbergen. Sandman zog sich die Ärmel über die Hände und schob den Kessel unter den Rauchfang, während Sally die schreiende, völlig verängstigte Frau am Handgelenk packte, die sich in einem brennenden Haus gefangen geglaubt hatte und nun versuchte, aus dem engen, mit einer Leiter versehenen Schacht zu klettern, der hinter der offenen Vertäfelung nach unten führte.

»Schon gut! Schon gut!«, sagte Sally, und brachte Meg zur Tür.

Sandman folgte den beiden Frauen mit versengtem, rußgeschwärztem Rock auf den breiten Treppenabsatz, wo er nach kühler, frischer Luft schnappte und in Megs rot angelaufene Augen schaute. Ihm fiel auf, was für ein guter Künstler Corday doch war, denn die junge Frau war tatsächlich ungeheuer hässlich und hatte etwas Boshaftes im Blick. Und plötzlich musste er lachen, weil er sie gefunden hatte und durch sie die Wahrheit herausfinden würde. Sie missverstand sein Lachen als Harne, trat vor und schlug ihm ins Gesicht.

In diesem Augenblick fiel ein Schuss von unten.

Sally schrie, als Sandman sie aus dem Schussfeld zu Boden zog. Meg, die eine Fluchtmöglichkeit ahnte, lief zur Treppe, aber Berrigan stellte ihr ein Bein. Sandman stieg über sie weg, humpelte zur Balustrade und sah, dass die sauertöpfische Haushälterin, die wesentlich mutiger war als ihr Mann, mit der Vogelflinte durch das Treppenhaus nach oben geschossen hatte. Doch wie so viele Rekruten hatte sie die Augen geschlossen, als sie am Abzug zog, und daher zu hoch gezielt, so dass der Schuss Sandmans Haar verfehlt hatte. Ein halbes Dutzend Männer standen hinter ihr, einer mit einer Muskete. Sandman schlug Berrigans Pistole herunter. »Nicht schießen!«, rief er. »Kein Morden!«

»Sie haben hier nichts zu suchen«, schrie die Haushälterin ihn an. Die Männer hinter ihr wurden angeführt von einem großen, blonden Riesen, der die Muskete trug. Die Übrigen waren mit Knüppeln und Sicheln bewaffnet. Auf Sandman wirkten sie wie Bauern, die gekommen waren, um den Gutshof anzuzünden, in Wahrheit waren sie aber wohl eher Pächter, die den Besitz des Duke of Ripon schützen wollten.

»Wir haben jedes Recht, hier zu sein«, log Sandman. Er sprach mit ruhiger Stimme und holte das Schreiben des Innenministers hervor, das ihm in Wirklichkeit keinerlei Befugnisse einräumte. »Wir sind von der Regierung beauftragt, einen Mordfall zu untersuchen«, sagte er ruhig und ging langsam die Treppe hinunter, wobei er den Bewaffneten ständig im Auge behielt. Der Mann war hünenhaft groß, muskulös und vielleicht Anfang dreißig. Er trug ein schmuddelig weißes Hemd und eine sandfarbene Hose, die mit einem grünen Stoffstreifen anstelle eines Gürtels zugebunden war. Da er Sandman merkwürdig bekannt vorkam, überlegte er, ob er wohl als Soldat gedient haben mochte. Seine Muskete war eindeutig eine alte Armeewaffe, die nach Napoleons letzter Niederlage liegen geblieben war, aber sie war sauber, gespannt und lag sicher in der Hand des Mannes. »Hier habe ich die Ermächtigung des Innenministers.« Sandman schwenkte den Brief mit dem beeindruckenden Siegel. »Wir sind nicht gekommen, um jemandem etwas anzutun, etwas zu stehlen oder zu beschädigen. Wir sind lediglich hier, um Fragen zu stellen.«

»Sie haben hier nichts zu suchen!«, kreischte die Haushälterin.

»Sei still, Frau«, fuhr Sandman sie in bestem Offizierston an. Mit dem, was sie sagte, hatte sie vollkommen Recht, aber sie war außer sich, und Sandman vermutete, dass die Männer eher auf einen vernünftigen Mann als auf ein hysterisches Weib hören würden. »Möchte jemand den Brief Seiner Lordschaft lesen?«, fragte er und hielt ihnen das Schreiben hin. Er wusste genau, dass die Erwähnung »Seiner Lordschaft« ihm etwas Zeit verschaffen würde. »Übrigens«, er warf einen Blick zur Treppe hinauf, wo der Rauch auf dem Treppenabsatz sich allmählich verzog, »das Haus steht nicht in Flammen, es besteht keinerlei Gefahr. So, wer möchte den Brief Seiner Lordschaft lesen?«

Der Mann mit der Muskete achtete gar nicht auf das Schreiben, sondern musterte Sandman nachdenklich und senkte den Gewehrlauf. »Sind Sie Captain Sandman?«

Sandman nickte. »Ja.«

»Bei Gott, ich habe miterlebt, wie sie uns in Turnbridge Wells sechsundzwanzig Läufe abgejagt haben!«, sagte der Mann. »Dabei hatten wir Pearson und Willes als Werfer gegen Sie! Keine Geringeren als Pearson und Willes, und Sie haben die beiden einfach in Grund und Boden geschlagen.« Er hatte die Muskete inzwischen gesichert und strahlte Sandman an. »Letztes Jahr war das, ich habe damals für Kent gespielt. Sie hatten uns schon so gut wie geschlagen, aber dann kam der Regen und hat uns gerettet!«

Durch Gottes Gnade fiel Sandman der Name des Mannes ein. »Mister Wainwright, stimmt’s?«

»Ben Wainwright, Sir.« Wainwright, der, nach seiner Kleidung zu urteilen, gerade Kricket gespielt hatte, als er zum Gutshaus gerufen wurde, zupfte an seiner Stirnlocke.

»Ich erinnere mich, wie Sie einen Ball über einen Heuschober schlugen«, sagte Sandman. »Beinahe hätten Sie uns ganz allein geschlagen!«

»Nichts im Vergleich zu Ihnen, Sir!«

»Benjamin Wainwright!«, fuhr die Haushälterin dazwischen. »Du bist nicht hier um …«

»Sei still, Doris«, sagte Wainwright und ließ die Muskete sinken. »Captain Sandman tut nichts Schlimmes!« Die anderen Männer knurrten beifällig. Es spielte keine Rolle, dass Sandman unrechtmäßig ins Haus eingedrungen war und das Obergeschoss ausgeräuchert hatte, er war ein berühmter Kricketspieler, und alle grinsten ihn nun an und suchten seine Anerkennung. »Ich habe gehört, Sie spielen nicht mehr, Sir, stimmt das?«, fragte Wainwright besorgt.

»O nein«, antwortete Sandman. »Aber ich spiele nur bei sauberen Spielen mit.«

»Davon gibt es verdammt wenige«, sagte Wainwright. »Sie hätte ich heute bei dem Spiel dabei haben müssen, Sir. Wir kriegen gerade eine ganz schöne Abreibung von Hastings. Meine Innings habe ich schon hinter mir«, erklärte er seine Abwesenheit vom Spiel.

»Es kommen auch wieder andere Tage«, tröstete Sandman ihn, »aber nun möchte ich diese junge Dame mit in den Garten nehmen und mit ihr reden. Oder gibt es vielleicht ein Gasthaus, wo wir uns bei einem Krug Bier unterhalten können?«, fugte er hinzu, weil ihm einfiel, dass es wohl vernünftiger wäre, Meg vom Grund und Boden des Duke of Ripon wegzubringen, bevor jemand mit juristischen Kenntnissen sie des unbefugten Eindringens beschuldigte und Meg erklärte, dass sie gar nicht mit ihm reden müsse.

Wainwright versicherte ihnen, das Castle and Bell sei ein gutes Gasthaus, worauf die Haushälterin, erbost über seinen Verrat, abzog. Sandman atmete erleichtert auf und wandte sich an das Mädchen. »Meg? Wenn Sie etwas nach London mitnehmen wollen, holen Sie es jetzt.« Sandman sah, dass das Mädchen Einwände erheben und ihn vielleicht sogar wieder schlagen wollte, gab ihr aber keine Gelegenheit dazu. »Sergeant? Sorgen Sie dafür, dass die Pferde Wasser bekommen. Vielleicht sollte die Kutsche anschließend zum Gasthaus gebracht werden? Sally, meine Liebe, sorgen Sie dafür, dass Meg alles hat, was sie braucht.« Sandman strahlte den Schlagmann von Kent an: »Mister Wainwright, es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mir das Gasthaus zeigen könnten. Habe ich das recht in Erinnerung, dass Sie Schlagstöcke anfertigen? Darüber würde ich mich gern mit Ihnen unterhalten.«

Die Auseinandersetzung war beendet. Meg war zwar verbittert, versuchte aber nicht mehr fortzulaufen, und Sandman wagte zu hoffen, dass alles gut würde. Noch ein Gespräch, eine zügige Rückfahrt nach London und der Gerechtigkeit, der seltensten aller Tugenden, wäre Genüge getan.

Meg war wütend und schmollte. Sie nahm Sandman die Einmischung in ihr Leben übel, schien sogar das ganze Leben zu hassen, saß lange im Garten des Castle and Bell und weigerte sich, mit ihm zu reden. Sie starrte in die Ferne, trank ein Glas Gin, verlangte in jammerndem Ton ein zweites Glas, und nachdem Benjamin Wainwright gegangen war, um zu sehen, wie seine Mannschaft sich schlug, verlangte sie, Sandman solle sie nach Cross Hall zurückbringen. »Ich muss mich um meine Hühner kümmern«, schimpfte sie.

»Ihre Hühner?« Das überraschte Sandman.

»Ich habe Hühner immer gemocht.«

Sandman, dessen Wange von ihrer Ohrfeige immer noch brannte, schüttelte verwundert den Kopf. »Ich bringe Sie nicht zurück«, knurrte er, »Sie haben verdammtes Glück, wenn Sie nicht lebenslang deportiert werden. Wollen Sie das? Eine Fahrt nach Australien und ein Leben in einer Strafkolonie?«

»Scheiß doch auf Sie«, schimpfte sie. Sie trug eine weiße Haube und ein schlichtes blaues Sergekleid, an dem Hühnerfedern klebten. Es waren hässliche Kleider, aber sie passten zu ihr, weil sie wahrhaftig unansehnlich und zudem erstaunlich abweisend war. Beinahe empfand Sandman Bewunderung für ihre Streitlust, aber er wusste, dass diese Stärke den Umgang mit ihr erschweren würde. Sie beobachtete ihn mit wissendem Blick und schien sein Zögern zu spüren, denn sie lachte kurz und spöttisch auf und schaute zu der Kutsche des Seraphim Clubs, die gerade, staubig von der Reise, auf den Dorfplatz fuhr. Berrigan tränkte die Pferde an einem Ententeich, während Sally mit einigen Münzen, die der Sergeant ihr gegeben hatte, einen Krug Bier und noch einen Gin holte. Hinter der Hecke des Castle and Bell lärmten Tauben auf einem erst kürzlich abgeernteten Weizenfeld, und auf dem First des Reetdaches saßen Mauersegler.

»Sie mochten die Countess, nicht wahr?«, fragte Sandman.

Meg spuckte ihm gerade ins Gesicht, als Sally aus der Schänke kam. »Verdammte Landpomeranzen!«, schimpfte Sally. »Sie bedienen keine Frauen!«

»Ich gehe«, bot Sandman an.

»Ein Kellner bringt die Krüge«, sagte sie. »Erst wollten sie mich nicht bedienen, aber sie haben es sich anders überlegt, nachdem ich ein Wörtchen mit ihnen geredet habe.« Sie schlug nach einer lästigen Wespe, die daraufhin zu Meg flog. Das Mädchen schrie auf und fing an zu weinen, als das Insekt sie nicht in Ruhe ließ. »Was flennst du denn?«, herrschte Sally Meg an, die sie nur verständnislos anstarrte. »Warum weinst du?«, übersetzte Sally. »Du hast überhaupt keinen Grund zu weinen. Du lässt es dir hier gut gehen, während die arme kleine Schwuchtel auf den Galgen wartet.«

Der Kellner, der offenkundig Angst vor Sally hatte, brachte ein Tablett mit Bierkrügen, Gläsern, Kannen und einer Flasche. Sandman schenkte Ale in einen Krug, den er Sally reichte. »Bring das doch dem Sergeant«, schlug er vor. »Ich rede mit Meg.«

»Sie meinen, ich soll verduften«, sagte Sally.

»Lassen Sie mir ein paar Minuten Zeit«, sagte Sandman. Sally nahm das Bier, und Sandman bot Meg ein Glas Gin an, das sie ihm hastig aus der Hand nahm. »Sie mochten die Countess, nicht wahr?«, wiederholte er.

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen«, erklärte Meg, »gar nichts.« Sie trank den Gin aus und griff nach der Ginflasche.

Sandman nahm sie ihr ab. »Wie heißen Sie?«

»Das geht Sie gar nichts an. Geben Sie mir von dem verdammten Zeug!« Sie streckte die Hand nach der Flasche aus, aber Sandman hielt sie von ihr fort.

»Wie heißen Sie?«, fragte Sandman noch einmal und erntete einen Tritt gegen das Schienbein. Er schüttete etwas Gin ins Gras, worauf Meg ganz still wurde und ängstlich dreinschaute. »Ich nehme Sie mit nach London«, teilte Sandman ihr mit. »Sie haben zwei Möglichkeiten, dorthin zu kommen. Entweder Sie benehmen sich, dann wird es eine angenehme Fahrt, oder Sie sind weiter so rüde, dann bringe ich Sie ins Gefängnis.«

»Das können Sie gar nicht!«, schnaubte sie.

»Ich kann machen, was ich will!«, herrschte Sandman sie an und verblüffte sie mit seiner plötzlich aufflammenden Wut. »Ich habe einen Auftrag des Innenministers, Miss, und Sie unterschlagen Beweise in einem Mordfall! Gefängnis? Sie haben verdammtes Glück, wenn sie nur im Gefängnis landen und nicht am Galgen!«

Sie funkelte ihn eine Weile wütend an und zuckte dann die Achseln. »Ich heiße Hargood«, sagte sie säuerlich. »Margaret Hargood.«

Sandman schenkte ihr noch ein Glas Gin ein. »Woher stammen Sie, Miss Hargood?«

»Das kennen Sie ja doch nicht.«

»Was ich kenne, ist der Auftrag des Innenministers, den Mord an der Countess of Avebury zu untersuchen. Diesen Auftrag hat er mir gegeben, Miss Hargood, weil er fürchtet, dass sonst eine große Ungerechtigkeit geschieht.« Der Viscount Sidmouth würde sich wahrscheinlich erst Sorgen machen, dass einem Angehörigen der Unterschicht ein Unrecht geschehen könnte, wenn die Sonne im Westen aufginge, überlegte Sandman, aber das durfte er vor diesem einfältigen Mädchen natürlich nicht äußern, das gerade seinen zweiten Gin herunterkippte, als sei es kurz vor dem Verdursten. »Der Innenminister glaubt ebenso wie ich, dass Charles Corday Ihre Herrin nicht ermordet hat«, fuhr Sandman fort. »Und wir denken, dass Sie das bestätigen können.«

Meg hielt ihm wortlos ihr Glas hin.

»Sie waren da, nicht wahr«, fragte Sandman. »An dem Tag, als die Countess ermordet wurde?«

Sie hielt fordernd das Glas hoch, sagte aber immer noch nichts.

»Und Sie wissen, dass Charles Corday den Mord nicht begangen hat«, stellte Sandman fest.

Sie betrachtete einen Apfel, den der Wind ins Gras geweht hatte. Eine Wespe krabbelte über die schrumpelige Schale. Sie schrie, ließ das Glas fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Sandman trat auf die Wespe und zermalmte dabei den Apfel. »Meg«, bat er.

»Ich habe nichts zu sagen.« Sie beobachtete ängstlich den Boden, als fürchte sie, die Wespe könne wieder auferstehen.

Sandman hob das Glas auf, füllte es und reichte es ihr.

»Wenn Sie mit mir zusammenarbeiten, Miss Hargood, werde ich dafür sorgen, dass Ihnen kein Leid geschieht«, sagte er förmlich.

»Ich weiß nichts darüber«, sagte sie. »Nichts über einen Mord.« Sie schaute Sandman trotzig und mit steinharten Augen an.

Sandman seufzte. »Wollen Sie einen Unschuldigen sterben lassen?« Das Mädchen rückte wortlos von ihm fort und starrte über die Hecke. Sandman spürte Wut in sich aufsteigen. Am liebsten hätte er sie geschlagen und schämte sich für die Intensität dieses Verlangens, das so stark war, dass er aufstand und hin und her lief. »Warum waren Sie im Haus des Marquess of Skavadale?«, fragte er, bekam aber keine Antwort. »Glauben Sie, dass der Marquess Sie beschützen will? Er will Sie hier haben, damit der Falsche hingerichtet wird, aber welchen Nutzen haben Sie noch für ihn, sobald Corday tot ist? Er wird Sie töten, damit Sie nicht mehr gegen ihn aussagen können.« Zumindest provozierte er damit eine Reaktion des Mädchens, und wenn sie sich auch nur umdrehte und ihn anstarrte. »Denk nach, Mädchen!«, sagte Sandman eindringlich. »Warum lässt der Marquess dich leben? Warum?«

»Sie haben keine Ahnung, oder?«, sagte Meg wütend.

»Ich sage dir, was ich weiß«, fuhr Sandman sie mit einer Wut an, die an Gewalttätigkeit grenzte. »Ich weiß, dass Sie einen Unschuldigen vor dem Galgen bewahren können, und ich weiß, dass Sie das nicht wollen, und das macht Sie zur Komplizin an einem Mord, Miss, dafür kann man Sie hinrichten.« Sandman wartete, aber sie schwieg. Er wusste, dass er gescheitert war. Sein Wutausbruch war ein Zeichen dieses Scheiterns, und er schämte sich dafür, aber wenn das Mädchen nicht aussagte, war Corday nicht zu retten. Allein durch ihr Schweigen konnte Meg ihn besiegen, und es kamen noch weitere ärgerliche Schwierigkeiten auf ihn zu. Er wollte Meg so schnell wie möglich nach London bringen, aber Mackeson bestand darauf, dass die Pferde zu erschöpft seien, um auch nur eine Meile zu fahren, und Sandman wusste, dass der Kutscher Recht hatte. Sie mussten also die Nacht im Dorf verbringen und die drei Gefangenen bewachen. Bewachen, durchfüttern, und die Pferde im Auge behalten. Meg brachten sie in die Kutsche, banden die Türen zu und verkeilten die Fenster. Sie schlief wohl eine Weile, weckte Sandman aber zwei Mal, indem sie schrie und an die Fenster schlug. Schließlich zerbrach ein Fenster und sie versuchte, herauszuklettern, aber Sandman hörte, wie sie mit einem Stöhnen und einem unterdrückten Schrei zurückplumpste. »Was ist passiert?«, fragte er Berrigan.

»Nichts, was Sie beunruhigen müsste«, antwortete der Sergeant. Berrigan, Sandman und Sally schliefen im Gras und bewachten Mackeson und Billy, die beide verwirrt, verängstigt und gehorsam waren und keine Kampfeslust mehr besaßen. Sie erinnerten Sandman an einen französischen Oberst, den seine Männer in den Bergen Galiziens gefangen genommen hatten, ein aufgeblasener Mann, der so lange über die Bedingungen seiner Gefangenschaft gejammert und geklagt hatte, bis Sandmans eigener Oberst ihn einfach freigelassen hatte. »Verschwinde«, hatte er ihm auf Französisch gesagt, »du bist frei.« Aber der Franzose hatte solche Angst vor den spanischen Bauern, dass er sie angefleht hatte, ihn wieder gefangen zu nehmen. Mackeson und Billy hätten ihren erschöpften Bewachern ohne Weiteres entwischen können, aber beide fürchteten sich zu sehr vor dem fremden Dorf, der dunklen Nacht und der beängstigenden Aussicht, sich allein nach London durchschlagen zu müssen.

»Und was passiert jetzt?«, fragte Berrigan Sandman im Lauf der kurzen Sommernacht.

»Wir bringen sie zum Innenminister und überlassen es ihm, sie auseinander zu nehmen«, antwortete Sandman müde.

Es würde nichts nützen, dachte er, aber was blieb ihm anderes übrig? Irgendwo bellte ein Hund in der Dunkelheit, und Sandman schlief ein, während Berrigan Wache hielt.